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Andreas Eckert

AutismusSpektrumStรถrungen in der Schweiz Lebenssituation und fachliche Begleitung

Reihe

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Andreas Eckert Autismus-Spektrum-Stรถrungen in der Schweiz Lebenssituation und fachliche Begleitung



Andreas Eckert

Autismus-SpektrumStรถrungen in der Schweiz Lebenssituation und fachliche Begleitung


© 2015 Edition SZH / CSPS Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik (SZH) Bern Fondation Centre suisse de pédagogie spécialisée (CSPS) Berne Fondazione Centro svizzero di pedagogia specializzata (CSPS) Berna Fundaziun Center svizzer da pedagogia speciala (CSPS) Berna

Alle Rechte vorbehalten Die Verantwortung für den Inhalt der Texte liegt beim jeweiligen Autor / bei der jeweiligen Autorin. Printed in Switzerland Druckerei Ediprim AG, Biel ISBN 978-3-905890-24-2


Inhaltsverzeichnis

Danksagung

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Vorwort des Herausgebers der HfH-Reihe

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Vorwort von Prof. Dr. Hans-Christoph Steinhausen

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Vorwort von Dr. Ronnie Gundelfinger

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1. 1.1 1.2 1.3 1.4

19 19 21 23

1.5.4

Einleitung Aktuelle Relevanz des Themas Aufbau des Berichtes Autismus-Spektrum-Störungen: Begriffsklärung Durchführung der Elternbefragung «Leben mit Autismus in der Schweiz» Beschreibung der Stichprobe Sprachregionen und Wohnkantone Persönliche Angaben zu den befragten Eltern Persönliche Angaben zu den Töchtern und Söhnen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum Diagnosen zum Untersuchungszeitpunkt

2. 2.1 2.2 2.3 2.4

Untersuchungsergebnisse zum Diagnoseprozess Beobachtung erster Entwicklungsauffälligkeiten Erstkontakt zu Fachpersonen Erste Diagnosestellung aus dem Autismus-Spektrum Diagnosestellende Fachpersonen

1.5 1.5.1 1.5.2 1.5.3

24 26 26 27 27 28 33 34 36 38 41


3.

Untersuchungsergebnisse zur Bildungs- und Betreuungssituation 3.1 Bildungs- und Betreuungsangebote im Vorschulalter 3.1.1 Angebote im Kleinkindalter 3.1.2 Angebote im Kindergartenalter 3.2 Bildungs- und Betreuungsangebote im Schulalter 3.2.1 Primarschulbesuch 3.2.2 Sekundarschulbesuch 3.3 Exkurs: Schulische Förderung aus der Perspektive von Fachpersonen Untersuchungsergebnisse zu Berufsausbildung und beruflicher Integration 4.1 Schulische und berufliche Ausbildung in der Sekundarstufe II 4.2 Aktuelle berufliche Tätigkeit im Erwachsenenalter 4.3 Exkurs: Herausforderungen und Handlungsbedarf im Jugendund jungen Erwachsenenalter aus der Elternperspektive 4.3.1 Berufsvorbereitung und berufliche Integration aus der Elternperspektive 4.3.2 Wohnen und selbstständige Lebensführung aus der Elternperspektive 4.3.3 Weitere Unterstützungsangebote aus der Elternperspektive

43 43 43 44 46 46 49 52

4.

59 59 60 62 63 64 65

5.

Untersuchungsergebnisse zu pädagogisch-therapeutischen Massnahmen 5.1 Pädagogisch-therapeutische Massnahmen im Vorschulalter 5.2 Pädagogisch-therapeutische Massnahmen im Schulalter 5.3 Pädagogisch-therapeutische Massnahmen im Erwachsenenalter 5.4 Exkurs: Elternbeteiligung in pädagogischen und therapeutischen Kontexten 5.4.1 Berücksichtigung von Interessen und Bedürfnissen der Eltern 5.4.2 Faktoren der Therapiewahl aus der Perspektive der Eltern

