Human Resources Manager Magazin

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EDITORIAL

Hürdenschizophrenie

Cover: gettyimages, unsplash [Montage]

A

ngesichts der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Lage ist der Ruf nach dem Überwinden von Hürden beinahe penetrant laut geworden. Gebetsmühlenartig werden wir beschworen, Hindernissen zu trotzen, aus Krisen gestärkt hervorzugehen und unsere Widerstandsfähigkeit zu stärken. Doch nicht immer war eine Hürde etwas, das es zu überwinden galt: Einst verstand man darunter ein Flechtwerk aus Zweigen, das für die Umzäunung einer Herde genutzt wurde. Während Hürden also etwas Positives waren, das eben gerade nicht überwunden werden sollte, wird man heute beinahe genötigt, sie – bestenfalls lächelnd und siegessicher – zu bezwingen. Verweigerung hat einen schlechten Stand. Sie gilt als feige und faul. Und so hat sich Ende des 19. Jahrhunderts aus diesem Streben eine olympische Disziplin entwickelt: der Hürdenlauf. Dabei gilt es, Hürden, die in regelmäßigen Abständen aufgestellt werden, zu überwinden, ohne sie umzuwerfen. Die Hürde wird damit im Zuge der industriellen Revolution etwas, das unberührt genommen werden soll. Rennt ein Athlet an der Hürde vorbei, wird er disqualifiziert. Kneifen gilt nicht. Während die einen Hürden suchen und eine ganze Disziplin aus deren Überwindung machen, stellt das Leben anderen ungewollte Hindernisse in den Weg: Hülya Marquardt wurde mit Fehlbildungen an Armen und Beinen geboren. Im Alter von 18 Jahren mussten ihre Beine amputiert werden. Nun könnten jene ohne körperliche Einschränkungen meinen, ein Leben, j u ni  /  j ul i 20 20

wie sie es selbst kennen, bliebe der jungen Frau verwehrt. Ein Irrtum, der in erster Linie unsere Erwartungshaltungen und Vorurteile entlarvt. Hülya Marquardt hat einen Partner, ist Angestellte bei der Handwerkskammer und wurde vor kurzem Mutter. Sie kennt kein Leben ohne Hürden und hat, gleichwohl es unsere auf Normen fixierte Gesellschaft ihr sicher nicht immer leicht gemacht hat, Wege gefunden, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Nun lässt sich fragen: Besteht die Hürde für einen Menschen jenseits des lächerlichen Zwangs zur Normerfüllung wirklich in seiner körperlichen oder psychischen Einschränkung? Oder ist unsere Gesellschaft schlichtweg voll von Hürden für all jene, die den Normen nicht entsprechen können oder wollen? Und das betrifft offensichtlich immer mehr Menschen, angesichts der steigenden Arbeitsausfälle bedingt durch psychische und physische Erkrankungen. Stets sollen wir agil, flexibel und anpassungsbereit auf alle Veränderungen des (Arbeits-)Lebens reagieren. Wer einhält, reflektiert und kritisiert, behindert den Ablauf und mindert den Gewinn. Jene, die stören, werden dann rasch als Hemmnis, noch lieber als Hemmschuh, bezeichnet. Wer aus dem „neoliberalen Skript der wünschenswerten Persönlichkeit“, wie die Soziologieprofessorin Eva Illouz es formuliert, herausfällt, wer nicht begeistert jede auch noch so offensichtlich törichte Veränderung mit offenen Armen empfängt, wird gezwungen zu gehen. Warum? Weil der neoliberale Kapitalismus keinen Reibungsverlust duldet. Und so werden auch unsere

