Vom Papier zum Quartier

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Themenheft von Hochparterre, August 2017

Vom Papier zum Quartier

Das Papieri-Areal in Cham soll ein Stadtteil fĂźr mehr als 2000Â Menschen werden. Ein Blick auf Geschichte, Planungsprozess und Bebauungsplan.

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Auch zukünftig prägt das Kesselhaus aus der Nachkriegszeit das Chamer Papieri-Areal.

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Editorial

Sicherheit und Spielraum

Inhalt

4 Der Bebauungsplan Alt und Neu, Nutzung und Etappierung.

6 Der Grundstein ist gelegt Immobilienentwicklung von der Brache zum Stadtquartier.

12 Mehr als Papier Zwischennutzungen beleben das Areal.

16 Stadtmitplanung Kooperative Planung ist ein Gewinn für alle.

2 2 Neubeseelung im Lorzental Eine 360-jährige Geschichte der Papierproduktion.

Mehr als 360 Jahre prägte die Papieri den Ort Cham und die Region Ennetsee. Weil die Papierfabrik die Produktion in ihre italienischen Werke verlagerte, machte man das zwölf Hektar grosse Areal im Herbst 2016 zur Mischzone mit Bebauungsplan. Dieser bietet Platz für mehr als 2000 neue Einwohner und 1000 Arbeitsplätze. Er balanciert Verbindliches und Flexibles, denn die Entwicklung wird mindestens 15 Jahre dauern. Fraglos wird sich Cham dort dichter, höher und geordneter entwickeln. Dieses Heft zeigt erstens, was wird: Die Hallen der ehemaligen Papiermaschinen, Verwaltungs- und andere Bauten sind geschützt und werden umgenutzt. 13 Neubaubereiche erlauben bis zu 160 Meter lange Zeilenbauten und knapp fünfzig Meter hohe Hochhäuser. Dazwischen liegen grosse Plätze und lange Gassen, seitlich eine Stras­ se und ein erlebbar gemachter Flussraum. Der Freiraum entwickelt sich von städtisch zu landschaftlich geprägt. Als Ausgleich für den Planungsmehrwert erhält die Gemeinde drei Grundstücke für öffentliche Nutzungen, hundert preisgünstige Wohnungen und einen Pflichtanteil für Arbeitsnutzungen, die im Gleichschritt mit neuem Wohnraum erstellt werden müssen. Dieses Heft zeigt zweitens, was ist: Heute nutzen fast sechzig Zwischennutzer die Flächen und Räume der ehemaligen Papierfabrik. Es gibt Auto- und Schrotthändler, Künstlerinnen und Architekten. Ein internationaler Fahrradhersteller hat seine Entwicklungsabteilung in einem historischen Bau eingerichtet. Und die Zwischennutzungen werden weitergehen, denn die Bestandesbauten werden etappiert umgenutzt. Dieses Heft zeigt drittens, was war: Da ist einerseits die Geschichte von der Papiermühle zum grössten Arbeitgeber und Immobilienbesitzer der Region, von der Bauerngemeinde Cham zum ‹ Papieri-Dorf ›. Sie erzählt den Wandel vom Handwerk über die Mechanisierung und Industrialisierung bis zur Globalisierung und zum Verlagern der Produktion. Da ist andererseits die mehrjährige Planung, geleitet von EBP und moderiert vom ehemaligen Basler Stadtbaumeister Fritz Schumacher. Gemeinde und Grundeigentümer teilten sich mehr als eine Million Franken Planungskosten. Sie formulierten Leitsätze und veranstalteten eine mehrphasige Testplanung, die zum Richtprojekt von Albi Nussbaumer Architekten und Boltshauser Architekten führte und schliesslich zum Bebauungsplan. Bei jedem Schritt konnte die Bevölkerung mitreden, und sie legte am Schluss ein Ja in die Urne. Auch Bilder und Pläne zeigen, was wird, ist und war. Visualisierungen stellen eine mögliche Atmosphäre dar. Fotografien von Lucia Frey und Bruno Kuster zeigen das Areal, seine heutigen Nutzer und die Innenräume mit inzwischen verschwundenen Maschinen.  Palle Petersen

Impressum Verlag Hochparterre AG  Adressen  Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon 044 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger und Chefredaktor  Köbi Gantenbein  Verlagsleiterin  Susanne von Arx  Konzept und Redaktion  Palle Petersen  Fotografie  Kuster Frey, www.kusterfreyfotografie.ch  Art Direction  Antje Reineck  Layout  Tamaki Yamazaki  Produktion  Daniel Bernet  Korrektorat Lorena Nipkow, Dominik Süess  Lithografie  Team media, Gurtnellen  Druck  Somedia Production, Chur Herausgeber  Hochparterre in Zusammenarbeit mit Cham Paper Group Schweiz AG Bestellen  shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 10.—

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Der Bebauungsplan Mögliche Nutzungs­verteilung Arbeiten publikumsorientierte Nutzung Eigentumswohnungen Mietwohnungen Mögliche Etappierung 1 E tappe 1 2 E tappe 2 3 E tappe 3 4 E tappe 4 5 E tappe 5 6 E tappe 6

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Neubaubereiche Anzurechnende Geschossfläche A 20 820 m² B 1 4 410 m² C 12 210 m² D 2 1 530 m² E 11 620 m² F 9560 m² G 8400 m² H 7 210  m² I 9 010  m² K 8 400  m² L 7 210  m² M1 4 910  m² M2 1200  m² N 2690  m² Pflichthöhe ( Maximalhöhe minus 4 m ) Bestandesbauten 1 Halle Papiermaschine 5, 1959 2 Durolux-Gebäude, 1955 3 Trafogebäude, 1913 4 Silogebäude, 1927 5 Werkstattgebäude, 1957 ( Umbau 2016 ) 6 Hallen Papiermaschinen 1 – 4 , 1913 / 21 7 Walzenlager, vor 1890 8 Schmiede, 1957 9 Turbinenhaus, 1903 10 Zentrallager, 1962 11 Eisenmagazin, 1903 12 Schreinerei, 1928 13 ehemalige Mühle, um 1600 14 Kalanderbau, 1909 15 Kesselhaus, 1949 / 57 16 Portiergebäude, 1919 17 Lagerhaus, 1928 18 Lokremise, 1928 Substanzerhalt Strukturerhalt Volumenerhalt

Freiräume a Teuflibachwald b Gassenraum Nord c Trafoplatz d Gassenraum Süd e Lorzensteg f Kesselhausplatz Legende Perimeter Bebauungsplan Parzellen Landabtretungen Neubaubereich mit Sonderbestimmungen Zufahrt Motorfahrzeuge Anlieferung und Notzufahrt Tiefgarageneinfahrten Bushaltestellen heute Fahrwegrecht F uss- und Radwegrecht Fusswegrecht Anschluss Knonauerstrasse

Plangrundlage: Appert Zwahlen Partner, Cham Albi Nussbaumer Architekten, Zug Boltshauser Architekten, Zürich

