HfH aphasie leseprobe

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Jürgen Steiner (Hrsg.)

Aphasie im Kontext Einführung in die Praxis des all­tagsorientierten Empowerments

Reihe

38


Jürgen Steiner (Hrsg.) Aphasie im Kontext Einführung in die Praxis des alltagsorientierten Empowerments HfH-Reihe, Bd. 38



Jürgen Steiner (Hrsg.)

Aphasie im Kontext Einführung in die Praxis des alltagsorientierten Empowerments HfH-Reihe, Bd. 38


© 2016 Edition SZH / CSPS Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik (SZH) Bern Fondation Centre suisse de pédagogie spécialisée (CSPS) Berne Fondazione Centro svizzero di pedagogia specializzata (CSPS) Berna Fundaziun Center svizzer da pedagogia speciala (CSPS) Berna

Alle Rechte vorbehalten Die Verantwortung für den Inhalt der Texte liegt beim jeweiligen Autor / bei der jeweiligen Autorin. Printed in Switzerland Druckerei Ediprim AG, Biel ISBN 978-3-905890-27-3


Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Prof. Dr. habil. Jürgen Steiner

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Vorwort des Herausgebers der HfH-Reihe

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Jürgen Steiner Aphasie auf dem Weg zum Kontext Eine neue Sicht auf die Symptomatik, Diagnostik und Therapieplanung

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Jürgen Steiner Einschub – Vorstellung der Beiträge

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Andrea Haid und Jürgen Steiner ICF-Vorgabe als Leitidee und reale Praxis Ergebnisse einer Befragung im deutschsprachigen Raum

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Peter Girardi und Monika Mair-Fleisch ICF – Wunsch und Wille der Betroffenen? Erfahrungen in der Praxis

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Jürgen Steiner Praxis einer dialogischen Aphasiediagnostik und -therapie

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Jürgen Steiner und Sara Rodenkirch Aphasie und Mehrsprachigkeit Audioiles für den Token Test, Z-TAM

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Christoph Collmann Aphasiediagnostik im Kontext Kommunikation Relevanz und Vision eines Verfahrens für Gespräche zwischen primär- und sekundärbetroffenen Menschen

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Vibeke Masoud, Jürgen Steiner und Doris Zeller Leitplanken zur Durchführung von Gruppentherapien

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Jürgen Steiner, Nilay Akil, Caroline Goldemann und Michael Wahl Moderne Medien in der Aphasietherapie Zur Bedeutung von Apps in der Praxis

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Jürgen Steiner und Sara Rodenkirch START SMART PARTS Kontextbezogene Therapieplanung

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Ray Wilkinson Dialogtraining für Menschen mit schwerer Aphasie und deren Partner SPPARC in der klinischen Praxis 159 Martin Venetz Wirksame Aphasietherapie Ansätze zu einer praxisbasierten Evidenz

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Jürgen Steiner Zusammenfassung: Visionen für den Denkrahmen ICF

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Zu den Autorinnen und Autoren

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Vorwort von Prof. Dr. habil. Jürgen Steiner

