Burgener_Handbuch_Leseprobe

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Inhalt

Vorwort des Herausgebers

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Vorwort der Autorin

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1. Einleitung

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2. Prävention und Früherkennung im Kontext von Risiko und Entwicklung 2.1 Präventionsansätze 2.2 Bedeutung der Früherkennung

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3. Entwicklung im Kontext von Risiko und Schutz 3.1 Risiko- und Schutzfaktoren 3.2 Die Mannheimer Risikokinderstudie

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4. Begriffe im Kontext von Risiko und Entwicklung 4.1 Begriffsklärungen 4.2 Entwicklungsgefährdung = Risikobelastung + grenzwertige Entwicklung 4.2.1 Risikobelastung 4.2.2 Grenzwerte zur genauen Festlegung von Entwicklungsgefährdung und Entwicklungsstörungen

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5. Verfahren zur Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder bis 6 Jahre und zur Ermittlung ihres Unterstützungsbedarfs (FegK 0 – 6) 5.1 Grundlagen des Verfahrens 5.2 Ziel und Inhalt des Verfahrens 5.3 Zielgruppen des Verfahrens 5.4 Verständigung mit Familien – auch mit anderem kulturellen Hintergrund 5.5 Verfahrensschritte und Handreichungen im Überblick 5.6 Objektivität versus Subjektivität 5.7 Modulare Anwendung des Verfahrens und des Gesprächsleitfadens 6. Anleitung Teil A: Vorabklärung Teil B: Erfassung des Entwicklungsstandes des Kindes mit standardisierten Tests Teil C: Einschätzung der Risiko- und Schutzfaktoren mit einem Gesprächsleitfaden Teil D: Synthese und Massnahmenempfehlung

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7. Fallvignette: Cyrill Teil A: Vorabkl채rung Teil B: Erfassung des Entwicklungsstandes des Kindes mit standardisierten Tests Teil C: Einsch채tzung der Risiko- und Schutzfaktoren mit einem Gespr채chsleitfaden Teil D: Synthese und Massnahmenempfehlung

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8. Literatur

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9. Abbildungsverzeichnis

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Zur Autorin

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1. Einleitung

Entwicklungsverläufe von Kindern sind immer individuell. Sie werden durch persönliche Stärken und Schwächen sowie vom Umfeld entscheidend beeinflusst. Trotz hoher Belastung im familiären Umfeld können sich Kinder zu stabilen Persönlichkeiten entwickeln und den Widerwärtigkeiten des Lebens standhalten. Andere aber überstehen eine schwierige Kindheit nicht unversehrt. Hierauf hat die Risiko- und Resilienzforschung hingewiesen. In Risikokinderstudien wurden verschiedene gefährdende Bedingungen, sogenannte Risikofaktoren, ermittelt, die Kinder in ihrer Entwicklung beeinträchtigen können (Laucht et al., 1992, S. 276; Laucht et al., 1996, S. 70f.; Laucht, Esser & Schmidt, 1999, S. 76f.; Egle, Hoffmann & Steffens, 1997, S. 693; Laucht, Schmidt & Esser, 2000a, S. 100). Die Resilienzforschung ihrerseits hat die Aufmerksamkeit auf sogenannte protektive Faktoren gelenkt, die eine Schutzfunktion in schwierigen Problemlagen übernehmen können (Laucht, Esser & Schmidt, 1997; S. 263; Egle, Hoffmann & Steffens, 1997, S. 693; Laucht, Schmidt & Esser, 2000a, S. 103; Lösel & Bender, 2008). Wenn Risikobelastungen bei Kindern und ihren Familien vorliegen, dann soll gezielt darauf hingearbeitet werden, deren negative Wirkungen zu mildern und protektive Bedingungen zu schaffen, die Kindern und ihren Familien in Risikosituationen ermöglichen, Kompetenzen aufzubauen und somit «resilienter» zu werden. Nicht alle Kinder und ihre Familien überstehen Risikobelastungen unbeschadet. In diesem Zusammenhang ist die Rede von einer gefährdeten Kindheit, von verändertem Alltag, von riskanten Umbrüchen (Leyendecker, 2010; Häuser, 1997), von einem tiefgreifenden Wandel der Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen (Laucht, Schmidt & Esser, 2002, S. 6) und von neuen Herausforderungen für Kinder, ihre Familien und jene, die sich ihrer annehmen.