Beteiligte Planer Projektleitung:  EBP Schweiz, Zürich Richtprojekt:  Albi Nussbaumer Architekten, Zug, und Boltshauser Architekten, Zürich Umgebungsgestaltungsplan und Freiraumkonzept:  Appert Zwahlen Partner, Cham Umweltverträglichkeitsbericht:  Ingenieurbüro Beat Sägesser, Baar, und Teamverkehr Zug, Cham Fakten Arealfläche:  12 ha Ausnützungsziffer: ca. 1,4 Anrechenbare Geschossfläche:  170 000 m² ( davon 140 000 m² in 14 Neubaubereichen ) Minimaler Wohnanteil:  50 % ( ca. 1200 Wohnungen für 1800 bis 2400 Einwohner, davon 100 preisgünstig ) Minimaler Gewerbeanteil:  25 % ( für ca. 900 bis 1250 Arbeitsplätze, zulässig sind Büros, mässig störende Gewerbe- / Industriebetriebe, Lager, publikumsorientierte Nutzungen und solche im öffentlichen Interesse ) Parkplätze:  1710 ( davon 210 überirdisch und 20 geteilt ) Investitionsvolumen:  ca. Fr. 700 Mio.

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Der Grundstein ist gelegt Cham bekommt Land, Gewerbe und günstige Wohnungen, die Eigentümerin nötigen Spielraum. Nun müssen gute Bauten und Freiräume die Linien des Bebauungsplans füllen. Text: Palle Petersen

Umgenutztes Werkstattgebäude: Ein guter Anfang ist ein gutes Omen.

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Der Kalanderbau zählt zu den ältesten Gebäuden des Papieri-Areals. 1909 bauten Séquin & Knobel aus Rüti dieses Fabrikschloss mit Strebepfeilern und Gesimsen. Der Bau für den Kalander, eine Walzmaschine, steht am östlichen Ufer der Lorze. Dort reihen sich auch die um 1920 erbauten Hallen für die Papiermaschinen 1 bis 4 auf. Am anderen Ufer stehen kleinere Bauten wie das Eisenmagazin und das Werkstattgebäude. Sie alle nutzten die Wasserkraft s­ iehe Seite 22, und so wurde die Bebauung am Fluss zum Herzen der Papieri, gebaut aus hellgrauem Kalksandstein, Backstein und Beton. Für die meisten dieser Bauten gilt Substanzerhalt. Sie wurden vom Kanton unter Schutz gestellt. Für weniger bedeutende Zeitzeugen und die Gleisanlagen gilt Struktur­ erhalt. Diesen sowie den Volumenerhalt regelt allein der Bebauungsplan. « Die drei Schutzstufen reichen vom integralen Erhalt mitsamt Freiraum bis zum Neubau gleicher Kubatur », erklärt Zugs Kantonsdenkmalpflegerin Franziska Kaiser. « Das wird ihren unterschiedlichen Bedeutungen aus technik- und architekturgeschichtlicher oder städtebaulicher Sicht gerecht. » Neben den Hallen, in denen die Papiermaschinen 1 bis 4 standen, überdecken historisch wenig bedeutende Lagerbauten den Niveausprung von fast acht Metern. Sie werden wie weitere unbedeutende Zweckbauten verschwinden. Die Topografie aber bleibt. Albi Nussbaumer Architekten aus Zug und Boltshauser Architekten aus Zürich, die das Richtprojekt für den Bebauungsplan entworfen haben, setzen einen beinahe 160 Meter langen Zeilenbau an die Hangkante, der einen langen Gassenraum bildet. Das Motiv wiederholt sich an beiden Rändern des Areals. Dazwischen ergänzen fünf Hochhäuser die mächtigen Punktbauten wie das Kesselhaus und das Silogebäude. Mit 47,5 Metern sind sie in der Mitte des Areals am höchsten. Die städtebauliche Setzung ist so leichthändig wie sicher. Vor allem aber entwickelt sie sich, anders als manch konzeptioneller oder generischer Vorschlag in der Testplanung, aus dem Vorhandenen.

Entsprechend ist der Gassenraum hindernisfrei mit dem höhergelegenen Arealteil verbunden. Bei der Lorzenbrücke liegen eine schmale Freitreppe und eine hindernisfreie Verbindung, vom Kesselplatz führt eine knapp dreissig Meter breite Freitreppe hinab.