Körper zu etwas, das sich geschmeidig den Erfordernissen des Marktes anpassen soll. Zu dick, zu klein und unproportioniert? Ein Ärgernis, das die Norm und Normalitätserwartung unterwandert. Wer aus diesem Passepartout herausfällt, ob nun gewollt oder ungewollt, wird zum Problem. Gleichwohl doch gerne jedes Problem als Herausforderung deklariert wird, gibt es Unterschiede: Die Schwierigkeiten, die das System und die Sehnsucht nach Profit dem Individuum auferlegen, heißen Herausforderungen. Und auf diese sollen sich Menschen einstellen und sich ihnen anpassen, bis das Gefühl, es handele sich um eine unerträgliche Situation, einer tauben Genügsamkeit gewichen ist. Rührt jedoch das Individuum selbst auf, bemängelt die Umstände und richtet den Finger auf systemimmanente Schwachstellen, wird es selbst zum Problem. Manches Unternehmen betrachtet diesen problematischen Angestellten dann bei Weitem nicht mehr als Herausforderung, an der es zu wachsen gilt, sondern als Ballast, der rasch beiseite geräumt werden soll. Doch ist gerade das – erinnern wir uns einmal an die olympische Disziplin des Hürdenlaufs – Grund zur Disqualifikation. Oder um es ganz einfach zu sagen: Es ist feige und faul.

Hannah Petersohn, Chefredakteurin Human Resources Manager

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18 Resilient im Krisenkapitalismus? Ein Gespräch über die Tücken des Anpassungsdrucks und warum nicht allein das Individuum für die Über­ windung von Hürden verantwortlich ist

MEINUNG 3

Editorial TITEL

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Schnappschuss

10 Einhornkapitalismus Was Personaler von Start-ups lernen können und warum Digitalisierung auch nicht alles ist

14 Gemeinsam aus der Krise Gerade in Krisenzeiten ist es schwer, den Draht zu den Mitarbeitern zu halten. Wie Chefs ihre Angestellten dennoch erreichen und welche Rolle Empathie dabei spielt 18 Erschöpfende Resilienz Widerstandsfähigkeit ist das neoliberale Credo der Gegenwart. Die Soziologin Stefanie Graefe über Anpassungsdruck, Burn-out und die wahren Hürden hinter manchen Schwierigkeiten. Ein Gespräch 28 Hürdenläufer Eine Bilderstrecke über Menschen, die jenseits von Normen, Vorurteilen und Klischees an ihren Träumen festgehalten haben

36 Gute Führung, schlechte Führung Der Leadership-Experte Jürgen Weibler spricht im Interview über ein schwer zu fassendes Phänomen: Bad Leadership 42 Du Ignorant! Renitenz ist ein beliebtes Stilmittel im sozialen Miteinander. Warum argumentieren auch nicht immer weiterhilft. Zehn Widerstandsregeln 44 Keine Standardlösung Die Bürogestaltung kann An­ gestellte vor ziemliche Hürden stellen. Katharina Dienes, Architektin und Mitarbeiterin am Fraunhofer-­Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation, über gelungenes Arbeitsplatzdesign. Ein Interview 48 Bewerberblockade Fünf Fehler, die Personaler im Recruiting unbedingt vermeiden sollten

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Start-ups mit rosigen Zukunfts­ aussichten gelten als Einhörner. Was können sich Personaler von ihnen abgucken?

Fotos: Meritt Thomas/unsplash, picture alliance, Stefan Schmerold, Dennis Marquardt

6 Meine Arbeitswelt Larissa Zeichhardt ist Geschäftsführerin einer Elektromontage­ firma. Die Pandemie hat auch ihren Arbeitsalltag verändert


64 Warum Personaler und Arbeitsrechtler dringend zusammen arbeiten

I M FO K US : R e cr u iting

sollten

RECHT

52 The Show Must Go On! Wie die Corona-Krise das Recruiting verändert

62 Urteile

A N A LYS E 56 Gegen jede Regel Um Mitarbeiter klug zu führen, bedarf es eines fantasievollen Regelverstoßes

64 Essay Arbeitsrechtler werden von Personalern oft zu spät in Prozesse eingebunden. So entstehen Hürden, die im Nachhinein schwer zu überwinden sind 65 Impressum

P RA X IS VE RBAND 60 Sieben Gedanken Zwischen Nähe und Distanz: Arbeitszeitengestaltung in Zeiten von Social Distancing

68 Editorial 69 Verbandsangebote Webinare, digitales Mitglieder­ forum und digitalisierter Kongress. Ein Überblick 70 Kopf in den Sand? Fünf Verbandserfahrungen aus Krisenzeiten 73 Termine

