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Andrea Lanfranchi und Waltraud Sempert

Wirkung frühkindlicher Betreuung auf den Schulerfolg Follow-up der Studie «Schulerfolg von Migrationskindern»


Inhaltsverzeichnis

Zusammenfassung

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1. Einleitung

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2. 2.1 2.2 2.3

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Forschungsstand Ungleich verteilte Bildungschancen Bisherige Massnahmen nur beschränkt wirksam Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE)

3. Fragestellung 3.1 Fragestellungen der NFP-39-Vorschulstudie 3.2 Fragestellungen der Follow-up-Studie

29 29 31

4. 4.1 4.2 4.3 4.4

33 33 36 38 45

Methode Forschungsdesign der NFP-39-Vorschulstudie Übersicht über das Forschungsdesign der Follow-up-Studie Methodisches Vorgehen bei der quantitativen Erhebung Methodisches Vorgehen bei den qualitativen Fallstudien

5. Ergebnisse der quantitativen Erhebung 5.1 Transitorische Räume: Nutzungsverhalten und Kontinuität der Nutzung 5.2 Einzeleffekte der Partizipation an transitorischen Räumen auf den Schulerfolg 5.3 Kombinierte Nutzungseffekte transitorischer Räume auf den Schulerfolg 5.4 Passung und Vergleich von Modellen: die besten Prädiktoren für den Schulerfolg 5.5 Fazit für ein Gesamtkonzept zur Erklärung von Schulerfolg

59 60 65 67 78 79


6. Ergebnisse der qualitativen Fallstudien 6.1 Gruppe 1: Kinder in bildungsnahen Familien ohne Schulerfolg (BN / SE –) 6.2 Gruppe 2: Kinder in bildungsnahen Familien mit Schulerfolg (BN / S E+) 6.3 Gruppe 3: Kinder in bildungsfernen Familien ohne Schulerfolg (BF / SE –) 6.4 Gruppe 4: Kinder in bildungsfernen Familien mit Schulerfolg (BF / SE +) 6.5 Zusammenfassung der Kernaussagen in Tabellenform

83 84 97 108 119 133

7. 7.1 7.2 7.3 7.4

Synthese und Triangulation Quantitative Ergebnisse Qualitative Ergebnisse Fazit Limitationen

135 135 138 141 143

8. 8.1 8.2 8.3

Schlussfolgerungen Follow-up-Studie im Rahmen der Equity-Diskussion Effektivitätsforschung im Bereich frühkindlicher Bildung Ausblick: realisierbare Perspektiven

145 146 152 158

9. Literatur

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10. 10.1 10.2 10.3

181 181 183 184

Verzeichnisse Tabellenverzeichnis Abbildungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis


Anhang I: Interviewstruktur Familien

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Anhang II: Merkmale der besuchten Familien und verdichtete Inhalte der Interviews – zwei Beispiele

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Angaben über den Autor / die Autorin

193


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1. Einleitung

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf Daten, die im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekts «Langfristige Effekte familienergänzender Betreuung im Vorkindergartenalter auf die Schulleistungen» (SNF-Nr. 100013-113909) in den Jahren 2007/2008 erhoben worden sind. Es handelt sich um ein Langzeit-Follow-up der Studie «Schulerfolg von Migrationskindern – Auswirkungen transitorischer Räume», die im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 39 zum Thema Migra­ tion in den Jahren 1998 bis 2000 durchgeführt wurde (SNF-Nr. 4039-048959). An erster Stelle stand damals die Bestandsaufnahme aller familienergänzenden Betreuungseinrichtungen und die Ermittlung der Teilhabe aller vierund sechsjährigen Kinder unterschiedlicher ethnischer Herkunft (Schweiz, Kosovo, Italien, Türkei, Portugal) in den drei Städten Winterthur, Neuchâtel und Locarno (Grundgesamtheit: N = 1781; auswertbarer Datensatz zum Zeitpunkt 1 / Schuljahr 1998/1999: N = 876). In einem zweiten Schritt haben wir den Schulerfolg anhand der Einschätzung der Kindergärtnerinnen sowie der Lehrpersonen der ersten Regelklasse überprüft (auswertbarer Datensatz zum Zeitpunkt 2 / Schuljahr 1999/2000: N = 642). Als Hauptergebnis der NFP-39-Studie galt: Im Vorschulalter familienergänzend betreute und geförderte Kinder (in Krippen, Spielgruppen, Tagesfamilien oder im Kanton Tessin ab 3. Lebensjahr im Kindergarten) gelang die Einschulung signifikant besser als Kindern ohne familienergänzende Betreuung, die also zu Hause vorwiegend mit der Mutter aufgewachsen sind. Das traf ganz besonders für Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund zu. In einem qualitativen Untersuchungsteil mit 15 Fällen hat sich darüber hinaus gezeigt, dass familienergänzende Betreuungsformen bei einem gelungenen Schulübertritt vor allem dann wirksam sind, wenn sie den Charakter eines transitorischen Raums haben – das heisst, wenn sie einen vermittelnden Bezug zwischen Familie und Gesellschaft ermöglichen. Hingegen konnten wir damals die Frage nach der Langzeitwirkung der in der Einschulungsphase gemessenen Effekte nicht beantworten. Deshalb haben wir uns für ein Follow-up entschieden, das in den Jahren 2007 und 2008


