HfH LesekompetenzKompass Mappe inkl. Screeningliste

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ABC ICF-orientierte

Entscheidungshilfe für Erstklassenlehrkräfte bezüglich Beratungsund Abklärungsbedarf bei Auffälligkeiten im Leseerwerbsprozess bei Kindern in der 1. Klasse

Wolfgang G. Braun, Prof., Corinne Rüegger, Stephanie Sinniger

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik


LesekompetenzKompass für die 1. Klasse Der LesekompetenzKompass ist eine Entscheidungshilfe für Lehrpersonen von 1. Klassen. Er erleichtert die Entscheidung, ob eine Beratung bzw. Abklärung bei der zuständigen Fachperson (Logopädin, Legasthenietherapeutin) einzuleiten ist. Im Sinne der sekundären Prävention ist es das Ziel, Kinder mit einem Risiko im Leseerwerbsprozess früh zu erkennen. Weiter dient der Kompass als Kommunikationsbasis für den Austausch von Lehrpersonen, Fachpersonen und Eltern über Leseleistungen des Kindes. Der Kompass enthält Beobachtungskriterien zu Voraussetzungen des Lesens, dem Leselernprozess und weiteren auf das Lesen einwirkenden Faktoren. Die Kriterien können allesamt im Unterricht beobachtet oder bei der Kindergartenlehrperson oder den Eltern erfragt werden.

Der LesekompetenzKompass ist für Kinder mit Erstsprache Deutsch konzipiert. Für fremdsprachige Kinder muss individuell je nach Sprachkompetenz entschieden werden, welche Beobachtungen aussagekräftig sind. Es muss betont werden, dass es sich beim LesekompetenzKompass nicht um ein evaluiertes diagnostisches Instrument, sondern um eine informelle Entscheidungshilfe handelt. Wir möchten Lehrpersonen dazu ermutigen, frühzeitig eine Fachperson zur Beratung oder Abklärung beizuziehen. Die sensible Phase des Leseerwerbs sollte möglichst reibungslos und mit Freude erfolgen. Rechtzeitige Beratung und Unterstützung bei Mühen sind unerlässlich.

Leseerwerb Die folgenden Angaben zu wichtigen Vorläuferfertigkeiten und Entwicklungsphasen des Leseerwerbs sollen einen Überblick und eine Orientierungshilfe geben: Voraussetzungen für einen gelingenden Leseerwerb (Vorläuferfertigkeiten) - Altersentsprechende Sprachent- wicklung - Seh- und Hörfähigkeit

- Phonologische Bewusstheit (Reimen, Silbenklatschen, Laute heraushören)

- Emotionale Einstellung zum Lesen und Lernen - Kognitive Leistungen

- Merkfähigkeit

Phasen des Leseerwerbs Phase

Beschreibung

Präliteral symbolische Strategie

Vorschulzeit: Nachahmung äusserer Verhaltensweisen («So-tun-als-ob-Lesen»).

Logographemische Strategie

Im Alter von 4;6 bis Schuleintritt: Wiedererkennen von Namen, Firmenlogos.

Alphabetische Strategie

Ab 1. Schuljahr Zu Beginn: - Buchstaben-Laut-Zuordnung wird erworben. - Lesen erster Buchstabenfolgen («AB», «UFO»). Später: - Erlesen von einzelnen Wörtern (Noch Buchstabe für Buchstabe und unnatürliche Aussprache, gedehntes Lesen: «IHH-G-EHH-L»). - Verzögerte Sinnentnahme (Wiederholung des Gelesenen mit der richtigen Betonung).

Orthographische Strategie

Zu Beginn: - Nutzen grösserer Verarbeitungseinheiten beim Lesen («Ra pun zel», «Ze bra»). - Erste Wörter, die als Ganzes erfasst werden (Sichtwörter). - Zunahme der Lesegeschwindigkeit. - Sinnerfassendes Lesen bei kurzen Sätzen. Später: Automatisierung des Lesevorgangs, Sinnerfassung auf Textebene. Entwicklung hin zum Kompetenten Leser.