Dieses Buch bietet eine Einführung in die Aphasie unter dem Aspekt der Kontextbezogenheit in der Rehabilitation. Es richtet sich an Studierende, Lehrende, Praktikerinnen und Praktiker sowie Interessierte in professionellen Teams. Die Einführung betont eine ganzheitliche, systemische Sicht auf die Aphasie. Die beiden Begriffe ganzheitlich (aus der Pädagogik) und systemisch (aus der Humanistischen Psychologie) werden heute weniger gebraucht, sie fügen sich aber in eine ICF-kompatible Sichtweise sehr gut ein. Die ICF (International Classiication of Functioning, Disability and Health) ist aus der Medizin abgeleitet und übt einen starken Impuls auf die Konzeption rehabilitativer Massnahmen aus. Das Zurechtinden im Alltag ist zentral. Mit Zurechtinden im Alltag sind die Begriffe Partizipation und Teilhabe über Aktivitäten in ihrem Lebensvollzug gemeint. Dieser Aspekt wird im vorliegenden Buch fokussiert; deshalb steht Kontext als entscheidendes Wort im Titel des Buches. Alle Aktionen, Diagnosen, Interventionen und Einschätzungen des Therapieerfolges im Rahmen der Rehabilitation sind stärker auf den Kontext auszurichten. Das Buch gibt Hinweise, wie dies erfolgen kann. Der Erfolg der Rehabilitation zeigt sich im Alltag. Der Schwerpunkt der Therapie liegt demnach auf der Bewältigung der Anforderungen und den Gestaltungsmöglichkeiten trotz Aphasie. Über die Verbesserung der sprachlich-kommunikativen Situation durch die Aphasietherapie sollen die verbale und nonverbale Kommunikation des beruflichen, privaten, familiären und öffentlichen Alltags besser bewältigt werden. Aphasietherapeutinnen und -therapeuten wollen die von Aphasie Betroffenen und die Mitbetroffenen in ihren Kompetenzen stärken. Dieses «Starkmachen» haben wir im Titel des Buches durch das Wort Empowerment eingebracht.

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Mein herzlicher Dank gilt dem Schreibteam, den Ratgeberinnen und Ratgebern zu Form und Inhalt, insbesondere Sabrina Carr, Sara Rodenkirch und Mona Samuel, der Übersetzerin Dominique Williams sowie den beiden Lektoren David Bisang und Daniel Stalder. Ein besonderer Dank gebührt dem Rektor der Hochschule für Heilpädagogik, Urs Strasser. Zürich / Konstanz, im Oktober 2016 Prof. Dr. habil. Jürgen Steiner Leiter des Studiengangs Logopädie an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH

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Vorwort des Herausgebers der HfH-Reihe

Menschen mit einer Aphasie haben eine Hirnschädigung erlitten. Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen. Aphasie ist eine Störung der Sprachspeicherungsund Sprachabrufprozesse und führt zu beträchtlichen Einschränkungen der sprachlich-kommunikativen Möglichkeiten in Wort und Schrift. Sie kann je nach Form und Umfang der hirnorganischen Störung mit weiteren Funktionsstörungen verbunden sein und führt in der Regel zu einer einschneidenden Erschwernis in der Bewältigung des alltäglichen, privaten und beruflichen Lebens. Eine Aphasie ist für die Betroffenen eine Belastung und Herausforderung: Sie müssen Einbussen des sprachlich-kommunikativen Alltags im persönlichen Beziehungsnetz verarbeiten und die neue Situation gestalten. Die Rehabilitation nach einem Hirnschlag und der Wiederaufbau der kommunikativen Fähigkeiten bei Menschen mit Aphasie kann nicht nur mit funktioneller Übungs- und Sprachtherapie gelöst werden, sondern ist mit Prozessen, Fragestellungen und Vorgehensweisen verbunden, die auch in der Heilpädagogik eine bedeutende Rolle spielen. Es geht darum, eine ganzheitliche und systemische Sichtweise einzunehmen und die Ressourcen der Betroffenen und ihres Beziehungsnetzes zu nutzen und zu stärken. Die Innovation der Autorinnen und Autoren dieses 38. Bandes der HfH-Reihe besteht in dieser ganzheitlichen Sichtweise. Die Individualität der betroffenen Personen und die vielfältigen Erscheinungsformen der Aphasie verlangen nach einem evidenzbasierten und individualisierenden Vorgehen, das an die Biografie, die Identität sowie an die sprachlich-kulturelle Herkunft anknüpft und dabei Lebenswelt sowie Lebensqualität beachtet. Die Rehabilitationsarbeit soll mithilfe eines theoretischen Modells von Behinderung geplant werden, das verbindlich ist und mit einer gemeinsamen Sichtweise und Sprache die interdisziplinäre Zusammenarbeit erleichtert. Ein solches Modell ist die Internationale Klassifikation von Funktionsfähigkeit, Krankheit und Behinderung (ICF), welche über die Begriffe Aktivität und Teilhabe den Alltagsbezug (Kontext) des Menschen in der Krankheit betont.

