HRM 4_2020 Routine Issuu

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ROUTIN


Coverfoto: picture alliance/KEYSTONE | STR; Diese Seite: picture alliance / ullstein bild | Camenzind

Der Schweizer Turner Jean Tschabold bei den Olympischen Spielen 1952 in Helsinki. Er und seine Mannschaft gewannen damals die Silbermedaille im Geräteturnen. „Die letzten drei oder vier Wiederholungen sind es, die den Muskel wachsen lassen. Das ist das Tal der Schmerzen, das den Champion von jemandem unterscheidet, der

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kein Champion ist. Daran fehlt es den meisten Menschen, dem Mumm, weiterzumachen und durch den Schmerz zu gehen, egal was passiert. Wer routiniert trainiert, kommt weiter“, sagte Arnold Schwarzenegger einst über das körperliche Training. Und nur wer aus der Pflicht eine Kür macht, kommt so weit wie Jean Tschabold.

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EDITORIAL

Wegerfahrung

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etreten wir unbekannte Wege und wagen einen Schritt aus unserer Komfortzone, machen wir neue Erfahrungen. Durch Wiederholungen verfestigen sich diese Erfahrungen. Sie werden zu Routinen. Das Wort, aus dem Französischen entlehnt, bedeutet übersetzt: Wegerfahrung. Selbst wenn uns gerade nicht der Sinn danach steht, auf die Unterbrechung unseres gewohnten Gangs einzugehen: Das Leben zwingt uns dazu. Vor und nach einer dieser kleineren und größeren Erschütterungen, die uns innehalten lassen, steht die Bewegung. Zusammen bilden Bewegung und Pause den Rhythmus der G ­ ewohnheit. Rhythmus bedeutet eine wiederkehrende Bewegung, gefolgt von einer Pause, denn ohne sie wäre der Rhythmus kein Rhythmus, sondern ein monotoner Ton oder eine monotone ­Pause. Kein Wechsel, keine Wiederholung, keine Veränderung, kein Leben. Ohne Rhythmus gibt es kein Davor und kein Danach, sondern nur ein „Da“. Wir sind in unserem Dasein ­einem immerwährenden Rhythmus unter­ worfen, einem Auf und Ab der Stimmungen und Gefühle, einem Wider­streit zwischen Frohsinn und Schwermut, zwischen Euphorie und Ermattung. Unser Atem begleitet uns stets dabei, und auch er strömt ein und aus. U ­ nser Herz gibt den melodischen Ablauf unserer Existenz vor. Erst füllt sich die au g u st  /  septem ber 2020

rechte Herzkammer, dann die linke, und schon geht’s wieder von vorne los. Wir stehen auf und gehen schlafen. Unser biologischer Rhythmus richtet sich nach dem kosmischen: Die Sonne geht auf und wieder unter. Die Erde rotiert und dreht ihre Bahnen, die nur scheinbar unveränderlich sind. Tatsächlich schwankt die Umlaufbahn. Diese astronomischen Zyklen beeinflussen unsere biologische Uhr und sogar das Klima. Eine regelmäßige, also rhythmische, wenn nicht gar routinierte Schrittfolge beim gelassenen Spaziergang geht über in Körper und Geist der F ­ lanierenden. Die Verstandestätigkeit schwingt mit dem Gang und gerät in einen Zustand des beschaulichen Nachdenkens. Diese tiefe geistige Versenkung passiert nicht bemüht, vielmehr geschieht sie einfach. Das tätige, aktive Leben rückt in den Hintergrund. Die Neuronen schwingen und feuern im Takt der Schritte und die Gedanken nehmen ihren Lauf. Doch wer glaubt, es gäbe die eine Routine, die zwingend zum gedanklichen, beruflichen oder privaten Erfolg führt, irrt. So wie Menschen sich unterscheiden, variieren auch die Gewohnheiten, die ihnen guttun. Und so kann das In-den-Tag-Hineinleben einen kreativen Prozess lähmen oder ihn befeuern. Zerstreuung, Pausen und Muße sind allmählich wieder en vogue. Und auch hier: Erzwungen durch den Schock der

Pandemie, der unsere Routinen außer Kraft setzte und uns zeigte, dass eben doch alles irgendwie geht, wenn es sein muss. Das althergebrachte Nine-to-five-­ Diktat verschwimmt dabei zusehends. An seine Stelle tritt das Vertrauen in die Fähigkeit der Menschen, sich Aufgaben eigenmächtig einzuteilen. Das erzieherische Diktum, das A ­ ngestellte zu Marionetten im Arbeitsalltag diskreditierte, ist passé. Auch wenn dieses Vertrauen seine Initialzündung äußeren Umständen zu verdanken hat, nimmt das nichts von seiner Qualität, einen lang herbeigesehnten Wandel angestoßen zu haben. Einen Wandel, der dem Leben etwas von seiner ­Lebendig­keit zurückgibt und den Weg wieder zu einer Erfahrung macht.

Hannah Petersohn, Chefredakteurin Human Resources Manager

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22 Routinen sind so eine Sache: oft von Vorteil, genauso häufig auch von Nachteil. Sie halten den Alltag am Laufen, hindern uns aber daran, etwas Neues zu lernen. Der Kognitionspsychologe ­­Lars Schwabe ­im Interview über die Trägheit unseres Gehirns

SCHWERPUNKT: ROUTINE

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Editorial

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Alles auf Anfang? Der Streit um die Neuordnung unseres Wirtschaftssystems ist entbrannt. Schlägt die Stunde des starken Staates?

12 Entscheidet euch! Worauf Führungskräfte in dieser konfliktreichen Zeit achten sollten

18 Alltag mal anders Die Corona-Krise hat die Routinen des Arbeitsalltags grundlegend erschüttert. Wie kann eine neue Normalität aussehen? 22 Im Zwiespalt Der Kognitionspsychologe Lars Schwabe über unser träges Gehirn, mit welchen Tricks wir Routinen verändern können und warum wir durch Krisen am effektivsten lernen

17 Schnappschuss 30 Routiniert innehalten Eine Pause öffnet den Raum für Neues jenseits des Alltags. Lob für eine in Vergessenheit geratene Tugend 34 Ruhmreiche Gewohnheiten Eine kleine Auswahl großer Persönlichkeiten, deren Lebensführung sich vor allem in einem Punkt überraschend ähnelt

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Alles auf Anfang? Der Streit um die Neuordnung unseres Wirtschafts­ systems ist entbrannt. Unterschätzen wir die ­Anpassungsfähigkeit des kapita­listischen Wirtschaftens?

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40 Mit Muße und Sinn Um abseits ausgetretener Pfade zu denken, müssen Routinen unterbrochen werden. Warum Muße und Sinn dabei die Instrumente der Wahl sind 44 Rebellion im Hamsterrad Wie man sich von Konsumzwang und gesellschaftlichen Glaubenssätzen befreit und welche Rolle der Tod dabei spielt 46 Wer ist Dr. Hansen? Die Bedeutung von unbewussten Routinen und Denkmustern wird unterschätzt. Wie stereotypes Denken überwunden werden kann 50 Vom Hang zum Zwang Die meisten kennen Marotten und Spleens. Nehmen sie jedoch Überhand, wird der Alltag zum Spießroutenlauf. Peter Wittkamp, Autor und Gagschreiber, über seine Zwangsstörungen 58 Wenn Öko zur Routine wird Viele umweltmoralische Appelle gehen ins Leere. Wie ökologisches Handeln im Arbeitsalltag zum Standard werden kann

Fotos: picture alliance / Bildagentur-online; Artem Zatsepilin / Getty Images; 91050 / United_Archives / TopFoto; UKB

MEINUNG


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VERBAND 78 Editorial

Teilzeit für alle? Wer wirklich eine ökologische Wende anstrebt, kommt um das Thema Arbeitszeit nicht herum

79 Die Nominierten Der Personalmanagement Award & der Nachwuchsförderpreis 2020 80 The New Normal? Sechs Thesen zur neuen Rolle der Human Resources

IM FOKUS: ­M ITARBEITERBINDUNG

82 Das BPM Netzwerk Die neue Plattform für Austausch und Weiterbildung

62 Zwischen Effizienz und Bullshit Wenn Mitarbeiter zu Human­ ressourcen werden, ist es um ­deren Bindung ans ­Unternehmen schlecht bestellt

ANALYSE

PRAXIS

66 Teilzeitwelt Wer eine ökologische Wende anstrebt, kommt um das Thema Arbeitszeit nicht herum. Denn: Wer viel arbeitet, konsumiert mehr und belastet die Umwelt

70 Sieben Gedanken Über das Gefühl der Angst in Krisenzeiten und warum nicht nur Viren ansteckend sind

84 Nicht CV, sondern KI Die Fachgruppe Strategisches Personalmanagement mit dem Fokus auf künstliche Intelligenz 86 Gute Aussichten Mit Employee Experience dem „New Normal“ begegnen!

LETZTE SEITE RECHT 72 Aktuelle Urteile 74 Essay Die bekannte Routine zum ­„gelben Schein“ wird sich ändern. Worauf Personaler bei einer Online-Krankschreibung unbedingt achten sollten

34 Alles andere als gewöhnlich: Eine kleine Bilderstrecke großer Persön­ lichkeiten und ihrer Routinen

88 Fragebogen Ein Krankenhausalltag ist geprägt von Routinen. Das schafft zwar Verlässlichkeit, kann im Notfall aber lähmen. ­­ Julia Schäfer, Personalentwicklerin am Universitätsklinikum Bonn, weiß: Es kommt auf die Balance an


MEINUNG

Alles auf Anfang?

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MEINUNG

Ein Gastbeitrag von Gerold Wolfarth

Der Streit um die Neuordnung unseres Wirtschaftssystems ist entbrannt. Schlägt jetzt die Stunde des starken Staates oder unterschätzen wir die Anpassungsfähigkeit des kapitalistischen Wirtschaftens?

Höhlenmalerei in Südafrika

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enn die Grundlagen unseres gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Miteinanders erschüttert werden, laufen immer all jene zur Höchstform auf, die den baldigen Untergang von Kapitalismus, Globalisierung und Marktwirtschaft voraussagen. Und natürlich begreifen sie die Pandemie als Folge eines krankhaften, sinnentleerenden Kapitalismus, der sich an sich selbst verschluckt hat und unseren Planeten zugrunde richtet. Die Krise nährt die Sehnsucht nach einer Systemdebatte und staatlicher Steuerung. Naht nun das goldene Zeitalter der Postwachstumsökonomie, der Entschleunigung und Deglobalisierung? Befreit uns der Geist des Gemeinwohls von der kühlen Logik des Marktes? Für Kevin Kühnert, dem Shootingstar der Neuen Linken, scheint die Systemfrage längst entschieden, denn man müsse kein Sozialist sein, um zu erkennen, dass die jetzige Krise der Auswuchs eines ungezähmten Marktes sei, der unsere Demokratie untergrabe. Die Lösung liege dabei in der Kollektivierung der Wirtschaft. Was sonst?

