Human Resources Manager 03/2021 "Rebellion"

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REBELLION


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EDITORIAL

Antriebsfeder

Sven Lechtleitner, Leitender Redakteur Human Resources Manager

Coverfoto: Ryan McVay / Getty Images; diese Seite: privat

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er kennt sie nicht, die rebellische Geste aus Mensch- und Tierreich, bei der das Gegenüber die Arme verschränkt und die Zunge herausstreckt? In der Arbeitswelt ist Rebellentum weitaus mehr als eine Trotzreaktion, die durch nonverbale Signale Protest signalisieren soll. Rebellische Menschen stellen im Unternehmen Grundlegendes infrage und bringen die Bereitschaft mit, in den Widerstand zu gehen. Eine durchaus positive Eigenschaft. Sie stehen allein oder in der Gruppe für ihre Überzeugungen ein – egal was das Umfeld über sie denkt. Ihre Stimme ist keine Kritik, sondern steht für das Streben nach Verbesserung und die Kraft des Antriebs. Rebellinnen und Störenfriede sind diejenigen, die Innovationen und Veränderungen voranbringen. Alles, was Unternehmen dafür tun müssen, ist, ihnen Raum zu geben. Eines hat mich jedoch meine berufliche Laufbahn im Recruiting und später im Produktmanagement gelehrt: Dieser Raum wird nicht gern geschaffen. Systemkritik ist in großen Unternehmen meist unerwünscht. Oder wie es der Konfliktexperte Christoph Maria Michalski formuliert: „Um ein großes Schiff in Bewegung zu halten, braucht es nicht an jeder Ecke Konflikte, Rebellion oder Innovation.“ Wer Strukturen infrage stellt und zu wahrem Wandel anregt, wird oft als unbequem oder schwierig wahrgenommen. Konformität scheint vielerorts die beliebtere Eigenschaft zu sein.

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Vielleicht hängt meine Erfahrung auch essenziell mit dem Verhalten meiner jeweiligen Führungskraft zusammen, vielleicht aber auch mit einer unbeweglichen Unternehmenskultur. Möglicherweise waren manche meiner Tätigkeitsfelder wie das Recruiting einfach nicht das, wofür ich berufen war. Ich würde mich nicht als Rebellen bezeichnen, eher als einen kritischen Menschen, der glücklicherweise im Journalismus seinen Platz gefunden hat. Hier ist kritisches Nachfragen erwünscht! Trotz – oder gerade wegen – meiner Haltung zum prüfenden Nachfragen steht in meinen Arbeitszeugnissen, ich hätte immer eine hohe „Eigeninitiative“ und „Einsatzbereitschaft“ gezeigt. Auch von „Kreativität“ und „Durchsetzungsvermögen“ ist darin die Rede. Ich bin überzeugt: Manche ehemalige Vorgesetzte hätten gerne eine Anmerkung ergänzt, so was wie Teilzeit-Störenfried oder Hobby-­ Widerständler. Aber so ist das eben mit den wohlwollenden Arbeitszeugnissen: Die Botschaften müssen verschlüsselt sein. Man muss zwischen den Zeilen lesen und genau hinschauen, was der Autor oder die Verfasserin eigentlich ausdrücken möchte. Das gilt auch für die kritischen und rebellischen Stimmen im Unternehmen. Hinter dem, was Verantwortliche als Widerstand empfinden, verbirgt sich meist ein wahrer Kern. Ein Momentum, das das Potenzial zur Veränderung in sich trägt. Nutzen wir es!

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16 Der Sturm auf die Bastille ist ein Sinnbild des Widerstands. Heute brauchen wir für eine Rebellion ­keine Waffen mehr. In der Wirtschaftswelt wird auf andere Weise gegen starre Strukturen, tradiertes Denken und Innovationsfeindlichkeit aufbegehrt.

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Editorial

6 Meine Arbeitswelt Sarah Austenfeld ist Head of HR bei Valuedesk. Bis zum Ende des Jahres muss sie 35 vakante Stellen des Start-ups besetzen. 8 Debatte aktuell Sind Befristungen Willkür?

11 Schnappschuss 12 Skills der Zukunft Welche Eigenschaften verschaffen einen Wettbewerbsvorteil? SCHWERPUNKT: REBELLION 16 Sturm auf alte Strukturen Rebellion will verändern. Für die Arbeitswelt bedeutet das, alte Strukturen und Prozesse aufzugeben. 22 Wie rebellisch kann HR sein? Jahrelang war Janina Kugel als Personalvorständin für den Industrieriesen Siemens tätig. Ein Gespräch über Widerstand und Advanced Leadership 28 Machtgerangel Warum ringen Menschen um Macht und wie ist mit diesem Konfliktpotenzial umzugehen?

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32 Betriebsrat als Gegenpartei? Worauf es bei Verhandlungen mit der Arbeitnehmervertretung ankommt 36 Das letzte Mittel Arbeitskampf Was muss HR beachten, wenn ein Streik droht? 38 Der Nachhaltigkeitsrebell Waldemar Zeiler ist Mitgründer eines Start-ups für faire Untenrum-Produkte und fordert eine neue Wirtschaft. Das Porträt eines Andersdenkenden 42 „Wehr dich doch mal!“ Oft fehlt Mobbing-Opfern die Kraft, gegen die Schikanen zu rebellieren. Wie HR aktiv werden und das Auflehnen gegen Missstände stärker unterstützen kann 46 Mission Störenfried Drei Impulse, wie Unternehmen Organisationsrebellen und Gestalterinnen in den eigenen Reihen finden

Aufsichtsrätin und Beraterin Janina Kugel macht sich für ­flexible Arbeitsstrukturen stark. Im Corona-Lockdown hat sie ein Buch darüber geschrieben, wie sich die Arbeitswelt verändern muss.

50 Kritisches Denken lernen Ein Fünf-Phasen-Modell zeigt, wie ein scharfsinniger Entscheidungsprozess aussehen kann

Fotos: Laurence Chaperon; commons.wikimedia.org; vchal / Getty Images; Anne Hufnagl; Jan Zappner

MEINUNG


54 Die Gabe der Einigung Philosoph und Biologe Andreas Weber hat ein Buch über die Beschaffenheit des Kompromisses geschrieben. Ein Gespräch

38 Mit fair produzierten Kondomen hat das Social-Start-up Einhorn eine Markt-

IM FOKUS: ­ NARZISSMUS

nische erobert. Heute ist das Sortiment weitaus größer. Mitgründer Waldemar Zeiler setzt auf Nachhaltigkeit. Die Wirt-

58 Das Jungbullenphänomen Eine repräsentative Studie des Forscherteams um den Potsdamer Professor Florian Feltes offenbart: Narzissmus ist in der Arbeitswelt allgegenwärtig. ANALYSE 62 Kalkül statt Kurzatmigkeit Familienunternehmen sind in Sachen Recruiting und Mitarbeiterbindung im Vorteil, wenn die Eigentümerfamilie ins Personalmanagement eingebunden ist. PRAXIS 66 Vielfalt durch Anonymität? Helfen anonyme Bewerbungen dabei, mehr Diversität in die Belegschaft zu bringen?

schaft möchte er unfucken. Ein Porträt

70 Hingehört In dieser neuen Rubrik zeigen wir Ihnen wichtige Podcasts rund um HR, Arbeit und Menschen. In Folge eins: Klartext HR von Stefan Scheller 72 Sieben Gedanken Magdalena Rogl, Head of Digital Channels bei Microsoft Deutschland, über vulnerable Leadership 74 Mussten Sie für Ihre Karriere viele Opfer bringen? Über Interviewfragen, die ­Männern nie gestellt werden. Eine Rezension von Fränzi Kühnes Debüt

VERBAND 82 Editorial 83 Der Personalmanage­ment ­kongress 2021 Wir. Gemeinsam. Jetzt. lautet das diesjährige Motto. HR ist gefragt: Wie sieht der Weg in die Zukunft aus? 84 Das Präsidium stellt sich vor Auf der virtuellen Mitgliederversammlung des BPM im Juni wurde ein neues Präsidium gewählt. Die Mitglieder stellen sich vor. LETZTE SEITE

RECHT 76 Aktuelle Urteile 78 Essay Welche politische Betätigung ihrer Angestellten im Betrieb oder in sozialen Netzwerken müssen Unternehmen tolerieren? 79 Impressum

28 Menschen in Führungspositionen verteidigen oft ihr Terrain und ecken dabei an. Das Ringen um Macht kann einem Haifischbecken gleichen. Wie lassen sich solche Konflikte klären?

