HfH SprachverständnisKompass Mappe inkl. Screeningbogen

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SV ICF-orientierte

Entscheidungshilfe für Fachpersonen im Frühbereich bezüglich Beratungs- und Abklärungsbedarf bei Auffälligkeiten des Sprachverständnisses bei Kindern im Alter von 3;0 bis 4;6 Jahren

Wolfgang G. Braun, Prof., Fiona Fischer, Erina Sennhauser, Anina Studer

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik


SprachverständnisKompass Ziel Der SprachverständnisKompass ist eine Entscheidungshilfe für Fachpersonen im Frühbereich, die bei der Entscheidung über die Notwendigkeit einer logopädischen Beratung oder Abklärung hilfreich ist. Kinder im Alter von 3;0 bis 4;6 Jahren mit Auffälligkeiten beim Verstehen von Sprache sollen frühzeitig erkannt werden. Der Kompass dient als Hilfsmittel für eine Einleitung einer eventuellen logopädischen Intervention. Er stellt in der Zusammenarbeit «Eltern – Fachpersonen im Frühbereich – Logopädie» eine Gesprächsgrundlage in der Förderplanung dar. Der SprachverständnisKompass, der für Kinder mit Erstsprache Deutsch konzipiert ist, ist eine informelle Entscheidungshilfe und kein evaluiertes diagnostisches Instrument. Sprachverständnis Das Sprachverständnis ist ein innerer Prozess und ist folglich nicht direkt beobachtbar. Es handelt sich dabei um die Fähigkeit, Wörtern, Sätzen und Texten den Sinn zu entnehmen und somit Kommunikationssituationen Bedeutung zu geben. Das Sprachverständnis ist für die

Gesamtentwicklung des Kindes von grosser Bedeutung. In der frühen Entwicklung lernt das Kind, dass Gegenstände und Situationen durch Worte benannt werden. Nur durch das Verstehen von Sprache kann es auch lernen, die Welt zu verstehen. Zu jeder Zeit der Sprachentwicklung ist das Kind in der Lage, mehr Worte zu verstehen als es zu produzieren vermag. In der Entwicklung des Sprachverständnisses wendet ein Kind altersentsprechende Strategien an, um Äusserungen des Gegenübers zu verstehen. Ist das Kind jedoch später nicht in der Lage, auch komplexere Äusserungen zu verstehen und Strategien überdauern somit über die normale Altersnorm hinaus, kann dies als Symptom für Probleme im Sprachverständnis gelten. Schwierigkeiten im Sprachverständnis können massive Auswirkungen auf die allgemeine Entwicklung eines Kindes haben. Eine soziale Integration ist gefährdet, der Schulerfolg und -abschluss entsprechen womöglich nicht der kognitiven Leistungsfähigkeit des betroffenen Kindes. Diese möglichen schwerwiegenden Folgen für das Kind befürworten eine früh angesetzte Beobachtung respektive Beratung oder Abklärung bei Unsicherheiten.

Meilensteine und Strategien des Sprachverständniserwerbs Alter

Merkmale

Bis 12 Monate

- Situationsbezogenes Sprachverständnis - Erstes Wortverständnis

12–24 Monate

- Mehr als ein Wort der Äusserung wird verstanden, jedoch ohne Verknüpfung - Situationale Aufforderungen werden verstanden und ausgeführt - Symbolspiel, Vorstellung aufbauen - Zwei Elemente in einer situationsbezogenen Äusserung werden verstanden

- Orientierung an zentralen Inhaltswörtern (Schlüsselwortstrategie) - Das Kind interpretiert das Gesagte sinnvoll nach seinen bisherigen Erfahrungen (Semantische Strategie)

2;0–2;11

- Vergangenheitsverständnis - Absurde Aufforderungen können verstanden und abgelehnt werden (Beispiel: «Wirf die Tasse.») - Zwei bis drei Einheiten von nicht-situativen Äusserungen werden verstanden

- Handlung nach der wahrscheinlichsten Bedeutung (Pragmatische Strategie) - Kind fühlt sich aufgefordert, die Handlungen immer selbst durchzuführen («Kind-als-Handelndes»-Strategie)

3;0–3;11

- W-Fragen werden verstanden: Wo, was, wer, wie, warum, wieso, wann - Das Kind handelt um zu verstehen - Subjekt-Verb-Objekt-Sätze werden verstanden, Passivsätze jedoch noch nicht

- Fragen stellen (Spiegel der Entwicklung des Sprachverständnisses) - Wortreihenfolgestrategie: Das erstgenannte Inhaltswort wird immer als Handelnder betrachtet (Syntaktische Strategie)

4;0–4;11

- Verstehen von Erzählungen (Textverständnis); kurze, in der Abfolge logische Geschichten

5;0–7;0

- Beginn von Zeit- und Raumverständnis (als Grundlage für Zeitformerwerb) - Verstehen von Satzgefügen möglich («bevor», «nachdem», «weil» und «während»)

Tabelle Meilensteine und Strategien des Sprachverständniserwerbs in Anlehnung an Gebhard, 2008; Mathieu, 2000; Schrey-Dern, 2006 & Zollinger, 2008.