Foto: picture alliance / Bildagentur-online

Der Anfang vom Ende

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Ist der Kapitalismus gescheitert? Hat sich der Globalisierungswahn als unfähig erwiesen, uns vor der Abgründigkeit des Kapitalismus und der Pandemie zu schützen? Ist die Welt am Kipppunkt, unser Wirtschaftssystem reif für die Abwicklung und nur ein demokratischer Sozialismus die Lösung für die Bewältigung der großen Zukunftsfragen? Der Kapitalismus lässt sich für vieles verantwortlich machen, aber nicht für die aktuellen Erschütterungen. Sie waren nicht Fehlentwicklungen im Wirtschaftssystem, sondern Folgen eines Virus. Wir erleben keine Wirtschaftskrise, sondern einen von der Politik als „ultima ratio“ verordneten Stillstand der Wirtschaft. Es ist richtig: Der Staat muss in existenzgefähr9


Entscheidet euch! Ein Gastbeitrag von Reinhard K. Sprenger

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Die Corona-Krise stellt Fßhrungskräfte vor unterschiedliche Probleme. Worauf sollten sie in dieser konfliktreichen Zeit achten?


MEINUNG

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o viel Wissen über unser Nichtwissen gab es noch nie“, sagte der Philosoph Jürgen Habermas. Dieses Zitat ist aktueller denn je, denn Selbstgewissheit ist in der Corona-Zeit unangebracht. Wir erleben derzeit eine Situation, in der wir Grundlegendes über das Wesen der Führung lernen können.

Foto: Stefan Thomas Kröger

Lektion 1: Es gibt einen Unterschied ­zwischen Wahl und Entscheidung Die momentane Krise lehrt Führungskräften den Unterschied zwischen einer Wahl und einer Entscheidung. Eine Wahl wird auf Grundlage von Fakten getroffen, die gemessen und bewertet werden. Insofern ist eine Wahl immer auch zu begründen und entsprechend zu rechtfertigen. Denn eine Messung kann ungenau sein, die Auswahl der Daten fahrlässig. Auch die Bewertung der Daten kann vorurteilsvoll sein. Insofern kann eine Wahl richtig oder falsch sein.

Bei einer Entscheidung kann man die Konsequenzen nicht kalkulieren, ihr Ausgang ist offen, man steht vor einer Milchglasscheibe. Fakten spielen dabei zwar eine Rolle, aber sie können sich widersprechen, unscharf oder ambivalent sein. Im Sprachbild: Pest und Cholera oder auch der Esel, der im philosophischen Gleichnis zwischen zwei Heuhaufen zu verhungern droht, weil er sich für keinen der beiden entscheiden kann. Es können ebenso viele gute Gründe für eine Entscheidung sprechen wie dagegen. Bei einer Entscheidung weiß man oft erst im Nachhinein, was man entschieden hat. Außer in Extremfällen kann sie deshalb nicht falsch sein, aber eben auch nicht richtig. Es gibt kein Paralleluniversum, in dem man eine alternative Entscheidung probeweise durchspielen könnte. Man muss also springen, ohne vorher zu wissen, wo man landet. Ob man, wie in der Corona-Krise, mit der Landung zufrieden sein wird, kann vorher niemand wissen. Das zuzugeben trauen sich nur wenige. Denn Führungskräfte gelten als Menschen, die die „richtigen“ Entscheidungen treffen. Das wird von ihnen erwartet. Aber diese Erwartungen können sie im strengen Sinne nicht erfüllen. Deshalb tun sie so, als ob sie die Konsequenzen kennen. Der universale Kern bleibt davon unberührt: Was man nicht wählen kann, muss man entscheiden.

Lektion 2: Führung gibt es, weil Konflikte entschieden werden müssen Eine Gruppe von Menschen. Fliehend. Hinter ihr ein Säbel­ zahntiger. Vor ihr eine Weggabelung. Man kann jeweils

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ROUTINE

Das neue Normal Ein Gastbeitrag von Arjan Toor

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Die Corona-Krise hat die Routinen des ­Arbeitsalltags grundlegend erschüttert. Wie eine neue Normalität aussehen kann und welche Folgen sie für unser Wohlbefinden und unsere Produktivität haben wird


TITEL

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ie Pandemie beeinflusst unser Sozialleben und unsere Arbeitswelt nachhaltig: Vom Social Distancing bis hin zur Arbeit vom heimischen Schreibtisch hat das Virus zu einschneidenden Veränderungen in unserer täglichen Routine geführt. Die Pandemie führte in nahezu allen Lebensbereichen zu einem Ausnahmezustand, der bei vielen Unsicherheit und Stress ausgelöst hat. Ganz gleich, ob es nun um den Schutz der Familie und Freunde, die Priorisierung von Beruf und Privatleben oder die Sorge um die finanzielle Sicherheit in Zeiten von Kurzarbeit und Wirtschaftsabschwung geht. An dieser Stelle treten Arbeitgeber und HR-Teams auf den Plan: Sie müssen die Mitarbeiter mit Empathie, klarer Kommunikation und stressbewältigenden Maßnahmen unterstützen und ihnen dabei helfen, den Alltag neu zu strukturieren.

Gewöhnung an veränderte Strukturen

Foto: picture alliance / ullstein bild

Zunächst ist mit der Anordnung von Homeoffice für einen Großteil der Arbeitnehmer ein lang gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen: flexible Arbeitszeiten und der Wegfall der Arbeitswege, wodurch mehr Zeit für die Familie bleibt. Das klingt im ersten Moment verlockend. Doch war die Umstellung auch eine Herausforderung. Der langfristige Wechsel ins Homeoffice bedeutet eben nicht bloß, bequem vom Sofa oder dem umfunktionierten Küchentisch zu arbeiten, sondern die Gewöhnung an eine völlig neue Arbeitsweise, die veränderte Strukturen und eine neue Organisation des Arbeitstags erfordert. An diese Veränderungen musste sich ein Gros der Arbeitnehmer innerhalb kürzester Zeit anpassen. Denn noch vor zwei Jahren haben in der Regel nur fünf Prozent der Erwerbstätigen in Europa von zu Hause aus gearbeitet. Dass Heimarbeit positive Effekte auf das Wohlbefinden der Arbeitnehmer hat, zeigen die Ergebnisse der aktuellen Cigna-Studie COVID-19 Global Impact. Dabei wurden weltweit 2.287 Menschen nach dem Einfluss der Pandemie auf ihre Arbeit und ihr Sozialleben befragt. Eine wesentau g u st  /  septem ber 2020

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ROUTINE

In einer persischen Fabel bittet ein Skorpion einen Frosch, ihn mit ans andere Flussufer zu tragen. Der Frosch lehnt ab aus Angst, er könnte vom Skorpion getötet werden. Doch überzeugt ihn der Skorpion schließlich mit dem Argument, er würde dann ja selbst ebenfalls sterben und aus diesem Grund auch nicht stechen. Bei der Über­querung des Flusses zeigt sich: Der Skorpion kann nicht anders, er muss den Frosch stechen und tötet damit auch sich selbst. Eine klassische Lose-Lose-Situation und eine ziemlich dumme Angewohnheit, bei sich zeigt: Die Gewohnheit ist oft stärker als der Überlebenswille.

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Illustrationen: Marcel Franke | www.typophob.de

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TITEL

„ Gewohnheiten haben einen janusköpfigen Charakter.“ Routinen sind so eine Sache: oft von Vorteil, genauso häufig auch von Nachteil. Sie halten den Alltag am Laufen, hindern uns aber daran, etwas Neues zu lernen. Der Kognitionspsychologe Lars Schwabe über unser träges Gehirn, mit welchen Tricks wir gewohnheitsmäßiges Verhalten verändern können und warum wir durch Krisen am effektivsten lernen Ein Interview von Hannah Petersohn

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Herr Schwabe, worum genau handelt es sich, wenn wir von Routinen sprechen? Bei Routinen handelt es sich um Verhaltensweisen, die wir bereits häufig wiederholt haben. Wenn wir eine Handlung das erste Mal vollziehen, denken wir noch darüber nach, warum und wie wir das tun und wie die nächsten Schritte der Handlung aussehen. Je häufiger wir uns dann auf diese Weise verhalten, umso stärker wird unser Verhalten automatisiert und prozeduralisiert. Wir denken also nicht mehr über jeden einzelnen Schritt nach. Dann spricht man von einer Gewohnheit oder Routine. Wie sehr prägen Routinen unseren Alltag? Der Sozialpsychologe Bas Verplanken sagt, dass die Hälfte unseres täglichen Handelns durch Routinen bestimmt wird. In unserem Alltag gibt es sehr viele Handlungen, die wir wiederholen, ohne sie zu reflektieren: Zähne putzen, Frühstück zubereiten, zur Arbeit fahren und so weiter. Das ist auch gut so. Warum? 23


ROUTINE

Die automatisierten Handlungen setzen kognitive Ressourcen frei, die wir für solche Handlungen nutzen können, die von unserer üblichen Routine abweichen. Bei Kindern ist das besonders wichtig: Sie brauchen eine stabile Umgebung, in der die Vorhersagbarkeit der Geschehnisse hoch ist. Das erzeugt das Gefühl der Kontrolle, das für Kinder essenziell ist, weil sie sehr komplexe Handlungen und Ereignisse noch nicht im gleichen Maße wie Erwachsene erfassen können. Welche Prozesse spielen sich beim Erlernen einer Routine im Gehirn ab? Wenn ein Mensch zielgerichtet über eine Handlung nachdenken muss, ist der evolutionär betrachtet jüngere Präfrontalkortex aktiv. Wenn sich bestimmte Routinen einschleifen, sind andere Hirnregionen aktiv, die tiefer im Gehirn liegen und wesentlich älter sind. Je öfter wir eine Handlung vollziehen, desto mehr verschiebt sich die Gehirnaktivität vom Präfrontalkortex hin zu den evolutionär älteren Basalganglien. Was wäre, wenn wir uns im Alltag bei jeder Entscheidung fragen müssten, wie wir uns entscheiden sollen? Dann wären wir noch mittags mit der Wahl und Zubereitung unseres Frühstücks beschäftigt. Das wäre absolut ineffizient. Wir würden kaum noch et-

was Neues lernen. Es gibt bestimmte Routinen in unseren Entscheidungsund Denkmustern, die mit einer Wiederholung zusammenhängen. Dann gibt es aber auch neue Situationen, in denen wir unser Wissen nicht anwenden können und dennoch versuchen, uns ähnlich zu verhalten wie in der Vergangenheit. Innerhalb einer Situation gibt es sehr viele Informationen, die wir gar nicht alle bewusst wahrnehmen können. Dann gewichtet das Gehirn und nimmt auch mal Abkürzungen. Sind Innovationen auch oder gerade mit routinierten Arbeitsabläufen möglich? Oder anders gefragt: Wie lernen wir trotz unserer Routinen? Natürlich ist die Überwindung von Routinen aufwendig, ganz gleich ob es darum geht, eine neue Marketingstrategie zu entwickeln, oder darum, seine Morgenroutine zu verändern. Man muss sich zunächst einmal bewusst werden, was man möchte. Wie sieht das Ziel aus? Was mache ich bisher? Inwieweit sollte ich vielleicht davon abweichen? Wenn man anfängt, sich bewusst diese Fragen zu stellen und sie so konkret es geht zu beantworten, löse ich bestimmte Verhaltensmuster aus der kontrollierten Routine, die sich sonst dem expliziten kognitiven Zugriff entziehen. Allein durch diese Fragen komme ich zu neuen Ideen?

