heilpädagogik aktuell, Nr. 18, Sommer 2016

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Ausgabe 18 — Sommer 2016

heilpädagogik aktuell Magazin der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik

15 Jahre Jubiläum

chschule o H le a n to n a rk Inte für Heilpädagogik

Wie weiter nach der Schule? Jugendliche an der Tagessonderschule Vert.igo in Zürich. Mehr in der Reportage auf den Seiten 6 und 7.

Niemanden zurücklassen

Thema: Bildungschancen Lehre Raum zum Kontakte-Knüpfen ­ 2 Von Dr. Lars Mohr Interview Prof. Dr. Urs Strasser und Dr. Alois Bigger im Gespräch Von Dr. Monika T. Wicki Reportage Neuanfänge an der Tagessonderschule Von Esther Banz

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Mit Zaubertricks lustvoll Sprache fördern Von Prof. Wolfgang G. Braun

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Forschung Forschung für die Praxis Von Prof. Dr. Christian Liesen

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Konzepte Leichte Sprache – ein Konzept für barrierefreie Kommunikation Von Christina Arn und Rita Baumann Aktuelles Weiterbildung und Agenda

Die Heilpädagogik sorgt dafür, dass auch Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen Chancen auf Bildung erhalten. Prof. Dr. Urs Strasser

Abschlussarbeit

Lehre Bildungschancen und Forschung? Von Prof. Dr. Tobias Haug

Thomas Burla (Foto)

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Die HfH erlebte in den 15 Jahren ihres Bestehens bewegte Zeiten: Durch die Erweiterung der Trägerschaft auf 13 Kantone und das Fürstentum Liechtenstein erhöhte sich die Anzahl Studienplätze an der HfH deutlich. Auch die Einführung der Integration an den Schulen und die Aufhebung von Kleinklassen erhöhten den Bedarf an Teilzeitpensen im Feld der Schulischen Heilpädagogik, was sich auf die Zahl der Studierenden auswirkte. Insgesamt 1’115 Studierende verzeichnete die HfH im vergangenen Studienjahr 2015/16. Gegenüber dem Gründungsjahr 2001 ist dies eine Verdoppelung der Anzahl Studierender. Die Weiterbildungsangebote der HfH besuchten letztes Jahr 4‘000 Personen. Im Bereich Forschung & Entwicklung wurden rund 40 Forschungsprojekte durchgeführt. Neue Gesetze, die Neugestaltung des Finanzausgleichs (NFA) und weitere Entwicklungen in Politik und Gesellschaft wirkten in den letzten 15 Jahren auf die Theorie und Praxis der Heilpädagogik ein. Die gesamte Verantwortung für die Schulung von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Bildungsbedarf und für die Ausbildung des Personals liegt seit dem NFA und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen allein bei den Kantonen. Alle Kinder und Jugendlichen mit besonderem

Bildungsbedarf, von null bis 20 Jahren, haben einen Anspruch auf kostenlose Unterstützung wie Heilpädagogische Früherziehung, besondere Beratung und Unterstützung, Logopädie, Psychomotoriktherapie, integrative (Sonder-)Schulung oder auf sogenannte verstärkte Massnahmen. Qualitätsstandards in der Sonderpädagogik Der in der Bundesverfassung verankerte Grundsatz besagt, dass integrative Schulung vor separierten Formen gewählt werden soll. So haben die EDK und die Volksschulen der Kantone begonnen, die Regelschule vermehrt integrativ auszurichten. Kleinklassen wurden eher reduziert, Sonderschulen jedoch erhalten. Ein standardisiertes Abklärungsverfahren sorgt heute für einen gerechten Zugang zu den besonderen Angeboten. Verstärkte Massnahmen müssen Qualitätsstandards erfüllen und daher von ausgebildetem Fachpersonal angeboten werden. Die HfH unterstützte die EDK, einzelne Kantone, Gemeinden, Schulen oder Systeme bei diesen Entwicklungen, so bei der Erarbeitung sonderpädagogischer Konzepte und durch Umsetzung neuer Anliegen in der Ausbildung. Alle denkbaren Organisationsformen der Praxis sollten berücksichtigt werden. Damit neue Konzepte im Berufsfeld entwickelt und umgesetzt werden konnten,

passte die Hochschule die Weiterbildungsund Beratungsangebote an den Bedarf an. Ein zentrales Anliegen der Heilpädagogik ist es, dafür zu sorgen, dass auch in Zukunft wichtige allgemeine oder auch spezifische Wissensbestände der Heilpädagogik nicht im Mainstream verloren gehen. Heilpädagogik muss sich tatkräftig dafür einsetzen, dass es nicht zu einer neuen Marginalisierung von Schülern mit besonderem Bildungsbedarf kommt. Sie muss ausserdem dafür sorgen, dass auch Kinder und Jugendliche angesichts schwerer und schwerster Behinderung Zugang zu Förder- und Bildungsangeboten erhalten, die ihre Würde respektieren und ihren Bedürfnissen entsprechen. So gesehen sorgt Heilpädagogik dafür, dass kein einziges Kind zurückgelassen wird, sondern Chancen auf Bildung erhält. In dieser Sondernummer wollen wir zeigen, wie sich Methoden, ja die gesamte Heilpädagogik, gewandelt hat. Dies spricht Dr. Alois Bigger in unserem gemeinsamen Interview an. Wie die Heilpädagogik mit mehrfachbehinderten Kindern arbeitet, erklärt Dr. Lars Mohr. Und über die Bedeutung Leichter Sprache und ihre Umsetzung berichten Christina Arn und Rita Baumann. Prof. Dr. Urs Strasser leitet seit 2002 als Rektor die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik.


2 — Lehre

heilpädagogik aktuell — Sommer 2016

Raum zum Kontakte-Knüpfen Kinder mit schwerster Behinderung sind sprachlich und motorisch stark beeinträchtigt. Spiel und Austausch miteinander können dennoch gelingen – im «Interaktionsrahmen».

Prof. Dr. Karin Bernath ist Prorektorin der
Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik

Liebe Leserin, ­lieber Leser Die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik feiert in diesem Jahr ihr 15-jähriges Jubiläum. In diesem Sommer wird auch Prof. Dr. Urs Strasser als Rektor der Hochschule zurücktreten. Er hat nicht nur 14 Jahre die HfH geleitet, sondern wirkte insgesamt 27 Jahre am Heilpädagogischen Seminar (HPS) – der Vorgängerinstitution – und an der HfH. Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn arbeitete Urs Strasser als Sonderschullehrer mit lernbehinderten und verhaltensgestörten Heimschülern und -schülerinnen, mit sehbehinderten Schülern und Schülerinnen sowie mit mehrfachbehinderten Kindern. Nach weiteren praktischen und wissenschaftlichen Tätigkeiten wurde Urs Strasser 1989 zum Leiter der Abteilung Geistigbehindertenpädagogik am Heilpädagogischen Seminar Zürich gewählt. In dieser Position blieb er bis ins Jahr 2001. Hinzu kam schliesslich noch die Funktion als Prorektor. Für Urs Strasser war und ist die Heilpädagogik, insbesondere auch die Geistig­behindertenpädagogik, eine Her­zens­angelegenheit. Wir danken Urs Strasser und allen anderen, die dieses Jahr in Pension gehen werden, dass sie über all die Jahre hinweg für die zentralen Anliegen der Heil­pädagogik eingestanden sind. Und wünschen ihnen allen die wohl­verdiente Ruhe, vor allem auch „Die Entdeckung der Langsamkeit“, wie sie Sten Nadolny in seinem Buch so eindrücklich beschreibt.

Freundliche Grüsse Karin Bernath, Prorektorin

Gemeinsames Spiel: wichtig, um Freunde zu finden.

Dr. Lars Mohr

Entwicklung im Kindes- und Jugendalter lässt sich als Ausweitung des Raumes beschreiben, den ein Mensch durch eigene Aktivitäten erschliesst: von der Greif-Welt des Säuglings über die «Roller-Welt» der ersten Schuljahre bis zur Mobilität der Erwachsenen. Anders bei Kindern und Jugendlichen mit schwerster Behinderung: Aufgrund ihrer Einschränkungen der Kommunikation, der Bewegung und Wahrnehmung stösst ihre Selbsttätigkeit an enge Grenzen. Die Jungen und Mädchen brauchen körperliche Nähe, um Menschen oder Dinge zu erfassen. Sie müssen Gegenstände und Spielpartner im wörtlichen Sinne begreifen, um sich ein Bild von ihnen zu machen. Die Verbalsprache als Ausdrucksweise fehlt ihnen meistens. Sie teilen sich über Körperkontakt mit, über Bewegungen und Berührungen, über Laute, Mimik, Blinzeln oder Blickänderungen. Dosiertes, zielgenaues Greifen oder Manipulie-

Basale Stimulation Als Förderkonzept für Schülerinnen und Schüler mit schwerster Behinderung entwickelt, hat sich Basale Stimulation in der Heilpädagogik wie in der Pflege und in therapeutischen Arbeitsfeldern verbreitet. Sie ist massgeblich mit dem Wirken von Prof. Dr. Andreas Fröhlich verbunden, einem deutschen Sonderpädagogen. Basale Stimulation nutzt elementare, körpernahe Formen des Austauschs mit der Umwelt.

Christoph Siegfried (Foto)

ren kostet sie viel Anstrengung. Oft glückt es ihnen nur langsam und ungefähr. Die Betroffenen sind somit bei fast allen Verrichtungen des täglichen Lebens auf Andere angewiesen. Austausch mit Gleichaltrigen Das führt dazu, dass sie vor allem mit Erwachsenen in Kontakt kommen: mit ihren Eltern, mit Heilpädagoginnen oder Therpeuten. Ungezwungenen Austausch mit Gleichaltrigen kennen sie kaum – erst recht nicht mit den Gleichaltrigen, die ähnliche Ent­ wicklungsbedingungen haben. Anregungen und Spielvarianten im Umgang mit Altersgenossen bleiben rar. Freundschaften ergeben sich wenige. Den Kindern ein Miteinander zu ermöglichen, erweist sich folglich als ebenso bedeutsam wie diffizil. Wer dafür pädagogisches Know-how sucht, wird bei Christoph Siegfried fündig. Der ausgebildete Sozialpädagoge arbeitet seit vielen Jahren in der Heilpädagogischen Tagesschule Seidenbaum in Trübbach. Dort führt er eine Klasse der Basalen Förderstufe, das heisst von Schülerinnen und Schülern mit schwerster Behinderung. Er ist daneben als Kursleiter Basale Stimulation tätig– und als Lehrbeauftragter an der HfH. Siegfried hat ein Hilfsmittel konstruiert, das er «Interaktionsrahmen» nennt: ein Rechteck aus mehrschichtigen Holzbrettern, circa 180 cm lang, 120 cm breit und 40 cm hoch. Der Rahmen wird auf dem Boden des Klassenzimmers positioniert. Dadurch entsteht ein geschütztes, überschaubares Handlungsfeld. Je zwei Lernende können darin Zeit verbringen und zusammen etwas tun. «Kinder mit einer beeinträchtigten Mobilität haben im Allgemeinen am Boden die grösstmöglichen Bewegungsfähigkeiten», erklärt Christoph Siegfried. «Auf einer stabilen Unterlage, mit stabilen Rändern bekom,,

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men sie eindeutige Rückmeldungen über sich und ihre Lage in der Aussenwelt». Zugleich stellt der Interaktionsrahmen die Nähe zum Dialogpartner sicher, die basales Kommunizieren benötigt.