Die Risiko- und Resilienzforschung, insbesondere die Mannheimer Risikokinderstudie, hat einen engen Zusammenhang zwischen einer Belastung aufgrund vorliegender Risikofaktoren oder fehlender Schutzfaktoren und auffälligen Entwicklungsverläufen in den Bereichen der Motorik, der Kognition oder auch des Sozialverhaltens aufgedeckt. Sie hat aufgezeigt, dass die Entwicklung zuweilen so belastet ist, dass sich schliesslich Entwicklungsverzögerungen bzw. -störungen beim Kind bemerkbar machen (zum Beispiel Laucht et al., 1996; Laucht, Esser & Schmidt, 2000b; Laucht, Schmidt & Esser, 2002). Schon eine geringe Entwicklungsabweichung von der Norm kann ein Frühwarnzeichen für eine sich anbahnende Fehlentwicklung sein. Hier drängt es sich auf, mit gezielten ressourcenorientierten Massnahmen beim Kind und seiner Familie früh kompensierend einzuwirken, um spätere Folgen abzuwenden und einem kostenintensiven erhöhten Förderbedarf zu einem späteren Zeitpunkt, zum Beispiel bei Schuleintritt, zuvorzukommen. Es gibt in der Praxis kaum Verfahren, welche die Komplexität «Kinder und ihre Familien in riskanten Lebenslagen» berücksichtigen und sie begründen können. Ausnahme bildet das in der Schweiz teils vorgeschriebene, teils empfohlene Standardisierte Abklärungsverfahren (SAV), mit welchem der Bildungs- und Förderbedarf von Kindern unter Berücksichtigung der Anforderungen der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) ermittelt wird. Dieses Verfahren ist aber für den Frühbereich zu wenig ausdifferenziert (Hollenweger & Lienhard, 2008). Diese Lücke soll mit dem vorliegenden Verfahren zur «Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder bis 6 Jahre» (FegK 0 – 6) geschlossen werden. Beim FegK 0 – 6 handelt es sich um eine systematisierte Definitionsund Entscheidungshilfe. Sie faltet die Komplexität der kindlichen Entwicklung im Kontext von Risiko- und Schutzfaktoren in einem vierstufigen Vorgehen auf und führt sie schliesslich so zusammen, dass Grundlagen gegeben sind, um geeignete (kind- und/oder umfeldorientierte) Unterstützungsmassnahmen individuell ausgerichtet abzuleiten und vorzuschlagen.

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Kernstück des Verfahrens ist die Einschätzung von Risiko- und Schutzfaktoren mit Hilfe eines Gesprächsleitfadens. Die 26 Items des Gesprächsleitfadens stammen ursprünglich aus der Mannheimer Risikokinderstudie und wurden aufgrund der eigenen Erhebungen (Burgener & Bortis, 2009a; 2009b; 2009c; Burgener & Meier, 2011; 2012) inhaltlich und sprachlich angepasst. Theoretische und empirische Grundlagen wurden hinterlegt sowie Gesprächs- und Beobachtungsimpulse hinzugefügt. Die Erhebung von Schutzfaktoren ist pädagogisch besonders bedeutsam. Sie bietet handlungsleitende Ansatzpunkte für pädagogische Interventionen. Dies deckt sich mit einem der wichtigsten heilpädagogischen Grundsätze, in erster Linie «nicht gegen den Fehler» (Risikofaktoren), «sondern für das Fehlende» (Schutzfaktoren) etwas zu tun.