90 Fragebogen Stefan Niggemeier und sein Team kritisieren fehlerhafte Berichterstattung, ungenaue Recherchen und Schleichwerbung. Damit rebellieren sie gegen falsche Rücksichtnahme in Bezug auf etablierte Medien.


M E I N U N G

D E B AT T E A K T U E L L

Sind Befristungen Willkür? Die Debatte führte Sven Lechtleitner Mitte April 2021 hat Arbeitsminister Hubertus Heil Einschränkungen im Befristungsrecht angekündigt. Die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen soll zukünftig um sechs Monate verkürzt werden. Sie gilt dann nur noch für 18 Monate statt zwei Jahre. Zusätzlich ließe sich die Befristung nur noch ein Mal verlängern statt wie bislang drei Mal. Der Entwurf zur Änderung des allgemeinen Befristungsrechts geht außerdem gegen sogenannte Kettenbefristungen vor. So würden ­befristete Arbeitsverträge mit Sachgrund bei demselben Arbeitgeber künftig auf eine Höchstdauer von fünf Jahren begrenzt. Geplant ist ebenso, dass Unternehmen mit mehr als 75 Beschäftigten maximal 2,5 Prozent der Belegschaft sachgrundlos befristen dürfen. Zudem will die SPD, sofern sie denn zukünftig mitregiert, weitere Einschränkungen im Befristungsrecht vornehmen. Hintergrund des aktuellen Gesetzes­ vorhabens seien zu viele willkürlich befristete Arbeitsverträge sowie Unsicherheit und geringeres Einkommen aufseite der Beschäftigten. Haben Arbeitgeber das Instrument der Befristungen über­strapaziert? Oder ist es ein notwendiges Mittel für flexible Personalarbeit in ­unsicheren Zeiten?

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ast die Hälfte aller Neuverträge ist mittlerweile befristet, aber nicht einmal jeder dritte dieser Verträge führt in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis. Befristete Verträge bringen große Unsicherheit mit sich. Berufliche Unsicherheit erschwert beispielsweise die Familienplanung und -gründung. Natürlich muss es weiterhin möglich sein, zum Beispiel im Zuge einer Elternzeitvertretung, befristet einzustellen. In der Realität sind jedoch zu viele Befristungen nicht betrieblich bedingt, sondern nur Mittel zur Verlängerung der Probezeit und zur Umgehung des Kündigungsschutzes. Wir wollen diesen Trend brechen. Hubertus Heil hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, damit sachgrundlose Befristungen wieder zur Ausnahme und Kettenbefristungen verhindert werden. Das ist es, was wir mit der Union noch umsetzen können. In einer progressiven Regierung, die Olaf Scholz nach der Bundestagswahl anführt, werden wir die Befristung ohne Sachgrund komplett abschaffen und zudem die Sachgründe für Befristungen kritisch überprüfen. Saskia Esken ist Parteivorsitzende der SPD und seit 2013 Mitglied des Bundestages. Sie war bis Ende 2019 stellvertretende digitalpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion. Vor der Politik arbeitete die staatlich geprüfte Informatikerin unter anderem in der Software­ entwicklung.

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MEINUNG

Fotos: Anne Hufnagl; Uta Wagner / Institut der deutschen Wirtschaft; Kay Herschelmann; The Adecco Group Germany

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uf den ersten Blick sieht es nach einer einfachen Sache aus: Weil ein befristeter Arbeitsvertrag für Beschäftigte schlechter als ein ansonsten gleichartiger unbefristeter Vertrag ist, will die Bundesregierung die Möglichkeit der Befristung gesetzlich einschränken. Manch eine Partei will sie sogar gleich ganz abschaffen. Doch wie so oft ist die Wirklichkeit komplexer. Betriebe haben eine Nachfrage nach flexibel einsetzbarer Arbeit – sei es, weil sie Unsicherheit über die künftige wirtschaftliche Entwicklung verspüren oder weil sie unsicher sind, ob jemand zum Unternehmen passt. Nimmt man ihnen die Möglichkeit der Flexibilität, wäre es naiv zu glauben, sie würden achselzuckend unbefristete Verträge schließen. In vielen Fällen werden Betriebe das Risiko einer unbefristeten Beschäftigung nicht eingehen wollen oder können. In der Konsequenz entsteht überhaupt keine Stelle, was besonders Personen trifft, die einen Einstieg in den Arbeitsmarkt brauchen. Holger Schäfer ist Senior Economist für Beschäftigung und Arbeitslosigkeit beim Institut der deutschen Wirtschaft. Der Arbeitsmarktexperte hat Wirtschafts­

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eit Jahren geistern Worthülsen wie flexibel, zeitgemäß oder maßgeschneidert durch die Öffentlichkeit. Dieser Marketingsprech verschleiert einen arbeitsmarkt- und gesellschaftspolitischen Skandal: Die Rede ist von Befristungen – mit oder ohne Sachgrund. Knapp zweieinhalb Millionen Beschäftigte haben in Deutschland einen befristeten Arbeitsvertrag, mehr als die Hälfte von ihnen ist jünger als 30 Jahre. Für die Betroffenen ist die Situation unerträglich: Sie haben keine verlässliche Berufsperspektive, Probleme bei der Wohnungssuche, bei der Gründung einer Familie oder auch nur bei der Urlaubsplanung. Sie müssen fürchten, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen, weil sonst ihr Vertrag ausläuft. Das macht sie erpressbar. Diese Entwicklung muss endlich gestoppt werden: Sachgrundlose Befristungen gehören abgeschafft, Kettenbefristungen deutlich begrenzt und Befristungen mit Sachgrund sind auf ein Minimum zu reduzieren. Das unbefristete Arbeitsverhältnis muss endlich wieder zur Regel werden in Deutschland.

wissenschaften an der Universität Bremen studiert.

iele Angestellte wünschen sich Planungssicherheit. Eine Befristung des Arbeitsvertrags steht dem entgegen. Von daher mag es nachvollziehbar erscheinen, dass die Bundesregierung die Möglichkeit zur Befristung von Arbeitsverträgen gleich an mehreren Stellen einschränken will, vor allem bei den sogenannten sachgrundlosen Befristungen. Doch wieso befristen Unternehmen Verträge? Der Erfahrung nach geht es dabei nicht um Willkür, sondern um die Möglichkeit, Jobs auch in unsicheren Zeiten zu erhalten beziehungsweise Stellen zu schaffen und zu besetzen. Dafür ist die sachgrundlose Befristung ein wichtiges Instrument. Zu Beginn des zaghaften Aufschwungs nach der Pandemie braucht unser Arbeitsmarkt Flexibilität mehr denn je. Jede verlängerte Befristung kann einem Menschen den Sturz in die Arbeitslosigkeit ersparen. Jedes Mehr an gut gemeinter Regulierung könnte daher am Ende zulasten der Beschäftigten auf dem Arbeitsmarkt gehen. Daniela Duchewitz ist Head of HR ad ­interim der Adecco Group Deutschland. Für das Personaldienstleistungsunternehmen ist die studierte Psychologin seit

Frank Werneke ist seit Herbst

2015 in verschiedenen Positionen tätig.

2019 ­Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungs­gewerkschaft Verdi. Der gelernte Verpackungsmittel­mechaniker gehört dem Verdi-Bundesvorstand bereits seit 2001 an. Davor war er unter ­anderem Mitglied des Hauptvorstands der Vorläufer­organisation IG Medien.

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TITEL

Sturm auf alte Struk­turen Rebellion will verändern. Für die Arbeitswelt bedeutet das, alte Strukturen und Prozesse aufzugeben. Das ist, wenn es richtig läuft, alles andere als zerstörerisch. Ein Beitrag von Mirjam Stegherr

Im Jahr 1789 stürmten in Frankreich Tausende Menschen die Bastille als Protest gegen die Willkür des Königs. Ihre Erstürmung gilt als Geburtsstunde der Französischen Revolution.