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Für die einzelnen Bereiche der Rehabilitationsarbeit bestehen diagnostische Instrumente, die eine erste Beurteilung und Planung oder auch eine Evaluation des Rehabilitationsprozesses erlauben. Die beteiligten Berufsgruppen sollten den Prozess der Rehabilitation vermehrt interprofessionell gestalten. Die institutionellen Rahmenbedingungen sollen sich öfter den für die Entwicklung wesentlichen Vorgehensweisen und Inhalten anpassen und nicht umgekehrt. Das Setting «betroffene Person–Therapeutin» ist in der Regel ein notwendiger Schritt, dieses sollte aber mit der Arbeit in Gruppen von Menschen mit Aphasie oder mit Dialogen in alltäglichen Situationen, im Sinne von In-vivo-Situationen, ergänzt werden können. Besonders der Übergang von der stationären zur ambulanten Phase soll sorgfältig gestaltet sein. Das Beziehungsnetz, das häusliche Umfeld des betroffenen Menschen sowie seine Lebensqualität sollten in die Rehabilitation einbezogen werden. Für die Alltagsbewältigung bieten digitale Hilfsmittel mit entsprechenden Apps wertvolle Hilfe. Der Einbezug der primären Bezugspersonen («Sekundärbetroffene»), deren Beratung und die Mobilisierung ihrer Ressourcen oder die Unterstützung von Personalverantwortlichen bei der Wiedereingliederung in das Berufsleben sind wichtige Faktoren einer gelingenden Rehabilitation. Der Herausgeber des vorliegenden Bandes, Prof. Dr. habil. Jürgen Steiner, sowie seine Mitautorinnen und Mitautoren bieten einen aktuellen, vertieften Überblick zur Rehabilitationsarbeit – nicht nur für Logopädinnen und Logopäden, sondern auch für andere Fachleute, die an der Rehabilitation von Betroffenen mit Aphasie beteiligt sind. Bleibt zu wünschen, dass die geschilderten innovativen Ansätze eine konkrete Umsetzung in allen Einrichtungen erfahren, die sich mit der Rehabilitation von Menschen mit Aphasie befassen. Zürich, im August 2016 Prof. Dr. Urs Strasser Rektor der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH, Herausgeber der HfH-Reihe

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Jürgen Steiner

Aphasie auf dem Weg zum Kontext Eine neue Sicht auf die Symptomatik, Diagnostik und Therapieplanung 1

Aphasietherapie ist etwas sehr Praktisches und basiert auf der Grundlage von handlungsbezogenen Theorien. Theorie und Praxis unterliegen Einflüssen, aufgrund derer sie sich stets verändern. Die vier derzeit stärksten theoretischen Strömungen, die sich gegenseitig bedingen und die Aphasiepraxis verändern, sind folgende: 1) Salutogenese 2) Shared Decision Making (SDM) 3) Evidence Based Practice (EBP) 4) Kontextorientierung (ICF)

Moderne

Resilienz steht für ein ressourcenorientiertes Vorgehen. Während beim symptomzentrierten Vorgehen (pathogenetische Sicht) die Deizite in den Vordergrund gerückt werden, liegt der Fokus beim ressourcenorientierten Vorgehen (salutogenetische Sicht) auf den Fähigkeiten einer Person. Beide Pole sind bei der Therapieplanung zu berücksichtigen: Welche Barrieren gibt es und auf welchen Ressourcen und verbliebenen Optionen kann ich aufbauen? Ressourcen können im ICF-Modell als Wirkfaktoren der Person (somatisch und psychisch) und der Umwelt (Kompensationen und Adaptationen für Aktivität und Teilhabe) verortet werden.