Quelle: nach Kirschhock, E-M. (2004). Entwicklung schriftsprachlicher Kompetenzen im Anfangsunterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.


ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) Die Denkweise der ICF erweitert den Fokus über die auffällige Leseaktivität hinaus – eine Auffälligkeit wird im Zusammenspiel von Körper, Person und Umwelt verstanden. Aspekte der

Körperfunktionen (Sehen, Hören, Merkfähigkeit) und Partizipation (über Gelesenes sprechen) fliessen beim LesekompetenzKompass mit ein. Das Umfeld (Sorgen der Eltern als Kontextfaktor) sowie personenbezogene Faktoren (Bewältigungsstile) tragen zum Entscheid des weiteren Vorgehens bei.

Aufbau Das Screening beinhaltet drei Erfassungsbögen und wird zu zwei Zeitpunkten angewandt: Phase A (Teil 1 und 2): Für alle Kinder Ende 1. Quartal des 1. Schuljahres auszufüllen. Bei Auffälligkeiten zu diesem Zeitpunkt: Entwicklungsbiographische Hinweise (Teil 3): Befragung von entwicklungsbiographischen Hinweisen (Vorläuferfähigkeiten). Phase B (Teil 4 und 5): Dieser Teil wird Ende 1. Semester der 1. Klasse ausgefüllt. Er kann ebenfalls eingesetzt werden, wenn das Kind im Zeitpunkt A unauffällig, im Laufe des Semesters aber dennoch Anzeichen für Schwierigkeiten im Leseerwerbs­ prozess aufweist.

Ablaufdiagramm

auffällig

auffällig

1

2

Ende 1. Quartal

Zeitachse

auffällig

4

Screening Phase A

Kindergarten

Screening Phase B 5

leicht auffällig Beobachtung fortführen

unauffällig

Zielgruppe alle Kinder

Befragung Entwicklungsbiographische Hinweise 3

auffällig

Zielgruppe Auffällige

stark auffällig

Beratung / Abklärung bei einer Fachperson

unauffällig

Ende 1. Semester

1. Klasse Schulstart

Durchführung und Auswertung Im Herbst am Ende des 1. Quartals wird der Bogen Phase A für alle Kinder ausgefüllt. Die Anzahl der ‹Trifft nicht zu›-Antworten wird in das Auswertungsraster am Ende des Bogens in das entsprechende Feld eingetragen. Der Schnittpunkt von Zeile (Teil 1) und Spalte (Teil 2) weist auf ein mögliches weiteres Vorgehen hin. Bei entwicklungsauffälligen Kindern werden zudem entwicklungsbiographische Hin-

weise erfragt und es wird eine Beratung und / oder eine Abklärung empfohlen. Bei leicht auffälligen Kindern wird die weitere Entwicklung beobachtet und ein erneutes Screening am Ende des 1. Semester (Phase B) durchgeführt. Das Durchführungs- und Auswertungsvorgehen ist dann analog Phase A. Auswertungsbeispiele finden Sie unter www.logopaedieundpraevention.hfh.ch


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Kontakt

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Schaffhauserstrasse 239 Postfach 5850 CH-8050 Zürich www.hfh.ch

HfH 2019 © Braun, Rüegger, Sinniger

kompasse@hfh.ch


Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik

Entscheidungshilfe für Erstklassenlehrkräfte bezüglich Beratungs- und Abklärungsbedarf bei Auffälligkeiten im Leseerwerbsprozess Phase A. Ende 1. Quartal (Herbst) Teil 1 bis 3 Name, Vorname:

1

Beobachtungskriterien

Trifft zu

2 3

Geburtsdatum:

5 4

Trifft nicht zu

Das Kind kann alle im Unterricht behandelten Buchstaben / Lautbilder* prompt benennen. Das Kind kann auf alle im Unterricht behandelten Buchstaben / Lautbilder richtig zeigen, wenn sie

genannt werden.