„ Automatisierte Handlungen setzen Ressourcen frei, die wir für Handlungen nutzen können, die von unserer Routine abweichen.“ 24

Lars Schwabe ist Professor für Kognitions­ psychologie an der­­Universität Hamburg. Er forscht unter anderem zum Einfluss von Stress auf kognitive Prozesse, zum instrumentellen Ler­ nen, zu Erinnerungsprozessen sowie zum Entscheiden und Handeln.

Sie müssen noch weitere Fragen stellen, aber als erstes Stoppsignal sind diese Fragen sinnvoll. Um Routinen zu unterbrechen, brauchen wir irgendeine Form des Stoppsignals. Ein solches Stoppsignal kann auch mal von außen kommen und durchaus unangenehm sein, zum Beispiel eine negative Rückmeldung über mein Verhalten durch andere. Ich kann mir selbst aber auch diese Signale setzen nach einem Wenn-dann-Schema: Wenn mein Verhalten ein bestimmtes unerwünschtes Ergebnis zur Folge hat, dann unterbreche ich es. Was passiert auf kognitiver Ebene, wenn eine Routine von außen gestört wird? Zuerst kommt es zu einem sogenannten Vorhersagefehler, einem Prediction

Foto: UHH/Dingler

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Error. Ich stelle dann fest: Das, was ich erwartet habe, funktioniert nicht. Je stärker dieser Vorhersagefehler empfunden wird, desto besser funktioniert das Lernen. Bei einer massiven Abweichung lernen wir am meisten. Heißt es deswegen, dass wir besonders durch Krisen lernen? Richtig, diese Unterbrechungen reißen uns aus dem gewohnten Trott heraus und zwingen uns dazu, neue Perspektiven einzunehmen. Lange wurde angenommen, dass Menschen mit zunehmendem Alter immer weniger in der Lage seien, Neues zu lernen. Das sieht man heute anders. Beim Thema Alter muss man zwei Dinge unterscheiden: Einerseits verändert sich die Funktionsweise des Gehirns im Alter. Zum anderen geht mit dem Alter eine andere Ausprägung der Routinen im Gehirn einher, das heißt, die Verankerung von bestimmten Gewohnheiten ist stärker. Auf der neuronalen Ebene ist für die Flexibilität, für das Überwinden von Routinen der Präfrontalkortex wichtig, eine Region, die von altersspezifischen Veränderungen in nicht ganz so hohem Maße betroffen ist wie andere Hirnregionen. Allerdings spielt auch der kognitive Trainingszustand eines Menschen eine Rolle. Können wir unser Gehirn trainieren wie ein Muskel? Ja, für bestimmte Aufgaben geht das. Die Frage ist immer: Wie transferierbar ist dieses Training? Inwieweit ist zum

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„ Die Überwindung von Routinen ist aufwendig, ganz gleich ob es darum geht, eine neue Marketingstrategie zu entwickeln, oder darum, seine Morgenroutine zu verändern.“ Beispiel das Lösen von Sudoku-Aufgaben übertragbar auf andere Bereiche? Ich denke, dass es da schon bestimmte Grenzen gibt. Wer joggt, trainiert nicht nur die Muskulatur der Beine, sondern auch andere Körperbereiche. Aber ob ein Gehirntraining durch Sudoku auf andere Hirnareale ausstrahlt, ist noch nicht erwiesen? Genau. Interessant beim Thema Joggen ist, dass die körperliche Bewegung bestimmte kognitive Funktionen beeinflusst. Sie setzt physiologische Prozesse in Gang, die für die kognitive Leistungsfähigkeit förderlich sein können. Werde ich also flexibler und kann leichter neue Routinen erlernen, wenn ich mich regelmäßig bewege? In Bezug auf die kognitive Leistungsfähigkeit trifft das zu. Inwieweit sich

die kognitive Flexibilität dadurch verbessern lässt, wissen wir noch nicht. Bewegung kann unabhängig davon natürlich helfen, sich von einer Aufgabe zu lösen, um auf andere Gedanken zu kommen. Wer sich sehr lange auf eine bestimmte Fragestellung fokussiert, bekommt nach einer Weile einen gewissen kognitiven Tunnelblick und kann andere Dinge nicht mehr wahrnehmen. Der Abstand erweitert die Perspektive. Wie gehe ich am besten vor, wenn ich mir eine neue Routine aneignen möchte? Zunächst ist eine möglichst konkrete Zielstellung hilfreich: Es ist ein Unterschied, ob ich sage: „Ich möchte gesünder leben“ oder: „Ich möchte alle zwei Tage joggen gehen“. Man muss sich das gewünschte Verhalten konkret vornehmen und es dann umsetzen. Die ersten Wochen, in denen man die Routine ausbildet, sind am härtesten. Aber wenn man drei, vier Monate jeden zweiten Abend joggt, denkt man gar nicht mehr darüber nach, ob man es nun übermorgen wieder macht oder nicht. Die ausgetretenen Pfade sind dann auch tatsächlich im Gehirn verankert. Routinen entstehen durch Wiederholung. Lernen wir nur durch Wiederholung eine neue Routine? Gewohnheiten lassen sich auch verändern, indem man sich belohnt, wenn man ein gewünschtes neues Verhalten vollzogen hat. Sinnvoll können 25


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TITEL

Routiniert pausieren Viele Künstler, Erfinder, Forscher und Schriftsteller verdanken ihren Ideenreichtum gezielter Pausen. Denn eine Pause unterbricht die Routine und öffnet den Raum für Neues jenseits des Alltags. Menschen, die regelmäßig pausieren, leisten mehr.

Foto: akg-images

Ein Gastbeitrag von Karlheinz Geißler

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u den großen Irrtümern unserer Zeit zählt es, durch Beschleunigung und Steigerung der Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit mehr Leben ins Leben bringen zu können. Erreicht wird das Gegenteil. Je schneller, desto kurzatmiger und atemloser werden wir, und umso mehr wird das Leben zu einem pausenlosen Kampf gegen die Zeitnot. Aus dem abwechslungsreichen Zeitfluss wird ein gerader, öder und monotoner Kanal. Die kleinteilige Verterminierung des Alltags hält die Menschen davon ab, den rechten Augenblick zu erwischen und die Zeit zu genießen. Die Zeitverdichtung macht jede Pause im Internet zum Störmoment, im Straßenverkehr zu einem Ärgernis und in der Welt der Arbeit zu einem Geldverlust. Der Totalverwertung von Zeit in Geld steht die Pause im Weg. Selbst die Kommata, die kleinen Pausenzeichen, die dem Rhythmus und dem Textverständnis dienen, werden im poesiefreien Mailverkehr häufig weggelassen. Jahrzehnte kämpften Gewerkschaften für das Recht auf Pausen während der Arbeitszeit. Seit 1994 sind sie im Arbeitszeitgesetz auch geregelt. Die Praxis aber zeigt, dass die klaren Vorgaben vielfach nicht erfüllt und nicht ernst genommen werden. Von einer lebendigen Pausenkultur kann in der Mehrzahl deutscher Unternehmen keine Rede 31


Alles andere als gewöhnlich Eine Bilderstrecke von Hannah Petersohn

Beinahe jeder wird sich schon einmal gefragt haben, wie es große Persönlichkeiten zu Ruhm und Ehre gebracht haben. Eine Antwort wird in bestimmten Alltagsritualen vermutet, die dem Erfolg zuträglich sein könnten. Hier eine kleine Auswahl jener, die Großes vollbracht haben und deren Lebensführung sich vor allem in einem Punkt überraschend ähnelt.

Coco Chanel

Die Modedesignerin Coco Chanel war bereits im Alter von 40 Jahren Millionärin. Das war für eine Frau, noch dazu aus armen Verhältnissen, in den 1920er Jahren eine kleine Sensation. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts löste sie eine modische Revolution aus mit der damals noch völlig neuen Art der funktionellen Damenbekleidung. Ihre Modelle trugen eine lockere Hose oder einen knielangen Rock, ein luftiges Oberteil und dazu den präferierten Kurzhaarschnitt. Doch Chanels Erfolg flog ihr nicht zu: Sie verschrieb ihr Leben der Arbeit und erwartete einen ähnlichen Einsatz auch von ihren Angestellten. Diese fürchteten die fordernde Vorgesetzte. Sie konnte neun Stunden ohne Unterlass arbeiten, selbst auf Essen, Trinken oder den Toilettengang verzichtete sie häufig. Chanels Arbeitstag im Pariser Hauptgeschäft begann stets zur Mittagszeit. 34

Bevor sie ihr Hotelzimmer verlies und das Geschäft in der Rue Carbon betrat, wurden ihre Angestellten von Mitarbeitern des Hotels, in dem sie wohnte, benachrichtigt. Sie stellten sich dann in einer Reihe auf, hielten ihre Hände dicht am Körper, ganz so als wären sie gehorsame Pennäler, die dem Rohrstock entgehen wollten. Am Eingang des Geschäfts wurde noch schnell Chanel No. 5 versprüht, damit die Chefin umgeben von ihrem berühmten Parfum in ihr Arbeitsreich schreiten konnte. Im Büro angekommen, arbeitete sie bis in die späten Abendstunden an lebenden Modellen, stets mit einer qualmenden Zigarette

in der Hand. Sonn- und Feiertage waren ihr lästig. Allein das Wort „Urlaub“ würde ihr bereits Übelkeit bereiten, gestand sie einst einer Freundin.