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als dritte Messung des ursprünglichen Samples in den Städten Winterthur und Locarno erfolgt ist (auswertbarer Datensatz zum Zeitpunkt 3 / Schuljahr 2007/2008: N = 429). Die Stichprobenmortalität beträgt also nach acht Jahren 19,8 Prozent. Die Hauptfragestellung der im Folgenden vorgestellten und diskutierten neuen Studie lautet: Hat familienergänzende Betreuung im Vorschulalter nachhaltige Effekte auf den Schulerfolg, das heisst, können auch nach einer Zeitspanne von acht Jahren positive Effekte dieser Betreuung nachgewiesen werden? Die Frage nach nachhaltigen Effekten familienergänzender Kinderbetreuung in Bezug auf den schulischen Lernerfolg ist für mehrere wissenschaftliche Disziplinen (allen voran Sonderpädagogik, Sozialpädagogik, Pädagogische Psychologie, Angewandte Psychologie, Bildungssoziologie) und der damit verbundenen Praxis relevant. Am Beispiel der Sonderpädagogik hat sich im Laufe ihrer Entwicklung gezeigt, dass sie sich von der ursprünglichen defektologischen Orientierung gelöst hat und heute daran ist, Modelle der Prävention von (nicht selten sozial mitbedingten) Behinderungsrisiken zu entwickeln (Lanfranchi, 2004a; Speck, 1998). Sollte es sich als möglich erweisen, schulische Lern- und Leistungsstörungen dank frühkindlicher Förderung in Kindertagesstätten zu vermindern, wäre ein grosser Schritt in Richtung Chancengerechtigkeit geleistet. Insbesondere gilt dies für Kinder aus bildungsfernen Familien, die trotz der grossen Diskussion rund um PISA und den proklamierten Aktionsplänen von Bildungsexperten und -politikern (EDK, 2003) nach wie vor und immer häufiger ausgesondert werden. Das ist eines der Hauptmotive, warum die Schuldirektorenkonferenz der Schweizer Städte im Januar 2005 der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren ein Positionspapier mit einem Forderungskatalog «zur gezielten Förderung des Kindergartens und der Sprachkompetenz im frühen Kindesalter» unterbreitet hat (Schuldirektorenkonferenz, 2005): Durch altersgerechte Bildungs- und Integrationsangebote müsse die Sprachkompetenz bereits im Vorkindergartenalter gefördert werden. Die frühe Förderung von Kindern sei eine nachhaltige Investition in die Zukunft, von der die öffentliche Hand später um ein Mehrfaches profitieren werde. Obwohl wir rund um den hohen Anspruch der präventiven Möglichkeiten familienergänzender Kinderbetreuung – gerade bei Kindern aus bildungsfernen Familien – von der Richtigkeit des Anliegens überzeugt sind, müssen wir zugeben, dass in der Schweiz über die Langzeitwirkung solcher Massnahmen so viel wie nichts bekannt ist. Die Lücke möchten wir mit dieser Folgestudie füllen.