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REBELLION

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„ Bei der Rebellion geht es darum, alte Strukturen aufzubrechen und in einem offenen Dialog mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sein.“   Heike Bruch, Professorin für Leadership, Universität

er 14. Juli ist ein Tag der Rebellion. Denn an dem Tag rebellierte das französische Volk gegen die Monarchie. Der Sturm auf die Bastille gilt als Sinnbild des Widerstands. Doch heute hat die Rebellion ihre Waffen abgelegt und erobert die Wirtschaft in anderer Weise: Mit Worten und neuen Arbeitsweisen kämpfen Angestellte gegen starre Strukturen, altes Denken und Innovationsfeindlichkeit. Doch das ist ganz im Interesse vieler UnterSt. Gallen nehmen. Und so versuchen sie, die Rebellion nicht zu unterdrücken, sondern in ihre Kultur einzubauen. 1,5 Milliarden Euro haben Unternehmen in Deutschland durch Ideen ihrer Beschäftigten gespart. Das ist die Summe der 290 Firmen, die das Deutsche Institut für Betriebswirtschaft für das Jahr 2018 befragt hat. Audi, BMW, Bosch und Thyssenkrupp nutzen seit Jahrzehnten ein internes Innovationsmanagement, um Neues zu fördern: das Vorschlagswesen. Wer glaubt, Produkte und Prozesse optimieren zu können, kann die Idee einreichen und erhält im Erfolgsfall eine Prämie. Über eine halbe Million Euro hat Thyssenkrupp laut Frankfurter Allgemeine Zeitung vor gut zehn Jahren einem Mitarbeiter gezahlt – ein Spitzenwert für Deutschland. Für beide Parteien ist das ein lukrativer Umbruch in klar definierten Strukturen. „Eine Rebellion ist das Vorschlagswesen nicht“, sagt Heike Bruch, Professorin für Leadership an der Universität St. Gallen. „Es ist ein traditionelles Instrument, das sinnvoll ist, aber im System und nicht am System arbeitet. Bei der Rebellion geht es darum, alte Strukturen aufzubrechen und in einem offenen Dialog mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu sein.“ Die alte Art zu arbeiten, sei durch diese Fakten in Frage gestellt: zu langsam, zu unflexibel und zu hierarchisch gehe es zu, sagt Bruch. Das Resultat: Deutschland verliert an Innovationsstärke.

Alles stetig überprüfen Laut Studie der Bertelsmann Stiftung zweifelt die Mehrheit der Führungskräfte an der Innovationsfähigkeit der Betriebe. Immer wieder 18

schaut die deutsche Wirtschaft neidisch auf die USA. Konzerne wie Google, Amazon und Netflix positionieren sich mit einer neuen Kultur. So hat Google mit seinem Ansatz der Kanarienvögel der Rebellion einen Raum gegeben: Ex-Personalchef Laszlo Bock brachte Mitarbeitende unterschiedlicher Bereiche und Hierarchien zusammen, die sich austauschen und als ein Frühwarnsystem funktionieren sollen. Die Idee basiert auf der Grubenarbeit, als Kanarienvögel warnten, falls Gas austrat. Allerdings fielen die Vögel danach tot von den Stangen. Eine abenteuerliche Parallele für Googles Innovationsprogramm. No rules rules nennt Netflix-Gründer Reed Hastings seine Idee und den Titel seines Buchs: Es gibt keine Regeln, die Beschäftigte einschränken, keine Barrieren, die sie einreißen müssen, um kreativ zu sein. Amazon-Chef Jeff Bezos spricht von „Tag 1“: Es gehe darum, die Mentalität eines Start-ups beizubehalten, die Aufbruchsstimmung des ersten Tags. „Tag 2 ist Stillstand. Gefolgt von Irrelevanz. Gefolgt von unerträglichem, schmerzhaftem Niedergang. Gefolgt vom Tod“, so lauten Bezos’ Worte in einem Brief an die Aktionärinnen und Aktionäre. www. hu ma n reso u rce sma n age r. d e

Abbildung: commons.wikimedia.org

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„ Mit lieb und nett sein kommt HR nicht weit“ 22

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Sie hat den Industrieriesen Siemens durch Restrukturierungen navigiert, eine Pride Community aufgebaut, für flexible Arbeitsstrukturen gekämpft und den tradierten Dresscode infrage gestellt. Janina Kugel war jahrelang als Personalvorständin für rund 370.000 Menschen zuständig. 2020 verließ sie den Konzern, arbeitet nun als Aufsichtsrätin und Beraterin und hat ein Buch geschrieben. Ein Gespräch über Widerstand, Advanced Leadership und Tanzen auf dem Hügel

Foto: Laurence Chaperon

Ein Interview von Jeanne Wellnitz

Frau Kugel, sind Sie eine Rebellin? Ich selbst würde mich nie so bezeichnen. Aber ich bin schon eine Person, die sich mit dem Status quo nicht zufriedengibt. Meine Haltung ist: Wir können immer von anderen lernen, vor allem aus anderen Ländern. Eine rebellische Komponente wurde mir eigentlich immer nur von anderen zugeschrieben. Das globale HR-Café beispielsweise, das wir damals ins Leben gerufen haben, um die HR-Transformation den Zigtausend Menschen aus den Personalabteilungen näherzubringen, erscheint heute im Zeitalter von Videokonferenzen vielleicht wie simple Normalität. Aber damals war dieses Format für viele im Konzern visionär. Das rebellische Potenzial einer Idee hängt auch davon ab, in welchem Kontext man sich bewegt. In Ihrer Vorstandszeit bot sogar einmal eine Jeans Anlass für Diskussionen. Ich habe damals gar nicht gewusst, dass es ein Thema werden würde, wenn ich als Vorständin eine Jeans trage. Als ich merkte, dass dies ein Sinnbild von Veränderung wurde, war klar, dass ich sie wieder anziehen werde. Das Beispiel zeigt auch, wie wichtig es ist, so viele verschiedene j u ni / j ul i 20 21

Menschen wie möglich in einem Team zu haben, damit auch mit altbackenen Traditionen gebrochen wird. Der ehemalige Vorstandsvorsitzende Joe Kaeser sagt im aktuellen Buch von Fränzi Kühne Was Männer nie gefragt werden, er habe fünf Jahre dafür gebraucht, das berühmte Siemens-Casual abzuschaffen. Die Tradition, grauer Anzug, weißes Hemd, ohne Krawatte, habe sich auch gehalten, als sie ausdrücklich keine offizielle Direktive mehr war. Mir war damals wichtig, dass die Botschaft lautet: Die formale Businesskleidung kann natürlich weiterhin getragen werden, aber jene, die es anders machen wollen, sollen das auch dürfen. Kleider erzeugen Bilder, und Bilder erzeugen Role Models. Siemens hat damals viel darüber gesprochen, dass es auch ein IT-Unternehmen ist. Wenn ein Unternehmen sagen will: Wir sind hip und offen für alle Menschen, und dann tragen alle Männer Zweireiher mit Krawatte, ist das die falsche Bildsprache. Wie rebellisch kann HR sein? In diesem Zusammenhang muss ich innerlich immer etwas grinsen. Viele verstehen unter Rebellentum, dass sie gegen etwas sind. Wenn wir jedoch

etwas verändern wollen, brauchen wir zwar rebellische und innovative Gedanken, aber wir müssen gleichermaßen in der Lage sein, die Systeme zu bespielen, die Regeln zu kennen und die Menschen mitzunehmen. Am Rand zu stehen und zu rufen: „Ich will alles anders“, das funktioniert nicht. Sie arbeiten mittlerweile als Aufsichtsrätin und Senior Advisorin und haben das Buch It’s now geschrieben. Darin heißt es, Sie könnten für einige Funktionen im HR-Bereich die nächsten 18 Monate skizzieren und voraussagen, welche Skills notwendig sein werden. Was sollte HR künftig im Blick haben? Natürlich habe ich keine Glaskugel in der Hand, aber es gibt schon Dinge, die sich klar abzeichnen. HR-Verantwortliche sollten definitiv Wissen über das Funktionieren von Algorithmen haben. Der HR-Chatbot Carl, der bei Siemens 2017 bei einer unserer globalen Siemens-HR-Konferenz erfunden wurde, zeigt, wie ein Bot HR entlasten kann, indem er die Beantwortung von Standardfragen übernimmt. Je mehr unterschiedliche Anfragen gestellt werden, desto mehr lernt er. Apropos Lernen: HR muss Führungskräfte und Beschäftigte darin unterstützen her23


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Machtgerangel Ein Beitrag von Sven Lechtleitner

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Menschen in Führungspositionen verteidigen oft ihr Terrain. Wer sich über Hierarchieebenen hinwegsetzt, eckt schon mal an. Ein Ringen um Macht kann die Folge sein. Wie lassen sich solche Konflikte klären?