Praxiserfahrungen Tatsächlich bietet die Anordnung den Schülerinnen und Schülern einen Raum zum Kontakte-Knüpfen. Das zeigen die Praxiserfahrungen: Den Beteiligten fällt es leichter, Äusserungen und Emotionen ihres Gegenübers wahrzunehmen und zu erwidern. Sie können ihre Aufmerksamkeit auf eine gemeinsame Sache abstimmen, wie in einer Szene, die Siegfried schildert: «Ein Kind zieht an einem Tuch, welches auf dem Rumpf eines anderen liegt. Dieses bemerkt die Veränderung und krallt das Tuch fest, so dass beide miteinander ganz konkret mit Tuchziehen beschäftigt sind. Es entwickelt sich ein spielerisches Hin und Her.» Dennoch – von alleine funktioniert der Interaktionsrahmen nicht. Sympathie zwischen den Kindern und Jugendlichen spielt eine Rolle, betont Siegfried. Viele von ihnen müssen zudem noch lernen, wie man miteinander umgehen kann und brauchen dafür gezielte Impulse. Andere fühlen sich durch die Eingrenzung des Raumes beengt und geraten in Angst. Eine professionelle Beobachtung und feinfühlige Begleitung des Geschehens sind daher unabdingbar. Der Interaktionsrahmen unterstützt eine Pädagogik der Begegnung. Ersetzen kann er sie nicht. Dr. Lars Mohr ist Dozent im Departement Heilpädagogische Lehrberufe. Derzeit plant er eine Tagung zu Fragen schwerster Behinderung im November 2016.


heilpädagogik aktuell — Sommer 2016

Interview — 3

Heilpädagogik lebt von Beziehung und Interaktion Rektor Prof. Dr. Urs Strasser und Dozent Dr. Alois Bigger treffen sich anlässlich des 15-jährigen Jubiläums der HfH zum Interview. Ein Gespräch über Heilpädagogik, früher und heute.

Im Gespräch mit Dr. Monika T. Wicki, Mitarbeiterin des Bereichs Forschung und Entwicklung der HfH.

Dr. Monika T. Wicki (Interview) Thomas Burla (Fotos)

Was hat Euch beide vor vielen Jahren dazu gebracht, Heilpädagogen zu werden? Alois Bigger: Die Sorge für und die Freude mit Kindern allgemein ergab sich bei mir – praktisch von selbst – durch meine Rolle des Drittältesten in einer grossen Familie mit neun Kindern. Mein Flair für Technik führte mich zwar zuerst an die ETH, aber nicht lange und ich verlegte meine Ausbildung nach Fribourg ans Heilpädagogische Institut: Studium in Logopädie und Heilpädagogik, Spezialisierung in Audiologie und Audiopädagogik. Meine erste professionelle Anstellung war im Audiopädagogischen Dienst in der Früherziehung von Kindern mit Hörbehinderung und geistiger Behinderung. Urs Strasser: Für mich spielten verschiedene Begegnungen und Einflüsse im privaten Umfeld eine Rolle: In unserem Quartier gab es den Peter, der leicht geistig behindert war. Später zog eine alleinstehende ältere Frau zu, die einen schwer mehrfachbehinderten Knaben bei sich aufnahm. Die Bademeisterfamilie, die auch den Kiosk des Schwimmbads betrieb, hatte einen Sohn mit Trisomie 21. So kam ich schon früh in Kontakt mit Menschen und Phänomenen, denen sich die Heilpädagogik widmet. Nach der Matura wollte ich dann Lehrer werden, verpasste aber die Anmeldefrist am Oberseminar. Um die Wartezeit zu überbrücken, begann ich an der Uni-

«Diagnostik ist der Kopf neben dem Herz, damit die Hand weiss, was zu tun ist.» Dr. Alois Bigger

versität Zürich ein Studium der Pädagogik und Sonderpädagogik. Meine Ausbildung zum Lehrer und Sonderpädagogen verlief dann gewissermassen im «Slalom» zwischen Uni, Oberseminar, Heilpädagogischem Seminar und der Praxis. Gibt es bestimmte Personen oder Inhalte, die einen bleibenden Eindruck bei Euch hinterliessen, als Ihr noch Studenten oder Berufsanfänger wart? Bigger: In der praktischen Arbeit war das Josef Weissen. Er führte den Audiopädagogischen Dienst des Kantons Bern und Oberwallis’ als Einmann-Unternehmen. Ich war sein erster Mitarbeiter. Weissen hat mich in das Feld der Arbeit mit kleinen Kindern und

in die Beratung der Eltern eingeführt. Er tat das durch Vorbild und Anleitung und war ein ausgezeichneter Mentor. Während des Studiums müsste ich viele nennen. Am eindrücklichsten waren die Kontakte mit August Flammer, der als junger Professor aus Amerika zurück kam und viel frische Luft nach Fribourg brachte. In seiner experimentellen Psychologie fand ich eine Welt, die weniger den philosophischen Fragen nachgeht, sondern eine, die dem Geschehen im Alltag genau auf die Finger schaut. Da fühlte ich mich besonders angesprochen. Strasser: An die Heilpädagogik führte mich Hermann Siegenthaler heran, der die Schule der Epilepsieklinik geleitet hatte. Er war mein Mentor am Oberseminar und ein profunder Kenner der ganzen damaligen Sonderschulen, daneben auch ein begnadeter Musiker, Musiktherapeut, Rhythmiker und Kindertherapeut. Mein Interesse an heilpädagogischen Themen weckten aber vor allem die Schülerinnen und Schüler, denen ich in meiner Praxis im Heim, an der Regelschule und an Sonderschulen begegnete. In welchen Punkten hat sich die Heilpädagogik seither verändert – und was ist durch die Jahre immer aktuell geblieben? Strasser: Heilpädagogik hat sich in verschiedener Hinsicht sehr verändert. Sie richtet sich heute an Kinder und Jugendliche im Alter von null bis 20 Jahren. Mit dem Eintritt

der starken Geburtenjahre ins Erwachsenenalter und mit dem Älterwerden der ehemaligen Sonderschüler hat sich ihr Fokus auch auf diese Altersabschnitte ausgedehnt. Bezüglich besonderer Förderung und Bildung macht sie keinen Ausschluss von schwersten Formen der geistigen und mehrfachen Behinderung mehr. Sie verfolgt mit der Logopädie, der Psychomotoriktherapie und den sonderpädagogischen Massnahmen in der Regelschule auch präventive Zielsetzungen. An Stelle eines eher statischen Bildes von Behinderung geht Heilpädagogik heute von einer dynamischen wechselseitigen Beeinflussung von körperlichen, psychischen und sozialen Bedingungen aus. Konstant geblieben ist die Erkenntnis, dass nicht nur das Kind zu erziehen ist, sondern auch mit dessen Umfeld zusammengearbeitet werden muss, und dieses unterstützt und gestaltet werden soll. Bigger: Heilpädagogik lebt nach wie vor von Beziehung und Interaktion. Sie ist angewiesen auf ein Ich und ein Du. Die heilpädagogische Tätigkeit lässt sich nicht durch Programme, Maschinen oder im Turnus wechselnde Hilfskräfte ersetzen. Heilpädagogik als Beruf ist wahrscheinlich eine Berufung,­ nicht einfach ein Job. In welcher Lage befindet sich die Heilpädagogik derzeit? ➔ Fortsetzung auf Seite 4


4 — Interview

hohe menschliche Kompetenz im Umgang mit dem allenfalls Fremden und Unbekannten, das einem begegnen kann. Ein Thema, das in jüngerer Zeit Kontroversen auslöste, ist die «Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen» (NFA). Wie hat sich diese Neugestaltung auf das heilpädagogische Feld ausgewirkt? Strasser: Die NFA hat in meiner Wahrnehmung doch sehr viel in Bewegung gesetzt: Vor der NFA hatte die Invalidenversicherung einen massgeblichen Anteil an der Entwicklung, Steuerung, Umsetzung und Kontrolle individueller und kollektiver Massnahmen im Bereich der Sonderschulung in den Händen. Nun sind die Kantone und die Gemeinden voll für diese Leistungen verantwortlich. Dies war begleitet von einem Schub integrativer Schulgesetze und Massnahmen, der zu einer grossen Vielfalt von Lösungen und Ansprüchen geführt hat. Damit umzugehen, ist nicht immer einfach. Die Kantone wurden ausserdem dazu verpflichtet, kantonale Sonderschulkonzepte abzufassen, an deren Erstellung die HfH vielerorts beteiligt war. Ein Konkordat für die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik sichert, dass alle Kinder mit besonderem Förderbedarf Zugang zu ähnlichen sonderpädagogischen Massnahmen haben. Für diesen Zugang sorgt das standardisierte Abklärungsverfahren, das unterdessen installiert wurde. Nicht zuletzt hat man den Grundsatz «integrierte vor separierter Schulung» festgeschrieben.

Prof. Dr. Urs Strasser leitet seit 2002 die Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik als Rektor.

➔ Fortsetzung von Seite 3

Strasser: Die Heilpädagogik in der Schweiz befindet sich begrifflich, wissenschaftstheoretisch, in der Praxis und punkto beruflicher Anerkennung nach wie vor in einem sehr diskutierten Zustand. Die zugeordneten Berufsdiplome der EDK heissen Sonderpädagogik mit Vertiefungsrichtung Schulische Heilpädagogik und Vertiefungsrichtung Heilpädagogische Früherziehung. Beigestellt ist ein Master of Arts in Special Needs Education. Das Diplom in Logopädie hat einen Bachelor of Arts Speech and Language Therapy und die Psychomotoriktherapie einen Bachelor in Psychomotor Therapy beigefügt. An der Universität Zürich ist die Sonderpädagogik unterdessen integriert in die Erziehungswissenschaften, in Fribourg studiert man am Departement für Sonderpädagogik, dem ein Heilpädagogisches Institut angegliedert ist. An der Fachhochschule Nordwestschweiz heisst das Institut immer noch Institut für

«Die Heil­ pädagogik in der Schweiz befindet sich nach wie vor in einem sehr diskutierten Zustand.» Prof. Dr. Urs Strasser

Zurzeit ist in der öffentlichen Debatte häufig von «Therapiewahn» bzw. von einer Überproblematisierung kindlicher Verhaltensweisen die Rede. Übertreibt man es mit Förderung und Training?