Was bekommt die Gemeinde ? Gut vier Jahre dauerte der kooperative Planungsprozess von den Leitsätzen bis zum Bebauungsplan siehe Seite 16. Mit diesem wird das Papieri-Areal vom Vorranggebiet fürs Arbeiten zu einem für Mischnutzung, im Zonenplan wird die Arbeitszone zur ‹ Wohn- und Arbeitszone Papieri ›. Diese definiert bloss Grenzabstände und Lärmempfindlichkeit, denn der Bebauungsplan – bestehend aus Plänen und Bestimmungen, einem Umweltverträglichkeitsbericht und einem daumendicken Begleitbericht – regelt die Bauvolumen und zahlreiche Details. Er ermöglicht der CPG eine Immobilienentwicklung von der Brache zum Stadtquartier. Die Gemeinde ihrerseits gewinnt jede Menge öffentlichen Raum. Sie erhält aber auch drei Grundstücke für öffentliche Nutzungen mit insgesamt 18 000 Quadratmetern. Das sind 15 Prozent der Arealfläche. Das erste Grundstück nutzt die Gemeinde für einen Kinderspielplatz. Auf dem zweiten veranstaltet sie einen Ideenwettbewerb für eine Zwischennutzung im ehemaligen Lagerhaus, daneben ist Platz für einen Neubau. Das dritte Grundstück, den Gleisraum zwischen Areal und Bahnhof, will die Gemeinde für den Langsamverkehr aufwerten. Neben der Landabtretung sieht der Bebauungsplan einen gewerblichen Pflichtanteil von 25 Prozent vor, denn die Gemeinde wünschte sich neue Arbeitsplätze, wo einst der grösste Arbeitgeber der Region war. « Es wird nicht einfach, an dieser Lage Arbeitsnutzungen anzusiedeln », sagt Andreas Friederich von der Cham Paper Group, und man glaubt ihm. Entlang des Wegs vom Bahnhof zum Areal steht manche Geschäftsfläche leer. Schliesslich erhält die Gemeinde hundert preisgünstige Wohnungen, die die CPG selbst bauen und bewirtschaften wird. Und zudem erhält die Gemeinde nun eine Entwicklungsbremse. Zwei Baubereiche dürfen frühesEin eigenes Stück Cham Der ‹ B ebauungsplan Papieri-Areal › bietet Platz für tens 15 Jahre nach Inkrafttreten des Bebauungsplans bemehr als 2000 Einwohner und mehr als 1000 Arbeits- baut werden. Ob die Angst vor zu viel Dynamik begründet plätze. Mit 170 000 Quadratmetern anzurechnender Ge- ist ? Nicht weit entfernt gilt seit 2001 der Bebauungsplan schossfläche erlaubt er eine Ausnützung von etwa 1,4 auf Cham Nord. Das knapp halb so grosse Gebiet ist noch imzwölf Hektaren. Das ist ein spürbarer Dichtesprung im mer nicht fertig entwickelt. Vergleich zu den umliegenden Quartieren, die eine AusVieles ist gesichert … nützung von 0,4 bis 0,8 erlauben. Auf dem Papieri-Areal entwickelt sich Cham also höher, dichter und geordneter Verglichen mit Zürcher Gestaltungsplänen hat das als zuvor. Die Kleinstadt, die sich gerne als Dorf sieht, wird Richtprojekt der Architekten für den Zuger Bebauungsstädtischer. Weil Cham zudem keine zusammenhängen- plan mehr Bedeutung. Er definiert die kubischen Bauvoden Freiräume und Siedlungsstrukturen dieser Grösse lumen und Pflichthöhen für die Hochhäuser. Die städtekennt, spricht einiges dafür, dass da etwas Eigenes ent- bauliche Idee und die Höhenstaffelung zur Arealmitte steht. Und das ist richtig. Seit 360 Jahren ist das Areal hin sind somit gesichert. Da bei einer Projektentwicklung ein prägnanter Ort im Stadtgefüge und soll einer bleiben. westlich der Lorze der gesamte Wohnanteil bereits gebaut Trotzdem wird er stärker denn je zu Cham gehören. wurde und der Gewerbeanteil bis heute nicht, muss es Fussweg-, Radfahr- und Fahrwegrechte durchziehen das hier anders laufen. « Wir haben dazugelernt, auf dem PaAreal. Motorfahrzeuge gelangen von Osten her auf das pieri-Areal werden die Nutzungen parallel realisiert », sagt Areal und erreichen über einen Erschliessungsring um Bauvorsteher und SVP-Gemeinderat Rolf Ineichen. Wenn das Silogebäude und zwei Hochhäuser ihre Garagen und die Hälfte der Geschossfläche gebaut ist, müssen mindesParkplätze. In Notfällen und zur Anlieferung dürfen sie tens vierzig Prozent des minimalen Wohn- und Arbeitsauch über die neue Lorzenbrücke fahren. Ansonsten ge- anteils sowie fünfzig preisgünstige Wohnungen realisiert sein. Bei neunzig Prozent der Geschossfläche der Rest. hört das Areal dem Langsamverkehr. Vor allem die Gassenräume und der Lorzensteg ma- Die letzten zehn Prozent Ausnützung bekommt die CPG chen den Flussraum und das industrielle Herz für Fuss- also nur, wenn sie die Gewerbeflächen und die preisgünsgängerinnen und Fussgänger attraktiv. « Hier wünschen tigen Wohnungen gebaut hat. Und damit das alles klappt, wir uns ein lebendiges Quartier mit Läden, Cafés und Re- muss sie bei jedem Baugesuch Nachweise erbringen über staurants », sagt Andreas Friederich, der den Geschäfts- Geschossflächen und Nutzungsanteile, Freiraum und Unbereich Immobilien der Cham Paper Group ( CPG ) leitet. tergrundflächen, Mobilität und Parkierung. →

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Der Kesselhausplatz und die grosse Freitreppe sollen das belebte Herz des Areals werden. Visualisierungen: Nightnurse

Der Lorzensteg entlang historischer Hallen soll das Areal mit der umliegenden Stadt verbinden.

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→ … und trotzdem besteht genügend Spielraum « Die Entwicklung dauert voraussichtlich 15 bis 20 Jahre, in dieser Zeit ändert der gesellschaftliche, ökonomische und politische Rahmen », sagt Matthias Thoma von EBP. Er begleitete die kooperative Planung und beschreibt das Aushandeln von Sicherheiten und Spielräumen. Beide sind sowohl für die Gemeinde als auch für die Grundeigentümerin wichtig, doch tendenziell strebte Erstere nach Regulierung und Zweitere nach Flexibilität. Man fand die gesunde Mitte: Das Nutzungsmass ist gesamthaft beschränkt, darf aber pro Baubereich zehn Prozent abweichen. Wird am einen Ort mehr Geschossfläche gebaut, muss man sie am anderen einsparen. Ebenso sind die Nutzungsarten nicht für einzelne Baubereiche, sondern gesamthaft definiert und miteinander verknüpft. Darum verzichtete die Gemeinde auf eine fixe Etappierung. Damit die Ansiedlung verschiedener Nutzungen auf den Baubereichen auch möglich ist, definiert der Bebauungsplan Mantellinien, die seitlich um zweieinhalb Meter von den Volumen des Richtprojekts abweichen und in der Höhe um zwei bis vier Meter. Weniger ist immer möglich ausser bei den Hochhäusern, für die verbindliche Pflichthöhen gelten. Das Freiraumkonzept definiert die Charaktere der Plätze, Gassen und Grünräume. Es sagt, wo Quartier- und Flussraum städtischer oder naturnaher zu gestalten sind, und verlangt fliessende Übergänge. Versiegelte Flächen mit Baumreihen und -gruppen gehen über in Grünflächen mit locker angeordneten Pflanzen bis zum Teuflibachwald. Das Konzept definiert, wo industrielle, landschaftliche oder parkartige Hölzer ihren Platz haben. Doch es definiert weder Materialien für Möbel und Böden noch Baum- oder Pflanzenarten. 2000 Watt und 1710 Parkplätze Der Bebauungsplan orientiert sich an den Vorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft. Im Bereich Mobilität wird das Papieri-Areal diese Ziele aber kaum erreichen. Weil ein Ausbau der Bustakte wegen vorerst unveränderlichen Bahnanschlüssen wenig gebracht hätte und das Gewerbe auf Stellplätze angewiesen ist, sieht der Bebauungsplan 1710 Parkplätze vor, davon 210 überirdisch und 20 geteilt. Das sind knapp 400 weniger, als die Parkplatzverordnung erlaubt hätte. Doch auch diese sind nicht gesichert: Bis 2026 will der Kanton die Umfahrung Cham – Hüneberg bauen, und derzeit gibt es Einsprachen dagegen. Ist die Umfahrung aber nicht fertiggestellt bei jenem Baugesuch, das die Hälfte der anzurechnenden Geschossfläche auf dem Papieri-Areal überschreitet, muss die Mobilitätsfrage neu beurteilt werden. Um die Ziele gesamthaft zu erreichen, ist das PapieriAreal andernorts ambitioniert: Der Bebauungsplan verlangt ressourcenschonende und ökologische Materialien: nach Möglichkeit recycelt und mineralisch, nachwachsend und organisch, schadstoffarm und ökonomisch tragbar. Die Lorze wird aufgewertet und mit einem Fischpass versehen. Das Flusskraftwerk wird ertüchtigt und produziert gemeinsam mit Photovoltaikanlagen auf den Dächern der Neubauten eigenen Strom. Für die Wärme- und Kälteversorgung will man Erdsonden bauen.