28 Hülya Marquardt ist eine von acht Personen aus unserer Bilderstrecke, die trotz großer Hürden ihre Wünsche und Träume verwirklicht haben

LET Z T E SEIT E 74 Fragebogen Auf sie hat die traditionell geprägte Sanitärbranche nicht gewartet. Dennoch hat es Mareike Wächter im Handwerk an die Spitze geschafft


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MEINUNG

Schnappschuss

Foto: picture alliance

„Das hätte ich sein können“, sagte Kenneth Frazier, CEO des millionenschweren Pharmakonzerns Merck, kürzlich in einem Interview. Frazier sprach von George Floyd, einem Afroamerikaner, der starb, weil ihm ein weißer Polizist das Knie ins Genick drückte, bis sein Opfer erstickte. In dem Video, das sein qualvolles Sterben zeigt, ruft der erwachsene Mann zum Schluss nur noch: „Mama! Mama!“ Zuvor presst er immer wieder heraus: „Ich kann nicht atmen.“ Dieser Satz wurde zum Symbol für die Ohnmacht, der Afroamerikaner angesichts des grassierenden Rassismus in den USA ausgeliefert sind. Seit dem Mord an Floyd reißen die Proteste nicht ab. Sie geben Hoffnung auf eine neue, vielleicht endlich dauerhafte Bürgerrechtsbewegung. Und auch Unternehmer und Manager beziehen politisch Stellung. So wie Kenneth Frazier, der ebenfalls Afroamerikaner ist. Das Time Magazine zählt ihn zu den einhundert einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt. Frazier ist einer von insgesamt nur vier Afroamerikanern in den 500 umsatzstärksten US-Unternehmen, die die Zeitschrift Fortune jährlich in den „Fortune 500“ listet. Zu seiner hohen Position, sagt Frazier, sei er jedoch nicht durch seine harte Arbeit und seine exzellenten Abschlüsse gekommen, sondern nur weil ihm jemand in seiner Laufbahn eine Chance dazu gegeben habe – eine Chance, die viele andere Afroamerikaner nie erhielten. (hp)

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Von Einhörnern lernen Investoren von Start-ups sind immer auf der Suche nach dem nächsten Einhorn, also einer Firma, die eines Tages eine Milliarde Euro oder mehr wert ist. Es gibt mittlerweile unzählige Einhörner in den USA und China. Was kann HR von ihnen lernen? Neun Impulse

Foto: Meritt Thomas/unsplash

Ein Gastbeitrag von Joël Luc Cachelin

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MEINUNG

I

m Jahr 2013 führte die Vermögensverwalterin Aileen Lee den Begriff „Unicorn“ für Start-ups ein, deren Wert Investoren mit über einer Milliarde Dollar bewerten. Sie fand damals 38 dieser Einhörner in ihrer US-amerikanischen Datenbank. CB Insights, ein Dienstleister für Finanzinformationen, schätzt die Anzahl von zukunftsträchtigen Start-ups mittlerweile weltweit auf über 450. In den vergangenen sieben Jahren hat sich die Population der Einhörner in kurzer Zeit mehr als verzehnfacht und über den ganzen Planeten verteilt. Die meisten Einhörner gibt es in China und den USA. Europa hat vergleichsweise nur wenige von ihnen. Das ist deswegen problematisch, weil nur aus ihnen mächtige Unternehmen der Zukunft hervorgehen werden – und Europa bereits heute nicht ganz oben im digitalen Wettbewerb mitspielt. Die meisten dieser Start-ups sind in den Bereichen Fintech, Software und Internet Services tätig. Typisch sind ihre neuen Technologien und Geschäftsmodelle. Viele von ihnen streben nach Disruption, einer Neuordnung der Märkte oder sogar der Gesellschaft als Ganzes. Dazu erzählen sie fantastische Geschichten: Tesla-Gründer Elon Musk will mit seiner Traumfabrik Spacex zum Beispiel auf Asteroiden Rohstoffe abbauen. In ihren Geschäftsmodellen setzen die Einhörner auf Plattformen: Taxis, Essenslieferungen oder Ferienwohnungen werden online angeboten und vermarktet, die in

Anspruch genommenen Dienstleistungen direkt verrechnet. Die Plattformen werden umso wertvoller, je mehr Kunden und Angebote sie vereinen. Deshalb gilt es, um jeden Preis zu wachsen. Die Einhörner hoffen, aus den resultierenden Daten neues Wissen zu generieren und neue Märkte zu erobern. An der Spitze des Rankings stehen zwei chinesische Plattformen: Bytedance, das Unternehmen hinter der App Tiktok, die bei Teenies sehr beliebt ist, und Didi Chuxing, das chinesische Uber-Pendant. Zu den Top Ten des Klubs gehören weiter der Zahlungsabwickler Stripe und Airbnb.