«Es braucht eine hohe menschliche Kompetenz im Umgang mit dem Fremden und Unbekannten, das einem begegnet.» Prof. Dr. Urs Strasser

Bigger: Mit Förderung nicht, mit Training schon! Zu oft wird mit reinem Trainieren und Üben versucht, etwas, das nicht vorhanden ist, heran zu zaubern – die Heilpädagogin als Troubleshooter. Aber eine Förderung, die den individuellen Bedarf eines Schülers fundiert aufzeigt und daran arbeitet, die tut not. Strasser: In den vergangenen Jahren haben die vermehrten Bemühungen zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und zur schulischen Integration sicher dazu beigetragen, dass die gesellschaftliche Stellung der Betroffenen und ihrer Familien sich verbessert hat. Die Akzeptanz einer besonderen Förderung oder Therapie ist dadurch g­ estiegen. Andererseits lastet auf diesen Massnahmen­erheblicher Druck: Eltern wünschen sich, dass die Schwierigkeiten ihrer Kinder

Spezielle Pädagogik und Psychologie und kennt eine Professur für inklusive Didaktik und Heterogenität – dies nur einige Beispiele, die zeigen: Es besteht eine grosse Vielfalt an den Schweizer Hochschulen, wie dieses Gebiet heissen soll und wie die Ausbildungen positioniert sind. Während Eurer Berufstätigkeit habt Ihr Euch beide eingehend mit Fragen der Diagnostik beschäftigt. Warum sind diagnostische Fähigkeiten für Heilpädagoginnen und Heilpädagogen so wichtig? Bigger: Mit einer vertieften Diagnostik – die auf Beobachtungen und Theorien basiert – gelingt es, ein gewisses Verständnis des Gegenübers und seines Tuns zu erlangen. Diagnostik heisst, sich in die Sichtweise des Menschen mit Behinderung zu versetzten. Es heisst, seine Fragen, seine Bedürfnisse, seine Ideen so weit wie möglich nachzuvollziehen. Erst dann ergibt sich eine tiefere Beziehung zu dieser Person. Eine Diagnostik, die sich der persönlich gefärbten und selektiven Wahrnehmung bewusst ist, relativiert meine Subjektivität als Heilpädagoge. Eine solche Diagnostik muss die erzieherische Haltung und Intuition zuverlässig ergänzen. Sie ist sozusagen der Kopf neben dem Herz, damit die Hand weiss, was zu tun ist. Strasser: Gute Diagnostik ergibt laufend wichtige Erkenntnisse darüber, wo das Kind in seiner Entwicklung steht, wie es lernt und arbeitet, was es kann und welche Entwicklungsschritte wohl die nächsten sind. Man gewinnt also Grundlagen für die Planung des weiteren Vorgehens. Dieser Prozess fordert nicht nur hohe fachliche Kompetenz in der Art und Weise, wie man die notwendigen Informationen erheben kann, sondern auch eine direkte Interaktion mit dem Kind. Dazu braucht es neben der fachlichen auch eine

Dr. Alois Bigger ist seit 2002 Dozent im Masterstudiengang Schulische Heilpädagogik.


heilpädagogik aktuell — Sommer 2016

beseitigt, der Förderbedarf möglichst erfüllt, eine erfolgreiche Schullaufbahn durchlaufen wird. Lehrpersonen stehen unter Druck mit der Erwartung nach Integration von Schülern mit besonderem Förderbedarf, und dies in zum Teil grossen Klassen. Kinder sind generell nicht angepasster geworden, sondern werden zu Jugendlichen erzogen, deren Individualität zur Entfaltung kommen soll. Überall dort, wo diesen Ansprüchen mit genügenden und kompetenten Ressourcen begegnet werden kann, scheinen gute Lösungen zu gelingen. Dort, wo Therapie den einzigen Ausweg aus dem Förderdruck verspricht, wird dieser Weg auch genutzt. Wenn dann die Steuerung fehlt, kann es zu ausufernden Systemen führen. Von einem «Wahn» zu sprechen, ist aber übertrieben. Der Ausdruck wurde im Zusammenhang mit einer Untersuchung zur Quote der Therapiemassnahmen in der Stadt Zürich angewendet. Nicht beachtet wurde dabei, dass die genannte Quote auch die Anzahl Kinder in «Deutsch als Zweitsprache» enthielt, was keine Therapie darstellt. Die integrative Schulung von Kindern mit besonderem Förderbedarf hat das heilpädagogische Feld deutlich verändert. Welche Entwicklungen lassen sich beobachten? Strasser:Tatsächlich hat die integrative Schulung das Feld der Heilpädagogik, aber auch der Regelpädagogik sehr verändert. Heilpädagoginnen und Heilpädagogen haben in integrativen Settings eine komplexe Rolle zu bewältigen: Sie arbeiten oft im Teamteaching oder aber in der Form des Förderzentrums, wenn sie Schüler aus verschiedenen Klassen betreuen. Die Zusammenarbeit mit den Regelklassen-Lehrkräften ist in diesen Formen zwingend notwendig. Die Quote der Schüler mit integrativer Sonderschulung hat in einzelnen Kantonen stark zugenommen. Es handelt sich vermutlich um diejenigen Lernenden, die früher in Kleinklassen als eher anspruchsvoll galten. An den Sonderschulen ist die Tätigkeit eher gleich geblieben. Einige Schülerinnen und Schüler werden nun in der Regelschule integriert. Abgenommen hat darum die Anzahl der Zuweisungen bei Schuleintritt. Allerdings gibt es Schülerinnen und Schüler, die nach Integrationsversuchen beim Übergang in die Mittel- oder Sekundarstufe

Wissenschaft und Praxis Prof. Dr. Urs Strasser absolvierte die Primarlehrerausbildung, das Heilpädagogische Seminar Zürich (HPS) und studierte Pädagogik und Sonderpädagogik an der Universität Zürich. Nach einigen Jahren in der Praxis, unter anderem als Sonderschullehrer und in der Ausbildung von Fachpersonen, wurde er Dozent und Leiter der Abteilung Geistigbehindertenpädagogik am HPS. Seit 2002 ist Prof. Dr. Urs Strasser Rektor der HfH, im Sommer 2016 tritt er von diesem Amt zurück. Dr. Alois Bigger lehrt seit 2002 als Dozent im Schwerpunkt Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung im Masterstudiengang Schulische Heilpädagogik. Seine Schwerpunkte setzte er unter anderem in Entwicklungspsychologie und in der Förderdiagnostik. Strasser und Bigger haben vielbeachtete Publikationen zu Themen der Heil- und Sonderpädagogik veröffentlicht.

Die Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung, immer ein wichtiges Thema für Prof. Dr. Urs Strasser und Dr. Alois Bigger.

zur Sonderschule wechseln. Zunehmend fallen scheinbar auch Schüler mit schwierigem Verhalten im Vorschul- und Kindergartenalter auf. Welche Trends werden die Heilpädagogik in naher Zukunft noch stärker beschäftigen bzw. worauf sollte man sich als Heilpädagoge, als Heilpädagogin vorbereiten? Bigger: Auf den Wunsch nach dem idealen und optimalen Menschen. Wir wollen sozusagen einen Einheitsmenschen ohne Fehl und Tadel. Wir wollen jede Abweichung entweder wegtherapieren oder gar verhindern. Nicht die Lebensqualität, nicht die optimale Partizipation mit den individuell vorhandenen Möglichkeiten ist das Ziel. Vielmehr geht es um maximale Leistung und zwar absolut, nicht relativ. Heilpädagogik wird hier immer wieder versuchen müssen, Gegensteuer zu geben. Strasser: Ich bin überzeugt davon, dass die vierte digitale Revolution viele Entwicklungen mit sich bringen wird, aus denen Menschen mit Behinderungen, aber auch Heilpädagoginnen und Therapeuten oder Dozentinnen und Dozenten einen grossen Nutzen ziehen können. Die HfH wurde 2001 gegründet, als Nachfolgerin des Heilpädagogischen Seminars. Der Übergang brachte eine Akademisierung der Ausbildung mit sich. Inwiefern hat das der Heilpädagogik gut getan? Bigger: Unsere Studierenden werden besser ausgebildet in differenzierter Diagnostik. Sie können ihre Arbeit auch besser theoretisch begründen. Die Ausbildung muss aber nach wie vor den Einbezug versierter Praktiker und Praktikerinnen gewährleisten. Strasser: Ich habe den Eindruck, dass die Ausbildung generell viel weniger auf die persönlichen Erfahrungen der Dozierenden abstellt, sondern mehr auf valide Erkenntnisse aus Forschung und Wissenschaft. So hat die Auseinandersetzung mit der Wirkungsfrage und Evidenzbasierung doch einen grossen Schub an Versachlichung bei der Beurteilung heilpädagogischer Methoden gebracht. Ein wichtiger Faktor sind auch die Bachelor- und

Masterarbeiten. Ich besuche hin und wieder die Präsentationen, an denen die Studierenden ihre Projekte vorstellen. Dabei staune ich manchmal über das Niveau, das sie erreichen. Auch wenn sie bei ihren Arbeiten überwiegend qualitative Methoden einsetzen, sind diese oft von hoher Relevanz und zeichnen sich durch grosse Nähe zur Praxis aus. Welche Erlebnisse an der HfH und im heilpädagogischen Feld haben Euch im Laufe der Jahre besonders gefreut? Bigger: Dass so viele Personen, jung und alt, sich so engagiert in die Ausbildung stürzen und sich vor allem als Person in ihre Arbeit mit den Schülern und Schülerinnen eingeben. Strasser: Extrem gefreut haben mich in meiner ganzen Zeit als Rektor die Diplomfeiern mit ihrem Einbezug von Kulturschaffenden und Angehörigen. Es waren immer ganz speziell tolle Anlässe von hoher Kultur! Eine Freude waren mir natürlich auch die guten Rückmeldungen, die wir für die Arbeit der HfH in der Regel erhalten. Was macht Heilpädagogik als Profession und als Wissenschaft unverzichtbar? Strasser: Ich bin überzeugt, dass weder die Bemühungen um Inklusion und Integration noch andere gesellschaftliche Tendenzen alle Behinderungen und Probleme in menschlichen Entwicklungsverläufen zum Verschwinden bringen werden. Mitunter werden sogar neue auftauchen. Lernen, Erleben und Handeln bleiben Phänomene, die sich durch hohe Individualität auszeichnen. Gesellschaft und Schule werden daher weiterhin Bedarf nach einem Supportsystem haben – und das war bis heute die Heilpädagogik. Bigger: Mit Hilfe einer wissenschaftlichen und professionellen Heilpädagogik kommen heilpädagogisch Tätige eher zu einer Haltung gegenüber Menschen mit Behinderung, die weder von Mitleid noch von Abwertung geprägt ist – stattdessen von Respekt und Anerkennung. Wissenschaftlichkeit und Professionalität verschaffen der Heilpädagogik zudem eine öffentliche Anerkennung. Ohne diese Profession und Wissenschaft wären Menschen mit Behinderung eventuell immer

«Tatsächlich hat die integrative Schulung das Feld der Heilpädagogik, aber auch der Regelpädagogik sehr verändert.» Prof. Dr. Urs Strasser

noch auf die Caritas, auf Nächstenliebe und Wohltätigkeit angewiesen. Was wünscht Ihr der HfH für die kommenden Jahre? Bigger: Eine Ausbildungsstätte zu bleiben, die Menschen mit Beeinträchtigung in den Mittelpunkt rückt – und auch, dass sie vermehrt auf die Männer zugeht. Im Moment steigen noch zu wenige in die Heilpädagogik ein. Die HfH sollte ihnen stärker die Vorzüge und die Bedeutung des heilpädagogischen Berufs aufzeigen. Strasser: Ich wünsche der HfH weiterhin ein blühendes Dasein! Dass sie ihre Kompetenzen weiter ausbauen und wirkungsvoll umsetzen kann. Ausserdem wünsche ich ihr, dass sie ihr Profil weiter schärft, sich nicht auf ihrer Monopolstellung ausruht, und auch betroffene Menschen noch mehr in ihre Tätigkeit einbezieht. Dr. Monika T. Wicki ist wissenschaftliche Mitarbeiterin mit besonderen Aufgaben im Bereich Forschung und Entwicklung an der HfH. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind unter anderem Erwachsene und alte Menschen mit Behinderung.