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2. Forschungsstand

2.1 Ungleich verteilte Bildungschancen Das Problem der ungleich verteilten Bildungschancen1 in der Schweiz bzw. der sozialen Selektivität unserer Schule ist spätestens seit der internationalen Vergleichsstudie PISA 2000 hinlänglich bekannt (Coradi Vellacott et al., 2003; Zahner et al., 2002). PISA 2003 (Zahner Rossier et al., 2004), PISA 2006 (Zahner Rossier & Holzer, 2007) sowie verschiedene Untersuchungen und Berichte bestätigen die nach wie vor überdurchschnittlichen Schulmisserfolgsquoten von Schulkindern aus sozial unterprivilegierten Familien (Moser & Lanfranchi, 2008; Moser, Stamm & Hollenweger, 2005). Das gilt ganz besonders, wenn sie aus Migrationsfamilien stammen (zum Zusammenspiel von sozioökonomischem Status und Ethnizität sowie Kultur bei Familien mit kleinen Kindern vgl. Leyendecker, 2005). Dieselben Kinder sind in separierten, sonderpädagogisch geführten Schultypen der Volksschule sowie in den leistungsmässig niedrigeren Schultypen der Sekundarstufe I massiv und zunehmend übervertreten (Bundesamt für Statistik, 2011a, 2011b; Lanfranchi & Jenny, 2005; Lischer, 2003). Zu Beginn der Primarschule finden sie sich übermässig oft in Einschulungsklassen mit besonderem Lehrplan versetzt, sie werden vom regulären Schulbeginn dispensiert oder in den Kindergarten zurückgestellt. Im Kanton Zürich wurden beispielsweise im Schuljahr 1997/98 rund 17 Prozent der schulpflichtigen Kinder nicht in die

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hancengleichheit definieren wir im Bildungsbereich als Gleichstellung der Möglichkeiten zur individuellen C Leistungsentfaltung und Leistungsbestätigung unabhängig von sozialer Herkunft, Geschlecht oder Religion. In der wissenschaftlichen Bearbeitung gelangen häufig das Konzept der repräsentativen und der bedingten Chancengleichheit zur Anwendung: Die repräsentative Chancengleichheit bezieht sich auf Disparitäten in der Bildungsbeteiligung und ist dann erreicht, wenn Kinder unterschiedlicher Herkunftsgruppen entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung in allen Schulzweigen vertreten sind (Fend, 1982, S. 131). Die bedingte Chancengleichheit bezieht sich auf das Leistungsvermögen – oft gemessen durch Tests kognitiver Grundfähigkeiten – und ist dann erreicht, wenn bei gleichen Bedingungen des Leistungsvermögens eine ähnliche Bildungsbeteiligung oder – in der neueren Forschung – eine ähnliche Realisierung von Kompetenzen in verschiedenen Fächern oder bei Grundfertigkeiten wie dem Lesen erfolgt (Fend, 1982, S. 132ff.).


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1. Regelklasse eingeschult: 9 Prozent wurden in den Kindergarten zurückgestellt und 8 Prozent in die Einschulungsklasse versetzt. Sieben Jahre später (Schuljahr 2004/05) haben die Anteile der Kinder, die nicht altersgemäss eingeschult wurden, mit 19 Prozent erneut zugenommen: zehn Prozent Rückstellungen in den Kindergarten und 9 Prozent Versetzung in Einschulungsklassen. Bei diesen Quoten sind Kinder mit Migrationshintergrund um das Doppelte überrepräsentiert (Lanfranchi, 2002, S. 54).