77 77 81

6. 6.1 6.2 6.3

85 85 88 90

Untersuchungsergebnisse zur Freizeitgestaltung Soziale Kontakte in der Freizeit Freizeitaktivitäten Erwünschte Freizeitangebote aus der Elternperspektive

67 67 72 76


7. 7.1 7.2 7.3 8. 8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

Untersuchungsergebnisse zu rechtlichen und finanziellen Fragen Leistungsansprüche und -nutzung Finanzielle Elternbeteiligung Finanzierungsempfehlungen aus der Elternperspektive Fazit Erkennung und Diagnostik von Autismus-Spektrum-Störungen in der Schweiz Bildungs- und Betreuungssituation für Kinder und Jugendliche mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der Schweiz Pädagogische und therapeutische Massnahmen für Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der Schweiz Rechtliche und finanzielle Fragen im Leben mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der Schweiz Aktuelle Fragestellungen

91 91 93 94 95 96 97 98 99 100

Literatur

103

Tabellenverzeichnis

105

Abbildungsverzeichnis

107

Anhang

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Zum Autor

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Danksagung

Meinen ganz herzlichen Dank möchte ich allen Eltern aussprechen, die durch ihre aktive Mitwirkung an der Befragung «Leben mit Autismus in der Schweiz» den vorliegenden Forschungsbericht möglich gemacht haben. Ihre Bereitschaft, Auskünfte über ihre persönliche Situation, ihre Erfahrungen und Erwartungen zu geben, hat den entscheidenden Beitrag zur Gewinnung der vielfältigen Erkenntnisse geleistet. Ebenso gilt mein Dank dem Elternverein Autismus Schweiz und seinen Sektionen Autismus Deutsche Schweiz, Autisme Suisse Romande und Autismo Svizzera Italiana, die durch die Bereitstellung ihrer Infrastrukturen die Verbreitung der Fragebögen zur Studie massgeblich unterstützt haben. Besonders bedanken möchte ich mich zudem bei Dr. Corinne Wohlgensinger, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin die Studiendurchführung und -auswertung tatkräftig mitgestaltet hat. Und schliesslich bei Tiziana Jurietti und Magali Muller, die durch ihre kompetenten Übersetzungen des Fragebogens sowie der wiederholt anfallenden Korrespondenzen zwischen der deutsch-, italienisch- und französischsprachigen Schweiz eine wichtige Hilfe für die Durchführung einer sprachregionsübergreifenden Untersuchung geboten haben. Zürich, im September 2015 Andreas Eckert

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Vorwort des Herausgebers der HfH-Reihe

Bei der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung stellen sich viele Fragen in allen Lebensbereichen: von der Betreuungs- und Bildungssituation über die Berufsausbildung und die berufliche Integration bis hin zum Einsatz von pädagogisch-therapeutischen Massnahmen, die Freizeitgestaltung und rechtliche sowie auch finanzielle Fragen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Diesen Fragen geht Andreas Eckert in seinem Bericht «Autismus-SpektrumStörungen in der Schweiz» nach. Der Bericht basiert auf einer ausführlichen schriftlichen Befragung von 481 Eltern aus verschiedenen Regionen der Schweiz. Die Ergebnisse dieser Befragung werden mit Erkenntnissen aus anderen Untersuchungen ergänzt. Das Resultat ist ein umfassender Überblick zur Frage, wie in der Schweiz mit der Diagnose Autismus-Spektrum-Störung oder mit verwandten Diagnosen umgegangen wird und welche Unterstützung Betroffene und ihre Angehörige erfahren. Bei der Präsentation der Ergebnisse legt der Autor Handlungsbedarf offen, was den sozialen, schulischen, psychologischen, medizinischen und therapeutischen Diensten wertvolle Hinweise für die Planung und Strukturierung ihrer Angebote liefert. Mit diesem Bericht wird zudem der in den letzten Jahren erfolgte Bedeutungsgewinn des Themas der Autismus-Spektrum-Störungen auch in der Heil- und Sonderpädagogik erkennbar. Für diese wertvolle Arbeit sei dem Autoren und seinen Mitarbeitenden herzlich gedankt. Zürich, im September 2015 Prof. Dr. Urs Strasser Rektor der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik HfH, Herausgeber der HfH-Reihe