6 — Reportage

Lernen, sich etw An der Tagessonderschule der Institution Vert.igo in Zürich machen Jugendliche den Schulabschluss, die aufgrund ihres Verhaltens überall sonst rausgefallen sind. Wie motiviert man sie dazu – und wie geht es danach weiter? Esther Banz (Interview) Thomas Burla (Fotos)

Im Zimmer von Miriam Schweizer lümmeln zwei Schüler auf ihren Stühlen rum, nennen wir sie Daniel* und Markus*. Eigentlich wären zwei weitere Jungs und drei Mädchen im Teenageralter in der Klasse, aber heute fehlen sie. Das ist eine Besonderheit von Vert.igo: Es sind kaum je alle Schülerinnen und Schüler anwesend. Die Schulleitung fordert das zwar, aber Unpünktlichkeit und Abwesenheit ist hier kein zwingender Grund für einen Schulverweis – warum, werden wir später erfahren. Die Jugendlichen kommen zu Vert.igo, um die Schule abzuschliessen. Hier, unmittelbar neben der Kläranlage, ist der letzte Ort, wo man ihnen überhaupt noch diese Chance gibt – und eine Perspektive: einen Beruf lernen, arbeiten, eine Zukunft haben in dieser Gesellschaft. Markus ist schon seit drei Jahren hier. Der dünne, auf den ersten Blick scheu wirkende Jüngling ist bereits achtzehn Jahre alt. Vor vier Jahren lebte er noch in Spanien, wo er die Regelschule besuchte. Sein Vater fand in Zürich Arbeit, darum ist die Familie – es gibt noch eine sechsjährige Schwester – in der Schweiz. Noch nicht lange da und mitten im Pubertieren, fing Markus an, mit seiner sexuellen Identität zu hadern. Gleichzeitig sollte er in der Schule den Anschluss finden, obwohl Deutsch für ihn so klang wie für seine Mitschüler Spanisch: fremd. Heute spricht er tadellos Schweizerdeutsch. Auf die Frage, wie er das so schnell gelernt habe, sagt er: «Ich war schon an vielen Orten, unter anderem im Heim.» Da wohnt er auch jetzt noch. In der Regelschule schickte man Markus ins Time-Out, weil er – so sagt er selber – «den Lehrern gegenüber respektlos war, die Hausaufgaben nicht machte und oft fehlte.» Bei Vert.igo nahm man ihn auf. Deren Leiter, Martin Guerra, erinnert sich an den ersten Tag des Schülers: «Er stellte sich ans Klavier und drückte auf den höchsten Ton. Lange und immer wieder. Es war, also ob er darauf wartete, dass sich jemand richtig fest aufregte und ihn anherrschte.» Sie hätten dann erstmal einfach nur darauf hingearbeitet, in Markus das Vertrauen zu wecken, dass sie ihn respektieren und er sich bei ihnen sicher fühlen kann. Mehr als drei Jahre Vert.igo ist eine lange Zeit, laut Guerra bleiben die meisten Jugendlichen zwischen einigen Monaten und zwei Jahren, aber Durchschnitt oder Norm sind nicht Parameter, auf die man hier setzt. Zu Miriam Schweizers Klasse gehört auch Irina*. Sie hatte ebenfalls eingewilligt, sich interviewen zu lassen, und die Schule versucht nun, sie zu motivieren, zu kommen. Eine Stunde später ist klar: Die 18-Jährige ist nicht hierher zu bewegen. Guerra: «Sie ist zurzeit oft abwesend. Die Situation zuhause ist komplex und angespannt, Irina leidet darunter. Wir erwarten zwar, dass sie zur Schule kommt. Aber Präsenz funktionierte bei ihr schon in der Regelschule nicht – das ist einer der Gründe, warum sie überhaupt hier ist. Was tun? Irina braucht weiterhin einen geschützten Rahmen, um den Übertritt in eine Berufsausbildung zu schaffen. Ihre Absenzen tun uns nicht weh und stören auch den

Jugendliche erhalten die Chance, einen Schulabschluss nachzuholen oder eine berufliche Anschlusslösung zu finden. Martin Guerra und Miriam Schweizer

«Was die Jugendlichen lernen müssen, ist für ihr eigenes Tun Verantwortung zu übernehmen.» Miriam Schweizer, Lehrerin

Betrieb nicht, wir reagieren aber – wie immer, bei allen – auf Absenzen und Verspätungen. Der Unterschied ist, dass wir diese in einen Kontext mit ihrer Geschichte setzen und darauf aufbauend entscheiden, wie zurückhaltend oder auch vehement wir intervenieren.» Die Jugendlichen, die hier zur Schule gehen, stehen vor dem Übertritt ins Arbeitsleben, das Finden eines passenden Anschlusses an die Schule hat oberste Priorität. Marc Ribaux, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Pädagogik bei Schulschwierigkeiten an der HfH, sagt: «Wenn der Einstieg in die Berufswelt nicht gelingt, wird die Integration in die Gesellschaft zunehmend schwieriger.

Deshalb ist es wichtig, dass es Schulen wie Vert.igo gibt: Sie geben Jugendlichen, die in der Regelschule zwischen Stuhl und Bank gefallen sind, nochmals eine Chance, ihren Platz in der Berufswelt und somit in der Gesellschaft zu finden.» An Vert.igo schätzt Ribaux unter anderem, dass man dort unkonventionelle Wege nicht scheut. Die Lehrerin und angehende schulische Heilpädagogin Miriam Schweizer geht mit Markus zu Beginn der Stunde dessen Planungsblätter durch – ein Werkzeug, das sie selber eingeführt hat: Für jeden Schultag gibt es ein vorgedrucktes Blatt, das der Schüler teils selbständig, teils mit ihr zusammen ausfüllt. Da geht es etwa darum, was er in den jeweiligen Stunden zu erledigen plant: tägliche Übungen, das Führen des Schultagebuchs oder das Nachdenken über sich und sein Verhalten. In der nächsten Stunde steht Mathematik auf dem Plan. Miriam Schweizer bereitet den Besuch vor: «Markus wird im Internet Musikvideos anschauen und dazu die Rechnungsaufgaben lösen. Ich staune selber, dass er sich so konzentrieren kann, aber er kann. Markus ist übrigens gut in Mathematik. Schaut selbst!» Tatsächlich: Während sich auf dem Bildschirm des Laptops junge Frauen verrenken – den Ton hört man nicht, weil

Markus Kopfhörer trägt –, blickt der Schüler immer wieder auf das Blatt, das vor ihm auf dem Tisch liegt, und schreibt Lösungen zu Rechenaufgaben hin. Im Versteckten schielt er gelegentlich aufs Handy. Multitasking vom Feinsten. Es gibt eine Verwarnung. «Das Handy gehört zu ihrem Leben, wir wollen es nicht gänzlich verbieten», sagt Schweizer, «aber sie sollen lernen, damit umzugehen.» Handy-Auseinandersetzungen gibt es heutzutage in jeder Schulklasse. Der Unterschied ist: Im Vert.igo gibt es praktisch kein Druckmittel. Miriam Schweizer: «Die Jugendlichen wissen ja bereits, dass Erwachsene zornig werden, wenn sie sich ihnen gegenüber verweigern, Befehle nicht befolgen. So kommen wir also nicht weiter, das wissen wir beide. Wir setzen deshalb anderswo an. Was Schülerinnen und Schüler lernen müssen, ist für ihr eigenes Tun Verantwortung zu übernehmen.» Verwarnungen, so scheint es, lassen sich aber auch hier nicht vermeiden. Die Jugendlichen bei Vert.igo mussten in ihrem bisherigen Leben bereits einiges ein- und wegstecken. Viele würden von sich aus erzählen, sagt Schweizer, «Trauriges, Erschreckendes, ohnmächtig Machendes. Die Geschichten zu kennen, könne wichtig sein, sagt sie, beispielsweise wenn einer zuhause grosse Schwierigkeiten habe, «dann frage ich


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was zuzutrauen den ersten Blick ersichtlich, wer zum Personal gehört und wer zu den Schülern. Miriam Schweizer beschreibt den Umgang untereinander als «menschlich und schön», man spüre, dass die hier Arbeitenden die Jugendlichen sehr gern hätten, ihnen grosses Wohlwollen entgegenbringen. Ist es das, was diese Jugendlichen, die überall sonst rausgeflogen sind, vielfach nur noch schulmüde sind, und die wenig hohe Erwartungen an die Gesellschaft und die Arbeitswelt da draussen haben, hierher kommen lässt?

«Oft kann man entmutigte Jugendliche nur bei ihren Träumen abholen.» Marc Ribaux, HfH

setzen auf den eigenen Antrieb.

nicht, wie es mit dem Vater oder der Mutter so läuft, das könnte zu schmerzhaft sein. Ich versuche, Neuanfänge zu machen.» Die Jugendlichen müssten lernen, sich überhaupt etwas zuzutrauen, sagt Miriam Schweizer, die zuvor mehrere Jahre in einer Regelschule unterrichtet hat: «Dass sie ein bestimmtes Leistungsziel erreichen, ist viel weniger wichtig, als dass sie lernen, mit ihrem Frust umzugehen. Und dass nicht alle Erwachsenen böse sind.» Das fordert auch sie selber als schulische Heilpädagogin: «Ich muss immer wieder auf die Jugendlichen zugehen, was vor allem nach Auseinandersetzungen nicht immer einfach ist.» Bei Markus, der mit ihr manchmal spricht, als wäre sie eine unartige kleine Schwester, hat sie zudem klare Grenzen eingeführt, «er darf beispielsweise nicht mehr hinter mein Pult.» Seine Baseballkappe zurechtrückend, sagt Markus von der Lehrerin, sie könne gut mit ihm umgehen, er möge sie sehr. Was macht es aus? «Der Humor. Und dass sie nicht so streng ist. Und dass sie Vertrauen in mich hat. Und ich in sie – wenn ich ihr etwas anvertraue, weiss ich, dass sie das nicht weiter erzählt.» Markus möchte Coiffeur werden, zweimal hat er bereits geschnuppert und es gefällt ihm gut. Die Schwierigkeit ist nun, auf den Herbst eine Lehrstelle zu

Tagessonderschule Vert.igo gehört der Stiftung Zürcher Kinder- und Jugendheime (ZKJ) an, unter deren Dach verschiedenste intervenierende, betreuende und ausbildende Angebote für Kinder und Jugendliche zusammengeschlossen sind. Die Institution richtet sich an Jugendliche, die zuvor überall sonst rausgefallen sind. In einem geduldigen, aufgeklärten Klima von Wertschätzung und Wohlwollen erhalten sie die Chance, den Schulabschluss doch noch zu machen und eine nachhaltige Anschlusslösung in der Berufswelt zu finden. Je nach Situation und Umständen besuchen sie die Tagessonderschule, die Privatschule, die Berufsvorbereitung oder eine Berufsausbildung. Unterstützt werden die Jugendlichen von Heilpädagogen, Sozialpädagogen, Lehrern und Berufsbildnern. In die Tagessonderschule zugewiesen werden die Jugendlichen vom schulpsychologischen Dienst.