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Kinder und Familien in Risikosituationen brauchen besondere Unterstützung. Die genaue Bestimmung ihres Unterstützungsbedarfs erfolgt im Schnittfeld einer Analyse der Belastung durch vorhandene Risiko- und / oder fehlende Schutzfaktoren und der Diagnostik des Entwicklungsstandes des Kindes. Entsprechend ist die Massnahme kind- und / oder umfeldorientiert angelegt. Gerade in der frühen Kindheit wird allerdings zu berücksichtigen sein, dass sich der Unterstützungsbedarf rasch ändern kann und deshalb Massnahmenentscheide regelmässig überprüft und angepasst werden müssen. Die Massnahme wird je nach Problemlage aus dem Angebot «Frühe Hilfen» ausgewählt werden; immer wird sie interdisziplinär abzustimmen sein. Die Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder ist immer auch Prävention. Derzeit und vor allem auch infolge der Sparbemühungen der öffentlichen Hand ist dieser Begriff eng verbunden mit Zielgerichtetheit, Wirksamkeit und Effizienz. Das vorliegende Verfahren leistet hierzu einen wichtigen Beitrag.


5. Verfahren zur Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder von 0 bis 6 Jahren und zur Ermittlung ihres Unterstützungsbedarfs (FegK 0–6)

5.1 Grundlagen des Verfahrens Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit – ICF Das Verfahren orientiert sich an der ICF, insbesondere an der Version für Kinder und Jugendliche ICF-CY (children and youth) (WHO, 2011). Gesundheitszustand

Körperfunktionen und -strukturen

Umweltfaktoren

Partizipation

Aktivitäten

Personenbezogene Faktoren

Abb. 5: ICF-Modell gemäss WHO (2011, S. 46)

Gemäss ICF kann die Entwicklung eines Individuums auf der Ebene des Körpers, dessen Funktionen und Strukturen, aber auch hinsichtlich der Aktivitäten und der Teilhabe an der Gesellschaft beeinträchtigt sein. Bei Kindern und Jugendlichen sind spezifische Interpretationen des Begriffes Beeinträchtigung nötig, weil sie zum Aufbau ihrer Funktionsfähigkeit auf der Ebene des Körpers, der Aktivitäten und der Partizipation auf Beziehungen mit anderen Menschen und auf deren Unterstützung angewiesen sind (Hollenweger, 2007). So werden die Kinder beim Laufenlernen an der Hand geführt, sie werden in der Ausführung von Tätigkeiten, zum Beispiel Kartenspiel, erst einmal unterrichtet und zur Förderung des Sozialverhaltens speziell aufmerksam in Gruppen begleitet. ICF-Kriterien erlauben es erst, wenn zusätzliche Informationen zu personenbezogenen Faktoren (Eigenschaften und Merkmale des Kindes wie Alter, Motivation, Temperament) und wenn materielle, soziale und einstellungsbezogene Umweltfaktoren vorliegen, aus dem Kontext festzustellen, ob ein Anspruch auf eine gezielte kind- oder umfeldorientierte Massnahme bei vorliegender Risikosituation eines Kindes berechtigt ist (ebd.).

Das vorliegende Verfahren bezieht die Grundanliegen des ICF-Modells ein: • Die Terminologie der ICF wird zur Beschreibung der Zielgruppen systematisch übernommen. Erweitert wird sie um den Begriff der Entwicklungsgefährdung (siehe Kapitel 4). • Die Erfassung entwicklungsgefährdeter Kinder erfolgt nicht nur aufgrund einer Entwicklungsabklärung, sondern umfasst auch eine eingehende Analyse von umwelt- und personenbezogenen Risiko- und Schutzfaktoren. • Der Zuweisungsentscheid wird auf der Grundlage eines anerkannten Modells nachvollziehbar begründet und ermöglicht darüber hinaus, Unterstützungsmassnahmen auf einer gemeinsamen Folie zu verstehen, zu planen und zu überprüfen. «Four Front Approach» oder «Denken im Kreuz» Das Verfahren orientiert sich an einem Ansatz, der von Wright und Lopez (2002, zit. in Klemenz, 2007, S. 155) im Zusammenhang mit der Diagnostik von psychischen Störungen treffend als «Four Front Approach» bezeichnet wird:

Diagnostik psychischer Störungen

Diagnostik von Personenressourcen

Diagnostik von Umweltstressoren

Diagnostik von Umweltressourcen

Abb. 6: Four Front Approach von Wright & Lopez (2002, zit. in Klemenz, 2007, S. 155)

Dieser Ansatz schliesst in die Diagnostik nicht nur eine Problemanalyse auf personaler und Umweltseite ein, sondern fragt auch nach Ressourcen in der Person und deren Umwelt. Er erlaubt ein «Denken im Kreuz» und schafft damit ein inhaltliches Bezugssystem zwischen Risiko- und Schutzfaktoren einerseits und der personalen und psychosozialen Ebene andererseits.

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Jede Problemlage des Kindes und seiner Familie kann somit innerhalb derselben Matrix kind- oder umfeldorientiert betrachtet und analysiert werden. Jede Unterstützungsmassnahme kann entweder auf die Verminderung der Auswirkungen von Risikofaktoren oder auf die Stärkung von Schutzfaktoren zielen: kindorientiert

Verminderung der Auswir­kungen von Risikofaktoren

personale Risiko­f aktoren

personale Schutzfaktoren

psychosoziale Risikofaktoren

psychosoziale Schutzfaktoren

Stärkung von Schutzfaktoren

umfeldorientiert

Abb. 7: Inhaltliches Bezugssystem von Diagnostik und Unter­stützungsmassnahme

5.2 Ziel und Inhalt des Verfahrens Das Verfahren ermöglicht, entwicklungsgefährdete Kinder aufgrund ihrer Risikosituation früh zu erkennen sowie für sie und ihre Familien die geeignete Unterstützungsmassnahme vorzuschlagen. Das Verfahren ist eine systematisierte Definitionsund Entscheidungshilfe, wenn darüber zu befinden ist, ob und wie bestehende Risikofaktoren sowie fehlende Schutzfaktoren im Umfeld des Kindes seinen Entwicklungsstand und -verlauf beeinflussen. Aus dieser systematischen Abklärung des Entwicklungsstandes des Kindes einerseits sowie der Einschätzung seiner Risiko- und Schutzfaktoren und jener seines Umfeldes andererseits ist abzuleiten, ob ein Unterstützungsbedarf besteht und welche Massnahme, allenfalls auch mehrere, für das Kind bzw. seine Familie eingeleitet werden sollte. Am Ende des Verfahrens steht nicht der Entscheid, sondern die Empfehlung einer Massnahme, auf welche sich die zuweisende Stelle zur Planung des weiteren Vorgehens abstützen kann. Damit ist das Verfahren ein Zuweisungsverfahren.

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5.3 Zielgruppen des Verfahrens Anlass zur Entwicklung dieses Verfahrens waren die sich verändernden Zielgruppen der Heilpädagogischen Früherziehung / Frühförderung. Sie führten einerseits zu neuen Überlegungen zu Ort, Inhalten, Zeitpunkt und Dauer der wirksamen Frühförderung (Weiss, 2008; Sann, 2010) und zur Ausweitung des Wirkungsgebietes auf entwicklungsgefährdete Kinder sowie mancherorts auch auf Kinder in Risikosituationen (siehe Kapitel 2). Mit dem Verfahren können aber nicht nur entwicklungsgefährdete Kinder und Kinder in Risikosituationen, sondern auch Kinder mit einer Entwicklungsverzögerung oder -abweichung oder mit einer Behinderung erfasst werden. Das Verfahren leistet in jedem Fall einen Beitrag zu einer systematischen Abklärung des Entwicklungsumfeldes des Kindes, wie dies die ICF nahelegt, und trägt damit zu einer differenzierten Massnahmenempfehlung bei. Im Speziellen kann der Einsatz des Verfahrens dazu beitragen, den Prozess zur Festlegung einer allfälligen umfeldorientierten Massnahme dann, wenn vorerst allein eine kindorientierte Massnahme bestimmt worden ist, zu beschleunigen, um wirkungsvoller und zielgerichteter, vielleicht auch präventiv zu handeln. Insgesamt kann das Verfahren auch bei Kindergartenkindern eingesetzt werden; dann nämlich, wenn entschieden werden soll, ob kindorientierte Massnahmen ausreichen, was in die Zuständigkeit der Schule fällt, oder ob auch die Familie (weiterhin) Unterstützung braucht. Das Verfahren eignet sich für Kinder im Alter von 0 bis 6 Jahren.