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Vorwort von Prof. Dr. Hans-Christoph Steinhausen

Es ist als ein glücklicher Umstand zu betrachten, dass praxisbezogene Untersuchungen zum aktuellen Zustand der Versorgung einer speziellen Gruppe von Menschen mit einem besonderen Unterstützungsbedarf in bestimmten Abständen wiederholt werden. Nur so lassen sich Veränderungen erfassen und der Handlungsbedarf jeweils aktualisieren. Insofern ist es sehr verdienstvoll, dass der vorliegende Untersuchungsbericht von Andreas Eckert in der Nachfolge des 1991 publizierten Erstberichtes von Irène BaeriswylRoullier und meiner 2004 erschienenen Dokumentation nunmehr nach etwas mehr als einer Dekade präsentiert wird. Erfreulicherweise zeigt dieser neueste Bericht im Vergleich zum letzten Vorgängerbericht eine Reihe von positiven Entwicklungen auf, die sich etwa in einem wachsenden Anteil von Frühdiagnostik, mehr Diagnostik durch Fachpersonen, mehr Orientierung an den zeitgenössischen Klassifikationssystemen der Psychiatrie und auch erweiterten Schulformen und in einer sich verbessernden Bildungs- und Betreuungssituation abbilden. Gleichwohl muss im Einklang mit der Schlussfolgerung des Berichtes betont werden, dass einige Fortschritte zu einem beträchtlichen Anteil der deutlich anders zusammengesetzten Befragungsstichprobe geschuldet sind: Die vorliegende Erhebung enthielt im Vergleich zu der Vorgängeruntersuchung einen deutlich höheren Anteil von Personen mit einem Asperger-Syndrom und damit einer weniger schweren Form des Autismus. Menschen mit dieser Form des Autismus haben einen deutlich anderen Betreuungs- und Behandlungsbedarf als Menschen mit der klassischen Form des frühkindlichen Autismus, der in meiner eigenen Untersuchung zu Beginn des Jahrhunderts den grössten Anteil der untersuchten Stichprobe ausmachte. Für Jugendliche mit Asperger-Syndrom bzw. leichteren Ausprägungen der Autismus-Spektrum-Störung können auf der Basis etablierter Psychotherapieverfahren spezielle Programme zur Anwendung kommen. In Zürich konnten wir für diese Personengruppe das spezielle Psychotherapieprogramm KOMPASS entwickeln, das in Form eines publizierten Manuals für praktizierende Psychotherapeuten frei verfügbar ist (Jenny u. a., 2012). Der-