finden. Fachpersonen von Vert.igo helfen ihm dabei. Sie arbeiten eng mit dem Laufbahnzentrum der Stadt Zürich zusammen: In der Berufsberatung erarbeitete man mit ihm ein sogenanntes Neigungsprofil, beim Einfädeln von Schnupperlehren und Bewerbungen und bei der Vorbereitung auf Bewerbungsgespräche unterstützt ein Coach den Schüler. Während so einigen der Sprung in den ersten Arbeitsmarkt gelingt, seien andere auch nach ihrem Aufenthalt bei Vert.igo auf institutionelle Unterstützung angewiesen, sagt Martin Guerra. Für Marc Ribaux ist es wichtig, «dass man die Jugendlichen darin unterstützt, Träume und Visionen zu haben. Oft ist Wirklichkeit für die Jugendlichen sehr ernüchternd und das Erlernen ihres Traumberufes nicht realistisch.» Dann sollte man als schulische Heilpädagogin oder überhaupt als Erwachsener «wenigstens versuchen, einen Teil des Traums «hinüber zu retten», indem man die Teenager darin unterstützt, eine Lehrstelle in einem verwandten Beruf zu finden. Oft kann man entmutigte Jugendliche nur bei ihren Träumen abholen.» Im offenen Ess- und Begegnungsraum, dem Herz des Schulhauses, herrscht lockeres Kommen und Gehen, die Männer sind deutlich in der Überzahl, und nicht immer ist auf

Gesamtleiter Martin Guerra bejaht, aber das sei nicht das einzige: «Jeder von ihnen hat eine Motivation, hierher zu kommen, denn wir leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft, in der sich die Menschen über ihren Beruf, ihre Tätigkeit definieren. Lernen wir jemand Neues kennen, lautet spätestens die dritte Frage: «Und, was machst du? «Das wissen sie. Und das gibt ihnen den Kick, etwas zu lernen. Darum kommen sie hierher, um den Schulabschluss zu machen und ihren persönlichen beruflichen Anschluss zu finden.» Indes: Zu viele würden heute immer noch meinen, die Probleme eines Jugendlichen lösten sich einfach in Luft auf, kaum sei er in der Lehre, sagt Marc Ribaux. Damit unterschätze man die Probleme. Es brauche ein sehr aktives Coaching. «Wenn es in der Berufsschule gut läuft, klappt‘s auch in der Lehre – und umgekehrt.» Gut, wenn jemand über längere Zeit mit ein- und derselben Begleitperson arbeiten kann und noch besser, wenn diese Person selber viel Lebenserfahrung mitbringt und dadurch ein grosses Mass an Affinität für die Besonderheiten wie auch für die Ressourcen sogenannt verhaltensauffälliger Jugendlicher. Denn wenn die Jugendlichen die Erfahrung machen, dass sie selber etwas bewirken können, ist schon viel erreicht. Ribaux erhofft sich das Bewusstsein dafür nicht nur von den Heilpädagoginnen und -Pädagogen, sondern auch von Lehrkräften und Schulleitenden in den Regelschulen, sowie von Betreuungspersonen in der Lehre: «Es braucht Lehrer und Lehrerinnen, aber auch Arbeitgeber, die von ihren NormErwartungen wegkommen.» Und dann sagt er noch: «Die Jugendlichen müssen die Gelegenheit bekommen, kleine Schritte zu machen, damit sie eine Chance haben in dieser Welt. Sie müssen diese schliesslich aber aus eigenem Antrieb leisten. Die einen schaffen es in den ersten Arbeitsmarkt, für die anderen wird es ein Leben lang schwierig bleiben.» *alle Namen geändert Esther Banz ist freischaffende Journalistin und Autorin, sie lebt in Zürich.


8 — Abschlussarbeit

heilpädagogik aktuell — Sommer 2016

Mit Zaubertricks lustvoll Sprache fördern Zaubern als gezielte Arbeit mit sprachauffälligen Kindern? Wie das geht, zeigen Ilona Spiess und Stefanie Zahner in ihrer Bachelorarbeit, und in 30 Videoclips. Prof. Wolfgang G. Braun

Das Zaubern ist eine Form zwischenmensch­ licher Kommunikation. Es lebt vom Aus­ tausch mit dem Publikum und lässt sich mit verschiedenen Therapieinhalten ver­ knüpfen. Die rituellen Elemente, das Ver­ stehen des Trickeffektes, die kindliche Neugier sowie die Aufmerksamkeit der Zu­ schauer wirken auf das Kind sehr motivie­ rend. Es ist daher naheliegend, Zaubern als ein didaktisches Mittel zur Förderung sprachlicher, motor­ischer, kognitiver und sozial-emotionaler Fähigkeiten einzusetzen, auch in der Sprachtherapie. Für die Fachkräf­ te ergeben sich dadurch neue Ansatz­ möglichkeiten, für die Lernenden – auf ­besondere Art – Entwicklungschancen. Auch für Ilona Spiess und Stefanie Zah­ ner waren solche Überlegungen leitend.­ Die beiden Logopädinnen haben eine Samm­ lung von Zaubertricks mit spezifischen Sprachförderzielen erstellt, als Anregung für die Praxis. Der Gedanke dazu entstand während ihrer Ausbildung an der Interkan­ tonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich, in Folge einer Lehrveranstaltung zum Thema «Zaubern in der Sprachthera­ pie». Zur Tat schritten die Fachfrauen in ihrer Bachelor­arbeit «Zauberhafte Sprachförder­ ung»: Sie sichteten, entwickelten und erprobten eine Reihe von Zaubertricks, die sich für sprachtherapeutische Zwecke eignen. Ganzheitliche Förderung Ihre Zusammenstellung umfasst 30 An­ leitungen aus den Bereichen «Phonetik/­ Phonologie» (Aussprache), «Semantik/­ Lexikon» (Wort- und Satzbedeutung) sowie «Phonologisches Bewusstsein» (Erkennen von Sprachbausteinen wie Silben oder An­ laute). «Durch die ganzheitlich-kreative ­Herangehensweise des Zauberns», ergänzen Spiess und Zahner, werden zudem «sprach­ liche Bereiche wie sozial-kommunikative oder grammatikalische Fertigkeiten mit angesprochen». Ihre Trick-Sammlung ­ kombi­niert die ressourcenorientierten, lust­ vollen Formen des Zauberns mit sprach­ strukturellen Zielsetzungen für Kinder von vier bis acht Jahren. Verwendung können die Zaubertricks bei Jungen und Mädchen in der Sprachtherapie finden, daneben in einer Sprachförderklasse, etwa im Rahmen eines Zauber-Projekts, oder durch Förder­lehr­ kräfte, die für ihre Förderklientel mit dem Thema Zaubern einen roten Faden legen wollen. Das Zaubern mit dem Fokus Sprach­ förderung kann aber auch im Kindergarten gezielt als Vorbereitung auf den Primarschul­ eintritt oder als Jahresabschlussthema mit Kindervorführung umgesetzt werden. Die Tricks und das Sprachmaterial können individuell ausgesucht werden, zugeschnitten auf die jeweilige Situation. Während der Durchführung des Kunststücks kann z. B. der Anteil an freier Rede variieren, gemäss dem Entwicklungsverlauf bzw. dem Lernstand des Kindes. Bezüglich Laut­ auswahl, Äusserungslänge, Parallelität von Sprechen und Handeln sowie Grammatik können die sprachliche und die inhaltliche Gestaltung der Tricks den Fähigkeiten der Lernenden angepasst werden. In den verschiedenen Umsetzungsschritten – Trick­ vorstellung, Erläuterung, Trickherstellung

Das «Zauberglas» – ein Trick aus dem Praxisbuch zur Sprachförderung.

sowie Üben und Präsentieren der Tricks – wird sprachlicher Input intensiv angeboten bzw. sprachlicher Output evoziert. Es bedarf etwa für das Beherrschen eines Tricks meist einiger Übung und Wiederholung. So kön­ nen sprachfördernde Aspekte motivierend re­petiert werden. Die Förderung des Selbst­ bewusstseins, der Feinmotorik oder des kognitiven Bereiches, welche durch das ­Zaubern ebenfalls mitstimuliert werden, sind traditionell fakultative Elemente einer Sprachtherapie. Bei der pädagogisch-therapeutischen Arbeit mittels Zaubern stehen keine Defizite im Vordergrund. Besonders bei misserfolgs­ geprägten Kindern führt die positive Selbst­ darstellung beim Aufführen eines Zauber­ tricks zu einer Stärkung des Selbstvertrauens. Verbunden mit dieser positiven sozioemotionalen Entwicklung werden die An­gesprochenen in der Kommunikation selbstsicherer und nehmen vermehrt Sprechanlässe wahr. Einsatz in allen Therapiephasen Zaubern ist in verschiedenen Phasen einer Sprachtherapie als didaktisches Mittel anwendbar: Es kann zu Beginn als Weg zum Beziehungsaufbau, zum Kennenlernen und zur Vermittlung erster Erfolgserlebnisse genutzt werden. Während des therapeutischen Prozesses ermöglicht es durch seinen hohen Anreiz hochfre­ quentes, lustvolles Repetieren. Am Ende einer Therapie kommt schliesslich eine Zaubervorstellung in Frage, oder es bieten

sich Transfermöglichkeiten an, z. B. die Tricks in der Schulklasse vor­zuzeigen. Um das Zaubern im Kontext der Sprach­ förderung weiter publik zu machen, diente die Bachelorarbeit von Spiess und Zahner als Grundlage für ein Praxisbuch. Darin werden das Konzept und die Ausführung der Tricks schrittweise beschrieben und grafisch illust­ riert. Ein typisches Problem von Zauberlite­ ratur kam dennoch zum Vorschein: die Ver­ mittlung der Tricks vor allem in Schriftform. Aus einem Text lässt sich die Trickrealisation

Praxisbuch Ilona Spiess und Stefanie Zahner absolvierten ihr Logopädiestudium an der HfH von 2010 bis 2013. Zusammen mit dem Begleiter und Initiator ihrer Abschlussarbeit, Prof. Wolfgang G. Braun, gingen sie anschliessend deren Veröffentlichung an: Das gemeinsame Praxisbuch «Zaubern in Sprachtherapie und Sprachförderung» ist Anfang 2016 im Verlag Schubi Lernmedien AG (Schaffhausen) erschienen. Die Besonderheit des Praxisbuchs ist eine DVD mit allen Trickpräsentationen und den dazugehörenden Erläuterungen. Weitere Informationen, inklusive Beispielvideo, sind verfügbar unter: www.schubi.com.