Eine eindimensionale digitale Zukunft Aus der Innovationsperspektive fallen zwei Dinge kritisch auf: die Dominanz der US-amerikanischen und chinesischen Einhörner und wie einheitlich diese die Zukunft denken. In der Tendenz setzen sie aufgrund der erwünschten Netzwerkeffekte alle auf einen Megatrend: die Digitalisierung. Sie wollen Märkte privatisieren und Plattformen mit vielen Daten und großer Marktmacht sein. Zudem ist ihr Umgang mit Daten wenig zimperlich. Das erlaubt ihnen Dinge früher und aggressiver als europäische Unternehmen zu tun. Zwar arbeiten die Einhörner alle an der Zukunft, es fehlen jedoch Unternehmen, die sich Megatrends unabhängig von digitalen Technologien widmen. Bisher behan-

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HÜRDEN


TITEL

Empathie im Krisenmodus Ein Gastbeitrag von Dieter Lederer

D

ie gegenwärtige Pandemie fördert bei Unternehmern und Managern zum Teil eigenartige Verhaltensweisen zutage, die das Vertrauen der Mitarbeiter auf die Probe stellen. Man denke nur an das Ansinnen des Sportartikelherstellers Adidas, die eigenen Kassen durch verweigerte Mietzahlungen zu schonen. Oder an den Scooter-Verleiher Bird, der hunderten Mitarbeitern gleichzeitig und respektlos per Videocall die Kündigung ausspricht. Und dann wäre da noch der DaimlerCEO Ola Källenius, der seinen Managern bei der Kündigung von über 10.000 Beschäftigten allen Ernstes empfiehlt, jenen Mitarbeitern mit einer ungemütlichen Zukunft im Konzern zu drohen, die ihrer Entlassung nicht zustimmen. Die Welt steht Kopf und viele, die Sicherheit geben und Vertrauen ausstrahlen sollen, tun das genaue Gegenteil davon. Die Krise wirft Führungskräfte auf archaische Reflexe zurück, die von nackter Angst getriggert werden. Der Schaden ist immens und von Dauer.

Hohe Bereitschaft, geringe Kompetenz Wenn es Führungspersonen nicht gelingt, Menschen von sich und den Unternehmenszielen zu überzeugen, fehlt es ihnen vor allem an einem: Empathie. Dieser Mangel ist die j u n i  /  j u l i 20 20

Der Corona-Schock sitzt tief. Viele Unternehmen kämpfen, manche gar um ihre Existenz. Empathie ist die Voraussetzung, um die Mitarbeiter auf einen gemeinsamen Weg aus der Krise einzuschwören.

größte Hürde im Umgang mit der Krise. Eigentlich sollten Krisenmanager derzeit leichtes Spiel haben, schließlich ist die Handlungs- und Veränderungsbereitschaft der Belegschaft allein durch den Schock der Krise ungeahnt hoch. Mitarbeiter müssen momentan nicht umständlich von Notwendigkeiten überzeugt werden. Es könnte ihnen leicht nahegebracht werden, dass nun zügig vieles anders gemacht werden muss, und es gälte lediglich, dieses Momentum zu nutzen. Doch genau das gelingt Führungskräften häufig nicht. Das heißt, es fehlt ihnen an der Kompetenz, geeignet mit der Krise umzugehen. Statt Zustimmung erzeugen viele Führungskräfte in ihren Unternehmen Chaos. Die Folge sind massive Image- und Vertrauensschäden. Dieser hoch bedenkliche Effekt ist derzeit auch in der Politik täglich zu sehen. Die USA, England und Brasilien sind beste Beispiele dafür, wobei die Konsequenzen hier wesentlich bitterer sind als in der Wirtschaft, geht es doch um Zehntausende von Menschenleben. Um den Schock in der Krise zu einer Triebfeder zu machen, brauchen Führungskräfte Empathie. Doch der Weg dahin ist beschwerlich, steht er doch häufig im Widerspruch zur Sozialisierung von Führungskräften als rational handelnde Manager, die mit klarer Kante zeigen, wo es langgeht. Die Krise allerdings ändert viele Vorzeichen und führt zu 15