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artige Programme lassen sich mit einem überschaubaren Aufwand gut in die Standardversorgung von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen integrieren. Hingegen wird aus dem vorliegenden Bericht auch deutlich, dass in der therapeutischen Versorgung von Kindern mit frühkindlichem Autismus weiterhin ein beklagenswertes Defizit in der Implementierung von verfügbaren Therapieprogrammen besteht. Unsere eigenen erfolgreichen Bemühungen in Zürich um die Schaffung eines Therapieschwerpunktes für das weltweit erfolgreichste und am besten evaluierte Frühinterventionsprogramm für Autismus, die Applied-Behavior-Analysis (ABA) und ihre Weiterentwicklungen in Form der Early Intensive Behavioral Intervention (EIBI) werden wir demnächst in einem Evaluationsbericht vorstellen. Erfreulicherweise sind in den letzten Jahren auch an den universitären Zentren von Basel und Genf Frühinterventionsprogramme und in Riehen (BL) und Sorrengo (TI) spezialisierte Förderangebote initiiert worden. Diese Zentren und der Therapieschwerpunkt in Zürich werden von der Invalidenversicherung im Rahmen eines Pilotprogrammes unterstützt. Daneben gibt es qualifizierte private Anbieter (autismus approach, Objectif Vaincre L’Autisme OVA), die viele Familien unterstützen. Die immer noch ungenügende öffentliche Unterstützung der Früh- und Intensivbehandlung führt weiterhin zu beträchtlichen Zusatzkosten und Belastungen für die Eltern der betroffenen Kinder. In diesem Zusammenhang kann es die Eltern von Kindern mit Autismus in der Schweiz kaum trösten, dass unlängst auch für andere westeuropäische Länder ein beträchtlicher Abstand zu dem in den USA etablierten Versorgungsstandard bei ABA festgestellt wurde (Keenan et al., 2014). Der Handlungsbedarf für die Verbesserung der Versorgung von Kindern mit Autismus in der Schweiz ist also trotz der gegenüber den Vorgängerstudien erfreulicherweise grösseren Teilnehmendenrate bei der vorliegenden Studie von Eckert weiterhin beträchtlich, wie in dem Fazit des Berichtes eindrücklich dargelegt wird. In wissenschaftlich-methodischer Sicht ist es zwar bedauerlich, dass keine der drei in Abständen von Jahrzehnten durchgeführten Erhebungen auf repräsentativen Stichproben beruht und keine landesweiten Registerdaten wie etwa in den skandinavischen Ländern verfügbar sind, um sichere Grundlagen für die öffentliche Gesundheitsplanung zu liefern. Gleichwohl stellen die Schlussfolgerungen des vorliegenden Berichtes eine eindrückliche Mahnung dar, gesundheitspolitische Initiativen zur Verbesserung der Versorgungslage für Menschen und dabei speziell

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für Kinder und Jugendliche mit Autismus zu ergreifen, um deren befriedigende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten. Zürich, im Juni 2015 Hans-Christoph Steinhausen Professor an den Universitäten Aalborg (DK), Aarhus (DK), Basel und Zürich

Literatur Baeriswyl-Rouiller, I. (1991). Die Situation autistischer Menschen. Ergebnisse einer Untersuchung der Schweizerischen Informations- und Dokumentationsstelle für Autismusfragen. Bern: Haupt. Jenny, B., Goetschel, P., Isenschmid, M. & Steinhausen, H.-C. (2012). KOMPASS – Zürcher Kompetenztraining für Jugendliche mit Autismus-SpektrumStörungen. Stuttgart: Kohlhammer. Keenan, M., Dillenburger, R., Röttgers, H. R., Dounavi, K., Jónsdóttir, S. L., Moderato, P., Schenk, J., Virués-Ortega, J., Roll-Pettersson, L. & Martin, M. (2014). Autism and ABA: The Gulf Between North America and Europe. Rev J Autism Dev Disorders 2:45. Steinhausen, H.C. (2004). Leben mit Autismus in der Schweiz. Bern: Huber.

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Vorwort von Dr. Ronnie Gundelfinger