5.4 Verständigung mit Familien – auch mit anderem kulturellen Hintergrund

5.5 Verfahrensschritte und Handreichungen im Überblick

Eine Risikosituation kann nur erhoben werden, wenn Eltern und allenfalls weitere Familienmitglieder bereit sind, Auskunft zu geben, familieninterne Probleme zu thematisieren und sich mit diesen auseinanderzusetzen. Damit dies gelingt, braucht es seitens der Fachperson eine professionelle Passung von Nähe und Distanz zwischen ihrem eigenen Werte- und Normensystem, ihren Vorstellungen über Erziehung, über Rollenverteilungen usw. (Gün, 2010, S. 141) und denen ihres Gegenübers. Im Zentrum steht eine Kultur der Anerkennung, Wertschätzung, Ermutigung und der gemeinsamen Anstrengung (Hüther, 2009). Anerkennung ist die Forderung, kulturelle Merkmale einer Gruppe nicht herabzuwürdigen, sondern sie als gleichwertig zu betrachten (Kaletta, 2008, S. 65). Sie setzt voraus, kulturelle Unterschiede verstehen zu wollen und sie nebeneinander existieren zu lassen. Erst so kann es zu einer interkulturellen Verständigung (Handschuck & Klawe, 2010) kommen, die – sehr aufschlussreich – deutlich macht, dass sie nicht lediglich auf die Arbeit mit Migrantinnen und Migranten beschränkt ist, sondern auch im Umgang mit anderen Gruppen(-kulturen) und Milieus sowie spezifischen Problemlagen unserer Gesellschaft nötig ist (ebd., S. 27). Um interkulturelle Verständigungsprobleme zu vermeiden, kann eine interkulturelle Übersetzerin, ein interkultureller Übersetzer beigezogen werden, die / der sich als gesprächsteilnehmende Person in einem «Trialog» beteiligt und Fachperson wie Eltern unterstützt. In diesem Zusammenhang muss die Frage gestellt werden, ob Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten diese eben gerade deshalb haben, weil sie aufgrund ihrer kulturellen Verschiedenheit und mangelnder Sprachkenntnisse den Anforderungen, an der Gesellschaft zu partizipieren, nicht genügen können. So gilt es schliesslich, eine mangelhafte oder fehlende sprachliche bzw. interkulturelle Verständigung als sozialen Risikofaktor zu verstehen. Entsprechend werden Kinder mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund und ihre Eltern in erster Linie von einer Fachstelle zu unterstützen sein, die vorrangig die Förderung von Kompetenzen interkultureller Verständigung zum Ziel hat.

Das Verfahren besteht aus einer Abfolge von vier Schritten. Es enthält zwei Filter zur näheren Identifizierung der Problematik des Kindes und allenfalls auch seiner Familie (Entwicklungsstand und Risikobelastung). Die Ergebnisse werden in einer Synthese zusammengeführt. Daraus resultieren Empfehlungen für Unterstützungsmassnahmen an die zuweisende Stelle. A Vorabklärung

B Erfassung des Entwicklungsstandes

C Einschätzung der Risiko- und Schutzfaktoren

D Synthese und Massnahmenempfehlung

Risiko­ belastung

ja

RF ≥ 3 SF ≤ 2

nein

Beurteilung des Unterstützungsbedarfs

Weiterweisung Nein

Zustimmung der Eltern

ja

Probleme in der Verständigung

nein

gefährdet Entwicklung

verzögert abweichend in der Norm

Ja

Weiterweisung

Abb. 8: Schritte im Verfahren zur Früherkennung entwicklungsgefährdeter Kinder bis 6 Jahre – FegK 0 – 6