Andreas Friederich. Von hier aus, wo das Areal an die Stadt grenzt, soll es sich nordwärts entwickeln. Ein dreiköpfiger Beirat begleitet den Entwicklungsprozess und berät in der Verfahrenswahl für einzelne Bauvorhaben. Dabei möchte die CPG keine weiteren Investoren hinzuziehen, sondern die Gebäude mehrheitlich als Anlageobjekte behalten. Zur Kapitalbildung beabsichtigt sie, etwa ein Viertel der Wohnungen im Stockwerkeigentum zu verkaufen. Mit den hundert preisgünstigen Wohnungen ist die soziale Durchmischung weitgehend gesichert. « Städtebau heisst qualitätvolle Aussenräume und Wege schaffen », sagt der Architekt Albi Nussbaumer. « Es geht um den öffentlichen Raum. » Damit dieser nicht als Flickenteppich verschiedener Interpretationen endet, will die CPG für die ersten Teil­etap­p en separat einen Landschaftsarchitekten suchen. Dieser soll den Freiraum möglichst über den gesamten Entwicklungszeitraum gestalten. « Städtebau ist mehr als gute Aussenräume und Wege », sagt Nussbaumer auch. « Es geht um den architektonischen Ausdruck und die Stimmung auf dem Areal. » Er hält eine gewisse Homogenität und eine Anlehnung an den Bestand für richtig. Doch im Bebauungsplan gibt es bewusst keinerlei Vorschriften zu Materialien, Gliederung oder Proportionen der Neubauten, allerdings ist ein Konkurrenzverfahren für jedes massgebliche Bauvorhaben verlangt. Was massgeblich ist, entscheidet der Beirat, und so hängt die Qualität des Gebauten wesentlich von diesem und den Entscheiden der gewählten Jurys ab. Füllt gute Architektur die Linien des Bebauungsplans ? Sprechen die Bauten miteinander ? Entsteht eine Quartieratmosphäre, wie sie die Visua­lisierungen erträumen ? Albi Nussbaumer Architekten und Boltshauser Archi­ tekten haben den Grundstein dafür gelegt. Sie haben das schmucke Werkstattgebäude für eine internationale Fahrradfirma umgebaut und den Weg vom künftigen Lorzensteg hindurch zum anderen Ufer geführt. Zugs Denkmalpflegerin Franziska Kaiser findet den Umbau « sehr gelungen ». Ein guter Anfang ist ein gutes Omen.

Grundstein für eine Quartieratmosphäre Die CPG plant einen grossen ersten Schritt. Als erste Etappe will sie das südlichste Hochhaus und die Gebäudezeile an der Hangkante bauen, das Kesselhaus und die Hallen der Papiermaschinen 1 bis 4 umnutzen sowie den öffentlichen Platz mit Freitreppe, den südlichen Gassenraum und den Lorzensteg erstellen. « D er Start rund um das Herz der Papieri soll eine Initialzündung sein », sagt

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Mehr als 360 Jahre war die Lorze das Herz der Papierproduktion, künftig soll der Fluss das Herz eines lebendigen Quartiers sein.

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Mehr als Papier Vom Kunstatelier bis zum Kleinbüro: Vielfältige Zwischennutzungen sorgen dafür, dass das Papieri-Areal schon heute lebt und etwas einbringt. Text: Gabriela Neuhaus

Heute tüftelt ein internationaler Fahrradhersteller im Werkstattgebäude an neuen Modellen.

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‹ More than Paper › steht in grossen Lettern auf dem Werbebanner am Kesselhaus. Was einst verkündete, dass hier aufwendige Spezialpapiere produziert wurden, erhält heute eine völlig neue Bedeutung. Schliesslich bricht in der ehemaligen Papierfabrik eine neue Ära an. Die Anschriften der 56 Briefkästen beim Haupteingang an der Fabrikstrasse machen deutlich, dass Papier hier nicht mehr die Hauptrolle spielt. In den letzten Jahren haben sich im Kalanderbau mit U-förmigem Verwaltungsgebäude die unterschiedlichsten Kleinbetriebe niedergelassen – vom Unternehmensberater über die Fahrschule bis zum Grafik­ atelier oder Architekturbüro. Die Cham Paper Group beansprucht nur noch einen Teil ihrer einstigen Produktions- und Büroflächen. Den Rest vermietet die Papierfabrik zu moderaten Preisen an Dritte. « Die Zwischennutzungen sind eine Win-win-Situation », sagt Andreas Friederich, Leiter des 2015 gegründeten Geschäftsbereichs Immobilien. « Die Mieter profitieren von den günstigen Preisen, und wir können auch während der Planungs- und Bauphase auf dem Areal Einnahmen generieren. Vor allem aber beleben die Zwischennutzungen das Areal. » Beliebte Büros Bereits seit den Siebzigerjahren, als man die Zellstoffproduktion für die Papierherstellung einstellte, braucht die Papierfabrik immer weniger Platz für ihre eigene Produktion. Im Lauf der Zeit mietete sich auf dem zwölf Hektar grossen Areal eine Reihe von Betrieben ein, darunter ein Auto- und ein Schrotthändler sowie ein Bauunternehmer, der dort ein Betonmischwerk betreibt. Grösste Mieterin auf dem Areal ist die ehemalige Papieri-Tochterfirma Pavatex, die verschiedene Lagerhallen nutzt. In einer anderen Ecke des Areals vermietet die Papierfabrik Standplätze für Schiffe und Wohnmobile. Einzig die blechverkleideten Hallen mitten im Gelände nutzt sie noch selbst und verarbeitet dort grosse Rollen Plotterpapier gemäss Kundenwünschen. Doch wenn sich das Areal in den nächsten 15 bis 20 Jahren entwickelt, muss auch die letzte Maschine einen neuen Standort finden, gleichzeitig wie manche Zwischennutzer. Die Zwischennutzer im Verwaltungsgebäude werden zunächst einzig vom Baulärm tangiert. Kubeïs, eine Tagesstätte für Menschen mit Beeinträchtigung, die künstlerisch arbeiten, gehörte 2013 zu den ersten Zwischennutzerinnen, die sich in den Büros im Kalanderbau niedergelassen haben. Heute nutzen vierzig Künstlerinnen und Künstler die hellen und hohen Räume für ihre Arbeit. « Wir sind schnell gewachsen und konnten uns hier unkompliziert ausbreiten », blickt Kubeïs-Betriebsleiter Lukas Meyer zurück. Mittlerweile dient auch die ehemalige Empfangsloge der Papierfabrik als Kunstatelier, und im einstigen Postbüro steht eine Werkbank. « D er Ort ist perfekt für uns, hoffentlich können wir noch lange bleiben », sagt Meyer. Momentan sehe es gut aus, beruhigt Andreas Friederich: « In diesem Gebäude wird sich nicht so schnell etwas ändern. »