Altersentsprechende Strategien

- Erkennen von sprachlichen Informationen hilft, Passivsätze zu verstehen (Grammatische Strategie) - Reihenfolge der Äusserungen entspricht immer der Reihenfolge der Ereignisse ( Äusserungsfolge-/ Ereignisfolgestrategie) - Der Handelnde der ersten Äusserung wird auch als Handelnder der zweiten angesehen ( Strategie der Rollenkonservierung)


S

ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) Die Denkweise der ICF erweitert den Fokus über die auffällige Sprechfunktion hinaus - eine Auffälligkeit wird im Zusammenspiel von Körper, Person und Umwelt verstanden. Aspekte der Aktivität und Partizipation fliessen beim SprachverständnisKompass mit ein – die Reaktion des Kindes auf Nichtverstehen wie z.B. Nullreaktion und inadäquate Antworten (Aktivität) sowie das Spielverhalten (Partizipation) sind wertvolle Früherkennungsdimensionen. Das Umfeld (Kontextfaktoren) trägt durch das wichtige Kriterium ‚Sorgen der Eltern‘ mit zum Entscheid des weiteren Vorgehens bei. Aufbau des SprachverständnisKompasses Der SprachverständnisKompass beinhaltet einen Erfassungsbogen, der sich in drei Teile unterteilt: 1. Der erste Teil führt ausschlaggebende, schwergewichtige Beobachtungskriterien auf.

2. Der zweite Teil besteht aus je 11 Beobachtungshinweisen, die von der Fachperson in Bezug auf das zu beobachtende Kind als zutreffend oder nicht zutreffend zu beurteilen sind. Die Beobachtungskriterien sind positiv formuliert – Auffälligkeiten werden mit «Nein» markiert. Zur besseren Verständlichkeit werden teilweise Fehlerbeispiele aufgeführt. Die Beobachtungen verstehen sich nicht als Momentaufnahmen und sollen Eindrücke über einen Zeitraum von ein bis zwei Monaten widerspiegeln. 3. Der dritte Teil benennt zusätzliche Elterninformationen und Faktoren, die eine logopädische Beratung oder Abklärung bekräftigen können.

Auswertung und Empfehlungen Wenn im ersten Teil eine positiv formulierte Aussage nicht zutrifft, ist der Austausch mit einer logopädischen Fachperson in jedem Fall empfehlenswert. Nullreaktionen, vermehrt falsche Reaktionen auf sprachliche Anweisungen sowie häufige unpassende Ja-Antworten sind deutliche  Warnsignale. Je mehr gezielte Hinweise (Teil 2) auf das Kind zutreffen (Ja-Antworten), umso wahrscheinlicher ist es, dass keine logopädische Beratung oder Abklärung in Betracht zu ziehen ist. Sollten zwei oder mehr Beobachtungskriterien nicht zutreffen, empfehlen wir auf jeden Fall eine logopädische Beratung bzw. Abklärung. Eine solche kann, muss aber nicht in eine Sprachtherapie münden. Zusätzliche Faktoren (Teil 3) können die Entscheidung für eine logopädische Beratung oder Abklärung bekräftigen.


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HfH 2021 © Braun, Fischer, Sennhauser,Studer

kompasse@hfh.ch


Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik

SprachverständnisKompass Entscheidungshilfe für Fachpersonen im Frühbereich Kinder im Alter von 3;0 bis 4;6 Jahren Name, Vorname:

Geburtsdatum:

Untersuchungsdatum:

1.

Ausschlaggebende Beobachtungskriterien:

Ja Nein

Das Kind zeigt auch ohne Kontexthilfe eine Reaktion, wenn man es anspricht. Fehlerbeispiel: «Möchtest du in die Bauecke?» – «…» (Nullreaktion)

Das Kind reagiert angemessen auf sprachliche Aufforderungen. Fehlerbeispiel: Es bringt einen Strassenschuh, anstatt einen Hausschuh.

Das Kind antwortet differenziert sowohl auf Alternativfragen als auch auf offene Fragen und antwortet nicht vermehrt mit unpassendem Ja. Fehlerbeispiel: «Hast du einen Hund oder eine Katze?» – «Ja.» oder «Wo möchtest Du spielen?» – «Ja.» Anzahl Nein-Antworten

2.