Reto Schürch (Foto)

in vielen Fällen zu wenig erschliessen, trotz Illustrationen. Um eine bessere Verständlich­ keit zu erreichen, galt es daher einen neuen Weg zu finden. So lag die Idee nahe, die 30 sprachtherapeutischen Zaubertricks nicht nur zu beschreiben, sondern auch in Bild und Ton zu demonstrieren: Für jeden Trick wur­ de ein hochwertiger Videoclip produziert. Die Arbeit daran fand an der HfH in den Räumen der Therapie-Lehr-Praxis statt, in intensiver Zusammenarbeit mit dem Digital Learning Center unter Leitung von Reto Schürch. Die Clips folgen jeweils dem gleichen Aufbau und sind musikalisch untermalt. Nach der Nennung des Tricks wird in einem Standbild das benötigte Material gezeigt. Danach folgt aus der Perspektive des Zuschauers die Trickdemonstration, welche zusätzlich mit einem Off-Kommentar erläu­ tert wird. Ein Standbild mit dem Titel «Gewusst wie» markiert jeweils den Über­ gang zur folgenden Videosequenz, die das Trick­geheimnis lüftet und eine Anleitung zur Durchführung des Kunststücks bietet. Die Clips haben eine Dauer von drei bis ma­ ximal fünf Minuten. Durch die audiovisuelle Aufbereitung sind die Tricks und ihre Geheimnisse problemlos nachzuvoll­ ziehen. Diese Form der Präsentation ist auf dem (Zauber-) Buchmarkt ein echtes Novum. Prof. Wolfgang G. Braun ist Logopäde und Dozent im Departement Pädagogischtherapeutische Berufe. Er bietet u.a. sprachtherapeutische Zauberkurse an.


heilpädagogik aktuell — Sommer 2016

Forschung — 9

Für die Praxis: Seit 15 Jahren treibt der Bereich Forschung und Entwicklung der HfH Innovationen in der Heilpädagogik voran.

Gabi Vogt (Foto)

Der Beitrag der Forschung für die Praxis Forschung will Nutzen für die Praxis stiften. Aber bleibt es letzten Endes nicht der Praxis überlassen, wo sie die Brauchbarkeit wissenschaftlich gewonnener Erkenntnisse sehen will? Oder anders gefragt: Woran erkennt man gestifteten Nutzen? Prof. Dr. Christian Liesen

Für eine Fachhochschule steht die Anwendbarkeit von Wissen an erster Stelle, ob nun in der Ausbildung, der Forschung, den Dienstleistungen oder der Weiterbildung. Gerade die Forschung bietet für die Praxis (mindestens) vier Perspektiven, mit denen sie ihren Erfahrungsschatz ergänzen, erweitern und kontrollieren kann. Am besten veranschaulichen lässt sich das anhand einiger konkreter Forschungsprojekte. Eine erste Funktion von Forschung besteht darin, blinde Flecken aufzuhellen und die Grenzen auszuleuchten, die sich in der Alltagspraxis ergeben, oft unmerklich, aber mit erheblichen Konsequenzen. Ein Beispiel dafür ist das Projekt «Palliative Care in Wohnheimen der Behindertenhilfe» (PALCAP), das sich mit schwierigen Entscheidungen am Lebensende befasst. Grundsätzlich hat jeder das Recht, am Ende seines Lebens über medizinische Behandlungen selbst zu entscheiden. Für Personen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung ist das jedoch schwierig: Wie PALCAP anhand von 233 untersuchten Todesfällen gezeigt hat, werden die Wünsche der Betroffenen weniger gehört und sie werden in deutlich geringerem Umfang in Entscheidungen am Lebensende einbezogen, als es bei Personen mit anderen Behinderungen der Fall ist. Das ist damit zu erklären, dass Ärzte, Angehörige und Betreuende grosse Schwierigkeiten haben, sich darauf zu verständigen, ob und in welchem Umfang die Person urteilsfähig ist. Abhilfe soll künftig das Instrument EVALINE schaffen, mit dem die Urteilsfähigkeit von Personen mit einer intellektuellen Beeinträchtigung bei medizinischen Entscheidungen eingeschätzt werden kann. Es befindet sich in der Überprüfungsphase. Forschung, das besagt diese erste Perspektive, eröffnet den

Blick über den Tellerrand, ähnlich wie bei einer guten Evaluation – nur dass man vorher das Problem vielleicht nicht einmal wahrgenommen hat. Forschung schafft Mehrwert für die Praxis Eine zweite Funktion von Forschung ist damit schon angesprochen: Zuverlässige Instrumente, die das, was in der Praxis schwer zu erfassen ist, nachvollziehbar und sichtbar machen. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist der Perceptions of Inclusion Questionnaire (PIQ), ein Kurzinstrument, mit dem sich das Integriertsein in der Klasse in fünf Minuten erfassen lässt. Es misst sehr zuverlässig, wie sich die Schülerinnen und Schüler in der Klasse fühlen, ist schnell durchzuführen und einfach gehalten, sowohl was die sprachlichen Anforderungen betrifft als auch in der Handhabung und Auswertung. Neben der Selbsteinschätzungsversion, die von den Schülerinnen und Schülern ausgefüllt wird, gibt es auch eine Version für Lehrpersonen und Eltern. Der PIQ liegt in derzeit acht Sprachen vor und ist online frei verfügbar. Hinter dem Instrument stehen Daten von mehr als 2‘300 Schülerinnen und Schülern. Forschung, darin besteht diese zweite Perspektive, gibt Fingerzeige, wo gehandelt werden muss, denn schliesslich sind die Zugehörigkeit in der Klasse, der Klassenzusammenhalt und die schulischen Leistungen miteinander verwoben. Der PIQ hilft, früh zu erkennen, wo sich das Integriertsein in der Klasse noch nicht eingestellt hat. Eine dritte Funktion von Forschung ist es, die Etablierung gänzlich neuer Praxisformen zu unterstützen. Das «Zürcher Equity Präventionsprojekt Elternbeteiligung und Integration» (ZEPPELIN) untersucht systematisch, ob Massnahmen der frühen Förderung zu einer besseren Entwicklung der

Kinder beitragen und bezieht mehr als 250 Familien ein. Mit einem Interventionsprogramm und gezielter Vernetzung wird sichergestellt, dass entwicklungsgefährdete Kinder früh erkannt und dann intensiv und fallbezogen gefördert werden. Dank des Projekts ist klar, dass und wie frühe Hilfen funktionieren: Bisher zeigen die an ZEPPELIN beteiligten Familien deutliche positive Effekte. Als das Projekt begann, gab es weder die Strukturen noch das Personal noch das Programm in der notwendigen Form. Dank der guten Zusammenarbeit vieler Beteiligter aus Politik, Praxis und Forschung, darin besteht diese dritte Perspektive, konnte etwas grundlegend Neues entwickelt und erprobt wer-

Projekte Im Zentrum der Forschung und Entwicklung an der HfH stehen heilpädagogische Themen. Die gewonnenen Erkenntnisse helfen, die Lebensqualität behinderter oder von Behinderung bedrohter Menschen zu verbessern. Geforscht wird über die gesamte Lebensspanne in fünf Schwerpunkten: Kleinkinder, Kinder und Jugendliche mit besonderen Bildungsbedürfnissen; Jugendliche und junge Erwachsene mit erschwertem Übergang von der Schule ins Erwerbsleben; Erwachsene und alte Menschen mit Behinderung; systemische und institutionelle Fragen der Heilpädagogik; Professionalisierung heil- und sonderpädagogischer Berufe. Eine neue Broschüre stellt ausgewählte Projekte vor, sie kann bestellt werden und ist online verfügbar: www.hfh.ch/forschung/

den, was einer gut klingenden Idee rigoros auf den Grund geht. In Europa ist ZEPPELIN eine der grössten Längsschnitt-Interventionsstudien. Eine vierte Funktion von Forschung schliesslich ist es, direkt aus der Praxis zu schöpfen und sich an deren Bedürfnissen und Problemlagen auszurichten. Ein Beispiel dafür sind die Projekte, die sich an der HfH mit dem Thema Autismus befassen. Fragen, wie sie auf jede Schule zukommen, in die Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung aufgenommen werden, münden hier in ein Interventionskonzept «Autismusfreundliche Schule», mit dem sich planvoll die Aufnahme und Unterrichtung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störung gestalten lässt. Das Konzept enthält gute Beispiele, reflektiert die einschlägige Fachdiskussion und die vielen Forschungsarbeiten zum Thema und verdichtet sie zu konkreten Ratschlägen und Hinweisen für eine planvolle und fachlich gut abgestützte Umsetzung. Forschung hilft, darin besteht diese vierte Perspektive, das praktische Handeln zu fokussieren in einem anspruchsvollen Umfeld, das viel Fach- und Hintergrundwissen erfordert. Forschung schafft so in mannigfaltiger Form einen Mehrwert für die heilpädagogische Praxis. Die neu erschienene F&E-Broschüre stellt noch zahlreiche weitere Projekte vor. Für die Praxis ist oft in erster Linie das Erfahrungswissen massgebend – und Forschung zunächst einmal Beiwerk, münzen sich doch Forschungsresultate nicht direkt in Erfahrungswerte um. Doch so klar Erfahrung das Herzstück der Praxis ist, so klar ist auch, dass man sie pflegen und entwickeln muss. Forschung leistet dazu einen wichtigenBeitrag. Prof. Dr. Christian Liesen ist Schwerpunktleiter im Bereich Forschung und Entwicklung an der HfH.


10 — Lehre

heilpädagogik aktuell — Sommer 2016

Sprachund Bewegungsförderwoche Angebot der Therapie-Lehrpraxis an der Hochschule

Eine Gruppe von zehn Kindern mit Trisomie 21 im Alter zwischen vier und neun Jahren erhält an der HfH vom 8. bis 12. August 2016 die Möglichkeit, ihre Fähigkeiten in Sprache und Bewegung weiter zu entwickeln. Im Fokus dieser Woche steht die Förderung der Kinder im Hinblick auf den Übertritt in den Kindergarten beziehungsweise in die Schule. Zehn Studierende der Bachelorstudiengänge Psychomotoriktherapie und Logopädie gestalten in Zusammenarbeit mit den Eltern sowie unter Supervision der beiden Projektleiterinnen Christina Arn und Susanne Störch Mehring die Förderwoche. Als präventives Konzept werden hierbei die Inhalte nach möglichen Risikofaktoren der Zielgruppe gewählt. Zum Beispiel in der Logopädie Wortschatz und Kommunikation sowie in der Psychomotoriktherapie Feinmotorik, Gleichgewicht und Körpertonus. Die Sprach- und Bewegungsförderwoche ist ein Angebot der Therapie-Lehr-Praxis (TLP), welche im September 2013 eröffnete wurde und die Hochschule zu einem Ort der Praxis werden lässt. Die Förderwoche wird in Kooperation mit dem Elternverein Insieme 21 diesen Sommer bereits zum dritten Mal durchgeführt.

Einzigartige Ausbildung: Der nächstmögliche Studienbeginn in Gebärdensprachdolmetschen ist im Herbst 2018.