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u viel Eigeninitiative oder gar ihre extreme Ausformung, der Aktionismus, kann rebellisch wirken – vor allem in von Hierarchie geprägten Unternehmen. Übergehen Beschäftigte bei Ideen oder Vorhaben Instanzen, werten Führungskräfte das je nach Persönlichkeit als Angriff auf ihre Position. Kommt es zu Machtkämpfen und Statusspielen, betrifft dies nicht nur die Beteiligten: Es kann ganze Teams in Mitleidenschaft ziehen oder gar die gesamte Unternehmenskultur vergiften. Klar ist, wenn Menschen aufeinandertreffen, wird es immer Konflikte geben. Sie gehören zur sozialen Interaktion. Nur ist es wichtig, sie zu lösen, statt sie im Kampf auszufechten oder schwelen zu lassen.

Autorität und Widerstand

Abblidung: vchal / Getty Images

Hierarchien sollen Struktur in eine Organisation bringen. Gerade Großunternehmen setzen auf Führungsprinzipien mit unterschiedlichen Managementebenen. Das führt keineswegs per se zu Unstimmigkeiten zwischen Führungskräften und Teams. „Machtgerangel entsteht, wenn die Hierarchiebildung keinen sortierenden Charakter hat, sondern einen nicht sachgerechten Abstand herstellt, der sich an einer Autorität ausmacht“, sagt Katja Kraus, geschäftsführende Gesellschafterin der Kommunikationsagentur Jung von Matt Sports. Die frühere Fußballtorhüterin sieht keinen

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Grund dafür, warum moderne Unternehmen starre Hierarchien festlegen sollten, die auf Autorität ausgerichtet sind. Es brauche aber sicherlich noch Instanzen, die das Gesamtbild im Blick haben und auf dieser Basis die Entscheidungen treffen. Sie beobachtet auch in Großunternehmen einen Umbruch. In Anbetracht immer komplexer werdenden Aufgaben und einem sich wandelnden Führungsverständnis bei den Angestellten seien viele zunehmend gewillt, Strukturen zu ändern. Die ehemalige Vorständin für Marketing und Kommunikation des Fußballvereins Hamburger SV hat sich während ihrer Laufbahn systematisch mit Machtfragen auseinandergesetzt. Mit ihnen befasste sich Kraus auch in ihrem Buch Macht. Geschichten von Erfolg und Scheitern. Als sie im Jahr 2003 ihren Job antrat, war sie die erste Frau im Vorstand eines Männerbundesligaklubs – in einem von Männern dominierten Management. Besonders am Anfang ihrer Karriere war sie enormem Widerstand ausgesetzt: „Frauen waren damals nicht nur nicht eingeladen, sondern auch nicht gewollt“, sagt Kraus. Der exponierten Rolle folgten kritische Auseinandersetzungen mit ihrer Personalie – weniger

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Zwischen Geltung und Ohnmacht Ein Gastbeitrag von Thorsten Hofmann

Ein Betriebsrat kann für HR eine strategische Partnerschaft oder mächtige Gegenpartei bedeuten. Das Gremium kann gegen Vorhaben des Unternehmens rebellieren, diese sogar verhindern. Wie lässt sich mit einer Arbeitnehmervertretung verhandeln, die auf ihren Standpunkt beharrt?

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arifverhandlungen, Entlassungen oder Kriterien der Personalauswahl: Diese Begriffe lassen bei Unternehmen mit einem Betriebsrat schon mal den Puls von Verantwortlichen höherschlagen. Viele denken dabei an Warnstreiks und Arbeitsniederlegungen sowie damit verbundenen Produktionsausfälle. Vielleicht macht sich ein Gefühl der Ohnmacht breit. Dabei steht außer Frage, dass Betriebsrat und Arbeitgeber voneinander abhängig sind. Sie vertreten lediglich die Interessen unterschiedlicher Gruppen. Einen Nenner zwischen beiden Seiten zu finden, ist häufig Handwerk und Kunst zugleich. Es ist spielentscheidend, die unterschiedlichen Anliegen und internen Entscheidungsmechanismen zu kennen.

Stakeholder managen oder von ihnen ­gemanagt werden? Gerade für Arbeitgeber ist ein aktives Stakeholdermanagement von Bedeutung. Welche Interessensgruppe steht auf meiner Seite? Wer ist unentschlossen? Welche Argumente vertritt die Gegenposition? Diese Fragen sollten Verantwort32

liche wie Geschäftsführung und HR nicht nur innerhalb des Unternehmens beantworten, sondern auch für das externe Umfeld. Denn Betriebsrat und damit meist auch die Gewerkschaft sind von Natur aus politisch geübt. Verhandeln ist für sie Kerngeschäft. Sie verstehen es meist sehr gut, Politik und Medien für ihre Ziele in Anspruch zu nehmen. Sie können Beschäftigte auf unterschiedlichen Ebenen im Unternehmen mobilisieren. Häufig stehen die Arbeitgeber in der allgemeinen Wahrnehmung dann ohne Zustimmung ihrer Belegschaft da und verfügen über zu wenig unterstützende Kräfte. Sie verlieren dadurch oftmals die öffentliche Deutungshoheit über den Anlass der Verhandlung. Ihnen wird zumeist Ausbeutung und Rücksichtslosigkeit gegenüber den Belangen der Belegschaft unterstellt. In diesem Kontext ist es wichtig, im Blick zu haben, dass der Betriebsrat bei Verhandlungen mitunter versucht, persönliche Kontakte zu nutzen. Das können Kontakte im Vorstand, in Gremien des Unternehmens oder gegebenenfalls auch im Aufsichtsrat sein. Dies verhilft ihm zu einer Geschlossenheit, die entscheidend für Sieg oder Niederlage ist. Unstimmigkeit ist Gift für das Verhandlungsteam, das www. hu ma n reso u rce sma n age r. d e


REBELLION

Das ­ letzte ­Mittel Arbeits­ kampf Verhärtete Fronten zwischen Unternehmen und Belegschaft können in einem Arbeitskampf enden. Beschäftigte wählen als Kampfmaßnahme meist den Streik, Arbeitgeber haben die Möglichkeit der Aussperrung. Was muss HR beachten, wenn ein Streik droht? Ein Gastbeitrag von Bettina Scharff

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aut einer aktuellen Statistik der Bundesagentur für Arbeit fielen in Deutschland im Jahr 2020 insgesamt 195.420 Arbeitstage durch Streik aus. Diese Zahl an Ausfalltagen bringt erhebliche wirtschaftliche Einbußen mit sich. Wie können Arbeitgeber auf Streiks reagieren, um Verluste und Ärger zu vermeiden? Ein Streik ist aus arbeitsrechtlicher Sicht nicht im politischen Sinne zu verstehen, er ist also beispielsweise nicht vergleichbar mit dem Klimastreik. Stattdessen gilt er als grundrechtlich geschützte, gewerkschaftsgetragene, gemeinsame und planmäßig durchgeführte Arbeitseinstellung von einer größeren Anzahl von Beschäftigten. Ein von einer Gewerkschaft ausgerufener Streik hat den Abschluss eines Tarifvertrages mit zulässigem Inhalt zum Ziel. Typisch sind Streiks, die ein höheres tarifvertragliches Arbeitsentgelt erzielen wollen. Auch Beschäftigte, die nicht Mitglied der streikführenden Gewerkschaft sind, können sich am Streik beteiligen. Maßgebend dafür, wer streiken darf, ist stets der konkrete Streikaufruf der Gewerkschaft.

Keine automatische Rechtmäßigkeit jedes tarifbezogenen Streiks Auch wenn ein Streik auf ein grundsätzlich durch einen Tarifvertrag regelbares Ziel gerichtet ist, bedeutet dies nicht automatisch dessen Rechtmäßigkeit. Streiks unterliegen diversen rechtlichen Beschränkungen. In vielen Fällen lohnt es sich deshalb, genauer hinzusehen beziehungsweise rechtliche Beratung einzuholen. Praxisrelevant sind dabei besonders Verstöße gegen die relative Friedenspflicht: Jeder Tarifvertrag enthält eine stillschweigende Regelung, die eine kampfweise Durchsetzung von Tarifforderungen während der Vertragslaufzeit ausschließt. Voraussetzung für einen Verstoß gegen die Friedenspflicht ist, dass die mit dem Streik durchzusetzende Tarifforderung mit der in einem noch laufenden Tarifvertrag geregelten Materie in einem inneren sachlichen Zusammenhang steht. Bei einem bestehenden und ungekündigten Entgelttarifvertrag verstieße deshalb ein Streik zur Durchsetzung eines höheren tariflichen Entgelts gegen die relative Friedenspflicht. Gleiches gilt beispielsweise auch für die Forderung nach einer kürzeren tariflichen Arbeitszeit bei vollem Lohnausgleich, aufgrund des inneren sachlichen Zusammenhangs mit den (ungekündigten) tariflichen Entgeltregelungen. Friedenspflichtverstöße liegen nicht immer dermaßen auf der Hand. Dennoch lohnt es aus Arbeitgebersicht oft, Streikforderungen auf Einhaltung der Friedenspflicht und weiterer Rechtmäßigkeitsgrenzen zu überprüfen.