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HÜRDEN

Mach doch mal Yoga! 18


TITEL

Ein Interview von Hannah Petersohn

Resilienz boomt, gerade in Krisenzeiten: Nicht nur Menschen, sondern auch Unternehmen, Finanzmärkte oder Ökosysteme sollen mittlerweile resilient sein. Aber wozu taugt die Widerstandsfähigkeit wirklich? Die Soziologin Stefanie Graefe über Resilienz im Krisenkapitalismus und darüber, wie Hürden wirklich genommen werden sollten

Foto: picture alliance

Frau Graefe, die Pandemie hat den Ruf nach Krisenfestigkeit und Anpassungsfähigkeit, auch als Resilienz bezeichnet, verstärkt. Worum handelt es sich dabei eigentlich? Ursprünglich kommt der Begriff aus der Materialwirtschaft und geht zurück bis ins 19. Jahrhundert. Mit Resilienz wurde ein elastisches Material bezeichnet, das nach einer Einwirkung von außen schnell wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückkehrt. Wenn in den Medien heute von Resilienz die Rede ist, dann ist damit meistens die psychologische Resilienz gemeint. Dieses Konzept geht auf eine Langzeitstudie der US-amerikanischen Psychologin Emily Werner zurück, die über vier Jahrzehnte lang auf der hawaiianischen Insel Kauai durchgeführt wurde. Dabei hat man festgestellt, dass ein bestimmter Teil jener Kinder, die eine schlechte Zukunftsprognose hatten, weil sie aus schwierigen sozialen Verhältnissen kamen, sich überraschend „gut“ entwickelt haben – gemessen an der Normalitätserwartung der Gesellschaft. Werner und ihr Team haben für diese Menschen den Begriff „Resilienz“ geprägt und die Faktoren untersucht, die sie von anderen Menschen unterscheiden. Ihr zentrales Merkmal war, dass es ihnen trotz widriger Umstände gelang, Situationen positiv zu gestalten. Wie viele Menschen sind resilient? Ich bin keine Psychologin, aber in der Kauai-Studie waren es ungefähr ein j u n i  /  j u l i 20 20

Drittel der Kinder mit schlechter Prognose, die sich überraschend gut entwickelt haben. Während man früher eher davon ausging, dass die Fähigkeit zur Resilienz angeboren ist oder sich sehr früh entwickelt, wird in der psychologischen Resilienzliteratur heute vor allem betont, dass Resilienz lebenslang erlernbar ist. Deswegen gibt es auch Angebote wie Resilienztrainings. Lässt sich Resilienz trainieren? Wie gesagt, ich bin keine Psychologin, aber ein Blick in die boomende Selbsthilfeliteratur erweckt jedenfalls den Eindruck, dass es sich trainieren lässt. Meist geht es darum, sich darüber klar zu werden, welche Ressourcen bereits vorhanden sind, auf die man in einer Krise zurückgreifen kann. Es geht darum, die Stärken zu stärken und in einer Krise stets das Positive zu sehen. Dagegen spricht ja auch erst mal nichts, und auf einer Alltagsebene ist das etwas, was wir alle kennen und auch versuchen. Wer will schon in einer Krise steckenbleiben und handlungsunfähig sein? Auch kennen wir alle Menschen, die erstaunlich gut durch schwierige Situationen hindurchkommen. Das ist Teil unserer Alltagserfahrung. Aber Sie sehen Resilienztrainings dennoch kritisch. Das Problem setzt da ein, wo das Resilient-Sein zu einer gesellschaftlichen Norm und damit auch zu einer Anforderung und Erwartung wird. Gerade in Bezug auf die Arbeitswelt ist es ein zweischneidiges Versprechen, wenn 19


ist Privatdozentin für Soziologie an der Universität Jena und forscht zu politischer Soziologie, gesellschaftlichem Wandel, Wachstums- und Kapitalismuskritik, Bio-, Gesundheitsund Politiken des Alter(n)s. Graefe ist Autorin des Buchs „Resilienz im Krisenkapitalismus. Wider dem Lob der Anpassungsfähigkeit“.