Gleichberechtigter Bildungszugang Eine gute Zusammenarbeit zwischen Betroffenen, Institutionen und Berufsgruppen verbessert für Menschen mit einer Hörbehinderung die Bildungsmöglichkeiten. Prof. Dr. Tobias Haug

Infotage 2016 Mittwoch, 2. November 15.00–17.30 Uhr Masterstudium Sonderpädagogik Vertiefungsrichtungen – Schulische Heilpädagogik – Heilpädagogische Früherziehung

Mittwoch, 16. November 15.00 –17.30 Uhr Bachelorstudium – Logopädie – Psychomotoriktherapie – Gebärdensprachdolmetschen

Mehr Infos unter www.hfh.ch/agenda, über Telefon 044 317 11 11 oder info@hfh.ch

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Schaffhauserstrasse 239 8050 Zürich www.hfh.ch

Gian Vaitl (Foto)

Die Bildungschancen für Menschen mit einer Hörbehinderung bzw. grundsätzlich die gesellschaftliche Teilhabe haben sich in den letzten Jahrzehnten durch eine zunehmende Anerkennung von Gebärdensprachen und damit einem rechtlich ableitbaren Anspruch auf Dolmetschdienstleistungen verbessert. Dennoch sind wir von einem gleichberechtigten Zugang zu Bildung weit entfernt. Eine Verbesserung der Bildungschancen zeigt sich unter anderem daran, dass Menschen mit einer Hörbehinderung inzwischen in Berufen anzutreffen sind, in denen sie früher nicht oder kaum vertreten waren. Diese Veränderung ist unter anderem auch bedingt durch ein verändertes Selbstverständnis von hörbehinderten Menschen, gemäss dem sie vermehrt wie Hörende einen Beruf ihrer Wahl ergreifen und mit einem Gebärdensprachdolmetscher, einer Gebärdensprachdolmetscherin aktiv an Aus- und Weiterbildungen mit Hörenden teilnehmen können. Ein wichtiger Faktor, um an einem Bildungsangebot teilnehmen zu können, ist eine qualitativ hochstehende Dolmetschdienstleistung, die die Kommunikation von einer Lautsprache (Hochdeutsch oder Schweizerdeutsch) in die Deutschschweizerische Gebärdensprache (DSGS) und umgekehrt gewährleistet. Gebärdensprachdolmetscher und -dolmetscherinnen leisten somit einen wichtigen Beitrag zur Bildungsteilhabe von Menschen mit einer Hörbehinderung. Gebärdensprachdolmetscher und -dolmetscherinnen werden seit 1986 am HPS und seit 2001 an der HfH ausgebildet. Eine wichtige Grundvoraussetzung für das Dolmetschen ist eine sehr hohe Kompetenz in der DSGS. Das Vermitteln der

DSGS erfolgt durch gehörlose Fachpersonen, die seit 1990 am HPS und seit 2001 an der HfH zu Gebärdensprachausbildnern ausgebildet werden. Ohne diese Fachpersonen gäbe es keine Gebärdensprachdolmetscher, und ohne Forschung zur DSGS gäbe es keine Lehrmaterialien, um diese Sprache zu vermitteln. Die Lehrmaterialien wurden in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren aufbauend auf Forschungsprojekten zur DSGS, durchgeführt von Penny Boyes Braem, vom Schweizerischen Gehörlosenbund (SGB-FSS) und von dem damaligen Verein GS-Media entwickelt. Fokussierung auf die Lehre Mit dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER) wurde 2001 vom Europarat ein Referenzwerk entwickelt, das sprachunabhängig Kompetenzen von Lernenden einer Fremdsprache auf verschiedenen Niveaus (A1, A2, B1, B2, C1, C2) und in unterschiedlichen sprachlichen Modalitäten (Sprache verstehen/Sprache produzieren, lesen/schreiben, Interaktion) beschreibt. Der GER ist zurzeit ein grosses Thema an vielen europäischen Hochschulen, die Gebärdensprachdolmetscher- und dolmetscherinnen ausbilden. Dies zeigt sich u.a. an unterschiedlichen europäischen Projekten, wie beispielsweise «ProSign: Signed Language for Professional Purposes», an dem auch die HfH vertreten ist. Gleichmassen gibt es auch in der Schweiz Projekte, die sich der Thematik angenommen haben. Zum Beispiel führt der SGB-FSS in Zusammenarbeit mit der HfH ein Projekt zur Umsetzung des GER auf die drei nationalen Gebärdensprachen der Schweiz durch. Auch läuft zu diesem Thema ein Forschungsprojekt, welches an der Zürcher Hochschule für Angewandte

Wissenschaften (ZHAW) angesiedelt ist und an dem auch die HfH beteiligt ist. Neben der starken Fokussierung auf die Autonomie des Lernenden einer Fremdsprache spielt beim GER gleichermassen die Lehre und später das Überprüfen der Sprachkompetenz eine grosse Rolle. Zum Punkt der Überprüfung wird gerade in Zusammenarbeit mit dem Idiap-Forschungsinstitut in Martigny, dem Forschungszentrum für Gebärdensprache Basel und der University of Surrey in Grossbritannien ein System zur automatischen Erkennung von Gebärdensprache für einen DSGS-Vokabeltest auf der Stufe A1/A2 entwickelt. Die Entwicklungen der letzten 30 bis 40 Jahre in der Deutschschweiz haben gezeigt, dass eine wichtige Voraussetzung für bessere Bildungschancen von Menschen mit einer Hörbehinderung eine enge Zusammenarbeit über Institutionen und Berufsgruppen hinweg, zwischen Forschung und Praxis ist. Die Forschung war und ist stark geprägt durch ein Miteinander von hörenden und gehörlosen Forschenden. In dem Sinne ist noch zu sagen, dass die Forschung zur DSGS in den letzten 30 Jahren projektbasiert am Forschungszentrum für Gebärdensprache Basel, der HfH, der ZHAW und der Universität Zürich erfolgreich durchgeführt wurde, es aber immer noch keine permanente Verortung der DSGS im Sinne einer interdisziplinär ausgerichteten, anwendungsorientierten Grundlagenforschung an einer Schweizer Hochschule gibt. Prof. Dr. Tobias Haug leitet den Bachelorstudiengang Gebärdensprachdolmetschen an der HfH und ist an einer Reihe von Forschungsprojekten zu diesem Thema beteiligt.


heilpädagogik aktuell — Sommer 2016

Konzepte — 11

B2 B1

Das Signet für Texte in Leichter Sprache von Inclusion Europe.

A2 A1

C2 C1

praktisch alles

breites Spektrum auch komplexer Sachinhalte

komplexe Texte abstrakte Inhalte Fachtexte kurze Texte klare Standardsprache

einzelne Sätze häufig verwendete Ausdrücke vertraute Themen einfache, kurze Sätze vertraute Wörter langsam, deutlich sprechen

«LL» steht für Leicht Lesen: das Capito-Stufenmodell.

Quelle: www.arge-sbv.de/ph1502.pdf

Leichte Sprache – ein Konzept für barrierefreie Kommunikation Mehr als 800’000 Menschen in der Schweiz zeigen geringe Lesekompetenzen. Leichte Sprache ermöglicht den Betroffenen einen barrierefreien Zugang zu Informationen. Christina Arn Rita Baumann

Der Zugang zu Informationen hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten verändert. Immer mehr Informationen sind vor allem in schriftlicher Form zugänglich. Sehr oft sind sie primär über das Internet abrufbar: Das Erledigen von Verwaltungsangelegenheiten, der Abschluss einer Versicherung, das Verfolgen des Tagesgeschehens, um nur einige Beispiele zu nennen, erscheinen kaum möglich, ohne Texte zu verstehen. Wer braucht Leichte Sprache? Dieser gesellschaftliche Wandel, insbesondere die verbreitete Nutzung der neuen Medien, erschweren Kindern und Erwachsenen mit geringen Lesekompetenzen die Bewältigung ihres Alltags. Besonders betroffen sind Menschen mit geistiger Behinderung, Menschen mit Störungen des Spracherwerbs oder Menschen, die gehörlos geboren wurden. In ähnliche Schwierigkeiten geraten aber auch Personen, die (nur) vorübergehend auf leicht verständliche Informationen angewiesen sind, wie Schülerinnen und Schüler mit Deutsch als Zweitsprache oder Männer und Frauen mit Sprachverlust nach einem Hirnschlag oder mit Demenz-Erkrankung. Gemeinsam ist allen, dass sie über mangelnde Lesefertigkeiten verfügen. Lesen und Schreiben gehören jedoch zu den Schlüsselkompetenzen, um den Alltag selbstständig zu meistern beziehungsweise um am sozialen Leben oder an Freizeitaktivitäten zu partizipieren. Wer z. B. ein Ticket vom Bahnhof «Zürich, Wollishofen» nach «Würenlos, Post» lösen will, dem liefert die Seite www.sbb.ch folgende Angaben: – Tarifverbund ZVV–AG – Z-Pass A-Welle Einzelbillett 5 Zonen ab CHF 6,30 via Dietikon o Baden – Tarifverbund ZVV–AG – Z-Pass A-Welle Tageskarte 5 Zonen ab CHF 12,60 – Tarifverbund ZVV–AG – Z-Pass A-Welle Einzelbillett 4 Zonen ab CHF 5,10 via Dietikon o Regensdorf

Insbesondere digital vermittelte Informationen sind oft sehr komprimiert, beschränkt auf das Notwendigste. Sie erfordern von den Lesenden nicht nur eine hohe Lesefähigkeit, sondern auch entsprechendes Vorwissen: Abkürzungen wie ZVV-AG müssen bekannt sein. Um das günstigste Angebot für ein gültiges Ticket zu finden, braucht der Fahrgast zudem geografische Kenntnisse bezüglich des Streckenverlaufs – und er sollte die Preise vergleichen können. Warum Leichte Sprache? Sprache ist ein äusserst komplexes System, bei dem verschiedene Ebenen ineinander greifen: die Lautbildung, der Aufbau von Wörtern und Sätzen, die inhaltliche Bedeutung des Gesprochenen oder Geschriebenen, der Sprachgebrauch im Alltag – das alles ergibt erst im Zusammenspiel einen Sinn. Sprache ist lebendig, Begrifflichkeiten und ihre Verwendung verändern sich in unterschiedlichen Kontexten. Einzelne Sätze sind sowohl mündlich als auch schriftlich in einen Text eingebunden. Text zu verstehen setzt voraus, dass Hörende und Lesende nicht nur

Heilpädagogen und Therapeutinnen Leichte Sprache wird in Zukunft für Schulische Heilpädagoginnen und Therapeuten an Bedeutung gewinnen. In ihrem beruflichen Umfeld treffen sie auf die verschiedenen Zielgruppen, die auf Leichte Sprache angewiesen sind, und sie vermehrt einfordern. Dies verlangt von den Fachpersonen entsprechende Kenntnisse in Aufbau und Regelwerk der Leichten Sprache. Mit Angeboten der Ausund Weiterbildung zu diesem Thema befasst sich an der HfH eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe.