pierfabrik bietet ein attraktives Umfeld, in dem man sich mit anderen austauschen kann. Die gemeinsame Kaffeeküche ist dafür ein guter Ort. » Während die Einzelbüros weitgehend vermietet sind, gestaltet sich die Zwischennutzung anderer Räumlichkeiten wesentlich schwieriger. Das Grossraumbüro im dritten Stock des Verwaltungsgebäudes hat erst kürzlich Mieter gefunden. Schwierig ist es, eine Zwischennutzung für die riesigen denkmalgeschützten Produktionshallen, das Kes­ sel­haus oder die Trafostation zu finden. Beträchtliche Investitionen wären nötig, um eine dauerhafte Nutzung zu ermöglichen. Trotzdem liegt der Charme dieser historischen Produktionsstätten nicht völlig brach: Im Kalandersaal hat sich die Cham Paper Group mithilfe schwarzer Vorhänge einen Veranstaltungsbereich eingerichtet. Eine Website bietet zudem eine Reihe von Hallen und Lagern an. « Wenn sich eine temporäre Nutzung ergibt, ist das positiv », sagt Andreas Friederich, « allerdings hätte sich ein aufwendiges Zwischennutzungskonzept für solche wenig nachgefragten Räume kaum gelohnt. » Erste Dauermieter Das ehemalige Werkstattgebäude steht allerdings bereits nicht mehr für Zwischennutzungen zur Verfügung: Die frisch sanierte Fassade hebt sich deutlich von den umliegenden Gebäuden ab. Ein Blick ins Innere verrät: Hier hat sich ein moderner Forschungszweig eingenistet. Schnittige Fahrräder auf leuchtenden Messstationen – im Ambiente der altehrwürdigen Fabrikmauern. Die US-amerikanische Fahrradfirma Specialized, die ihren Europasitz 2010 nach Cham verlegt hat, will bleiben: Das denkmalgeschützte Gebäude gegenüber der alten Schmiede ist bereits saniert und für die Bedürfnisse der Firma hergerichtet worden, die sich im Gegenzug als Dauermieterin installiert hat. « Ein Glücksfall », freut sich Friederich und hofft, dass das Beispiel Schule macht. Zwischennutzungen und was daraus wird dürften das künftige Ambiente im neuen Stadtteil mitprägen. So steht aktuell auch die künftige Nutzung des alten Lagerhauses ‹ Langhuus › zur Debatte, das im Rahmen einer Landabtretung an die Gemeinde Cham übergeht. Diese hat im Herbst 2016 einen Ideenwettbewerb für die Zwischennutzung ausgeschrieben. Von anfänglich sieben Bewerbern hat man sich für zwei entschieden. Ein Kampfsportverein will einen Trainingsraum einrichten, den auch die Öffentlichkeit benutzen darf. Die IG Langhuus will einen alternativen Mix mit Kochkursen, Reparatur-Workshops, Lesungen, Theater und mehr anbieten. Beide erhalten nun ein Nutzungsangebot, doch eine entsprechende Vereinbarung gilt erst mit der Rechtskraft des Bebauungsplans. Die Zukunft dieses Orts am Eingang des Papieri-Areals ist wie so vieles: gut aufgegleist, aber noch nicht gesichert.

Zwischennutzen, wo es sich ergibt Die Mietverträge der Zwischennutzer sind befristet und kündbar. Für Philipp Barmettler kein Grund zur Sorge: « Ich gehe davon aus, dass ich mindestens drei bis vier Jahre bleiben kann », sagt der Architekt, der sich Anfang Jahr selbstständig gemacht und in der Papierfabrik eingemietet hat. Die Tür zu seinem Einmannbüro steht weit offen. Eine Ausnahme – alle anderen Türen sind verschlossen. Obschon praktisch alle Kleinbüros vermietet sind, macht das Gebäude einen etwas leeren, verlassenen Eindruck. Barmettler hofft, dass sich das noch ändern wird: « Die Pa-

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Um nach dem Abbau einer Papiermaschine noch zu trainieren, richteten Bauarbeiter ein Fitnessstudio ein.

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Bald arbeitet Stephan Schmidlin hier an seiner Skulptur für das nächste Eidgenössische Schwingfest.

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Stadtmitplanung Nachdem es ein städtebauliches Konzept für das Areal gab, drängte die Gemeinde auf Mitsprache. Die dann eingeleitete kooperative Planung ist ein Gewinn für alle. Text: Werner Huber

Sind die Hochhäuser gebaut, werden ihre Bewohner auf den Zugersee und die Alpen blicken.

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Beim 350-Jahre-Jubiläum der Papierfabrik 2007 war die Chamer Papierwelt noch in Ordnung: « Gehört zu Cham wie die Sonne zum Tag », titelte die ‹ Neue Zuger Zeitung ›. Vier Jahre später war das Unvorstellbare Realität: Die Cham Paper Group ( CPG ) verlagerte die Produktion vom Kanton Zug nach Italien. Auf dem 12 Hektar grossen Fabrikareal sollte ein neuer Stadtteil entstehen. Dafür reichte die CPG als Grundeigentümerin im März 2012 bei der Gemeinde ein Gesuch zur Umzonung ein. Kees Christiaanse Architects & Planners, die in Zürich das städtebauliche Konzept der Europaallee entworfen haben, zeichneten dafür eine städtebauliche Studie. Der Gemeinderat war mit einer Umzonung zwar grundsätzlich einverstanden, doch stellte er eine Bedingung: Grundeigentümerin und Gemeinde sollten die Planungsinstrumente gemeinsam erarbeiten. Dafür beantragte der Gemeinderat einen Kredit von gut 570 000 Franken. Im Dezember 2012 stimmte die Gemeindeversammlung zu und vereinbarte eine breite Mitwirkung. Denn obschon die Papierfabrik eine für Aussenstehende geschlossene Stadt im Dorf war, sah die Bevölkerung sie als ‹ üsi Papieri ›. Damit war die Basis für einen kooperativen Planungsprozess gelegt, an dessen Ende ein rechtskräftiger Bebauungsplan stehen sollte. Das Ziel war also das gleiche, doch war der Weg dorthin kein Sololauf der CPG, sondern ein breit abgestützter Prozess mit mehreren Meilensteinen: Leitsätze, Testplanung, Masterplan und ein Richtprojekt, das schliesslich in den Bebauungsplan münden sollte. Vertreter der Gemeinde und der CPG, unterstützt vom Planungsbüro EBP ( früher: Ernst Basler + Partner ) und moderiert vom damaligen baselstädtischen Kantonsbaumeister Fritz Schumacher, bildeten eine Arbeitsgruppe, die die Geschicke lenkte. Für die Mitwirkung der Bevölkerung waren drei grosse Veranstaltungen vorgesehen. Dazu kam eine siebenköpfige Begleitgruppe – unter anderem mit Vertretern des lokalen Gewerbes –, die auch zwischen den grossen Meilensteinen ihre Interessen einbringen konnte. Die Bevölkerung wirkt mit In der ersten Phase, noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit, formulierten die Vertreter der Einwohnergemeinde und die Grundeigentümer erste Leitsätze für die Entwicklung des Areals. Im Frühjahr 2013 informierten die Verantwortlichen über den Planungsprozess, stellten den Ablauf des Beteiligungsverfahrens und die Beteiligungsmöglichkeiten vor. Achtzig Chamerinnen und Chamer nahmen daran teil, und bereits im Vorfeld hatte sich die Gruppe Papierisch gebildet, die bei der Umgestaltung des Areals aktiv und mit Aktionen mitwirken wollte. Anfang Mai 2013 trafen sich in der Mehrzweckhalle Hagendorn sechzig Personen zum ersten Workshop. Stellwände mit unzähligen Ideen auf farbigen Zettelchen prägten die Veranstaltung. Nach Interessen zusammengesetzte Gruppen diskutierten die Themenbereiche Freiräume, Nutzung, Umwelt und Verkehr sowie Visionen. Ergänzend fand im folgenden Monat ein öffentlicher Rundgang statt. Vor den Sommerferien konsolidierte eine Abendveranstaltung die Erkenntnisse des Workshops. Ein Ergebnis dieser Mitwirkungsphase waren die überarbeiteten Leitsätze. Gegliedert nach den Themen ‹ Nutzungen ›, ‹ Freiraum und Bebauung › sowie ‹ Umwelt, Energie und Erschliessung › dienten sie fortan dem Planungsprozess als Rahmen. Sie postulieren eine gemischte Nutzung mit einem minimalen Gewerbeanteil von 25 Prozent und einem Wohnanteil von mindestens 50 Prozent. Zwischennutzungen sollten gefördert werden. 10 bis 15 Prozent des Areals sollten als qualitativ hochwertige Frei­fläche gestaltet und mit der Umgebung vernetzt werden. Man