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Abblidung: champc / Getty Images

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Der Nachhaltigkeits­ rebell Mit fair produzierten Kondomen hat das Start‑up Einhorn eine Marktnische erobert. Heute ist das Sortiment weitaus größer. Mitgründer Waldemar Zeiler setzt sich für Nachhaltigkeit ein und fordert ein neues Wirtschaftssystem. Ein Porträt von Sven Lechtleitner

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Foto: Anne Hufnagl

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n der Antwortmail der Presseabteilung ist Waldemar Zeiler direkt in Kopie. Die Terminfindung übernimmt der Geschäftsführer kurzerhand selbst, ganz unkompliziert und ohne zwischengeschaltete Assistenz. Diese Lässigkeit unterscheidet den Start-up-Unternehmer von anderen. Auch sonst herrscht im virtuellen Gespräch eine lockere Atmosphäre. Der Wahlberliner bietet zum Einstieg das Du an – es sei denn, das Magazinformat erfordere vielleicht das Sie. Er sitzt im Homeoffice, trägt trotz frühlingshafter Temperaturen eine Mütze. Kopfbedeckungen wie diese oder auch Caps sind sein Markenzeichen geworden. Auf kaum einem Bild ist er ohne sie zu sehen. Der 39-Jährige, in Kasachstan geboren und am Bodensee aufgewachsen, hatte schon in jungen Jahren ambitionierte Ziele. Sein Bestreben im Alter von 20 Jahren war, mit 30 Millionär zu sein. Wenn auch etwas später, er hat er sein Ziel erreicht. Zumindest auf dem Papier. Sein Unternehmen Einhorn hat mit der Produktion und dem Vertrieb von Untenrumprodukten längst die Millionenmarke geknackt. Rückblickend findet Zeiler sein Vorhaben jedoch relativ naiv formuliert: „Für jemanden, der gerade Abitur gemacht hat, war dieses Ziel gar nicht fassbar.“ Doch zu diesem Zeitpunkt ist er einfach einem klassischen Erfolgsmodell gefolgt. Auf dem Markt gab es viele Bücher und Beispiele, die Geld als Währung von Erfolg beschrieben haben. Und die nötige Punktzahl, die es dafür brauchte, sei die Million gewesen.

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Erst dann habe jemand zu den erfolgreichen Unternehmern oder Gründerinnen gehört. Diese damalige Mentalität hatte er übernommen. Dabei ist er kein materialistischer Typ, wie er sagt. Teure Autos oder andere Luxusgüter bedeuten ihm nichts. Was treibt ihn also sonst an? Zeiler studierte International Business in Maastricht. Viele Jahre hat er krampfhaft versucht, reich zu werden. Vor Einhorn war er an sieben Firmengründungen beteiligt, die fast alle in den Sand gesetzt wurden. Mit seinem ersten Unternehmen hat er Anschreiben und Lebensläufe für andere kreiert. Danach folgten Gründungen mit Venture Capital in Millionenhöhe. Jedes Scheitern hatte ein paar Lektionen für ihn parat. Der Wunsch, noch einmal etwas ganz anderes zu machen, entstand während seiner dreieinhalbjährigen Tätigkeit bei einem seiner letzten Startups Digitale Seiten. Eine Anhäufung von unterschiedlichen Frustrationen kam zusammen, hinzu das Gefühl, nicht mehr er selbst zu sein. Unternehmertum ist zwar reich an Facetten, meistens geht es jedoch um Kapitalmehrung. „Für andere aus einem Euro zehn zu machen, dabei vielleicht nicht mehr in den Spiegel schauen zu können, darauf hatte ich keinen Bock mehr“, sagt er. Er war nah am Burn-out. Sein Unternehmersein fühlte sich nach ständigem Scheitern an. Das Angestelltendasein war keine Alternative. Frühere Jobs hatte er meist nach wenigen Monaten beendet oder ihm wurde gekündigt. Es folgte eine tiefe Sinnkrise. 39


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„ Wehr dich doch mal!“ Ein Beitrag von Anne Hünninghaus

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Wer gemobbt wird, findet in Ratgebern allerlei kluge Tipps, gegen die Schikanen am Arbeitsplatz zu rebellieren. Doch oft fehlt Betroffenen schlichtweg die Kraft, um zur Tat zu schreiten. Wie HR aktiv werden und das Auflehnen gegen Missstände stärker unterstützen kann.

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tisches und langfristiges Zerstörungsprogramm handelt. In einer gemeinsamen Umfrage der Meinungsforscher Statista und Yougov gaben 29 Prozent der Befragten im März 2021 an, schon einmal am Arbeitsplatz gemobbt worden zu sein. Hilfsangebote werden als rar wahrgenommen: Mehr als ein Drittel der Beschäftigten verneinte die Frage, ob ihr Arbeitgeber Unterstützung im Falle von Mobbing anbietet. Aber wohin können sich Betroffene wenden, wenn es keine Anlaufstellen im Unternehmen gibt? An Tipps, die aus der Mobbingfalle führen sollen, herrscht kein Mangel – zum Beispiel klare Worte an die Mobbenden richten, sich aktiv Hilfe oder Verbündete suchen. „Nie wieder Opfer sein“: Wer in Literatur oder im Netz nach Rat sucht, wird vor allem auf Appelle stoßen, sich dem Thema zu stellen, zu rebellieren. Aber diese Rechnung geht nicht immer auf, denn Mobbing lähmt, schwächt – und es macht krank. Aus einer Gruppe ausgegrenzt zu werden, löst massiven Stress aus. Das beeinträchtigt die Gesundheit, wie eine groß angelegte Studie des Statistik-Dienstleisters IMS Health 2015 gezeigt hat. Dafür wurden die Gesundheitsdaten von Menschen, die Mobbingerfahrungen gemacht haben, mit denen einer Kontrollgruppe abgeglichen. Das Ergebnis: In der Gruppe der Betroffenen kam es deutlich häufiger zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Wahrscheinlichkeit eines Infarkts oder Schlaganfalls erhöhte sich dramatisch um 69 Prozent.

Ein Teufelskreis aus Scham und Rückzug

Foto: RoterPanther / Getty Images

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an hält es kaum für möglich, was in manchen Unternehmen abgeht. Die Leute verhalten sich, wie man es nicht mal Teenies auf einem Pausenhof an einer Brennpunktschule zutrauen würde“, schreibt Jörg G. in einem Forum auf der Plattform Reddit. Hier tauschen sich in aller Anonymität Berufstätige aus, die regelmäßig drangsaliert werden. Menschen, die mit Bauchschmerzen zur Arbeit gehen oder sich in Homeoffice-Zeiten vor virtuellen Attacken aus dem Kollegium oder von Vorgesetzten fürchten. Doch nicht immer geht es um offensichtliche Schikanen. Manchmal sind es eher kleine Pikser aus dem Team, getarnt als Witz, wieder und wieder, die Menschen mürbe machen. Oder eine Führungskraft, die man eigentlich schätzt, die aber leider in Stressphasen ein anderes, herrisches Gesicht zeigt. Bleibt es bei einzelnen Vorfällen, wird ein solches Verhalten aber nicht als Mobbing gehandelt. Diese Definition greift erst, wenn es sich um ein systema-