Salutogenese

Personen, die resilient sind, generieren individuelle Ressourcen über ein positives Selbstbild, das auf Selbstwirksamkeitserfahrungen und Kompetenzerleben basiert. Kompetent wirken erzeugt interindividuell ein Element des Gefragt-Seins und der Attraktivität. Umweltbezogene Ressourcen beziehen sich auf helfende und unterstützende Angebote sowie auf Impulse für Neudefinitionen und Einstellungsanpassungen im Lichte des Verlustes des gewohnten 1

Für die anregende Diskussion zu diesem Beitrag danke ich Sabrina Carr.

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Strömungen


Kontextes. Die Aphasietherapeutinnen und -therapeuten berücksichtigen demnach individuelle und interindividuelle Faktoren zur Stärkung der Person. Hierbei sind Vorgehensweisen möglich, in denen auf beiden Seiten oder nur auf einer Seite Fortschritte erzielt werden. Shared Decision Making (SDM)

Evidence Based Practice (EBP)

Anamnese als Informationsbeschaffung erfolgt unter Abarbeitung des ICF-Modells gemeinsam mit den Betroffenen (Steiner, 2010; Kuntner & Schütz, 2016). Für die weitere Diagnostik und die Therapie übernehmen die Therapeutinnen und Therapeuten die Führung und verpflichten sich, Transparenz für die Beteiligten zu schaffen. Dabei werden die Betroffenen einbezogen: Bei der Zielfindung und bei der Bewertung der Erreichung von Meilensteinen hat das Votum der Patientinnen und Patienten sogar Vorrang vor dem der Therapeutin bzw. des Therapeuten. Wer sich dem SDMModell verpflichtet, verlässt paternalistische und direktive Formen der Beziehung zwischen Therapeutin / Therapeut und Patientin / Patient und geht den Weg der Kommunikation; Verhandeln statt Behandeln ist hier ein passender Ausdruck des Heilpädagogen Kobi (1983). Die Aufgabe der Gestaltung des Therapieprozesses ist eine partnerschaftliche, in der die Verantwortung einmal mehr bei der Therapeutin bzw. dem Therapeuten und einmal mehr bei der Patientin bzw. beim Patienten und dem Umfeld liegt. Statt schnelle Entscheidungen sind zu erprobende Optionen gefragt. Dabei sind Bedürfnisse, Wünsche und Präferenzen der Patientinnen und Patienten zu berücksichtigen. Logopädie ist eine Integrations- und Handlungswissenschaft. Sie integriert wissenschaftliche Grundlagen und Konzepte, um prototypische, abstrakte Handlungen zu kreieren, die auf individueller Ebene konkret anzupassen und zu evaluieren sind. Wer auf dem Fundament von Evidenz arbeitet, bringt für seine Patientinnen und Patienten die bestmögliche Konstellation einer Therapieplanung zusammen. Good practice ist das Ergebnis der Triage von Handlungsempfehlungen in Studien, Erfahrungen der therapeutischen Fachpersonen (einschliesslich deren Zugang zu Inter- und Supervision) und der Welt- beziehungsweise Krankheitssicht der Patientinnen und Patienten. Wenn man realistisch auf den Stand der Wirksamkeitsnachweise schaut, dann weiss man derzeit, dass

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Aphasietherapie einer Nicht-Therapie überlegen ist, dass viele Angebote viel nutzen (massed practice) und dass einzelne Therapiekonzepte eventuell Effekte bringen (CIAT, Constraint-Induced Aphasia Therapy; Pulvermüller & Berthier, 2008). Wenn man ebenso realistisch auf die Patientin bzw. den Patienten schaut, dann sind diese in der Akutphase kaum und danach nur bedingt in der Lage, den Weg und die Meilensteine für die eigene Rehabilitation zu formulieren. Das heisst: Die Aphasietherapeutinnen und -therapeuten sind wesentlich auf ihre engere persönliche und auf ihre erweiterte kollegiale Erfahrung angewiesen, z. B. durch Intervision oder Supervision.