Gassen, Plätze am Wasser und Grünflächen. Visualisierungen: Boltshauser und Albi Nussbaumer.

zielte auf eine kontextverträgliche Ausnützungsziffer und wollte wertvolle Bauten schützen, um die Vergangenheit des Papieri-Areals erlebbar zu machen. Die Entwicklung sollte sich zudem an den Zielen der 2000-WattGesellschaft orientieren. Die Erkenntnisse der Workshops flossen in das Pflichtenheft für die Testplanung ein, für die die Gemeinde und die CPG vier interdisziplinäre Planungsteams engagierten: Diener & Diener Architekten ( Basel ), Güller Güller Architecture Urbanism ( Zürich ), KCAP Architects & Planners ( Zürich und Rotterdam ) und Albi Nussbaumer Architekten mit Boltshauser Architekten ( Zug und Zürich ). Im Herbst 2013 begann die Testplanung, die über drei Bearbeitungsphasen mit zwei Workshops und Echoraum­ veranstaltungen zur Wahl des städtebaulichen Konzepts von Nussbaumer und Boltshauser führte. Der Schlussbericht würdigte den Entwurf als einen « sowohl visionären als auch realistischen » Beitrag. Unter ‹ visionär › fallen dabei sicherlich die fünf Hochhäuser, die auf dem Modell sofort ins Auge stachen, zur Kategorie ‹ realistisch › gehört wohl die Entwicklung des Quartiers um die bestehenden Altbauten. Gute Noten erhielt das Konzept nicht nur vom Beurteilungsgremium der Testplanung, sondern auch vom Bauforum Zug und vom kantonalen Heimatschutz. In der Überarbeitung rückten die Architekten eines der fünf Hochhäuser näher ins Zentrum, veränderten verschiedene Volumen und gossen so ihr Wettbewerbsprojekt in einen städtebaulichen Masterplan. Parallel dazu erarbeiteten die Gemeinde und die CPG einen städtebaulichen Rahmenvertrag, der den Planungsausgleich →

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Leben und Arbeiten am Lorzenufer: Noch ist offen, welche Nutzungen in die alten Hallen einkehren.

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→ unter anderem mit Landabtretungen regelt. Anfang 2015 stellten die beiden Architekten Roger Boltshauser und Albi Nussbaumer das überarbeitete Richtprojekt in einem Workshop der Öffentlichkeit vor. Aus dem Richtprojekt und den Anregungen aus dem Workshop erarbeitete das Planungsbüro EBP einen Bebauungsplan, den die CPG und die Gemeinde dem Kanton zur Vorprüfung einreichten. Dieser stimmte mit gewissen Auflagen zu, sodass die Gemeinde im Frühjahr 2016 den Bebauungsplan zum ersten Mal öffentlich auflegen konnte. Die Volksabstimmung über den Bebauungsplan und die Teiländerung von Zonenplan und Bauordnung war auf den 25. September 2016 angesetzt. Nachdem die Dynamik des Planungsprozesses mit dem Mitwirkungsverfahren zumindest vordergründig eine positive Grundstimmung erzeugt hatte, meldeten sich im Vorfeld der Abstimmung auch Kritiker. Der Verein Mehr Wert Cham, die SP, das Kritische Forum und der kantonale VCS empfahlen, die Vorlage abzulehnen. Sie stellten sich zwar nicht grundsätzlich gegen die Bebauung, doch fürchteten sie ein lebloses Neubauquartier. Ausserdem seien 1710 Parkplätze deutlich zu viel, die Anbindung an den öffentlichen Verkehr sei zu dürftig und der Planungsausgleich zu wenig überzeugend. Doch am Abstimmungssonntag war das Ergebnis klar: 63,4 Prozent der Stimmenden sagten Ja zur Teiländerung von Bauordnung und Zonenplan, der Bebauungsplan selbst brachte es auf einen Ja-Stimmenanteil von 56,8 Prozent. Das Bekenntnis zur Transformation des Fabrikareals war also etwas höher als das Vertrauen in den Bebauungsplan. Dieser wurde nach der Abstimmung ein zweites Mal öffentlich aufgelegt und dem Regierungsrat des Kantons Zug zur Genehmigung eingereicht. Das Geheimnis des Erfolgs Für eine Bauherrschaft bedeutet ein kooperativer Planungsprozess zunächst einmal, dass sich der Zeitplan in die Länge zieht. Wobei die gut vier Jahre, die der Prozess in Cham dauerte, für ein so grosses Areal recht kurz sind. Das führt Matthias Thoma, der bei EBP die Papieri-Planung betreute, auf zwei Faktoren zurück: Zum einen sei Cham eine « überschaubare » Gemeinde, in der bloss zwei Exekutivmitglieder plus zwei Amtsabteilungsleiter in die Planung involviert waren. Kein Vergleich also mit grösseren Städten, in denen unzählige Ämter mitreden. Zum anderen war das ganze Areal ( bis auf zwei Randparzellen ) in einer Hand, sodass auch auf Eigentümerseite keine unterschiedlichen Interessen gegeneinanderstanden. Dank der Mitwirkung trägt die Bevölkerung das Projekt mit. « In der Mitwirkung ging man auf viele, wenn auch nicht auf alle Anliegen ein », blickt Thoma zurück. Am Ende müssten das Geben und das Nehmen ausgeglichen sein, was bei der Papieri nach seiner Einschätzung gut gelungen sei. « Mit dem öffentlichen Raum, dem Zugang zum Flussraum, dem preisgünstigen Wohnraum und den Zwischennutzungen erhält die Gemeinde einen hohen Gegenwert », ist er überzeugt. Dass auch ein kooperativer Planungsprozess nicht alle Hürden ausräumen kann, zeigt eine hängige Beschwerde des VCS während der zweiten öffentlichen Auflage, die unter anderem verlangt, die Parkplatzzahl deutlich zu reduzieren. Mit dem Bebauungsplan ist die demokratische Mitwirkung abgeschlossen. Matthias Thoma meint aber, dass die CPG gut beraten sei, die Nachbarschaft weiterhin vor Baugesuchen einzubeziehen. Damit kann sie sich die lokale Unterstützung nach der Planung auch für die viel längere Realisierungsphase sichern und dafür sorgen, dass sich die Chamerinnen weiterhin mit ‹ ihrer › Papieri identifizieren – nicht mehr als Fabrik, sondern als Quartier.