Foto: x91050/United_Archives/TopFoto

Die Qual der freien Tage


Vorbereitung ist alles

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Bereits im Alter von vier Jahren begann Simone Klavier zu spielen. 1933 in North Carolina geboren, wuchs sie in ärmlichen Verhältnissen auf. Sie hegte wenig Hoffnung, als Pianistin und Sängerin erfolgreich zu sein. Ihre Hautfarbe und Armut stünden dem im Wege, so Simone, die deswegen ihren Lebensunterhalt durch Auftritte in Nachtclubs bestritt. Doch schon bald sollte sich zeigen, dass sie sich geirrt hatte. Die Aufnahmen ihrer Interpretationen von Songs wie „I Put A Spell On You“ oder „My Baby Just Cares For Me” verkauften sich millionenfach. Vor jedem wichtigen Konzert übte sie dermaßen lange am Klavier, dass sich

Foto: picture alliance

Nina Simone

ihre Arme verkrampften. Die Abfolge der Titel gab sie ihrer Band immer erst kurz vor dem Auftritt, denn zuvor prüfte sie die Atmosphäre und Stimmung des Publikums und stimmte im Anschluss die Setlist darauf ab. „Um das Publikum in meinen Bann zu schlagen, erschuf ich zunächst mit einem Lied eine bestimmte Stimmung, die ich im nächsten Lied und dann im übernächsten weiterführte. So entstand eine Art Gefühlshöhepunkt, der hypnotisch wirkte. Ich legte eine kurze Pause ein, um die Wirkung zu überprüfen, und hörte nur absolute Stille. Damit hatte ich sie. (…) Als die Klubs zu größeren Sälen wurden, bereitete ich mich immer gründlicher vor. Am Nachmittag ging ich durch den leeren Saal und sah mir an, wo die Leute saßen, wie nahe sie mir in der ersten Reihe sein würden (…), wie die Scheinwerfer und Mikrofone ausgerichtet waren – eben einfach alles.“


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ROUTINE


TITEL

Mit Muße und Sinn zur ­ Anti-Routine In der komplexen Arbeitswelt sind Gewohnheiten oft hinderlich. Um neue Wege zu gehen und abseits ausgetretener Pfade zu denken, müssen Routinen unterbrochen werden. Muße und Sinn sind dabei die Instrumente der Stunde.

Ein Gastbeitrag von Christoph Schönfelder

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outinen – die einen mögen sie, weil sie den Tag strukturieren, die anderen versuchen den Gewohnheiten zu entkommen, um neue Erfahrungen zu sammeln. Ganz gleich in welchem Ausmaß Routinen das Leben bestimmen, ganz ohne sie geht es nicht. Und das ist auch gut so. Die meisten Prozesse des Alltagshandelns werden durch Routinen bestimmt. So läuft in der Regel jeder Morgen nach denselben Routinen ab: Wecker ausschalten, aufstehen, duschen, anziehen, frühstücken, zur Arbeit fahren oder im Homeoffice den Rechner anschalten. Routinen sind konkrete Antworten auf Fragen, die wir uns in der Vergangenheit gestellt und dann gelöst haben. Der Vorteil: Wir können schnell auf sie zurückgreifen und müssen nicht jedes Handeln neu durchdenken. Der Nachteil: Wir fragen uns nicht mehr, ob diese Lösungsstrategien überhaupt noch zum Ziel führen, und auch nicht, ob es womöglich sinnvollere Wege gibt.

Foto: Victor_Tongdee / Getty Images

Wenn Routinen an ihre Grenzen kommen Routinen sind dann hilfreich, wenn es um klar definierte und beschreibbare Prozesse geht – seien diese nun einfach oder kompliziert. Die Grenze der Routine liegt im Umgang mit komplexen Situationen, die andere Lösungsstrategien erforderlich machen. Der gelungene Umgang mit Komplexität ist der zentrale Erfolgsfaktor von Unternehmen. Dabei gilt: Nur diejenigen Organisationen, die Fragen zum eigenen Unternehmenscharakter entschlüsseln, Teams sinnvoll orchestrieren und das Potenzial aller Mitarbeiter fördern, werden erfolgreich sein. Im Kontext der Komplexität kommt es vor allem darauf an, die innere Kraft und die Lust für die Beantwortung neuer Fragen in jedem Einzelnen zu finden und zu fördern. Bei Herausforderungen, für die nicht auf Routinen und bereits vorliegende Erfahrungen zurückgegriffen werden kann, müssen Ent41


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ROUTINE

Rebellion im Hamster­ rad

Viele sehnen sich danach, dem täglichen Hamsterrad zu entkommen. Wie man sich vom Konsumzwang und bestimmten gesellschaftlichen Glaubenssätzen befreit und welche Rolle der Tod dabei spielt

Ein Gastbeitrag von Niclas Lahmer

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in Trend hat sich in Bewegung gesetzt. Unauf­ haltsam wie eine Welle schwappt er durch die sozialen Medien und diverse Pressebeiträge in die Köpfe der Menschen. Gemeint ist der Trend einer möglichst produktiven Routine. Das Ziel ist einfach: Wie können wir aus der uns gegebenen Zeit das meiste her­ ausholen? Plötzlich lesen wir von den erfolgversprechenden Morgenroutinen der Spitzenverdiener. Wollen auch Sie die Morgenroutine eines CEOs kennen? Kein Problem! Wie sieht es mit der morgendlichen Abfolge an Beschäftigungen bei Stars und Sternchen aus diversen Zeitschriften aus? Nichts leichter als das!


TITEL

Seit einer Weile wird uns erklärt, was eine positive Routine ist und wie sie auszusehen hat: Am besten stehen Sie stets früh auf, machen ein Power-Workout, das sich übrigens we­ nig von einem herkömmlichen Sportprogramm unterschei­ det, flitzen los, liefern die Kinder an der Schule ab, rasen ins Büro – und um zehn vor acht sitzen Sie bereits eine Stunde eher als alle anderen am Schreibtisch, um dort der nächsten produktiven Routine nachzugehen. Das sind immerhin 20 Stunden Vorsprung pro Monat gegenüber allen anderen Kollegen im Büro. Na, klingt das attraktiv? Doch gibt es so etwas wie eine produktive Morgenroutine überhaupt? Und müssen wir uns denn immer einer Routine hingeben und immer das Maximum aus der Zeit schlagen? Klar, die Uhr tickt. Wir werden nicht jünger. Wenn wir den Werbeslogans glauben, verschafft uns die vegane, gluten­ freie und hyalurongetränkte Paste ein paar Jahre Vorsprung. Also zurück zur produktiven Morgenroutine.

Foto: picture alliance / Ikon Images; Niclas Lahmer

Routine als Droge Ohne Frage, Routinen geben Sicherheit. Sie versprechen Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Produktivität. Dabei muss eine Routine keine Abfolge von geplanten Handlungen sein. Ihre täglichen Gedanken können zu einer Routine wer­ den. Ihre Emotionen können zur Routine werden. Sowohl die negativen als auch die positiven. Routinen sind manch­ mal ein notwendiges Übel, doch richtig eingesetzt können Routinen großen Erfolg, Freude und Glück bringen. Sie sind allerdings nicht immer nur produktiv und förderlich. Mit der Routine ist es wie mit dem Alkohol: Das richtige Maß entscheidet. Zur Droge können beide werden. Wer plötzlich feststellt, wie sehr er einer Routine verfallen ist, fühlt sich schnell wie ein Hamster im Rad. Man springt, rennt und hopst, ohne zu bemerken, dass man sich über­ haupt nicht von der Stelle bewegt. Die meisten Meetings sind solche Routinen, die uns zum Hamster werden lassen. Hand aufs Herz: Wie viele Meetings sind wirklich sinnvoll, bereichernd und bringen uns und andere dem großen Ziel ein Stück näher? Deswegen sind Meetings im Stehen sinn­ voll: Sie sind von kürzerer Dauer als solche im Sitzen, vor allem deswegen, weil alle wieder so schnell es geht sitzen wollen. Auch das kann zu einer Routine werden.

beziehungsweise 552 Monate. Auf den ersten Blick ist das eine Menge Zeit. Doch wenn man von den 24 Stunden des Tages acht Stunden für den Schlaf, die Zeit im Badezim­ mer und in der Küche, beim Essen und während der Arbeit abzieht, bleiben noch circa zweieinhalb Stunden pro Tag. Zweieinhalb Stunden auf 552 Monate hochgerechnet ist wiederum sehr wenig Zeit. Sollte man diese Zeit also dafür nutzen, um auf Netflix die gesamte Staffel der neusten Serie anzuschauen? Diese Zeit kommt nie wieder zurück, und der Tod sitzt uns im Nacken. Möglicherweise stirbt man auch nicht eines natürlichen Todes und die Zeit ist viel kürzer bemessen, als eigentlich gedacht. Umso wichtiger also, sie dafür zu nutzen, mit dem Leben das anzustellen, was man unbedingt tun will. Memento mori hieß es in der Antike: Sei dir deiner Sterb­ lichkeit bewusst. Auch diese Erinnerung ist eine Routine. Eine Routine, die ermahnt, das Leben und all die kleinen Routinen regelmäßig zu hinterfragen. Das Leben nicht für selbstverständlich zu erachten und sich einzugestehen, dass ein abhängiges Leben dem des Hamsters im Rad gleicht. Hamsterräder sind Systeme, die uns dazu zwingen, nach fest genormten Standards zu leben. Das kann bedeuten, dass wir monetär abhängig sind. Es kann aber auch bedeuten, dass wir uns selbst knechten und versklaven, indem wir uns selbst erschaffene Routinen aufzwängen und dabei verges­ sen, wirklich zu leben. Viele Menschen mit streng durch­ dachten, möglichst produktiven Routinen, durchleben das Leben, aber sie erleben es nicht. Ganz gleich, welcher Rou­ tine Sie folgen wollen: Die Kosten für Ihre Routine bezahlen Sie mit Ihrer Lebenszeit.

Sei dir deiner Sterblichkeit bewusst! Niclas Lahmer ist Vortragsredner, Autor und Unternehmer. Der

Will man der Routine entkommen, ist folgender Trick sinn­ voll, um das Gehirn und dessen Wunsch nach Komfort aus­ zutricksen: Nehmen wir an, Sie sind 30 Jahre alt und leben insgesamt 76 Jahre. Es bleiben Ihnen also noch 46 Jahre au g u st  /  septem ber 2020

Diplom-Betriebswirt ist Host des Querdenker-Podcasts und Videocasts „Haie Schwimmen Nicht Rückwärts“. Er ist Autor des Buchs „Rebellion im Hamsterrad. Wie Sie Ihre Routine endlich gegen mehr Sinn, Freiheit und Geld tauschen“.