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Auch bei der Coachin und Psychotherapeutin Gaby Marquardt sitzen immer wieder Menschen in der Beratung, die mit psychischen und physischen Folgen des Terrors am Arbeitsplatz zu kämpfen haben. Diese reichen von Demotivation über sozialen Rückzug, Konzentrationsschwäche, Schlafstörungen bis hin zur Manifestation in chronischen Beschwerden wie Magen-Darm-Erkrankungen oder Depressionen. Wohlgemerkt – hier geht es nicht um einfache Streits und Sticheleien, wie sie in den meisten Teams mal vorkommen. „Der Begriff Mobbing wird teils zu leichtfertig und inflationär verwendet“, beobachtet die Berliner Beraterin Marquardt. Häufig stellen Personen, die sie wegen Mobbings aufgesucht haben, fest, dass es sich um normale Konflikte handelt, die sich in Gesprächen mit den Kontrahenten oder der Widersacherin lösen lassen. Doch eine systematische Verletzung ist weit mehr als ein Unwohlsein. Eine wichtige Rolle für Betroffene spielen Scham und Selbstsabotage. Das beobachtet Christian Tröster, Professor 43


T I T E L

REBELLION

Mission Stören­ fried

Ohne Abweichung von der Norm ist Fortschritt nicht möglich. Wie finden Unternehmen jedoch Organisationsrebellen und Gestalterinnen in den eigenen Reihen? Drei Impulse Ein Gastbeitrag von Anja Förster und Peter Kreuz

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TITEL

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rganisationen brauchen interne Freigeister, Weiterdenkerinnen, Wachrüttler und Vorwärtsbringerinnen. Wir nennen solche Menschen Rebels at Work. Sie sind weder Sonderfall noch lästige Störung, sondern geben wichtige Impulse für Neues. Denn das Neue kommt als Widerspruch zur Normalität zur Welt, und Widerspruch ist das Wesen der Innovation. Es geht darum, das bestehende System zu stören, aber nicht zu zerstören. Diese Andersdenkenden tragen dazu bei, Defizite und blinde Flecken aufzudecken und mit konstruktiver Irritation lernende Reaktionen in der Organisation zu provozieren.

Abbildung: wildpixel / Getty Images

Der Störauftrag Rebellische Menschen in Organisationen haben einen wichtigen Störauftrag. Das ist in Transformationszeiten wichtiger denn je. Die Absichtserklärung, dass solche rebellischen Geister höchst willkommen seien, ist flott gesagt. Der Knackpunkt aber ist: Was passiert, wenn diese Leute tatsächlich loslegen und mit ihrem Veränderungsdrive die Organisation irritieren? Wie hoch ist die tatsächliche Bereitschaft, sich auf diese neuen Impulse einzulassen? Unser Vorschlag an alle, die in den eigenen Reihen mehr nonkonformistische Kräfte sehen möchten: Lebt vor, was ihr im Unternehmen sehen wollt. Bereitet ein passendes Umfeld für die Veränderungswilligen. Dann werden solche Menschen auch in eurem Umfeld auftauchen und nicht einen großen Bogen um eure Unternehmen machen. Hier sind drei Punkte zum Nachdenken für alle, die mehr mutige Gestalterinnen und Impulsgeber in den eigenen Reihen sehen möchten, sich aber fragen, wo diese wundersame Spezies sich eigentlich verbirgt. j u ni / j ul i 20 21

1. Geht voran Jede Veränderung braucht Veränderer. Das klingt logisch – allerdings hat die Sache einen gewaltigen Haken: Unternehmen sind mit ihren Strukturen, Zuständigkeiten und Regeln auf die Bewältigung von Routineaufgaben zugeschnitten. Veränderung ist aber alles andere als eine Routineaufgabe. Sie stört die heilige Ordnung. Wer also in irgendeiner Weise aktiv wird und sich daran macht, altgediente Überzeugungen zu hinterfragen, Strukturen aufzubrechen und Freiräume auszudehnen, der wird früher oder später auf Widerstand stoßen. Oder anders ausgedrückt: Menschen, die sich bewegen, treten der stehenden Masse zwangsläufig auf die Füße. Daher ist es Führungsaufgabe, die Unternehmenskultur mit Veränderungswillen aufzuheizen. Das ist der Kern einer zukunftsorientierten und innovationsfreundlichen Unternehmenskultur. Und es braucht Persönlichkeiten, die diesen Veränderungsgeist in die Organisation tragen. Sie wirken anziehend auf andere, gerade weil sie neue Wege gehen und mutig sind. Und weil sie überzeugende Geschichten erzählen können über das, was sie bewegt haben. Cawa Younosi, der Personalchef bei SAP Deutschland, bezeichnet sich selbst und sein Team als HR-Punks, ein Begriff, den Vorgänger Stefan Ries bereits geprägt hatte. Younosi ist ein Anschieber und bohrt bei SAP dicke Bretter wie beispielsweise die Einführung der Regel, dass seit Anfang 2018 jede Führungsposition als Tandem ausgeschrieben wird, sodass zwei Personen den Führungsjob in Teilzeit machen können. Job-Tandems in normalen Positionen sind ja auch in anderen Unternehmen bereits verbreitet, aber das auch bei jeder Führungsposition zu machen, ist ein Bruch mit 47


IM FOKUS

NARZISSMUS

Narziss lebt In der griechischen Mythologie ertrinkt der begehrte Jüngling Narziss, als er versucht, sein Spiegelbild zu küssen. Eine repräsentative Studie des Forscherteams um den Potsdamer Professor Florian Feltes offenbart: Narziss ist quicklebendig. Unter nahezu 10.000 Deutschen schlug der Narzissmustest in der Untergruppe der Top-Executives bei jedem vierten Mann und bei jeder fünften Frau an. Hier ist die Geschichte hinter den Daten.

Abbildung: Suljo / Getty Images

Ein Gastbeitrag von Florian Feltes und Marcus Heidbrink

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IM FOKUS

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nsere Reise begann vor eineinhalb Jahren, als wir uns zu einer fünfköpfigen Forschungsgruppe zusammentaten, die eines verband: eigene Erfahrungen mit narzisstischen Menschen im engsten Berufsumfeld. Wir wollten es wissen und befragten zunächst 34 Führungspersönlichkeiten aus Deutschland in knapp einstündigen, halbstrukturierten Interviews – und siehe da: Alle berichteten uns von eigenen, zum Teil erschreckenden und in jedem Fall hoch emotionalen Erlebnissen mit Narzisstinnen und Egozentrikern auf ihren Karrierewegen. Bezeichnend war dabei, dass sich für unsere soeben in der Maiausgabe 2021 erschienene Titelgeschichte über Narzissmus im Harvard Business Manager niemand der 34 Interviewten zitieren lassen wollte. Auch wenn die Erlebnisse teilweise mehrere Jahre zurücklagen, hatten alle ausnahmslos eine zu große Sorge vor dem Rache- und Bedrohungspotenzial, das von entlarvten oder gekränkten narzisstischen Persönlichkeiten ausgeht. Ein Schritt zurück in das vergangene Jahr: Im Herbst 2020 befragten wir im größeren Stil in schriftlicher Form knapp zehntausend Deutsche – repräsentativ am Mikrozensus orientiert ausgewählt –, um eine vernünftige Datenbasis zu haben und letztlich die Frage beantworten zu können, wie virulent das Thema Narzissmus in unserer Gesellschaft tatsächlich ist. Die gute Nachricht lautet: Narzissmus ist in der Bevölkerung nicht stark verbreitet. Schauen wir jedoch in die Führungsetagen, ändert sich das Bild rapide. Dazu einige Zahlen: Für Nicht-Führungskräfte haben wir auf der erprobten Narzissmusskala von Delroy Paulhus Prozentränge von

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deutlich unter 50 gemessen. Paulhus ist ein kanadischer Persönlichkeitspsychologe, der die sogenannte Dunkle Triade der Persönlichkeit vor rund zwanzig Jahren federführend in die Forschungscommunity eingeführt hat. Die dunkle Triade bezeichnet die Persönlichkeitsmerkmale von Narzissmus, Machiavellismus und Psychopathie. Schauen wir nur auf Führungskräfte, springt der Durchschnittswert stufenartig und signifikant auf knapp 70 an. Extreme Werte haben wir im Topmanagement gemessen; in unserer Stichprobe war diese Untergruppe immerhin knapp 750 Personen stark, etwa ein Drittel davon waren Frauen.