März 2012 Umzonungsgesuch

Dezember 2012 Kredit kooperativer Planungsprozess und Mitwirkung

Kooperativer Planungsprozess, 2012 – 16 Projektgruppe Papieri Gemeindevertretungen Cham Gemeinderäte:  Markus Baumann, Rolf Ineichen, Charles Meyer, Bruno Werder Abteilung Planung und Hochbau:  Fabian Beyeler, Erich Staub Abteilung Verkehr und Sicherheit:  Marc Amgwerd, Werner Toggenburger Grundeigentümer­ vertretungen Cham Paper Group Verwaltungsratspräsident:  Philipp Buhofer Verwaltungsrat:  Niklaus Peter Nüesch Mitglied Immobilien­ ausschuss des Verwaltungs­rats: Claude Ebnöther, unterstützt von Daniel Amrein Leiter Geschäftsbereich Immobilien:  Andreas Friederich Externe Beratung:  Josef Huwiler Moderation Fritz Schumacher, Basel Projektleitung EBP Schweiz, Zürich:  Corinne Aebischer, Andreas Friederich, Matthias Thoma Externe Fachexperten:  Marc Angélil, Massimo Fontana, Barbara Holzer, Oscar Merlo, Roland Stulz, Brigit Wehrli-Schindler

März 2013 1. Mitwirkungsveranstaltung ( Beteiligungsprozess und Leitsätze ) Juni 2013 2. Mitwirkungsveranstaltung ( Leitsätze )

Oktober 2013 bis April 2014 Testplanung mit Echoraumveranstaltungen Mai 2014 Verabschiedung Masterplan November 2014 Städtebaulicher Rahmenvertrag Januar 2015 3. Mitwirkungsveranstaltung ( Richtprojekt ) Januar bis April 2015 Überarbeitung Richtprojekt

Dezember 2015 bis Januar 2016 Vorprüfung BBP und UVB durch kantonale Fachstellen September 2016 Abstimmung BBP mit UVB und Teiländerung Bauordnung und Zonenplan

März bis April 2016 1. öffentliche Auflage BBP und UVB

Oktober bis November 2016 2. öffentliche Auflage BBP und UVP

Begleitgruppe Papieri:  Adolf Durrer, Oliver Guntli, Daniela Hausheer, Georges Helfenstein, Erich Herzog, Joe Meier, Carlo Pasqualini, Anne Roulier, Daniel Schrepfer Moderation Beteiligungsverfahren: Michael Emmenegger, Zürich

April bis November 2015 Erarbeitung Bebauungsplan und Umwelt­ verträglichkeitsbericht

September 2017 voraussichtliche Genehmigung

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Rundum wird sich vieles verändern, doch das Kesselhaus ist denkmalgeschützt und wird das Areal weiterhin prägen.

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Luftaufnahme, 1949.

Neubeseelung im Lorzental 360 Jahre Papierproduktion prägten Cham und die Region Ennetsee. Weil man die Produktion nach Italien verlegte, steht der Papieri eine Umnutzung bevor. Text: Michael van Orsouw Fotos: Archiv CPG

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men ‹ jung Hauptmann ›, leitete eine französische Compa­ gnie im Garderegiment der Schweizer. Dennoch lief der Betrieb in Cham weiter: Angestellte schöpften den leimi­ gen Faserbrei, pressten und trockneten ihn zu Papier. Gibt es die Seele eines Ortes ? Der Architekt Daniel Libes­ Was aber wichtig ist: Brandenberg und Knopfli beseel­ kind, der nach 9 / 11 den Ground Zero prägte, formulierte ten den Ort mit einer grossen Vision. Sie setzten auf die es so: « Es ist absolut wichtig, den Geist des Ortes und Produktion von Papier, obwohl nur eine kleine Minderheit seine Geschichte zu verstehen – weil es nicht möglich der Bevölkerung und kaum einer ihrer Angestellten lesen ist, Architektur nur aus der Bildbetrachtung oder aus der konnte. In der Region Zug gab es damals nicht einmal eine Ab­straktion heraus zu entwickeln. Es ist sehr wichtig für Buchdruckerei. Dennoch vertrauten die Gründer auf das mich, dass Architektur beides hat: Körper und Seele. » Zukunftsprodukt Papier, denn der Schriftverkehr nahm Kaum die Seele des Ortes hatten Johann Brandenberg damals deutlich zu, gerade in Verwaltungen. Deshalb war und Beat Knopfli im Sinn, als sie 1657 den Fussweg entlang es häufig die Obrigkeit, die Gründungen von Papiermühlen der Lorze in Cham begingen. Sie suchten einen Ort für initiierte. Oder wie in diesem Fall förderte, indem sie die ihre geplante Papiermühle. Im unbesiedelten Lorzental Bewilligung sprach, für die Wassernutzung einen modera­ weitab vom Ortskern und den Strassen erspähten sie im ten Zins von 15 Gulden verlangte und erlaubte, im nahen Flussbett eine Felsrippe, die dem Fluss genügend Gefälle Herrenwald Holz zu schlagen. gab. Weiter flussabwärts trieb das Lorzenwasser bereits eine Hammerschmiede und eine Mühle an, der Fluss ver­ 1780: ein Ort des technologischen Fortschritts eiste im Winter nicht und war frei von Überschwemmun­ Den Nachfolgern von Brandenberg und Knopfli spiel­ gen. Zudem lag diese Wasserader im Untertanenland der te der technologische Fortschritt in die Hände. Mit Kapital Stadt Zug. Diese Faktoren überzeugten die Gründer Bran­ und Mut nutzten sie diesen und gaben dem ‹ Körper › weiter denberg und Knopfli, dort ihre Papiermühle aufzubauen seine Form. Um 1780 erfolgte der Sprung von der Hand­ und zu betreiben. Am 18. August 1657 erhielten sie die ob­ arbeit zur ersten Mechanisierung: Der ‹ Holländer ›, eine rigkeitliche Bewilligung dafür, und seither gilt dieser Tag Maschine zum Zerschneiden, Mahlen und Mischen der als das Gründungsdatum der Papierfabrik Cham. Faserstoffe, wurde in Cham installiert. Um 1840 kam der nächste Quantensprung vom mechanisierten Handwerk zur Industrie. Wenige Jahre zuvor war die erste Papierma­ 1657: ein Ort der Vision Von der Magie des Ortes dürften die beiden Gründer schine in die Schweiz gekommen, nun rüstete man auch nicht viel mitbekommen haben. Der gross gewachsene in Cham auf. Die Papiermaschine ‹ PM1 › lief mit einer Brei­ Brandenberg, ‹ der Lang › genannt, wurde Hauptmann der te von 180 Zentimetern, ein neues Zeitalter brach an, und päpstlichen Garde in Ferrara. Knopfli, mit dem Überna­ die ‹ Papierer › legten ihre traditionellen Schöpfrahmen zur