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TITEL

Wer ist Dr. Hansen? Ein Gastbeitrag von Vivika Gramke und Susanne Riedel

Foto: picture alliance / Keystone

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r. Hansen wohnt in Kiel und hat einen Bruder in Tübingen, Professor Hansen. Professor Hansen hat aber keinen Bruder in Kiel.“ War Ihre erste Reaktion auch: Wie kann das sein? Dann haben Sie übersehen, dass es sich bei Dr. Hansen auch um eine Frau handeln könnte. Doch bei dem Wort „Doktor“ wird, auch durch den dazugehörigen männlichen Artikel „der“, zuerst das Bild eines Mannes hervorgerufen, nicht das einer Frau. Unsere Sprache beeinflusst unser Denken, was wiederum Einfluss auf unser gewohnheitsmäßiges Handeln nimmt. Unser Gehirn liebt Routinen – und natürlich beeinflussen sie unser Denken und Verhalten auch im Berufsalltag. Das ist auch höchst effizient, denn wenn wir den ganzen Tag über alle Vorkommnisse und Entscheidungen bewusst nachdenken würden, könnten wir den Feierabend vergessen. Bei dem Beispiel von „Dr. Hansen“ kommt unsere unbewusste Voreingenommenheit zum Tragen: Der sogenannte „Unconscious Bias“ ist eine kognitive Wahrnehmungsverzerrung, zu der Stereotypisierungen, Vorurteile und andere Denkfehler gehören. Wir alle haben unbewusste Denkmuster, völlig unabhängig vom Geschlecht oder Bildungsgrad, denn es handelt sich dabei um einen biologischen Mechaau g u st  /  septem ber 2020

Die Bedeutung von unbewussten Routinen und Denkmustern wird im Recruiting oft unterschätzt. Warum der erste Eindruck nicht ­immer hilfreich ist, der Cultural Fit überbewertet wird und wie stereotypes Denken überwunden ­werden kann

nismus. Auch wenn Personaler*innen behaupten, dass sie offen für Kandidat*innen jeglichen Backgrounds seien, verlässt sich das Gehirn stets auf bestimmte Faustregeln. Unsere Entscheidungen sind viel weniger objektiv, als wir glauben. Um HR-Prozesse fair und transparent zu gestalten, ist die differenzierte Auseinandersetzung mit den eigenen und den strukturellen unbewussten Denkmustern ein Muss.

Menschen mögen Vertrautheit: der ­Ähnlichkeitseffekt Wir suchen das Gefühl der Vertrautheit im Umgang mit anderen. Das ist menschlich und evolutionär sinnvoll, denn für unsere Vorfahren war es überlebenswichtig, schnell zu erkennen, ob eine Person zum Stamm gehörte oder nicht. Heute ist genau das aber wenig hilfreich in der Auswahl von Mitarbeitenden oder in der Zusammensetzung von Teams. Vertrautheit entsteht in erster Linie über Ähnlichkeit: Treffen wir auf jemanden mit einem ähnlichen beruflichen und privaten Werdegang, aus der gleichen Heimatregion oder mit ähnlichen Hobbys, verbindet uns das. Die andere Person wirkt vertraut und damit sympathisch. Das erzeugt 47


T I T E L

ROUTINE

Die meisten kennen Marotten, Spleens oder seltsame Überzeugungen wie die Angst vor der Zahl 13. Nehmen diese Gewohnheiten jedoch Überhand, wird der Alltag zum Spießroutenlauf. Der Autor Peter Wittkamp über seine Zwangsstörungen, magisches Denken und was Kommunismus damit zu tun hat. Ein Auszug aus Peter Wittkamps Buch „Für mich soll es Neurosen regnen“

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Illustration: Marcel Franke | www.typophob.de

Wann ist ein Hang ein Zwang?


TITEL

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anchmal, wenn ich im Supermarkt bin, fallen mir bei bestimmten Produkten, zu denen ich gerade greifen möchte, Menschen ein, die ich mit diesen Artikeln verbinde. Dieses Schlemmerfilet à la Bordelaise gab es doch immer bei Tante Judith. Diese Nudeln isst doch Onkel Volker so gerne. Und dann meldet sich der Zwang bei mir und flüstert mir ins Ohr: „Wenn du das Schlemmerfilet kaufst, stirbt Tante Judith. Und wenn du die Nudeln mitnimmst, passiert Onkel Volker ein Unglück.“ Mein Kopf weiß ganz genau, dass Tante Judith nicht wegen eines fucking Schlemmerfilets in einem Hunderte Kilometer entfernten Supermarkt sterben wird. Der Kauf eines Schlemmerfilets ist maximal mit dem Ableben eines Alaska-Seelachses verbunden. Es existiert einfach keine Verbindung zwischen dem Kauf von Tiefkühlfisch und dem Tod eines Menschen. Aber ich weiß auch genau, dass ich mich unwohl fühle, wenn ich das Produkt in den Einkaufswagen lege. Ich habe einfach keine Lust auf diesen Gedanken, und der Verzicht auf das Schlemmerfilet ist der einfachste Weg, ihn abzuschütteln. Kurzfristig werde ich dann den aufdringlichen Gedanken los, langfristig merkt der Zwang sich solche Schwächen und zeigt sich in Zukunft öfter. Richtig ärgerlich ist es, wenn ich mir etwas sehr Schönes und Teures kaufen möchte, auf das ich mich sehr freue, und der Zwang ruiniert es, indem er das Produkt negativ besetzt und mir sagt: Kauf das nicht, sonst passiert was. Schade. Dann gibt es eben keinen Porsche für mich. Ich habe magische Gedanken dieser Art sehr häufig und bei den unterschiedlichsten Tätigkeiten. Auch während meiner Arbeit am Computer. Ich denke dann: Wenn ich dieses Wort benutze, das mich an jene Person erinnert, passiert ihr etwas Schlimmes. Ich weiß ganz genau, dass das Blödsinn ist. Aber manchmal

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ist es bequemer für mich, das Wort dann einfach zu vermeiden und durch ein anderes zu ersetzen. Sicher ist sicher. Und ich bin dann wieder den unangenehmen Gedanken los. Dieses Verhalten aber merkt sich der Zwang ebenso wie das nicht gekaufte Schlemmerfilet. Er wird dadurch stärker. Er ernährt sich davon. Nicht direkt vom Schlemmerfilet, aber von meiner Schwäche. Diese merkwürdigen Regeln, die man meist selbst nicht ganz versteht, mischen sich im Moment eines akuten Zwangs mit komplizierten Gedankenketten. Hinzu kommen Gefühle wie Angst, Sorge und Stress. Garniert wird das Ganze dann häufig mit dem eigenen Wider- streben gegen die Regeln des Zwangs, so dass im Kopf ein ziemlich bunt gemixter Neuronen-Cocktail entsteht. Und dessen Rezept ist nur sehr schwer zu beschreiben. Aber ich werde zumindest versuchen, Ihnen zu sagen, wie er schmeckt, um in diesem Bild zu bleiben. Dazu ist mir auf dem Weg zu einer Buchvorstellung eine Idee gekommen. Ich nehme Sie einfach mal mit. Von meiner Wohnung bis zur Lesung. Haken Sie sich ein und begleiten Sie mich ein Stück. Wir flanieren. Sie, ich und meine Zwänge.

Zwangsbegleitung Es ist Dienstagabend, so gegen neunzehn Uhr. Ich habe mich gerade von meinem kleinen Sohn verabschiedet. Aber nach dem Verabschieden habe ich ihn noch einmal extra berührt, damit ihm kein Unglück geschieht. Ich fühle mich besser, wenn ich ihm noch mal an den Kopf fasse und glaube, es passiert ihm dann nichts. Gut, eigentlich weiß ich, es ist für sein Wohlergehen vollkommen egal, ob ich ihn noch mal berühre oder nicht. Aber das magische Denken ist stärker. Sicher ist sicher. Lieber noch einmal kurz berühren. Wie der Fußballer mit dem Schuh.

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T I T E L

ROUTINE

Ich stehe an meiner Wohnungstür und muss hier ein wenig aufpassen. Denn wenn die Tür zufällt und ich dabei einen unangenehmen Gedanken habe, ( dass irgendjemandem etwas zustoßen könnte,) öffne ich sie noch einmal und verschließe sie erneut. Dieses Mal hoffentlich ohne negativen Gedanken. Nicht an etwas Negatives zu denken, wenn man genau davor Angst hat, ist natürlich nicht ganz so einfach. Es ist wie mit dem rosaroten Elefanten, an den man nicht denken soll, was natürlich dazu führt, dass man ausschließlich an einen rosaroten Elefanten denkt. Daher kann sich das Schließen der Tür bei mir unter Umständen auch ein paarmal wiederholen. Wenn mir genau dann Nachbarn im Hausflur begegnen, tue ich so, als hätte ich etwas in der Wohnung vergessen, und gehe noch mal rein. „Ach, Mist! Geldbörse vergessen.“ Bloß nicht auffliegen mit meiner Krankheit! Zwangskranke sind meist begnadete Schauspieler! Aber heute geht alles gut. Problemloses Verlassen der Wohnung möglich. Ich bin sicher im Innenhof. Wobei „sicher“ natürlich ein Trugschluss ist. Der Spaß geht ja gerade erst los. Unser Innenhof hat viele Sträucher und Bäume und ist ein bisschen unübersichtlich. Manchmal, wenn ich im Dunklen einen auffälligen Schatten sehe, muss ich noch mal zurückgehen und genau hinschauen. Nicht, dass da jemand bewegungsunfähig und verletzt liegt und Hilfe braucht. Spoiler: Es lag noch niemals jemand verletzt dort. Ab und an, wenn im Innenhof etwas Rutschiges liegt, zum Beispiel, weil einem der Nachbarn auf dem Weg zum Müll Joghurt aus der Mülltüte gelaufen ist, wische ich das weg oder laufe zumindest schnell zur Papiertonne, um ein Stück Pappe zu holen und es über die rutschige Stelle zu legen. Ich hasse es, das zu tun, weil ich mich dafür nicht verantwortlich fühlen möchte – aber es ist mir immer noch

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angenehmer, als stundenlang zu denken: „Was, wenn da jemand drauf ausrutscht und sich das Genick bricht?“

Der Zwang ist ein Hochstapler Wenn ich dann Bus fahre, setze ich mich gerne so, dass ich möglichst wenig von der Straße sehen kann. Das hat einen einfachen Grund: Ein Auswuchs meiner Kontrollzwänge ist es, Pflastersteine oder Ähnliches, über das Radler stürzen könnten, vom Radweg oder der Straße aufzuheben und woandershin zu legen. Eigentlich ganz nett von mir. Aber ich mache das auch, wenn die Steine nur in der Nähe des Radwegs liegen und vielleicht irgendwann mal auf dem Radweg landen könnten. Durch einen zufälligen Tritt eines Passanten zum Beispiel. Oder ich gehe noch mal zurück, weil ich nicht genau weiß, ob ich da im Augenwinkel gerade einen Stein auf dem Radweg gesehen habe. Manchmal auch mehrere hundert Meter. Oder ich hebe einen Stein auf, der so klein ist, dass er nun wirklich für niemanden eine Gefahr ist. Der Zwang übertreibt gerne. Der Grund also, warum ich mich im Bus so hinsetze, dass ich möglichst wenig von der Straße und den Radwegen sehe: Ich habe keine Lust darauf, dort irgendetwas zu entdecken, was potenziell eine Gefahr für Radler sein könnte, und noch weniger Lust darauf, deshalb aus dem Bus auszusteigen und nachschauen zu müssen. Oder im schlimmsten Fall: Es sogar weg- räumen zu müssen. Plötzlich aber weckt ein irritierendes Flimmern an einer Häuserwand mein Interesse. Mein Gedanke: Strömt da Gas aus, flimmert das deswegen so merkwürdig? Ich werde unruhiger. Aber nein. Nach kurzer Zeit entdecke ich, es sind nur die Scheinwerfer der Autos, die sich überschneidende Schatten auf die Häuserwand projizieren. Im Winter erschrecke ich


TITEL

mich manchmal über Dampf oder Rauch, den ich nicht zuordnen kann, bis ich Sekunden später erleichtert feststelle: Es ist nur mein Atem in der Kälte.