der formalen Struktur folgen, sondern insbesondere auch den thematischen Zusammenhang erschliessen können. Lesekompetenz besteht dabei aus der Lesetechnik, dem Dekodieren der Zeichen, und aus dem Leseverständnis, dem Entschlüsseln des Inhaltes. Das Konzept der Leichten Sprache versucht den Zugang zum Inhalt zu erleichtern. Die Notwendigkeit einer leicht verständlichen Sprache wurde zunächst von den Betroffenen selbst geltend gemacht, als Mittel, um ihren Anspruch auf Selbstvertretung und Inklusion zu verwirklichen. Ein erstes Konzept entstand ab Ende der 1960er in Schweden, es wurde von der amerikanischen Empowerment-Bewegung übernommen und schliesslich in weitere europäische Länder übertragen. Im deutschsprachigen Raum engagiert sich das Netzwerk Mensch zuerst seit den 1990er Jahren für die Umsetzung des Konzeptes. Inzwischen können die Betroffenen sich zudem auf die UNO Behindertenrechtskonvention berufen, die u. a. einen barrierefreien Zugang zu Informationen verlangt. Das erste Regelwerk zur Leichten Sprache hat die Vereinigung Inclusion Europe 1998 unter dem Titel Sag es einfach veröffentlicht. Es enthält Richtlinien für die Erstellung von leicht lesbaren Informationen für Menschen mit geistiger Behinderung und wird laufend weiterentwickelt. Inzwischen sind weitere Systematiken entstanden, die voneinander abweichende Vorgaben enthalten. Das führt bei den Anwendern zum Wunsch nach einem gemeinsamen Bezugspunkt. Was ist Leichte Sprache? Eine breite Akzeptanz findet derzeit der Europäische Referenzrahmen für Sprache mit seinen drei Niveaustufen: A) Elementare Sprachverwendung, B) Selbstständige Sprachverwendung, C) Kompetente Sprachverwendung. So orientiert sich beispielsweise das «capito-Stufenmodell» (siehe Abbildung) von Klaus Candussi und Walburga Fröhlich am europäischen Referenzrahmen

für Sprache. Es ordnet Kriterien der Verständlichkeit für Leichte Sprache den Niveaustufen A1 bis B1 zu. Damit ermöglicht das Modell die Beurteilung der Lesbarkeit, Verständlichkeit und Zugänglichkeit einer Information. Am Beispiel des SBB-Tickets: «Tarifverbund ZVV–AG – Z-Pass A-Welle Tageskarte 5 Zonen ab CHF 12,60» könnte unter Anwendung des capito-Stufenmodells übersetzt in Leichte Sprache auf Niveau B1 wie folgt lauten: Preise für Bus und Bahn und Tram und Schiff im Kanton Zürich und im Kanton Aargau – Tages-Karte – 5 Zonen – 12 Franken 60 Sämtliche Netzwerke, welche sich mit Leichter Sprache auseinandersetzen, empfehlen im Anschluss an die Übersetzung eine Prüfung der Verständlichkeit. Vertreterinnen und Vertreter der Zielgruppe fungieren dabei unter Moderation als Prüfende. Einige Netzwerke stellen im Anschluss an die Überprüfung ein Gütesiegel aus. Kritiker der Leichten Sprache bemängeln, dass durch die Übersetzung in Leichte Sprache Inhalte verkürzt und Zusammenhänge unzulässig vereinfacht werden. Diese Gefahr besteht durchaus. Denn die Übersetzenden müssen darüber entscheiden, welche Informationen vermittelt und welche Informationen ausgelassen werden. Die Herausforderung besteht darin, die Kernaussage eines Textes herauszuarbeiten. Leichte Sprache ist keine leichte Sache! Christina Arn, lic. phil. I, MAE, ist Dozentin im Studiengang Logopädie im Departement für pädagogisch-therapeutische Berufe. Rita Baumann, lic. phil. I ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Schwerpunkt Pädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung im Departement für heilpädagogische Lehrberufe. Christina Arn und Rita Baumann sind Mitglieder einer interdepartementalen Arbeitsgruppe zu Leichter Sprache.


12 — Aktuelles

heilpädagogik aktuell — Sommer 2016

Weiterbildung Weiterbildungsangebote zum Thema — Tagung «Zwischen Stuhl und Bank» beim Berufseinstieg (2016-87) — Tagung: Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung – Bildung und Interaktion (2016-88)

— Workshop «Guten Appetit» – Essen und Trinken mit Menschen mit einer Mehrfach­ behinderung (2016-68) — Basale Stimulation® in der Heilpädagogik und Therapie – Grundkurs (2016- 66) — Unterrichtsstörungen: Lehrpersonen in schwierigen Unterrichtssituationen unterstützen (2016-42)

— Syndromspezifisches Fachwissen – eine Grundlage für die Förderung und den Umgang mit herausforderndem Verhalten? (2016-32) — Onlinekurs: ADHS (2016 -83) — Onlinekurs: Verhaltensprobleme erkennen und lösen (2016-82)

Zusatzausbildungen September 2016 — CAS Musik und Gestaltung in der Heilpädagogik (2016 -05) — CAS Start strong! Heilpädagogik in der Eingangsstufe 4–8 (Kurs 2016 -06) — CAS Kommunikation und Beratung in der integrativen Schule (Kurs 2016-03) — CAS Integration von Schülerinnen und Schülern mit Verhaltensstörungen (Kurs 2016-07)

November 2016 — CAS Älter werden mit Behinderung (2016-010) Bei diesen Angeboten hat es noch einzelne Plätze frei. Jetzt noch anmelden!

Ausgewählte Weiterbildungskurse August 2016 — iPad als Kommunikations- und Lernhilfe in der Unterstützten Kommunikation (2016 - 53)

— «Mathe sicher können» – das Diagnoseund Förderkonzept zur Sicherung der mathematischen Basiskompetenzen von rechenschwachen Schülerinnen und Schülern (2016-49)

— «Wenn mir die Worte fehlen»– Hand­ zeichen und Gebärden für Menschen mit lautsprachlicher und kognitiver Beeinträchtigung (2016-62)

September 2016 — Der Atem als Türöffner – Einführung in die ressourcenorientierte Atemarbeit nach Prof. I. Middendorf (2016-63) — Stärke statt Macht (2016-43) — CARE-Index: Einschätzung der Beziehung zwischen Kind und Bezugsperson (2016-10) — Dybuster Orthograph: Einführung in die erfolgreiche Rechtschreib-Trainings-Software (2016-51)

— Auf die Stärken kann man bauen – lösungsorientierte Arbeit mit herausforderndem Verhalten (2016-74) Oktober 2016 — Lernschwierigkeiten – wie exekutive Funktionen helfen können (2016-46.1) November 2016 — Von Mundgeschickt zu Leseschlau – Logopädisches Know-how für Kindergarten und Unterstufe (2016-36) — Dybuster Orthograph: Betreuen der Lernenden mit Dybuster Coach (2016-52) — Diagnostik in der Psychomotorik (2016-17) — Autismus und Schule: Klassenassistenz bei Schulkindern mit Autismus (2016-71) — Brain Food – eine hirngerechte Ernährung für Menschen mit Behinderung (2016-64) — Gesprächsführung und Beratung: Was wirkt in schwierigen Situationen (2016-60) Onlinekurse — Neurowissenschaften und Heilpädagogik (Kurs 83)

— 1x1 der Heilpädagogik (Kurs 84) Mehr Informationen zu den Onlinekursen ohne Präsenztage sowie ein kostenloses Testmodul unter https://onlinekurse-hfh.ch Anmeldung Kursdaten, Detailprogramme und Anmeldung – sowie alle weiteren Kurse im Jahr 2016 – finden Sie unter www.hfh.ch/weiterbildung.

Agenda

Impressum

Tagung am 10. September 2016 Regelschulen lernen von Sonderschulen Fachpersonen in Sonderschulen und Schulheimen wissen, wie sie herausforderndem Verhalten bei Kindern und Jugendlichen begegnen. Die HfH-Tagung vermittelt dieses Wissen Regellehrpersonen und anderen Teilnehmenden praxisnah. Ringvorlesung am 5. Oktober 2016 Wenn Schule krank macht Prof. Dr. Ingeborg Hedderich spricht über Burnout im Lehrerberuf. Von 17.30 bis 19.00 Uhr an der HfH, Zürich. Eintritt frei, eine Anmeldung ist erforderlich. Tagung am 29. Oktober 2016 «Zwischen Stuhl und Bank» beim Berufseinstieg Für manche Jugendliche ist der Übergang von der Schule in die Berufswelt schwierig. Die komplexe Situation erfordert oft eine interinstitutionelle Zusammenarbeit. Die HfH-Tagung beleuchtet Schnittstellen und präsentiert Lösungsansätze. Studieninformation am 2. November 2016 Informationstag Masterstudiengang Sonderpädagogik Dozierende der HfH informieren über das Studium der Sonderpädagogik mit den Vertiefungsrichtungen Schulische Heilpädagogik und Heilpädagogische Früherziehung. Von 15:00 bis 17:00 Uhr. Studieninformation am 16. November 2016 Informationstag Bachelorstudiengänge Dozierende der HfH informieren über das Studium der Logopädie, Psychomotoriktherapie und des Gebärdensprachdolmetschens. Von 15:00 bis 17:00 Uhr. Tagung am 18. November 2016 Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung Die Förderung von Menschen mit schwerer Behinderung bringt besondere Herausforderungen mit sich. Die Tagung bietet Ideen, Knowhow und Praxiswege, um die Entwicklung Betroffener zu unterstützen beziehungsweise ihre Lebensqualität zu verbessern, mit Blick auf Kindheit, Schule und Erwachsenenalter.

heilpädagogik aktuell Magazin der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich, ISSN 2235-0055 Auflage 10’000 Exemplare Erscheinungsweise Jeweils März, Juni und November Herausgeber Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik Schaffhauserstrasse 239 Postfach 5850 CH-8050 Zürich Telefon +41 (0)44 317 11 11 Telefax +41 (0)44 317 11 10 www.hfh.ch Verantwortlich Prof. Dr. Urs Strasser Konzept Irene Forster Meier Redaktion Esther Banz, Sabine Hüttche (Redaktionsleitung), Dr. Lars Mohr Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe Christina Arn lic. phil., Rita Baumann lic. phil., Prof. Dr. Karin Bernath, Prof. Wolfgang G. Braun, Prof. Dr. Tobias Haug, Prof. Dr. Christian Liesen, Dr. Monika T. Wicki Gestaltung Bodara GmbH, www.bodara.ch Fotografie Prof. Wolfgang G. Braun, Thomas Burla, Christoph Siegfried, Gian Vaitl, Gabi Vogt, Reto Schürch, Pathefilms Druck Peter Gehring AG, Winterthur www.petergehring.ch Hinweis Wegen der besseren Lesbarkeit verwenden wir geschlechtsneutrale Bezeichnungen oder abwechselnd die weibliche und männliche Form. Abonnement Ein Abo von «heilpädagogik aktuell» bestellen Sie kostenlos über www.hfh.ch oder redaktion@hfh.ch.

Die nächste Ausgabe von «heilpädagogik aktuell» erscheint im November 2016.

DVD-Tipp: «Die Schüler der Madame Anne» Anne Gueguen (Ariane Ascaride) ist Geschichtslehrerin und übernimmt eine 1 1. Klasse an einem Gymnasium im Pariser Vorort Creteil, einem sozialen Brennpunkt. Für die engagierte Pädagogin bedeuten die Schüler und Schülerinnen dieser Klasse eine echte Herausforderung, denn die Jugendlichen tragen in der Schule ihre persönlichen und kulturellen Konflikte aus. Madame Gueguen aber weiss, dass mehr in diesen Kindern schlummert, als sie sich selbst eingestehen wollen. Sie meldet ihre Schüler und Schülerinnen für einen renommierten nationalen Wettbewerb zum Thema der französischen Resistance an und weckt in ihnen den Willen, etwas zu lernen – über die Geschichte Frankreichs, über sich selbst und über den Umgang miteinander. Einem ehemaligen Schüler war es ein Anliegen, dass über dieses lebensverändernde Schuljahr berichtet wird. Er gab den Impuls für einen Film, der Schule als besonderen Ort für Bildung zeigt. Drama, Originaltitel «Les héritiers», Frankreich 2014, 105 Minuten, Regie, Drehbuch, Produktion: Marie-Castille Mention-Schaar u. a., Die DVD ist u. a. über www.books.ch für 24.90 CHF erhältlich.


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