Teil A: Vorabklärung Damit das Verfahren angewendet werden kann, braucht es einen Anlass. Ein Kind wird von einer Fachperson oder von den Eltern als entwicklungsauffällig wahrgenommen; eine nähere Abklärung soll Klarheit schaffen. Hierfür ist die Zustimmung der Eltern Voraussetzung. Bereits an dieser Stelle wird erhoben, ob die Verständigung mit dem Kind oder der interviewten Person (Eltern oder Bezugsperson) wegen der Fremdsprache aber eventuell auch wegen inhaltlicher und / oder interkultureller Verständigungsschwierigkeiten problemlos, erschwert bzw. unmöglich ist. In letzterem Fall werden Kind und Familie an eine Fachstelle weiterverwiesen, die mit der Familie die Grundsteine kultureller Verständigung legt. In Kooperation mit dem interdisziplinären Netzwerk wird die Entwicklung des Kindes mit Kontrolluntersuchungen weiter im Auge behalten (Lanfranchi & Burgener, 2013, S. 609ff.).

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Ziel des zweiten Schrittes ist es, den Entwicklungsstand eines Kindes zu erfassen. Bei der Abklärung werden Tests ausgewählt, die den Entwicklungsstand in den Bereichen Kognition, Motorik und sozial-emotionales Verhalten erheben. Es wird offen gelassen, welche Tests eingesetzt werden, vorausgesetzt, sie genügen testtheoretischen Ansprüchen. Dies ist wichtig, weil nur so festgestellt werden kann, ob ein Kind hinsichtlich seines Entwicklungsstandes über, im oder unter dem Grenzwertbereich liegt (siehe Kapitel 4 in diesem Handbuch).

Teil C: Einschätzung der Risiko- und Schutzfaktoren mit dem Gesprächsleitfaden Für die Einschätzung der Risiko- und Schutzfaktoren wird ein Gesprächsleitfaden mit 26 Fragen verwendet. Die erhobenen Risiko- und Schutzfaktoren werden analog zu den Forschungsergebnissen der MannheimerGruppe gewichtet und in einer «persönlichen Landkarte» abgebildet:

Der Gesprächsleitfaden, seine Grundlagen sowie Hintergrund und Auswertungskriterien der Items werden in einem gesonderten Begleitheft veröffentlicht. Dies ermöglicht eine praktische sowie modulare Handhabung des Verfahrens.

Teil D: Synthese und Massnahmenempfehlung Die Ergebnisse der Entwicklungsabklärung werden zu den vorhandenen Risikofaktoren und zu den fehlenden Schutzfaktoren in Verbindung gesetzt. Es wird im Sinn von Wechselwirkungen danach gefragt, wie sich einzelne Faktoren bzw. ihre Kumulation auf die Entwicklung aus- und wie Risiko- und Schutzfaktoren zusammenwirken. Auf der Grundlage dieser Synthese im Sinne einer Gesamtschau kann nachvollziehbar abgeleitet werden, ob ein Unterstützungsbedarf vorliegt und eine Intervention angezeigt ist. mit Risikobelastung

Teil B: Erfassung des Entwicklungsstandes des Kindes mit standardisierten Tests

Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf

Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf

Unterstützungsbedarf im Sinne selektiver Prävention

Entwicklungsabweichung

Entwicklungsgefährdung

Kinder in Risikosituationen

– 2 SD

– 11/2 SD

– 2 SD

– 11/2 SD

– 2/3

SD

kindorientiert

Mittelwert

ohne Risikobelastung

Personale Schutzfaktoren

Personale Risikofaktoren 1 2a

Verminderung von Risiko­ faktoren

2b 3

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Psychosoziale Risikofaktoren