Datenlage zeigt Generations- und ­Geschlechterunterschiede Die Veröffentlichung der Studienergebnisse im Mai 2021 sorgte für erhebliche Aufruhr bei dem Lesepublikum. Der Harvard Business Manager berichtet von einer Nachfrage und von Reaktionen in den sozialen Netzen, wie sie in diesem Umfang noch bei keinem Titel in der langjährigen Geschichte der deutschen Lizenzedition des Harvard Business Reviews registriert worden ist. Offenbar berührt das Thema Narzissmus sehr viele Menschen, nicht nur Forscherinnen und Wissenschaftler. Eine für uns überraschende Erkenntnis aus der repräsentativen Messung war die Klarheit der Trends. Diese lassen sich – neben dem erwähnten Ergebnis wie auch hinsichtlich zu erwartender Ergebnisse gemäß den Ergebnissen vorheriger Studien, dass Narzissmus erst in Führungsetagen dringend wird – wie folgt zusammenfassen: 59


P R A X I S

ANONYME BEWERBUNGEN

Illustration: Yulimuli / Getty Images [M]

Vielfalt durch Anonymität?

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PRAXIS

Wenn Alter, Geschlecht und Herkunft in der Bewerbung nicht ersichtlich sind, liegt der Fokus auf den Kompetenzen der Person und sie wird weder bewusst noch unbewusst diskriminiert. So lautet die Idee von anonymen Bewerbungen. Können sie Unternehmen tatsächlich dabei helfen, mehr Diversität in die Belegschaft zu bringen? Ein Beitrag von Senta Gekeler

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s ist schon lange kein Geheimnis mehr, dass vielfältig aufgestellte Teams besser performen. Bereits 2015 zeigte eine Studie von McKinsey, dass Unternehmen mit hohem Frauenanteil im Topmanagement höhere Umsätze erzielen als ihre männlich geprägte Konkurrenz. Auch unterschiedliche Altersgruppen sowie kulturelle und soziale Hintergründe eröffnen neue Perspektiven und können so zu besseren Ergebnissen führen. Zudem trägt Inklusion, also die gleichberechtigte Teilhabe aller, zu einem positiven Image als Arbeitgeber bei. Die Mehrheit der Unternehmen ist deshalb bemüht, sich so vielfältig wie möglich aufzustellen. Wäre da nicht das, was die Kognitionspsychologie Unconscious Bias nennt – eine unbewusste Voreingenommenheit aufgrund der eigenen sozialen Prägung, die jeder Mensch in sich trägt. Sie führt zum Beispiel dazu, dass Recruitingverantwortliche und Hiring Managerinnen Bewerbungen von Menschen mit ausländisch klingendem Namen gleich auf den Ablagestapel legen oder wegklicken, auch wenn sie gar nicht bewusst fremdenfeindlich eingestellt sind. So wurde in einem Experiment des IZA Institute of Labor Economics eine Bewerberin mit dem gleichen Lebenslauf wesentlich seltener zum Jobinterview eingeladen, wenn ein türkischer statt ein deutscher Name darüber stand – und noch seltener, wenn sie auf dem Bewerbungsfoto ein Kopftuch trug. Dieser Denkfehler kann zumindest im ersten Schritt ausgeschaltet werden, indem Bewerbungen anonymisiert werden, indem auf das Foto und auf persönliche Angaben wie Name oder Geburtstagdatum verzichtet wird. Das kann beispielsj u ni / j ul i 20 21

weise mittels anonymisierter Online-Fragebögen umgesetzt werden. Alternativ können auch einfach die persönlichen Angaben im Lebenslauf geschwärzt werden – oder das Unternehmen fordert potenzielle Arbeitskräfte dazu auf, eine Bewerbung ohne Namen, Foto und Geburtsdatum von einer neutralen E-Mail-Adresse aus zu schicken. Vor ungefähr zehn Jahren testeten in einem Pilotprojekt drei öffentliche Arbeitgeber und fünf Unternehmen ein Jahr lang anonymisierte Bewerbungsverfahren. Obwohl sich in dem Projekt für Frauen und Menschen mit Wurzeln im Ausland die Chance auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch erhöhte, blieb kaum ein Unternehmen bei der Methode. Auf unsere Anfrage nannten sie unter anderem als Gründe, dass die Diversität nicht gestiegen sei, dass die Individualität der Bewerbungen dabei verloren ginge oder auch ein unverhältnismäßiger Mehraufwand zutage trat. Sind diese Argumente immer noch valide oder lohnt es sich, anonymen Bewerbungen eine zweite Chance zu geben?

Niemand ist frei von ­Zuschreibungsmustern Das Kultur- und Medienunternehmen Kooperative Berlin verlangt seit etwa anderthalb Jahren anonyme Bewerbungen ohne Namen, Foto und persönliche Angaben. Dann folgt für die engere Auswahl erst einmal ein Telefoninterview. „Die Personen sehen wir im persönlichen Gespräch zum ersten Mal“, sagt Gründer Oliver Baumann-Gibbon. „Wir haben gemerkt, dass da ganz andere Menschen kommen, wenn man gewisse Rahmendaten ausschaltet und nur auf die Kompetenzen und den Berufsweg schaut. Es ist schließlich niemand frei von sozialisierten Zuschreibungsmustern.“ Dadurch hätte beispielsweise eine Kandidatin eine Chance bekommen, die man sonst vermutlich für zu jung gehalten und gleich aussortiert hätte. „Unser Team ist auf jeden Fall diverser geworden.“ Anonyme Bewerbungen reichen aber auf keinen Fall als einzige Maßnahme für mehr Diversität. „Vielleicht schaffen es so mehr Personen durch das erste Raster. Der erste Schritt ist im Bewerbungsprozess sehr wichtig,“ sagt Eva Voß, Head of Diversity, Inclusion and People Care Germany and Austria bei der Großbank BNP Paribas. „Spätestens im persönlichen Gespräch setzt aber wieder der Unconscious Bias ein.“ Wichtig sei es deshalb, dass die Menschen, die die Entscheidungen treffen, sich ihre Vorurteile bewusst machen und regelmäßig entsprechend geschult werden. Allerdings können anonyme Bewerbungen laut Voß auch ein Hindernis für mehr Diversität sein. Nicht 67


R E C H T

E S S AY

Politisches ­Engagement versus ­Firmeninteresse Für Beschäftigte gilt die Meinungsfreiheit – auch in Bezug auf politische Ansichten abseits des gemäßigten Spektrums. Müssen Unternehmen die politische Betätigung ihrer Angestellten im Betrieb oder in sozialen Netzwerken uneingeschränkt tolerieren?

Ein Essay von Christoph Seidler

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er Fall ging durch die Medien: Im August 2020 nahm der Profi-Basketballer Joshiko Saibou an einer großen Demonstration gegen die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Berlin teil. Zuvor hatte er wiederholt in sozialen Medien die Corona-Pandemie relativiert und sich geringschätzig über Schutzmaßnahmen geäußert. Sein Arbeitgeber, die Telekom Baskets Bonn, kündigte im Anschluss an die Demonstration das Arbeitsverhältnis außerordentlich mit dem Hinweis auf „Verstöße gegen Vorgaben des laufenden Arbeitsvertrags als Profisportler“. Zwar ging es dem Unternehmen – so die kommunizierte Begründung – in diesem Fall vorrangig um eine mögliche Gesundheitsgefährdung der Beschäftigten beziehungsweise der übrigen Teammitglieder. Dennoch warf der Fall die Frage auf, ob Arbeitgeber die politische Betätigung ihrer Beschäftigten uneingeschränkt akzeptieren müssen oder sie eine Mäßigung im Betrieb oder gar in der Öffentlichkeit verlangen dürfen.