Anforderung der EBP

Derzeitiger Stand der EBP Studien (externe Evidenz)

Studien (externe Evidenz)

Therapeutin (eigene Erfahrung, Inter- und Supervision)

Betroffene(r) (Patient als Experte der eigenen Sache)

Therapeutin (eigene Erfahrung, Inter- und Supervision)

Betroffene (r) (Patient als Experte der eigenen Sache)

Abbildung 1: Evidenzbasierte Praxis zwischen Anforderung und derzeitigem Stand

Praktikerinnen und Praktiker können sich beim derzeitigen Stand auf externe Evidenz kaum verlassen. Für eine begründete, planvolle, individualisierte, wirkungswahrscheinliche, transparente und konsensabgesicherte Therapie ist deshalb der Begriff Qualität sinnvoller als Evidenz. Qualität lässt sich sowohl generell als auch individuell über das Prozessmanagement der Planung, Aktionen, Überprüfungen, Modifikationen und Dokumentationen definieren und messen. Im Qualitätsbegriff eingeschlossen ist die kontinuierliche Verbesserung der eigenen Praxis (interne Evidenz) über das Studium, die Weiterbildung und den professionellen und interprofessionellen Austausch über Inter- und Supervision.

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Kontextorientierung (ICF)

Die Idee ICF, International Classification of Functioning, Disability and Health (WHO, 2005), steht für die Vision der Berücksichtigung des ganzen Menschen in der Rehabilitation. Daten und Fakten sind Lieferanten für Bedeutungen und Bewertungen des jeweiligen Kontextes. Den Menschen in seiner Krankheit sehen und nicht die Krankheit im Menschen, ist eine Konsequenz dieser Sichtweise (Steiner, 2008, 2010). Lebensbedeutsam, systemisch und ganzheitlich sind ältere Begriffe einer heilpädagogischen Sicht, die als Synonym für die Kontextbezogenheit angesehen werden können. Wesentliche Stichworte aus der ICF für Aphasie sind: • Gesundheit: Gesundheit trotz und mit Aphasie. • Körperfunktionen und -strukturen: Intrapsychische Sprachorganisation (Sprachabruf, Wort und Satz) und sprachunterstützende Basisfunktionen (Aufmerksamkeit, Gedächtnis u. a.) als hirnorganische Prozesse. • Aktivitäten: Sprachhandlungen mittels Lautsprache (Äusserungen, Dialoge) und Schriftsprache (Wort, Satz, Text, Lesen und Schreiben), die für die jeweiligen Sprachanforderungen (beruflich, familiär, individuell) erforderlich sind. • Partizipation: Teilhabe an relevanten Lebensbereichen über Dialoge sowie über Lesen und Schreiben. Hieraus folgt: Alle Aktionen der therapeutischen Fachpersonen, also Diagnosen, Interventionen und Evaluationen, zielen auf die Teilhabe am privaten und gesellschaftlichen Leben (Aktivität und Partizipation) ab; Sprachstruktur und Dialog sind dabei komplementäre Facetten. Für eine gelingende Teilhabe sind Umwelt und Individuum (Strategien und Adaptationen) gleichermassen verantwortlich. Ganzheitlich, lebensbedeutsam und kontextbezogen zu arbeiten schliesst nicht aus, dass es, zum Beispiel in der Akutphase und auch bei individuellen Syndromen, sehr sinnvoll sein kann, funktional mit sehr hoher Konzentration auf der Ebene der Körperstruktur zu agieren. In jedem Fall ist das Ziel die Rückkehr oder Neudefinition der sprachlich-kommunikativen Aktivität für die Teilhabe durch den Austausch in der Lebenswelt. Der Therapieerfolg des Menschen mit Aphasie misst sich genau hieran.