Stärkung von Schutz­faktoren

Psychosoziale Schutzfaktoren

umfeldorientiert

Abb. 9: Persönliche Landkarte der Risiko- und Schutzfaktoren

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– 1 SD

Entwicklungs­­abweichung

Entwicklungs­ verzögerung

Entwicklung im Normbereich

Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf

Unterstützungs­ bedarf im Sinne indizierter Prävention

Kein Unter­­stützungsbedarf

Abb. 10: Bestimmung des Unterstützungsbedarfs


Art der Massnahme Die erstellte «persönliche Landkarte» bezüglich bestehender Risiko- und fehlender Schutzfaktoren des Kindes gibt – im Rückgriff auf den «Four Front Approach» (siehe Kap. 5.1) – Aufschluss über die Art und die Schwerpunkte der unterstützenden Massnahme. Sie wird entweder kind- oder umfeldorientiert, manchmal auch kind- und umfeldorientiert sein. Die Unterscheidung von Kind- und Umfeldorientierung trägt dazu bei, die Angebotsstrukturen im System der allgemeinen und spezialisierten «Frühen Hilfen» (Eickhorst, Borchardt & Cierpka, 2012, S. 789) zu klären sowie Aufgaben- und Interventionsfelder zu definieren. Das zeigt folgende Abbildung: Defizit­orientiert

(Sonder-)Päda­go­gische und medizinischtherapeutische Massnahmen

personale Risiko­faktoren

Perspektive

kind­ orientiert

Ressourcen­ orientiert

personale Risiko­faktoren

Verminderung der Auswirkungen von Risiko­ faktoren Sozialarbeit Psychologische und psychiatrische Massnahmen

(Sonder-) Pädagogische und psychologische Massnahmen

Stärkung von Schutzfaktoren psychosoziale Schutzfaktoren

Umfeld­ orientiert

psychosoziale Schutzfaktoren

(Sonder-) Pädagogische Massnahmen Sozialarbeit

Abb. 11: Kind- und umfeldorientierte Massnahmen in Relation zu Risiko- oder Schutzfaktoren

Ein differenziertes Angebot an allgemeinen und spezialisierten «Frühen Hilfen» erleichtert eine bessere Abstimmung zwischen den Bedürfnissen des Kindes bzw. seiner Familie und den Möglichkeiten des Helfersystems, was auch zu nachhaltigen Effekten führen sollte (ebd., S. 785; S. 789). Dabei ist zu bedenken, dass Kinder in Risikosituationen und ihre Familien nie nur Belastungen tragen, sondern über Schutzfaktoren verfügen, die möglicherweise bei gezielter Massnahme rasch eine Stabilisierung erwarten lassen (ebd., S. 784).

Aus der Palette möglicher Massnahmen wird jene Massnahme konkret vorzuschlagen sein, die nicht nur den Unterstützungsbedarf abdeckt, sondern auch in Übereinstimmung mit den örtlichen, wohnortsnahen Angeboten und deren Erreichbarkeit steht. Möglicherweise wird nicht nur eine Massnahme empfohlen bzw. zugesprochen werden. Das Verfahren als Ganzes umfasst fünf Teile: 1. Handbuch zur Erfassung von Entwicklungsstand und Verhalten (Teil B), zur Erhebung der Risiko- und Schutzfaktoren (Teil C) und zur Ermittlung des Unterstützungsbedarfs mit entsprechender Massnahmenempfehlung (Teil D) 2. Protokollbogen zum gesamten Verfahren 3. Gesprächsleitfaden zur Einschätzung der Risiko- und Schutzfaktoren mit 4. Protokollblatt zum Gesprächsleitfaden 5. Begleitheft zum Gesprächsleitfaden

5.6 Objektivität versus Subjektivität Die Qualität eines Verfahrens misst sich daran, ob und wie es den Gütekriterien standhält. In diesem Verfahren sind unterschiedliche Gütekriterien anzulegen. Gütekriterien für Teil B: Erfassung des Entwicklungsstandes mit standardisierten Tests Es wird vorausgesetzt, dass zur Erfassung des Entwicklungsstandes standardisierte Tests eingesetzt werden. Diese unterscheiden sich hinsichtlich der Erfüllung der sogenannten Testgütekriterien wie Objektivität (Wird unabhängig vom Testleitenden, -auswertenden gemessen?), Reliabilität (Wird exakt / zuverlässig gemessen?) und Validität (Wird überhaupt das geprüft, was man zu prüfen vorgibt?) (siehe Mossbrugger & Kelava, 2008, S. 8ff.). Da im Rahmen dieses Verfahrens standardisierte Tests empfohlen, aber nicht vorgegeben werden, wird davon ausgegangen, dass denjenigen Tests der Vorzug gegeben wird, die den erforderlichen Gütekriterien Rechnung tragen.