Tour vermasselt. Da würde ich mich totärgern. Kleiner Scherz.

Bloß nicht totärgern

Das ist leider eine der unangenehmsten Seiten des magischen Denkens: Es sucht sich Handlungen und Rituale im Alltag und besetzt sie dann wie ein kleiner Feldherr. So wie die Produkte im Supermarkt. Oder die Wohnungstür. Ich kann noch einige mehr aufzählen: etwas in den Papierkorb werfen, den Geschirrspüler einräumen, Zähne putzen, den Computer aufklappen, etwas auf Facebook liken, am Fernseher auf einen anderen Sender umschalten. Alles ist möglich. Das magische Denken vereinnahmt diese Handlungen und Rituale und sagt einem: Mach das noch einmal. Aber richtig. Also so, wie ich, dein Zwang, mir das vorstelle. Sonst passiert etwas Schlimmes. Und dann wird man, wenn man nicht aufpasst, schnell der Typ, der zehn Mal hintereinander dasselbe Stück Müll in den Papierkorb wirft, bis es endlich „richtig“ ist. Es fühlt sich manchmal so an, als wäre ich behindert. Was es ja eigentlich auch ganz gut trifft. Denn ich werde in meinem Leben sehr oft von meinem Zwang behindert. Alles kann für mich zu einem Problem werden. Das ist leider eine der perfidesten Eigenschaften der Zwangskrankheit: Die Dinge, mit denen man Probleme hat, klingen so wahnsinnig banal und alltäglich, dass man sich kaum traut, mit jemandem darüber zu reden. Und so spricht man mit niemandem darüber, bleibt sehr alleine mit seiner Krankheit, vergräbt sich immer mehr in diesem irren Zwangssystem und bekommt mit immer mehr alltäglichen Handlungen ernsthafte Probleme.

Bevor ich die Treppen zur Bar hochgehen kann, hält der Zwang noch eine letzte Offensive bereit: Gerade, als ich die Tür öffnen möchte und das Treppenhaus betreten will, schnappe ich bei Passanten das Wort „Death“ auf. Ich hasse Wörter, die mit Sterben zu tun haben. Also zum Beispiel „Tod“, „Beerdigung“, „Sarg“ und eben auch „Death“. Mein Zwang versteht leider auch Englisch. Alle diese Wörter, so denkt zumindest mein Zwang, können Unglück bringen (manchmal wiederstrebt es mir sogar, das Wort To-do- Liste aufzuschreiben, nur weil „Tod“ darin vorkommt). Ich knicke ein. Diesen Kampf werde ich verlieren. Ich folge dem, was der Zwang mir vorgibt. Das magische Denken ist in diesem Moment stärker als ich. Um das drohende Unglück zu „neutralisieren“, muss ich warten, bis ich ein anderes, weniger bedrohliches Wort höre, bevor ich das Treppenhaus betrete. Was der Zwang mir hier also konkret vorschreibt, lautet folgend: Es bringt Unglück, wenn das letzte Wort, das du hörst, bevor du dieses Gebäude betrittst, „Death“ lautet. Dann stirbt vielleicht jemand, den du kennst. Also schleiche ich mich an zwei herumstehende Männer heran, um einen Fetzen ihrer Unterhaltung mitzubekommen und so ein gutes Wort abzustauben. Sie schauen bereits ein wenig irritiert, weil ich mich augenscheinlich ohne konkretes Anliegen in ihre Nähe stelle, doch es funktioniert. Ich schnappe etwas wie „Ja, morgen oder?“ auf. Perfekt. Vollkommen harmlose Wörter. Damit kann ich arbeiten. Jetzt aber schnell ins Treppenhaus, bevor mir wieder jemand mit einem unangenehmen Wort die

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Der Zwang liebt den Alltag

Die Sache mit dem Loch Eines Tages spazierte ich am Kreuzberger PaulLinke-Ufer entlang und entdeckte mitten auf

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ROUTINE

Wenn Öko zur Routine wird

Viele umweltmoralische Appelle gehen ins Leere. Ökologisch nachhaltiges Handeln kann nur funktionieren, wenn es für alle verbindliche Regeln gibt. Wie ökologisches Handeln im Arbeitsalltag zum Standard werden kann Ein Gastbeitrag von Michael Kopatz

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Foto: picture alliance / Sueddeutsche Zeitung Photo

T I T E L


TITEL

selten werden Fakten verdrängt. Zwar gibt es seit über drei Jahrzehnten Kampagnen und Bildungsinitiativen für den Umweltschutz. Und viele Menschen fliegen inzwischen mit schlechtem Gewissen in den Urlaub. Doch geflogen wird mehr denn je. Fliegen ist zur Routine geworden. Offenbar gelingt es vielen, mit krassen Widersprüchen zu leben: Den Hund verhätscheln und zugleich Billigwürstchen aus martialischer Tierhaltung auf den 800-Euro-Grill legen. Und dann gibt es noch unpolitische Ökos, Menschen, denen Umweltschutz wichtig ist, die stundenlang über Plastikstrohhalme und Bienensterben diskutieren und regelmäßig im Bioladen einkaufen. Menschen, die das Richtige tun wollen, dabei aber unpolitisch bleiben und allenfalls bei Wahlen ihren Beitrag zur Demokratie leisten.

Leben mit Widersprüchen

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er Ausbau von Sonnen- und Windstrom geht voran. In Zukunft wird es allerdings darauf ankommen, die wirtschaftlichen Expansionsziele einzudämmen, um ein ökologisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Denn noch immer wird alles größer, komfortabler, schneller und luxuriöser. Die Wohnungen der Deutschen werden immer geräumiger, die Autos wiegen heute doppelt so viel wie vor 30 Jahren, die Menge der Haushaltsgeräte steigt in gleichem Maße wie der Flugverkehr zunimmt. Das Marketing der Industrie stimuliert diesen Überflusskonsum: Jährlich geben Unternehmen über 30 Milliarden Euro für Werbung aus. Es gibt viele Gründe für das Scheitern von Suffizienz, also den Versuch, durch Genügsamkeit weniger Ressourcen zu verbrauchen. Oft ist es Bequemlichkeit, aber nicht au g u st  /  septem ber 2020

Ökomoral nervt. Vor allem dann, wenn sie scheinheilig ist. Und das ist eigentlich immer der Fall: Rund 80 Prozent der Deutschen plädieren dafür, dass weniger Autos durch die Städte fahren. Tatsächlich lässt aber kaum jemand den Wagen stehen oder schafft ihn gleich ganz ab. Rund 90 Prozent sind angeblich bereit, wesentlich mehr Geld für Fleisch aus artgerechter Tierhaltung auszugeben. Real tun es allerdings nur ein bis zwei Prozent. Über 90 Prozent finden fairen Handel sehr wichtig. Der Marktanteil für fair gehandelte Produkte liegt bei zwei Prozent. Natürlich ist Moral wichtig, sonst gäbe es gar kein Interesse am Klimaschutz. Die breite Mehrheit findet es richtig, den Klimawandel zu bekämpfen. Über 30 Jahre Umweltbildung in Schulen und Universitäten, die Berichterstattung der Printmedien und aufrüttelnde Dokumentationen im Fernsehen haben bewirkt, dass die Menschen bereit für den Schutz der Umwelt sind – mental.

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IM FOKUS 

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M I TA R B E I T E R B I N D U N G


IM FOKUS

Zwischen Effizienz und Bullshit Die Interessen oder auch nur das Wohlbefinden der Mitarbeiter passen nicht in diese Zeit, in der es vor allem um Quartalsergebnisse geht. Wenn Mitarbeiter plötzlich zu Humanressourcen werden, ist es um die Bindung ans Unternehmen schlecht bestellt. Ein Gastbeitrag von Gunter Dueck

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ute Mitarbeiter sind selbstverantwortlich, hochmotiviert, kreativ, wandlungsfähig und empowert; sie gehen eigeninitiativ Extrameilen, sehen immer frisch, gesund und erholt aus und verschreiben sich mit Haut und Haar den Kernzielen des Unternehmens: der radikalen Effizienz und Ausbeutung aller Ressourcen, einer sklavischen Prozessorientierung, der mechanistischen Einzwängung der Mitarbeiter in rigide Regeln, deren Einhaltung akribisch und kleinkariert kontrolliert wird. Und was bedeutet in diesem Kontext „Mitarbeiterbindung“?

Foto: Jeffrey Groeneweg

Beispiel: Flugbegleiter früher und heute

au g u st  /  septem ber 2020

Sehen wir uns ein Beispiel an: Vor 50 Jahren glich das Dasein der damals als Stewards und Stewardessen bezeichneten Flugbegleiterinnen noch einem Traumleben: Der Flugplan war nicht durchoptimiert, die Flugzeuge blieben oft länger am Flughafen, sodass Zeit für Kurztrips in die Umgebung blieb und die Flugbegleiterinnen (zu dem Zeitpunkt waren es vorrangig Frauen) konnten die ganze Welt kennenlernen – was einem Normalbürger zu der Zeit noch verwehrt 63


A N A LY S E

Teilzeitwelt Wer wirklich eine รถkologische Wende anstrebt, kommt um das Thema Arbeitszeit nicht herum: Denn wer viel arbeitet, konsumiert mehr und belastet die Umwelt.