Insbesondere bei Beschäftigten, die sich öffentlichkeitswirksam mit politischen Aktivitäten abseits des Mainstreams positionieren, wird schnell die Forderung nach Mäßigung laut. Die Reaktionsmöglichkeiten des Arbeitgebers sind aber begrenzt. Auch im Kontext des Arbeitsverhältnisses garantiert das Grundgesetz das Recht auf freie Meinungsäußerung. Während Beschäftigte bei der Ausübung ihrer Arbeitspflicht dem Direktionsrecht unterliegen, sind sie bei der Meinungsbildung und -äußerung grundsätzlich frei. Die bloße Teilnahme an Demonstrationen außerhalb der 78

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Grafik: Prostock-Studio / Getty Images

Politische Betätigung ist Privatsache


Arbeitszeit sowie die Unterstützung politischer Parteien oder Interessengruppen unterliegt keiner Kontrolle des Arbeitgebers. Selbst extremistische oder gar verfassungsfeindliche Meinungen von Beschäftigten geben im Grundsatz keinen Anlass, arbeitsrechtliche Sanktionen wie eine Abmahnung oder eine Kündigung zu veranlassen. Diese Grundsätze gelten gleichermaßen für Angestellte wie für Führungskräfte in exponierter Position. Schranken findet die freie politische Betätigung in den arbeitsrechtlichen Loyalitätspflichten, also der Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers und der Pflicht zur Förderung des arbeitsvertraglichen Zwecks. Daraus folgt insbesondere eine Einschränkung für Aktivitäten innerhalb des Betriebs. Auch dort sind politische Meinungsäußerungen nicht verboten. Handlungen, die den Betriebsfrieden stören, müssen Arbeitgeber allerdings nicht dulden. Damit ist jedoch nicht jede unliebsame Äußerung potenziell verboten. Erst wenn sich konkrete negative Auswirkungen ergeben – zum Beispiel anhaltende Dispute innerhalb der Belegschaft oder Beschwerden von Personengruppen, die sich verunglimpft glauben –, können Arbeitgeber ein Unterlassen der Aktivitäten fordern beziehungsweise je nach Intensität der Störung auch unmittelbar mit einer Abmahnung reagieren. Auch eine Kündigung wäre denkbar, die jedoch wegen des grundrechtlichen Schutzes der politischen Betätigung nur in Ausnahmefällen in Betracht kommt.

Sonderregeln für öffentlichen Dienst und den Betriebsrat Andere Regelungen gelten für Angestellte des öffentlichen Dienstes. Ihr Arbeitgeber ist der Staat, welcher zu einer politischen Neutralität und der Wahrung der verfassungsrechtlichen Ordnung verpflichtet ist. Diese Pflicht ist zu einem gewissen Grad Inhalt des Arbeitsvertrages. Die Beschäftigten haben für die freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten, womit etwa das aktive Engagement für eine verfassungsfeindliche Partei auch im privaten Bereich kollidieren kann. Auch Angestellte in sogenannten Tendenzbetrieben, die beispielsweise politische oder weltanschauliche Zwecke verfolgen, sind zu besonderer Rücksichtnahme verpflichtet. Die wohl strengsten Regeln gelten für Beamtinnen und Beamte. Aus ihrem Dienstverhältnis selbst ergibt sich unmittelbar eine Pflicht zur Mäßigung und Zurückhaltung bei politischer Betätigung. Für diese Gruppen gilt ein von der Rechtsprechung entwickeltes und komplexes System zulässiger Handlungen. Besonderen Beschränkungen unterliegen außerdem gewählte Betriebsratsmitglieder. Ihnen ist gemäß § 74 Abs. 2 Satz 3 Betriebsverfassungsgesetz jede parteipolitische Betätigung im Betrieb verboten. Zulässig sind lediglich allgemeinpolitische Äußerungen wie ein Aufruf, sich an Wahlen zu beteiligen. Im Vergleich zu Beschäftigten ohne Betriebsratsamt – denen wie dargestellt politische Äußerungen ohne konkrete Störung des Betriebsfriedens gestattet sind – gilt also ein strengerer Maßstab.

IMPRESSUM

Herausgeber Rudolf Hetzel Torben Werner (V. i. S. d. P.) Redaktion Sven Lechtleitner (sl) Leitender Redakteur sven.lechtleitner@quadriga.eu Jeanne Wellnitz (jew) Redakteurin jeanne.wellnitz@quadriga.eu Autoren und Autorinnen der Ausgabe Sarah Austenfeld, Florian Feltes, Anja Förster, Senta Gekeler, Uwe Göthert, Stefan Heidbreder, Marcus Heidbrink, Thorsten Hofmann, Anne Hünninghaus, Johannes Kiessler, Peter Kreuz, Magdalena Rogl, Bettina Scharff, Christoph Seidler, Mirjam Stegherr, Pascal Verma Lektorat Christa Melli www.literatur-und-film.de Gestaltung Marcel Franke, Damian Strohmaier Anzeigen Norman Wittig norman.wittig@quadriga.eu Abonnement Stefanie Weimann aboservice@quadriga.eu Druck PIEREG Druckcenter Berlin GmbH Benzstraße 12 12277 Berlin Im Internet www.humanresourcesmanager.de/ magazin Verlags- / Redaktionsanschrift Quadriga Media Berlin GmbH Werderscher Markt 13 10117 Berlin Telefon: 030 / 84 85 90 ­ Fax: 030 / 84 85 92 00 redaktion@humanresourcesmanager.de

Die Grenze: öffentlicher Bezug zum Arbeitgeber Nicht jede politische Betätigung im privaten Kontext ist auch wirklich Privatsache. Steht eine politische Betätigung im Widerspruch zur Tätigkeit oder den Unternehmenswerten, müssen Beschäftigte negative Auswirkungen auf ihren Arbeitgeber vermeiden. Unzulässig ist daher eine politische Betätigung, die den Eindruck erweckt, der Arbeitgeber teile die Ansichten oder habe gar die Tätigkeiten gebilligt oder in Auftrag gegeben. j u n i / j u l i 20 21

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LETZTE SEITE

Der Watchdog Stefan Niggemeier und sein Team haben die Medien fest im Blick: Sie kritisieren fehlerhafte Berichterstattung, ungenaue Recherchen und Schleichwerbung. Damit rebellieren sie gegen falsche Rücksichtnahme in Bezug auf etablierte Medien.

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wahrnehmen. Außerdem bekommen wir sehr oft gute Hinweise. Den interessantesten anonymen Hinweis bekam ich über … eine sehr zweifelhafte Veröffentlichung des Spiegel-Investigativreporters Rafael Buschmann über ein angeblich verschobenes Spiel bei der Fußball-WM. Wenn wir kritisch berichten, wird dies von den Medien meist … verflucht, wenn sie selbst betroffen sind, und begrüßt, wenn es um ­andere geht. Einen kritischen Blick auf meine Arbeit … werfen nicht zuletzt alle, die uns abonniert haben, da sie unsere Arbeit komplett finanzieren. Zu Beginn meines Arbeitstages muss ich als Erstes … auf Twitter gucken, was passiert ist. Okay, vielleicht muss ich das nicht, aber Twitter ist für mich eine wichtige Informationsquelle. Mein Lieblingsmagazin ist … die internationale Wochenzeitung Economist. Ich habe mein erstes Geld ­verdient als … Hilfskraft in einer Papierfabrik in den Sommerferien.

Wäre ich nicht Medienjournalist geworden, wäre auch … Auslandskorrespondent denkbar gewesen. Ein Buch, das mich nachhaltig beeindruckt hat, … Es waren gleich mehrere. Natürlich die Bild-Enthüllungsbücher von Günter Wallraff, aber auch die Discworld-Reihe von Terry Pratchett. Ein Rat, den ich immer befolge, … gab mir meine Mutter. Er lautet: … „Hör auf deine Mutter!“ Die Fragen stellte Jeanne Wellnitz

Der Medienjournalist Stefan Niggemeier ist Gründer und Herausgeber des medienkritischen Watchblogs Bildblog sowie des Online-Magazins Übermedien, das er 2016 mit Boris Rosenkranz ins Leben rief. Bildblog ist mittlerweile zum Watchblog für deutsche Medien avanciert. Der preisgekrönte Diplom-Journalist hat für diverse Print- und Fernsehredaktionen gearbeitet und redet mit Sarah Kuttner in dem Podcast Das kleine Fernsehballett über Serien.

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Foto: Jan Zappner

Den Weg als Medienkritiker habe ich eingeschlagen, weil … Medien unseren Blick auf die Welt prägen und deshalb eine kritische Auseinandersetzung genauso verdienen wie etwa Politik oder Wirtschaft. Außerdem habe ich schon als Kind lieber vor dem Fernseher gesessen, als draußen zu spielen. Medienkritik aus den eigenen Reihen ist verpönt, weil … leider immer noch für viele, die im Journalismus arbeiten, die Redensart gilt: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. Ich kann jedoch mit Gegenwind umgehen, weil ich … selbst oft genug Wind mache und weiß, dass ich mich genauso der Kritik stellen muss, wie ich es von anderen erwarte. Den größten Ärger handelte ich mir ein mit ... einem spontanen, fassungslosen Tweet über die Aktion #allesdichtmachen von mehreren Schauspielerinnen und Schauspielern, die ich als extrem zynisch empfand. Wir werden auf Ungereimtheiten aufmerksam, indem wir … mit kritischem Blick andere Medien


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