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Gütekriterien für Teil C: Einschätzung der Risiko- und Schutzfaktoren mit einem Gesprächsleitfaden

5.7 Modulare Anwendung des Verfahrens und des Gesprächsleitfadens

Zur Einschätzung der Risiko- und Schutzfaktoren wird ein Gespräch mit den Eltern oder einer anderen Hauptbezugsperson des Kindes mit Hilfe eines Leitfadens (Stigler & Felbinger, 2005) durchgeführt. Der Leitfaden thematisiert und bewertet in 26 spezifisch formulierten und theoretisch fundierten Items die Risikobelastung, ohne dabei ein standardisiertes Vorgehen einzuhalten. Die Subjektivität in den Antworten der Befragten und die fehlende Standardisierung führen dazu, dass die Gesprächsantworten weder besonders reliabel (exakt, zuverlässig) noch valide (gültig) sind (Rennen-Allhoff et al., 1993, S. 17) und damit den Anspruch an die Testgütekriterien nicht erfüllen. Die Reliabilität elterlicher Angaben wird jedoch dadurch gesteigert, dass Eltern die Fragen mit Beispielen aus spezifischen Situationen beantworten können. Die Reliabilität steigt zudem, wenn das Gespräch ausreichend umfangreich ist (ebd., S. 19), was mit dem vorliegenden Gesprächsleitfaden gewährleistet wird. Auf die Grundlagen und die weitere spezielle Relevanz des Gesprächsleitfadens wird im Begleitheft eingegangen. Bei der Anwendung müssen gewisse Grenzen in der erreichbaren Objektivität anerkannt werden. Das Vieraugenprinzip, 2 das in der Psychologie und (Sonder-)Pädagogik bei Abklärungen und Massnahmengutsprachen Einzug gehalten hat, wirkt allenfalls korrigierend und leistet einen wichtigen Beitrag für objektivere Ergebnisse. Mit diesem Verfahren wird ein zusätzlicher Schritt in Richtung nachvollziehbarer, transparenter, praktikabler und plausibler Entscheidungsfindung getan.

Das Verfahren ist in verschiedener Hinsicht modular anwendbar: a. Die Reihenfolge der Verfahrensteile B und C ist frei gestellt, was erlaubt, das gesamte Verfahren im Zeitrahmen, der zur Verfügung steht, flexibel, situationsangemessen und ökonomisch einzusetzen. b. Auch wenn das Verfahren darauf ausgelegt ist, als Ganzes durchgeführt zu werden, weil es mehr ist als die Summe der einzelnen Teile, kann die Einschätzung der Risiko- und Schutzfaktoren auch unabhängig von den anderen Teilen erfolgen. Das kann bei einer speziellen Fragestellung oder in einer besonderen Situation sinnvoll sein. So fügt sich Teil C zum Beispiel leicht in andere bestehende Verfahren zur Abklärung des (sonder-)pädagogischen Unterstützungsbedarfs ein. c. Der Gesprächsleitfaden zur Einschätzung der einzelnen Risiko- und Schutzfaktoren ist ein modularer Leitfaden, der Spielraum gibt hinsichtlich der Abfolge der Fragen, der Art, eine Frage mit einer anderen zu verknüpfen, sowie des Zeitpunktes, zu welchem ein bestimmtes Item thematisiert wird.

2

nter dem Vieraugenprinzip wird verstanden, dass die Diagnostik / Abklärung U nicht von jener Stelle durchgeführt wird, die anschliessend die für notwendig erachtete Massnahme erbringt (EDK, 2006, S. 26).

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