Foto: Artem Zatsepilin / Getty Images

Ein Gastbeitrag von Michael Wenzel

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A N A LY S E

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itte März dieses Jahres startete ein wirtschaftliches und gesellschaftliches Großexperiment: Im Zuge des Corona-Lockdowns wurden fein abgestimmte Arbeitsabläufe und weit verzweigte Lieferketten massiv gestört, ein großer Teil der Arbeitnehmerschaft ins Homeoffice geschickt und – als erste Symptome der aufziehenden ökonomischen Krise – Belegschaften auf Kurzarbeit gesetzt. Viele Menschen haben dennoch aus ihrem persönlichen Blickwinkel auf die Auswirkungen des Lockdowns festgestellt, dass das eigene Leben durchaus an Qualität gewonnen hat; insbesondere, weil Arbeitnehmer wegen eines geringeren Arbeitspensums und weggefallener Fahrtwege mehr Lebenszeit gewonnen haben und dadurch wesentlich freier als zuvor ihr Leben gestalten konnten. Eine Teilzeitwelt entstand. Parallel dazu hat sich der CO2-Ausstoß drastisch reduziert. Sieht man sich diese beiden Phänomene genauer an, zeigt sich, dass es sich um zwei Seiten derselben Medaille handelt. Unsere Art des Wirtschaftens bewirkt im Kern immer einen Energie- und Materialverbrauch: Wir produzieren Dinge und bieten Dienstleistungen an, die gekauft werden sollen. Das ist nicht möglich ohne den Einsatz von Energie und die Verarbeitung von Rohstoffen, indem also in natürliche Stoffkreisläufe eingegriffen wird. Begriffe wie Dekarbonisierung, Divestment oder den des „grünen Wachstums“ verschleiern diese Tatsache allerdings. Dahinter steckt immer der Traum, den Energie- und Materialverbrauch vom Konsumieren zu entkoppeln.

Weil die beschriebene Entkopplung nicht funktionieren kann, ist die einzige wirklich erfolgreiche Lösung, wie der Corona-Lockdown nachdrücklich gezeigt hat, eine ganz andere: die Reduzierung unserer Arbeitszeit. Nur so ist unsere Umwelt vor dem Kollaps zu bewahren. Es wäre an den politischen Entscheidungsträgern, eine Teilzeit für alle sozialverträglich zu gestalten. Die Arbeitszeitreduzierung ist zum Wählerwillen geworden, weil sie trotz aller Probleme von vielen als angenehm und bereichernd erlebt wurde. Allerdings geht der Trend in eine andere Richtung: Es werden hohe Schulden aufgenommen mit dem Ziel, möglichst schnell den Status quo ante wiederherzustellen, nämlich das „Laufen“ der Wirtschaft mit vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmern.

Die Steigerungslogik der Gegenwart Es gibt verschiedene Definitionen des Begriffs der „Moderne“. Ein Verständnis unserer Zeit besteht darin, dass sie einer Steigerungslogik folge: Moderne Gesellschaften können demnach nur insoweit fortbestehen, wie sie ihren Mitgliedern ein immer größeres Maß an Gütern, Erlebnissen, Möglichkeiten und Ähnlichem versprechen und letzten Endes auch gewähren. Das erklärt die beschriebene Paradoxie des aktuellen politischen Handelns: Wenn die Politik zum Ziel hat, das Fortbestehen der modernen Gesellschaft, aus der sie ja erst erwächst, zu sichern, kann sie kaum anders, als die Mechanismen einzusetzen, die sich bisher als einzig wirksam gezeigt haben. Und das sind diejenigen, die der Steigerungslogik unterliegen und sie weiter antreiben. Konkret bedeutet das immer: Es

Foto: Fascinadora / Getty Images

Zurück zum Status quo ante? Allerdings handelt es sich hierbei um eine Utopie. Sieht man sich die grundsätzlichen naturwissenschaftlichen Zusammenhänge an, wird schnell klar, dass es grünes Wachstum nicht geben kann. Weil das jedoch einer gewissen gedanklichen Anstrengung bedarf, glauben viele eher den hoffnungsvoll vorgetragenen Visionen einer klimaneutralen Zukunft. Darunter fallen aktuell auch der Green New Deal der EU und alle Hilfspakete zur Bekämpfung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie, die man mit Zukunftsinvestitionen in grüne Technologien verbindet. au g u st  /  septem ber 2020

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P R A X I S

7 GEDANKEN

Achtung! Ansteckend! Jede Veränderung beginnt mit einem Gedanken. Hier sind sieben zur Angst in der Krise

Angst ist niemals rational Jedes Jahr sterben sieben Menschen an Spinnenbissen und acht Millionen an den Folgen des Rauchens. Dennoch haben mehr Menschen Angst vor Spinnen als vor dem Rauchen. Wie kann das sein? In Kürze: Angst ist niemals rational. Wir überschätzen die einen Ängste und unterschätzen die anderen. Obwohl jeder weiß, dass es gefährlich ist, beim Autofahren aufs Handy zu gucken, ist genau das die Ursache jedes vierten tödlichen Unfalls.

Angst ist ansteckend Angst ist erlernt. Wir übernehmen sie von anderen Menschen in unserem Umfeld. Dieser Schutzmechanismus sicherte unseren Vorfahren das Überleben. Seit Monaten sehen wir in den Medien Bilder von Menschen in Schutzanzügen und von Leichen, die in Kühl70

häusern gestapelt werden. Die Gefahr ist zwar real. Aber dadurch, dass wir unsere Wahrnehmung fast ausschließlich auf das Virus richten, übersehen wir andere Risiken, die es bereits gab oder erst durch den Lockdown entstanden sind: Bewohner in Altersheimen starben an Einsamkeit, viele Menschen bewegten sich zu wenig mit entsprechenden gesundheitlichen Folgen wie Diabetes. Es ist zu erwarten, dass die Suizidrate stark steigen wird, wie es immer der Fall ist bei wirtschaftlichen Krisen. Auch hat die häusliche Gewalt nachgewiesenermaßen zugenommen. Ein einseitiger Fokus verzerrt unsere Risikoeinschätzung. Als das in tropischen Gebieten verbreitete West-NilVirus bekannt wurde, war die Angst vor einer Ansteckung groß. Dabei wurden andere Risiken in warmen Ländern unterschätzt: die Gefahr an Hautkrebs zu erkranken oder einer Lebensmittelvergiftung zu erliegen.

Urängste versus erlernte Ängste Wenn man einem kleinen Affen ein Video vorspielt, in dem sich ein anderer Affe vor einer Schlange ängstigt, dann

bekommt der kleine Affe ebenfalls Angst vor Schlangen. Zeigt man dem kleinen Affen hingegen ein Video, in dem ein anderer Affe Angst vor einer Blume hat, dann übernimmt er diese Angst nicht. Warum? Es gibt Urängste, die in unserem Gehirn bereits angelegt sind und die durch soziales Lernen aktiviert werden. Die Angst vor einem ansteckenden Virus gehört dazu.

Langfristig zu kurz ­gedacht Wir sind evolutionär darauf programmiert, Angst vor Ereignissen zu haben, bei denen viele Menschen auf einmal sterben könnten. Wir haben weniger Angst vor Gefahren, bei denen ebenso viele Menschen oder mehr sterben, wenn das über einen längeren Zeitraum geschieht. So fürchten Menschen einen Flug-


PRAXIS

Die Angst vor dem Neuen Eine andere Wahrnehmungsverzerrung ist der Novelty Bias, die Angst vor dem Neuen: Jedes Jahr sterben laut WHO 2,3 Millionen Menschen durch ärztliche Kunstfehler. Und doch haben Menschen erst seit dem Coronavirus Angst, ins Krankenhaus zu gehen und sich dort anzustecken. Warum? Weil das Virus neu ist. Unser Gehirn verarbeitet unbekannte Reize stärker. Ein neuer Pilz könnte giftig sein, der neue Kollege könnte einem übel mitspielen wollen. Neue Reize aktivieren das Dopaminsystem im Gehirn und werden dann bevorzugt verarbeitet. Deswegen müssen auch ständig medial „News“ produziert werden. Das Virus vom letzten Jahr interessiert dann niemanden mehr.

Fotos: Painting of Marseille during the outbreak of a pandemic in 1720 by Michel Serre / wikimedia; Stephan Brendgen Fotodesign

Unser Steinzeitgehirn in der Gegenwart

zeugabsturz mehr als einen Unfall im Straßenverkehr, wenngleich im vergangenen Jahr weltweit „nur“ 287 Menschen bei einem Flugunglück ums Leben kamen, im Vergleich dazu weltweit aber jährlich 1,35 Millionen Menschen im Straßenverkehr. Deswegen macht uns ein neues Virus mehr Angst als eine ständige Gefahr wie die Luftverschmutzung, durch die jährlich acht Millionen Menschen ihr Leben verlieren. Es handelt sich bei dieser verzerrten Wahrnehmung um den sogenannten Hyperbolic Discounting Bias: Demnach neigt das menschliche Gehirn dazu, sich auf kurzfristige und unmittelbare Gefahren zu konzentrieren, wie zum Beispiel auf eine möglicherweise giftige Spinne oder ein neues Virus, und langfristige und komplexe Gefahren auszublenden, wie zum Beispiel die Folgen des Rauchens. au g u st  /  septem ber 2020

Nun könnte man sagen: Die Natur hat das klug eingerichtet, denn diese Mechanismen schützen unser Überleben und sind sinnvoll. Unser Gehirn hat sich seit der Steinzeit allerdings nicht großartig verändert, es ist immer noch für die Risiken der Steinzeit optimiert, obwohl wir in einer völlig anderen Welt leben. Deswegen fällt es uns auch so schwer, mit den Risiken einer vernetzten und globalen Welt kompetent umzugehen. Ein Beispiel: Im Jahr nach den Anschlägen des 11. September in New York gab es in den USA 1.600 mehr Verkehrstote als normalerweise. Warum? Die Menschen hatten Angst vor dem Fliegen und nutzten das Auto deswegen für längere Strecken. Sie überschätzten das Risiko des Fliegens und unterschätzten das Risiko einer Autofahrt. Wie lange müssen Sie Auto fahren, um das Todesrisiko eines Flugs von New York nach Washington zu erreichen? 19 Kilometer. Das entspricht in vielen Fällen in etwa dem Weg von zu Hause

zum Flughafen. Menschen, die Angst haben, bringen sich dadurch oft erst in Gefahr.

Risiken ins Verhältnis setzen Menschen in Angst entwickeln einen Tunnelblick. Das Frontalhirn, das für das logische Denken zuständig ist, schaltet sich aus. Wir gehen stattdessen in einen Bedrohungsmodus. Emotionen steuern dann unser Handeln. Was können wir tun, um Risiken besser einzuschätzen? Es hilft, wenn wir die Zahlen nicht isoliert betrachten, sondern ins Verhältnis setzen. Weltweit sind bisher etwa eine halbe Million Menschen im Zusammenhang mit SARS-CoV-2 gestorben. Ob das viel oder wenig ist, versteht man nur, wenn man diese Zahl mit anderen Risiken vergleicht: 18 Millionen Menschen sterben jedes Jahr an Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zehn Millionen Menschen sterben jedes Jahr an Krebs. Eine halbe Milliarde Menschen könnte durch die Wirtschaftskrise in die Armut abrutschen. Hundertausende Kinder werden noch dieses Jahr an Hunger sterben. Sind Sie schon einmal auf einen Stuhl geklettert, um eine Spinne einzufangen? Ich bekenne mich schuldig! Jedes Jahr sterben 646.000 Menschen durch Stürze. Viele davon zu Hause.