Das Kind kann zwei erlernte Buchstaben als Silbe zusammenhängend lesen.

Das Kind kann Anlaute aus dem Wort heraushören. Bsp. «Was hörst du am Anfang von ‹Affe›?»

Das Kind kann Wörter, die in Lauten gesprochen werden, zusammenfügen. Bsp. Lehrperson: «I-G-E-L»

Kind: «Igel»

Das Kind kann Reime bilden. Bsp. «Was reimt sich auf ‹Haus›?» * Mundbilder z. B. im Lehrgang «Leseschlau»

Anzahl «Trifft nicht zu»-Antworten Teil 1

1 2

5 Bekräftigende Hinweise Trifft zu

4

Das Kind interessiert sich für Bücher.

Das Kind zeigt Interesse am Lesen.

Das Kind kann sich sprachliche Inhalte gut merken (Reime, Lieder, Aufträge).

Das Kind kann seinen Namen bei Schuleintritt bereits schreiben.

Das Kind kann vorgelesene Geschichten / Erlebnisse nacherzählen.

Das Kind kann sich analog seinen Klassenkameraden fokussiert mit Lesen befassen.

Die Sehfähigkeit des Kindes ist gut oder entsprechend mit Brille korrigiert (Bei Verdacht Sehabklärung

Die Hörfähigkeit des Kindes ist gut (Bei Verdacht Hörabklärung einleiten).

Das Kind hat seltenst Lautverdrehungen oder Lautersetzungen in seiner mündlichen

einleiten).

Sprache. Bsp. «Babel» statt Gabel, «Tetefon» statt Telefon, «Bort» statt Brot.

Das Kind spricht vorwiegend in korrekten Haupt- und Nebensätzen.

Das Kind hat einen differenzierten Wortschatz.

Das Kind kann verbale Handlungsanweisungen ohne Situationskontext korrekt ausführen. Anzahl «Trifft nicht zu»-Antworten Teil 2

Auswertung Phase A und weiteres Vorgehen Teil 2

Teil 1

3

Trifft nicht zu

0-1

2-3

≥4

0

unauffällig

Weitere Beobachtung + Ende 1. Semester Screening Phase B ausfüllen

Weitere Beobachtung +Ende 1. Semester Screening Phase B ausfüllen

1

Weitere Beobachtung + Ende 1. Semester Screening Phase B ausfüllen

Weitere Beobachtung + Ende 1. Semester Screening Phase B ausfüllen

Teil 3 ausfüllen und Beratung / Abklärung einleiten

≥2

Teil 3 ausfüllen und Beratung / Abklärung einleiten

Teil 3 ausfüllen und Beratung / Abklärung einleiten

Teil 3 ausfüllen und Beratung / Abklärung einleiten


Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik

Entwicklungsbiographische Hinweise (Rückfrage an Kindergartenlehrperson, Eltern, Fachpersonen) Zu erfragen bei Auffälligkeiten in Phase A

1

3

5 4Bekräftigende Hinweise

Trifft zu

Trifft nicht zu

Das Kind konnte Reime erkennen. Bsp. «Klingt Tisch wie Stuhl oder wie Fisch?»

Das Kind konnte Namen oder andere Wörter in Silben klatschen.

Das Kind konnte ähnlich klingende Laute unterscheiden.

Das Kind zeigte Interesse an Buchstaben, Zeichen und Symbolen.

Das Kind zeigte im Kindergarten Interesse an Büchern.

Das Kind war beim Umgang mit Gegenständen (handeln, schneiden, malen) unauffällig.

Das Kind hatte bereits therapeutische Massnahmen (Logopädie, Psychomotorik, …).