Auswertung: Bei einer oder mehr Nein-Antworten empfehlen wir eine Beratung / Abklärung.

Gezielte Hinweise:

Das Kind kann Alltagswörter oder ihm bekannte Ausdrücke verwenden, ohne sich in seinen Äusserungen auf Wörter wie «Dings», «dasda» und «da» stützen zu müssen.

Wenn das Kind Fragen stellt, ist es an der Antwort interessiert, d. h. ein eventuelles «Nicht-Verstehen» der Fragen wird nicht mit Pseudofragen überdeckt.

Das Kind kann Fragen angemessen, d. h. inhaltlich richtig beantworten.

Das Kind spielt mit anderen Kindern oft und gerne. Es kann dabei das gemeinsame Spiel sprachlich planen, begleiten und entwickeln.

Das Kind übernimmt im Rollenspiel Rollen, die eine sprachliche Planung und Aktivität erfordern (Bsp.: Mama, Verkäufer, Lehrerin …). Es wählt nicht nur die Rolle des Babys oder des Haustieres.

Das Kind scheint im Kreis aktiv zuzuhören, erscheint präsent und zeigt verständnisbezeugende Reaktionen (Nicken, Kommentieren, Fragen).

Das Kind kann beim Geschichtenerzählen konzentriert auf seinem Stuhl sitzen. Fehlerbeispiel: Das Kind stört, indem es unruhig wird, aufsteht oder seinen Nachbarn schubst.

Das Kind sucht den Kontakt mit anderen Kindern und nimmt aktiv am kommunikativen Geschehen teil. Es zieht sich nicht ungewöhnlich oft zurück.

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Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik

SprachverständnisKompass Entscheidungshilfe für Fachpersonen im Frühbereich Kinder im Alter von 3;0 bis 4;6 Jahren

Das Kind kann in der Regel eine sprachliche Anweisung auch ausführen, ohne sich an den anderen Kindern zu orientieren.

Das Kind versteht Gesagtes ohne mimische respektive gestische Unterstützungen, sowie ohne die dazu passende Situation zu benötigen. Fehlerbeispiel: Es bringt die Schere nur, wenn zusätzlich zur verbalen Aufforderung auf die Schere gezeigt wird oder in der Gruppe gerade eine Bastelarbeit mit Scheren ansteht.

Das Kind reagiert auf Gesagtes situationsgerecht. Es orientiert sich nicht ausschliesslich an zentralen Inhaltswörtern (Schlüsselwörtern). Fehlerbeispiel: Die Erzieherin sagt zur Gruppe: «Später gehen wir in den Garten.» Das Kind geht sofort in die Garderobe und zieht sich die Schuhe an. Anzahl Nein-Antworten

Bekräftigende Faktoren:

Die Eltern äussern Unsicherheiten / Sorge bezüglich des Sprachverständnisses ihres Kindes.

Das Kind begann erst spät, erste Wörter zu äussern (Normwert 12 Monate).

Mit 2;0 Jahren produzierte das Kind weniger als 50 Wörter und keine Wortkombinationen (Zwei-Wortsätze).

Die Sprachproduktion ist auffallend: Die Äusserungen sind grammatikalisch fehlerhaft und / oder inhaltlich schwer verständlich. Das Kind benutzt vermehrt Floskeln wie «Ich weiss nicht» und «Kann ich nicht». Es wiederholt Gesagtes und / oder spricht undeutlich.

Das Kind wechselt nach kurzer Zeit immer wieder den Spielort. Das Spiel enthält keinen Handlungsverlauf / kein Ziel und erscheint wenig abwechslungsreich.

Das angesprochene Kind erscheint unkonzentriert. Man denkt, es hört nicht zu.

Anzahl bekräftigende Hinweise

Gesamtergebnis

Anzahl Nein-Antworten Teil 1

Anzahl Nein-Antworten Teil 2

Anzahl bekräftigende Hinweise

Empfehlung weiteres Vorgehen

Keine Massnahme nötig

Entwicklungsbeobachtung Weiterweisung

HfH 2021 © Braun, Fischer, Sennhauser,Studer

3.

Auswertung: Je mehr der oben genannten Beobachtungskriterien auf das Kind zutreffen, umso wahrscheinlicher ist es, dass keine logopädische Beratung / Abklärung in Betracht zu ziehen ist. Sollten zwei oder mehr Beobachtungskriterien nicht zutreffen (Nein-Antworten), empfehlen wir auf jeden Fall den Austausch mit den Eltern und / oder eine logopädische Beratung bzw. Abklärung.


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