Die Neurowissenschaftlerin Friederike Fabritius hat beim Max-Planck-Institut für Hirnforschung gearbeitet und war bei McKinsey im Management Consulting tätig. Die 38-jährige Speakerin ist Lead-Autorin des Buchs „The Leading Brain. Neuroscience Hacks to Work Smarter, Better, Happier“.

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RECHT

Krankschreibung: Was ändert sich (nicht)? Ein Essay von Michel Hoffmann

Die bekannte Routine zum „gelben Schein“ wird sich grundlegend ändern. Die bisherige Bescheinigung in Papierform soll abgeschafft werden. Welche Auswirkungen das hat und worauf Personaler bei einer OnlineKrankschreibung unbedingt achten sollten

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Illustration: Marcel Franke | www.typophob.de

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ie Digitalisierung im Gesundheitswesen hat in den letzten Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen. Im Zuge dessen soll ab dem 1. Januar 2022 der Arbeitgeber auf Abruf elektronisch durch die Krankenkassen sowohl über Beginn und Dauer der Arbeitsunfähigkeit seines gesetzlich versicherten Arbeitnehmers als auch über den Zeitpunkt des Auslaufens der Entgeltfortzahlung informiert werden. Einer Übergabe der AU-Bescheinigung durch den Arbeitnehmer bedarf es dann nicht mehr. Der klassische „gelbe Schein“, wie man ihn bisher kannte, wird dann weitgehend verschwinden. Das hat zur Folge, dass die jährlich knapp 80 Millionen AU-Bescheinigungen in Papierform weitgehend hinfällig werden. Für die Wirtschaft soll sich der Bürokratieaufwand um bis zu circa 550 Millionen Euro verringern. Erst einmal dürften aber die Umstellung der Prozessketten im Unternehmen und die Abstimmung mit den zur Abrechnung beauftragten Dienstleistern Mehrkosten verursachen. Denn Arbeitnehmer sind nach der nunmehr verabschiedeten Neuregelung lediglich noch verpflichtet, die Arbeitsunfähigkeit beim Arbeitgeber unverzüglich anzuzeigen. Der Arbeitgeber muss dann sicherstellen, dass er die elektronisch hinterlegten Daten bei der Krankenkasse


IMPRESSUM

abruft beziehungsweise einen Dritten unmittelbar informiert, damit die Daten abgerufen und für die Entgeltabrechnung berücksichtigt werden. Im Falle einer geringfügigen Beschäftigung (Minijob), muss der Arbeitgeber die Daten bei der Minijob-Zentrale abrufen. Die Regelung betrifft zunächst lediglich gesetzlich krankenversicherte Arbeitnehmer. Ob und wann auch die privaten Krankenversicherungen eingebunden werden, ist aktuell noch unklar. Eines ist aber gewiss: In Zukunft entfällt der Ärger um die Frage der Vorlagepflicht und des korrekten Zeitpunkts der Vorlage. Ganz ohne gelben Schein soll es aber erst einmal (noch) nicht gehen. Der Arbeitnehmer erhält vom Arzt weiterhin eine Ausfertigung der AU-Bescheinigung (statt wie bisher drei), um in Störfällen (etwa einer fehlgeschlagenen Übermittlung im elektronischen Verfahren) das Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit im Zweifel nachweisen zu können.

Die Online-Krankschreibung als Zukunftsmodell? Neues gibt es aber nicht nur zur Frage der Form der AU-Bescheinigung, sondern auch zu ihrer Erlangung. Mediale Beachtung hat bereits im vergangenen Jahr die Möglichkeit gefunden, mit wenigen Mausklicks online eine AU-Bescheinigung zu bestellen, ohne einen Arzt gesprochen oder gar gesehen zu haben. Möglich wurde das durch eine Änderung in der Musterberufsordnung der Ärzte, wonach die Behandlung über Fernkommunikationsmittel in Ausnahmefällen erlaubt ist, um primär die Versorgung in ländlichen Gebieten sicherzustellen. Jüngst hat auch der Gemeinsame Bundesausschuss die Änderung der Arbeitsunfähigkeitsrichtlinie dahingehend in Aussicht gestellt, dass künftig eine Krankschreibung per Videosprechstunde grundsätzlich möglich sein soll. Pionier auf dem Gebiet der Online-Krankschreibung ist das Hamburger Start-Up AU-Schein GmbH. Der dort angebotene vollautomatisierte Bestellprozess einer AU-Bescheinigung ohne ärztlichen Kontakt und mit der beliebigen Änderung vermeintlicher Symptome ist aber weder mit den wettbewerbsrechtlichen noch mit den berufsrechtlichen Regelungen zu vereinbaren. Es gibt mittlerweile auch Unternehmen, die primär auf den telemedizinischen Kontakt zwischen Arzt und Patienten (etwa via Videotelefonie) setzen und damit einen deutlich anderen Weg einschlagen. Auch in der Corona-Krise hat sich die telemedizinische Beratung und Versorgung von Vorteil erwiesen. Das scheint der Grund zu sein, weshalb der Gemeinsame Bundesausschuss künftig die Krankschreibung per Videosprechstunde ermöglichen will. Offenbar soll die AU-Bescheinigung per Videosprechstunde jedoch nicht schrankenlos gewährleistet werden. Erforderlich ist, dass die Versicherten in der Arztpraxis bereits bekannt sind und die Art der Erkrankung eine Behandlung via Videosprechstunde zulässt. Zeitlich soll die erstmalige Feststellung der Arbeitsunfähigkeit auf einen Zeitraum von sieben Tagen beschränkt sein. Die Ausstellung einer au g u st  /  septem ber 2020

Herausgeber Rudolf Hetzel Torben Werner (V. i. S. d. P.) Redaktion Hannah Petersohn (hp) Chefredakteurin hannah.petersohn@quadriga.eu Autoren der Ausgabe Gunter Dueck, Friederike Fabritius Karlheinz Geißler, Vivika Gramke Michel Hoffmann, Michael Kopatz Niclas Lahmer, Susanne Riedel Julia Schäfer, Christoph Schönfelder Reinhard K. Sprenger, Arjan Toor Pascal Verma, Michael Wenzel Peter Wittkamp, Gerold Wolfarth Lektorat Christa Melli www.literatur-und-film.de Gestaltung Marcel Franke Kristina Haase Anzeigen Norman Wittig norman.wittig@quadriga.eu Abonnement Stefanie Weimann aboservice@quadriga.eu Druck PIEREG Druckcenter Berlin GmbH Benzstraße 12 12277 Berlin Im Internet www.humanresourcesmanager.de/ magazin Verlags- / Redaktionsanschrift Quadriga Media Berlin GmbH Werderscher Markt 13 10117 Berlin Telefon: 030 / 84 85 90 ­ Fax: 030 / 84 85 92 00 redaktion@humanresourcesmanager.de

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Die Ausbalancierte Ein Krankenhausalltag ist geprägt von ­Routinen. Das schafft zwar Verlässlichkeit, kann im Notfall aber lähmen. Julia Schäfer ist Personal­entwicklerin am Universitätsklinikum Bonn und weiß: Es kommt auf die Balance an.

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Um den Erfolg routinierter Abläufe nicht zu gefährden, muss man … Personal kontinuierlich weiterbilden und personellen Bedarf genau erfassen, Abläufe dokumentieren und durch Mentoren begleiten. Bei großem Stress hilft Routine dabei … Sicherheit zu spüren, konzentriert zu arbeiten und sich auf etablierte Prozesse verlassen zu können. Es muss eine gute Balance zwischen Routine und Offenheit für Unerwartetes geben. Ein permanenter Ausnahmezustand ist nervlich belastend und ein Zeichen mangelnder solider Fachexpertise. Ein Rat, der mir oft weitergeholfen hat, ist … Tempo rausnehmen und den Arbeitstag nach maximal zehn Stunden enden lassen. Personalentwicklung ist für mich eine Herzensangelegenheit, weil … ich davon ausgehe, dass jeder Mensch über Potenzial, das es zu entdecken gilt, verfügt. Die idealen, komplementären Teams zusammenzustellen und Mitarbeitende zum Engagement und Empowerment in eigener Sache zu motivieren. Es macht einfach Spaß, Menschen aufblühen zu sehen, wenn man ihnen ernsthaft zuhört und sie gezielt fördert. Was ich in der Personalentwick­ lung noch häufig vermisse, ist … strategische Kompetenzentwicklung

in Krankenhäusern und die Offenheit und Affinität für digitale Instrumente im Hinblick auf HR Diagnostics. Dazu kommt die fehlende Einschätzung, dass Personalentwicklung ein zentraler Baustein der Unternehmensstrategie sein sollte. Als Kind wollte ich … erst Allgemeinmedizinerin, dann Balletttänzerin und später Professorin werden. Vorbilder meiner Jugend waren … Pippi Langstrumpf, wegen ihrer heiteren, anarchischen Art und Power, und Maurice Béjart, wegen seiner tänzerischen Kreativität, Modern Dance und Ballett zu kombinieren. Ich rate Frauen, die Führungsposi­ tionen anstreben, dass … sie nicht übermäßig selbstkritisch sind, ihr Netzwerk für sich nutzen und mit der Macht spielen. Zudem sollten sie sich intensiver verbünden und Fachlichkeit mit Charme verbinden. Die Fragen stellte Hannah Petersohn

Julia Schäfer leitet die Personalentwicklung beim Universitätsklinikum Bonn (UKB) und ist Mitherausgeberin des Sammelbands „SOS Krankenhaus. Strategien zur Zukunftssicherung“. Im UKB werden jährlich etwa 50.000 Patienten stationär versorgt und über 350.000 ambulante Behandlungen vorgenommen.

Foto: UKB

Ein guter Morgen beginnt für mich … mit einer Tasse Earl Grey und frischer Luft, dazu eine gute Zeitung (am Wochenende) oder ich höre ein politisches Feature im Radio während meines Arbeitswegs. Routine bedeutet für mich … Fall-back-Option, Kontinuität, Verlässlichkeit, aber auch das Risiko der unreflektierten Fortführung ineffektiver, aber gewohnter und vertrauter Prozesse. Routine heißt eingeübte Praxis, sie ist das Gegenteil von Improvisation und spontaner oder situativer Entscheidung. Routine in einem Krankenhaus ist wichtig, weil … sie alltägliches Handeln sichtbar macht und mithilfe einer Feedbackkultur verbessert. Um eine Routine zu etablieren, bedarf es … einer systematischen Bestandsaufnahme, sowohl personell, materiell als auch prozessual, eines analytischen Blicks auf den Status quo, einer offenen und kritischen Infragestellung anderer Routinen und die Zielorientierung einer vielleicht neu zu etablierenden Routine. Gewohnheiten im Krankenhaus­ alltag können hinderlich sein, wenn … sie eine Sicherheit vorgaukeln, die für außergewöhnliche Ereignisse nicht mehr sensibel ist.


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