2.2 Bisherige Massnahmen nur beschränkt wirksam Um die Bildungschancen von Kindern aus sozial unterprivilegierten Familien zu erhöhen, haben vor allem die kantonalen Bildungsbehörden in den letzten zehn bis zwanzig Jahren verschiedene Problemlösungsansätze eingeleitet. Insgesamt ist die Bilanz der zahlreichen Bemühungen, unter dem Blickwinkel der erwähnten PISA-Daten und einiger Indikatoren wie Zuweisungsquoten in Sonderklassen und Sonderschulen sowie Bildungsabschlüsse bei Kindern mit Migrationshintergrund, allerdings doch eher enttäuschend. Wir sind von einer Chancengleichheit noch weit entfernt, sowohl bei den Startbedingungen beim Schuleintritt als auch bei den Selektionsschritten in den kritischen Phasen der Übergänge von einer Schulstufe in die andere. Immerhin: Viele der realisierten Massnahmen leisteten und leisten einen Beitrag, dass sich die Situation nicht weiter verschlechtert hat. Mit kritischem Blick erwähnen möchten wir folgende Interventionsebenen:

Lehrerbildung Mit der Neustrukturierung der Ausbildung von Lehrpersonen an Pädagogischen Hochschulen waren die entsprechenden Investitionen der letzten Jahre beträchtlich, gerade im Bereich der Förderung von Chancengleichheit durch transversale Einbettung der Interkulturellen Pädagogik (Lanfranchi, 2010b; Lanfranchi, Perregaux & Thommen, 2000). Die vielen Berichte und Bestandsaufnahmen (COHEP, 2007) sollten uns jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir über die spezifische Wirksamkeit der Lehrerinnenund Lehrerbildung auf das Lernen von Kindern aus bildungsbenachteiligten Familien so viel wie nichts wissen (Oelkers, 1993). Aufgrund einzelner empirischer Belege können wir immerhin davon ausgehen, dass Lehrpersonen


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mit heilpädagogischer Zusatzausbildung bei der Bearbeitung von Fallbeispielen professioneller denken und weniger diskriminierend handeln als Lehrpersonen ohne Zusatzausbildung (Lanfranchi, 2008).

Integrative Massnahmen, schulische Heilpädagogik Bis 2006 hat in der Schweiz der Anteil an Schülerinnen und Schülern, die in einer Kleinklasse oder Sonderschule unterrichtet werden, stetig zugenommen. Mehr als ein Zehntel der «Ausländerkinder» und eines von 25 Schweizer Kindern wurden vom normalen Schulprogramm ausgeschlossen. Die neusten bildungsstatistischen Kennwerte zeigen, dass der Trend in Richtung Separation gebrochen wurde (Bundesamt für Statistik, 2011a). Die Versetzungsquoten in Kleinklassen haben sich zwischen 2003 und 2010 deutlich verringert, von insgesamt 3,9 auf drei Prozent. Dafür sind die Prozentzahlen der Kinder, die in Sonderschulen versetzt werden, in den letzten sieben Jahren von 1,8 auf 2,1 weiter angestiegen. Insgesamt werden in der Schweiz durchschnittlich 5,1 Prozent aller Schulkinder separiert. Im europäischen Vergleich sind das die höchsten Anteile. Deutschland weist eine Separationsquote von 4,8, Frankreich 3,1, Österreich 1,5, Schweden 0,5 und Italien 0,01 Prozent auf (European Agency for Development in Special Needs Education, 2011). Die übertriebene Anwendung des Delegationsprinzips und die enorme Kostenexplosion eines Systems der Aussonderung hat zur integrativen Ausrichtung des sonderpädagogischen Angebots geführt, wie sie heute in der Schulgesetzgebung aller Kantone der Schweiz verankert ist (Lanfranchi, 2005, 2009; Lanfranchi & Steppacher, 2011). Inwiefern integrierte schulische Heilpädagogik den Lernerfolg schulschwacher Kinder effektiv erhöht und einen Beitrag zur Chancengleichheit leisten kann, wurde bis heute nur ansatzweise untersucht (einige wenig spezifische Befunde finden sich in der älteren, neu aufgelegten Studie von Bless, 2007). Die im nächsten Abschnitt referierten Daten werfen jedenfalls einige Fragen zu Effizienz und Effektivität schulischer Heilpädagogik auf.

Einschulungshilfen, Deutsch als Zweitsprache, QUIMS, Basisstufe Schon bei Schulbeginn ist die interindividuelle Variabilität in verschiedenen Kompetenzbereichen enorm. Nach einer Lernstanderhebung bei Eintritt in die erste Klasse im Kanton Zürich (Moser, 2005) beherrschen vier von fünf


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