Fast gleichzeitig werden zwei Arbeiten zur Situation von Menschen mit Autismus veröffentlicht: Zum einen die in der Folge der Interpellation von Ständerat Hêche von der Hochschule für Heilpädagogik Zürich in Zusammenarbeit mit der Haute école spécialisée de la Suisse occidentale erstellte Studie, welche mit Datenanalysen und Interviews mit wichtigen Akteuren der Autismus-Szene der aktuellen Versorgungslage nachgeht. Zum anderen die hier vorliegende Publikation, die auf der Basis einer Elternbefragung und weiterer Studien eine wichtige Ergänzung zur Analyse der gegenwärtigen Situation bietet. Beide Arbeiten könnte man mit den Stichworten «Einiges erreicht, noch viel zu tun» zusammenfassen. Zum Zeitpunkt der letzten Befragung von Steinhausen im Jahre 2001 hatten die Autismus-Stellen der deutschen Schweiz begonnen, sich zweimal im Jahr zu treffen, abwechselnd in Zürich und in Baden. Meistens waren es sechs bis acht Fachpersonen, die über Fragen zum Thema «Autismus» diskutierten. Heute stehen über 50 Namen auf der Teilnehmendenliste. Während «Autismus» über Jahre nur ein Thema für Fachleute aus dem Kinder- und Jugendbereich war, sind jetzt Erwachsenenpsychiater und andere Fachpersonen, die mit betroffenen Erwachsenen arbeiten, dabei. Die Autismus-Diagnostik hat in den letzten 15 Jahren grosse Fortschritte gemacht. An vielen Stellen arbeiten spezialisierte Fachpersonen mit den international üblichen Verfahren. Bei der Frühintervention, bei schulischer Integration und Begleitung, bei der Beratung von Eltern und bei der beruflichen Eingliederung ist viel erreicht worden. Hier bleibt das grosse Problem, dass die erarbeiteten Lösungen nicht allen Kindern zugänglich sind. Die Frühinterventionszentren können nur eine kleine Zahl von Kindern in ihre Programme aufnehmen. Private Anbieter ergänzen das Angebot, können aber auch nicht alle Familien betreuen. Obwohl die Invalidenversicherung ihre Haltung zur intensiven Frühförderung revidiert und ein Pilotprojekt gestartet hat, bestehen nach wie vor grosse Finanzierungsprobleme. Immer noch müssen Eltern hohe Kosten übernehmen oder Hilfe bei Stiftungen und anderen Organisationen suchen.

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Je nach Kanton, manchmal sogar je nach Schulgemeinde, werden betroffene Kinder mit grossem Engagement integriert und unterstützt oder auch zu Unrecht separiert und nicht ihren Fähigkeiten entsprechend unterrichtet. Nachteilsausgleich ist an gewissen Schulen eine Selbstverständlichkeit, an anderen ein Fremdwort. Auch im Bereich der beruflichen Ausbildung hat sich einiges getan. Spezialisierte Ausbildungsplätze und Coaching-Angebote sind hilfreich. Bis jetzt liegt der Schwerpunkt der Angebote im IT-Bereich und muss unbedingt erweitert werden. Nicht jeder Mensch mit Autismus ist ein Computer-Freak! In den letzten zehn Jahren sind die Elternvereine in der deutschen Schweiz, der Romandie und im Tessin gewachsen, sie haben sich weiter entwickelt und sind zu professionell geführten Partnern geworden. Dies zeigt sich unter anderem darin, dass viel mehr Eltern an der Befragung teilgenommen haben, als dies bei früheren Gelegenheiten der Fall war. Nur gemeinsam können Eltern und Fachleute die Situation der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen verbessern. Dazu brauchen wir die Hilfe der öffentlichen Stellen und der Politik. Es gibt noch viel zu tun, packen wir es an. Zürich, im Juli 2015 Dr. Ronnie Gundelfinger Leitender Arzt Autismus-Stelle Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst des Kantons Zürich

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1.

Einleitung

1.1

Aktuelle Relevanz des Themas

Kaum ein anderes Thema hat in den angewandten Humanwissenschaften der (Heil-)Pädagogik, Psychologie, Pädiatrie und Psychiatrie in den letzten zehn Jahren in der Schweiz einen solchen Zuwachs an Aufmerksamkeit erfahren wie das Thema der Autismus-Spektrum-Störungen. Themenhefte der schweizerischen Fachjournale «Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik» (3 / 2013), «Pädiatrie» (5 / 2013) und «Swiss Archives of Neurology and Psychiatry» (8 / 2014) belegen diesen Trend. Die aktuellen Publikationen folgen den internationalen Fachdiskussionen der letzten Dekade und beschäftigen sich primär mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Diagnostik sowie der Begleitung und Förderung von Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung über die Lebensspanne. Ergänzend wird vermehrt ein Blick auf die spezifische Situation in der Schweiz geworfen. Eine erste wissenschaftliche Betrachtung der Lebenssituation von Menschen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum in der Schweiz liegt bereits mehr als 25 Jahre zurück. Die im Jahre 1988 durchgeführte und 1991 von Baeriswyl-Rouiller publizierte Untersuchung zur «Situation autistischer Menschen» kann als wichtiger Startpunkt einer zunächst zögerlich verlaufenden Auseinandersetzung mit dieser Thematik bezeichnet werden. Baeriswyl-Rouiller (1991) wertete die Daten einer Befragung von 150 Eltern von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer Autismusdiagnose aus. Erstmals lagen durch diese Studie Daten vor, die einen Einblick in Erfahrungen und Handlungsbedarf aus dem Leben mit Autismus in der Schweiz geben konnten. Im Jahre 2004 publizierte Steinhausen die Ergebnisse einer im Jahr 2001 durchgeführten und inhaltlich erweiterten Folgeuntersuchung, in der die Angaben von 194 Eltern aus der Gesamtschweiz berücksichtigt werden konnten. Im Vergleich zur Erstuntersuchung des Jahres 1988 liessen sich bereits Änderungen in Bezug auf verschiedene fachliche Angebote nachweisen, u. a. einen Zuwachs an therapeutischen Massnahmen.