Notizen

Die entwicklungsbiographischen Hinweise sowie folgende Faktoren können zusätzlich für eine Beratungs- / Abklärungszuweisung sprechen: Familiäre Häufigkeit / Leseschwierigkeiten in der Familie Bildungsferne der Eltern / Bezugspersonen Die Eltern äussern Besorgnis im Bezug auf die Sprachentwicklung und / oder den Leseerwerbsprozess.

HfH 2019 © Braun, Rüegger, Sinniger

2

Name der Befragten: Datum:


Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik

Entscheidungshilfe für Erstklassenlehrkräfte bezüglich Beratungs- und Abklärungsbedarf bei Auffälligkeiten im Leseerwerbsprozess Phase B. Ende 1. Semester (Januar) Teil 4 bis 5

5 4

Name, Vorname:

Geburtsdatum:

Beobachtungskriterien

Trifft zu

Trifft nicht zu

Das Kind zeigt auf den richtigen Buchstaben, wenn er genannt wird.

Das Kind kann alle im Unterricht behandelten Buchstaben prompt benennen.

Das Kind kann zwei erlernte Buchstaben als Silbe zusammenhängend lesen.

Das Kind zeigt beim Lesen analog seinen Klassenkameraden kaum Verwechslungen von Buchstaben.

Bsp. p-q, m-n, b-d, a-e

Das Kind zeigt eine mit seiner Klasse vergleichbare Leseleistung.

Das Kind kann die Buchstaben zu einem Wort zusammenziehen.

Das Kind kann kurze, geläufige Wörter wie «und», «ist», «Haus» etc. fliessend lesen.

Das Kind kann die im Unterricht gelernten Wörter fliessend lesen.

Das Kind kann Pseudowörter lesen. Bsp. Poma, Tasine, Potakura, …

Das Kind kann selbständig erlesene Wörter den entsprechenden Bildern oder Gegenständen zuordnen.

Das Kind kann kurze, gelesene Sätze den entsprechenden Bildern oder Gegenständen zuordnen.

Das Kind kann Fragen zu kurzen, gelesenen Sätzen adäquat beantworten.

Das Kind hat seit dem Zeitpunkt A deutliche Fortschritte im Leseerwerbsprozess gemacht. Anzahl «Trifft nicht zu»-Antworten Teil 4

Bekräftigende Hinweise Trifft zu

4

Trifft nicht zu

Das Kind zeigt und äussert Freude am Lesen.

Das Kind zeigt reges Interesse an Büchern und deren Inhalt.

Das Kind kann Anlaute erkennen. Bsp. «Was hörst du am Anfang von Papagei?»

Das Kind kann Endlaute erkennen. Bsp. «Was hörst du am Ende von Krokodil?»

Das Kind kann Inlaute erkennen. Bsp. «Hörst du einen O in Brot / Berg / Esel / Vogel?»

Das Kind braucht keine Kompensationsstrategien (wie Raten, Auswendiglernen, Kontexthilfen) beim Lesen. Anzahl «Trifft nicht zu»-Antworten Teil 5

Auswertung Phase B und weiteres Vorgehen

Teil 4

Teil 5 0-1

2-3

≥4

0

Unauffällig

Beobachtung fortführen

Beratung / Abklärung einleiten

1-2

Beobachtung fortführen

Beratung / Abklärung einleiten

Beratung / Abklärung einleiten

≥3

Beratung / Abklärung einleiten

Beratung / Abklärung einleiten

Beratung / Abklärung einleiten

Die folgenden Faktoren können zusätzlich für eine Beratungs-/ Abklärungszuweisung sprechen: Kindliche Reaktionsweisen auf Schwierigkeiten im Leselernprozess (Leidensdruck, Vermeidungsverhalten, Wut, Aggression, Clownerie, Rückzug) Die Eltern äussern Besorgnis im Bezug auf den Leseerwerbsprozess.

HfH 2019 © Braun, Rüegger, Sinniger

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