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Seite. Fortan formte die Maschine das Papier in ununter­ brochenem Arbeitsgang als endloses Band, entwässerte und trocknete es. Der technologische Fortschritt blieb rasant, und bereits 19 Jahre später ersetzten die Chamer Papierer die ‹ PM1 ›. Der deutsche Chemiker Alexander Mitscherlich erfand das Kalziumbisulfitverfahren, das Zellulose aus Tannen- und Eichenholz gewinnt. Die Pa­ pierfabrik schloss mit Mitscherlich einen Lizenzvertrag für die Schweiz ab. Fortan produzierte die Papierfabrik Cham selbst Zellulose. Ab 1882 stellte sie als erste Schwei­ zer Fabrik Zellstoffpapier her. Cham war bei der Firmengründung ein Ort der Visi­ onen gewesen, nun war ein Ort des Technologiewandels und des Fortschritts entstanden. Der Glaube an die Zu­ kunft war unerschütterlich, selbst zwei Weltkriege än­ derten daran nichts. Papierrüstungsmaschine, 1922. Ab 1912: ein Ort der familiären Fabrik Die Väter der Papieri bauten und bauten aus. Die Pa­ pierfabrik entwickelte sich zum grössten Betrieb des gan­ zen Ennetseegebiets – mit vielen Fabrikbauten, Werkstatt­ gebäuden und Wohnsiedlungen. Mehr als 300 Menschen waren in der Papierfabrik Cham beschäftigt, die Papieri wurde aufgrund der Bauten für ihre Angestellten zur gröss­ ten Immobilienbesitzerin der Region. Cham entwickelte sich zum Papieri-Dorf, und ihrer Dominanz entsprechend verzahnte sich die Fabrik mit der Region: über die Beleg­ schaft, über die Politik, über den industriellen Geist, über konfessionelle Bindungen, über die Bautätigkeit, über die Nutzung der Umwelt. Wer in der Papieri etwas zu sagen hatte, fand auch im Ort Gehör. Verantwortungsvoll steuerte die ‹ Papieri-Familie › – so wurde sie wirklich genannt – der Zukunft entgegen, mit ei­ gener Betriebskrankenkasse ( seit 1868 ), eigener Pensions­ kasse ( seit 1935 ) und eigener Bank ( seit 1937 ). ‹ Körper und Seele › hatten nicht nur den Ort der Produktion geprägt, Sortiersaal, 1925. sondern weit darüber hinaus eine Region und ihre Kultur. Die Hochkonjunktur half, dass die Papieri nach dem Zwei­ ten Weltkrieg sehr erfolgreich war. Dabei beschränkte sich die Papierfabrik längst nicht mehr auf Cham und auf ver­ schiedene Papiersorten: Sie stellte Papier auch in Tochter­ firmen in Frankreich und Deutschland her, sie verbreiterte die Produktepalette mit Papierveredelung und Sackpapier ( Pavag ), aber diversifizierte auch mit papiernahen Produk­ ten wie Pavatex oder Aerofiber-Kunststoffen. Internationalisierung, kombiniert mit einer Spezialisie­ rung, konnten die Chamer Papierer die Krisen der Papier­ Ab 1978: ein Ort der Mehrfachkrise industrie überstehen. Die wirtschaftliche Depression zu Beginn der Siebzi­ gerjahre und die Globalisierung sorgten jedoch bald für Ab heute: ein Ort der Neubeseelung Um im Bild zu bleiben: Die Seele von Cham strahlte anhaltende Schwierigkeiten. Die regionale Verbunden­ heit reichte nicht mehr, um weltweit bestehen zu können. aus, weit über den homogen gestalteten Körper hinaus. In Der Papiermarkt internationalisierte sich, und Schweizer der Logik der neuen globalen Denkweise verlagerte die Massenware war nicht mehr konkurrenzfähig. 1978 erwar­ Cham Paper Group ihre Produktion in die italienischen ben die Chamer Papierer die Car­tiera di Locarno in Tenero Werke. Nach 360 Jahren wurden die Papiermaschinen im und firmierten nun als ‹ Papierfabriken Cham-Tenero AG ›. einst abgelegenen Lorzental abgestellt. Der Chamer Ort, Die Papierfabrik war in eine schwierige Lage gera­ einst geprägt von Vision, Fortschritt, Technologie und Ver­ ten. Tiefe Einschnitte waren nicht zu umgehen, wenn man antwortung, ist heute im Zentrum einer prosperierenden überleben wollte. 1983 wurden drei Papiermaschinen still- Region. Für die bevorstehende grosse Umnutzung steht gelegt, und erstmals musste eine dreistellige Zahl von eine grosse Geschichte mit vielen Facetten bereit, an die Mitarbeitenden entlassen werden. Die Papierfabrik woll­ sich anknüpfen lässt. In diesem Fall steht dem ‹ Körper › te ganz auf Spezialpapiere setzen, quasi vom Gemischt­ von Cham eine neue Beseelung bevor.  warenladen zur Apotheke werden. Dazu richtete man sich auf den Weltmarkt aus. Ging 1980 erst ein knappes Drittel des Chamer Papiers ins Ausland, stieg die Exportquote nun rasend schnell. 2000 betrug sie bereits 94 Prozent, Michael van Orsouw ist Wirtschafts­ auch dank zugekaufter Betriebe in Italien und in Norwe­ historiker und Schriftsteller. 2007 erschien gen. Entsprechend der Neuausrichtung hiess die Indus­ sein Buch ‹ Der Zellstoff, auf dem die triegruppe ab 1999 ‹ Cham Paper Group ›. Nur dank dieser Träume sind. 350 Jahre Papieri Cham ›.

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Vom Papier zum Quartier Das Areal der Papieri in Cham bietet Platz für mehr als 2000 neue Einwohnerinnen und 1000 Arbeitsplätze. Dichter, höher und geord­ neter als sonst wird Cham dort in den nächsten rund zwanzig Jahren wachsen. Gemeinsam gingen die Gemeinde und der Grundeigentümer den Weg vom brachgefallenen Areal der Papier­fabrik, die den Ort mehr als 360 Jahre prägte, zum Bebauungsplan. Dieser geht vom Vorhandenen aus, schafft öffentliche Räume und balanciert Sicherheit und Spielräume aus. Zwischennutzungen bringen schon heute Leben in die alten Hallen. www.papieri-cham.ch

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