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Das Thema des Buches ist die Kontextbezogenheit in der Aphasietherapie, also Punkt 4 in der vorangegangenen Darstellung (vgl. S. 13). Kontext ist aber auch für die anderen drei wesentlichen Theorierichtungen (Salutogenese, Shared Decision Making und Evidence Based Practice) wichtig. Insgesamt entsteht ein neuer Denkhintergrund für die an der Rehabilitation bei Aphasie beteiligten Professionen. Wenn Ziele kontextbezogen ausgerichtet sind, müssen auch der diagnostisch-therapeutische Prozess und die Aktionen hierauf ausgerichtet sein. Die Anamnese beispielsweise bekommt dadurch ein grosses Gewicht; Quality of Life (QoL) und Language Related Quality of Life (LQoL) sind hier die wesentlichen Begriffe (Hilari & Cruice, 2013). Die Intervention ändert sich dahingehend, dass Aphasietherapie ein Angebot für den Menschen in seiner Lebenswelt ist. Empowerment und Beratung werden für die Konzeptionierung eines individuellen Therapieplanes berücksichtigt beziehungsweise rücken in den Fokus.

Verlochtenheit

Aphasietherapie ist die professionelle Begleitung im Prozess der Selbstermächtigung und Selbstbefähigung zur Kommunikation. In die Empowerment-Angebote sind Betroffene und die in der Lebensweltkonstellation Mitbetroffenen steuernd oder mitsteuernd einbezogen. Das Wort power steht im Englischen unter anderem für Kraft oder Energie. Nimmt man dies wörtlich, dann bedeutet das als therapeutische Aufgabe, dass die Betroffenen eine ausreichende Sprach- und Kommunikationskraft zur befriedigenden Bewältigung ihres Alltages zurückerlangen; to empower heisst, für die Selbst-Wirkkraft zu arbeiten. Dies ist verbunden mit einem Bewusstmachen der Ressourcen, die seitens der Betroffenen oder der Angehören teilweise zunächst nicht erkannt oder sogar negiert werden, aber vorhanden und somit implizit sind. Therapie macht das Implizite explizit, sie beschreitet den Weg von der Ohnmacht zur Wahrnehmung der eigenen Ressourcen.

Empowerment

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und Paradigmenwechsel


Menschenbild

Diese Sichtweise basiert auf der Prämisse eines Menschenbildes, das von Potenzial, Selbststeuerung, Bewältigungswille, Kompensationskraft, Vermögen und Selbstbestimmung ausgeht (Theunissen, 2007). Die Prämissen verweisen auf Wertvorstellungen und lassen sich nur bedingt dem System der Evidenz unterordnen. Die Heilpädagogik ist die Disziplin, die hier Impulse gibt (Steiner, 2010; Grohnfeldt, 2012). Die Haltung, die auf dieser Werteverpflichtung beruht, hat Konsequenzen für die Interventionen: Annahme des Menschen, Vorsicht vor Zuschreibungen und Etikettierungen, Respekt, Langsamkeit, Subjektivität vor Objektivität und Einbezug vor Expertisevorgaben. Therapie definiert sich so als eine Kultur des Begleitens und nicht des Helfens oder gar des Machens – Defizite und Ressourcen sind gleichberechtige Pole eines Kontinuums. Die Menschen sind somit nicht Werkstücke, die sich einer Fachexpertise zu unterwerfen haben (Theunissen, 2007). Letztlich kann positives reframing, also das Definieren eines neuen Rahmens, nur durch die Betroffenen selbst erfolgen.

❆ ✁✂rderungen

Selbststeuerung der Betroffenen

personenbezogene

umweltbezogene

Ressourcen

Abbildung 2: Modell des Empowerments

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Support durch therapeutische Interventionen


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