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Mehr als zehn Jahre später erschien es aufgrund zahlreicher Entwicklungen im Themenfeld der Autismus-Spektrum-Störungen sinnvoll, eine erneute Folgeuntersuchung zu realisieren, die einerseits die inhaltliche Ausrichtung der vorangegangenen Studien aufgreift, andererseits aktuelle Trends, z. B. durch die Anpassung von Begrifflichkeiten, integriert. Die gesteigerte Aufmerksamkeit dem Thema gegenüber und die erweiterten Versorgungsstrukturen in der Schweiz liessen vermuten, dass sich diese Entwicklungen in der Lebenssituation von Menschen mit Autismus und ihren Angehörigen bemerkbar machen. Durch das am 10. September 2012 von Ständerat Claude Hêche eingereichte Postulat «Autismus und andere schwere Entwicklungsstörungen. Übersicht, Bilanz und Aussicht» erhielt die Betrachtung der Lebenssituation von Menschen mit einer Diagnose aus dem Autismus-Spektrum in der Schweiz zudem eine politische Relevanz. Mit diesen Hintergründen startete im Herbst des Jahres 2012 an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik in Zürich ein Forschungsprojekt mit dem Schwerpunkt einer erneuten Befragung von Eltern. In Kooperation mit dem Elternverein «autismus schweiz» und seinen drei regionalen Sektionen «autismus deutsche schweiz», «autisme suisse romande» und «autismo svizzera italiana» wurde im Februar 2013 eine Fragebogenuntersuchung mit dem Titel «Leben mit Autismus in der Schweiz» durchgeführt. Aus dieser Untersuchung wurden Angaben von 481 Eltern aus der gesamten Schweiz in die anschliessende Datenanalyse miteinbezogen. Die Ergebnisse dieser Studie bilden das Kernstück der folgenden Darstellung aktueller Erkenntnisse zur Lebenssituation und der fachlichen Begleitung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der Schweiz. Im Vordergrund stehen dabei Daten zu den Bereichen der Diagnosestellung, des Bildungsweges, der pädagogisch-therapeutischen Massnahmen, der Freizeitgestaltung sowie rechtlich-finanzieller Aspekte. Erfahrungen und Bewertungen der Eltern, deren Altersspanne mehrere Generationen abdeckte, helfen in diesem Kontext, Entwicklungen der letzten Jahrzehnte nachzuzeichnen. Ergänzend zur Studie «Leben mit Autismus in der Schweiz» werden zu einzelnen inhaltlichen Bereichen weitere eigene Forschungsergebnisse aus den letzten Jahren in die folgenden Ausführungen einbezogen. Im Themenfeld der Bildungswege handelt es sich dabei um Ergebnisse einer Befragung von Fachpersonen zur Schulischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit einer Autismus-Spektrum-Störung in der Schweiz (Eckert & Sempert, 2012, 2013) sowie im Themenfeld der pädagogisch-therapeutischen Massnahmen um eine Elternbefragung zu den Entscheidungskriterien hin-

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