man sagt: Resilienz ist trainierbar. Da stellt sich die Frage: Was sind das genau für Schwierigkeiten, die man überwinden soll? Das Versprechen auf Resilienz dient hier häufig dazu, sich als Individuum fit zu machen, um mit belastenden und entgrenzten Arbeitsbedingungen, mit Unsicherheit und Wettbewerbsdruck besser zurechtzukommen. Dann kann es schnell jemanden zum Vorwurf gemacht werden, wenn er seine Resilienz nicht trainiert. Genau. Dann heißt es: Wenn du mit der Situation nicht klarkommst, dann liegt es an dir. Das Individuum ist dann das Problem, nicht die strukturellen Bedingungen sind es. Das ist erst einmal das altbekannte neoliberale Credo, das durch den Hype um Resilienz noch verstärkt wird. Man blendet die Ursa20

sensituation wie die Corona-Pandemie dazukommt, wird offensichtlich, wie falsch es wäre, zu sagen: „Das Problem liegt bei den Altenpflegern, die nicht resilient genug sind, um mit der Krise umzugehen.“ Das wäre eine völlige Fehleinschätzung der Situation. Sie schreiben vom neoliberalen Credo der lebenslangen Selbstoptimierung und Leistungsbereitschaft. Was ist falsch an dem Vorsatz, vorankommen zu wollen und sich zu verbessern? Das ist ein bisschen wie mit der Resilienz: Auf einem bestimmten, einfachen, alltagstauglichen Niveau ist daran nichts problematisch. Und das machen wir ja auch fast alle: Jeder versucht seine Lebensbedingungen zu verbessern. Niemand entscheidet sich bewusst dafür, eine miese Beziehung oder einen üblen Arbeitgeber zu suchen, weil es so schön ist, sich zu verschlechtern. Selbstoptimierung wird aber dann zum Problem, wenn sie verabsolutiert und als Norm für alle ausgegeben wird. Und: Selbstoptimierung als Strategie in einer Gesellschaft, die stark von den Gesetzen des Marktes geprägt ist und über Konsum funktioniert, ist prinzipiell grenzenlos. Das müssen Sie erklären. Der Punkt wird nie erreicht sein, an dem ich sagen kann: „So, nun bin ich ausreichend optimiert und in Ordnung, so wie ich bin.“ Bekannt ist das Phänomen aus dem Bereich der

„ Lasst uns doch eine Situation ganz konkret ansehen, bevor wir von vornherein eine Persönlichkeit dafür verantwortlich machen, wie sie mit einer Krise umgeht.“

Foto: fotostudioneukoelln.de

Stefanie Graefe

chen für Krisen, Belastung und Stress aus und schiebt die Verantwortung dafür dem Individuum zu. Andererseits ist es aber auch problematisch, wenn man sich Resilienz als Persönlichkeitsmerkmal vorstellt. Denn dann landet man schnell dabei, Menschen in psychologische Schubladen einzuteilen. In der Literatur wird teilweise inzwischen sogar empfohlen, Resilienztests beim Recruiting für Führungskräfte zu nutzen. Sie zitieren in Ihrem Buch die Soziologin Eva Illouz, die das kulturelle Skript der wünschenswerten Persönlichkeit kritisiert. Ist es also doch keine Frage des Persönlichkeitstyps, wer Stress gegenüber immun bleibt? Es gibt Menschen, die mit Stress besser umgehen können als andere. Ob das aber eine Frage des Persönlichkeitstyps ist, scheint mir, wie schon gesagt, mehr als fraglich. Als Soziologin glaube ich, dass das vielmehr mit spezifischen Erfahrungen zu tun hat, die eine Person gemacht hat. Mein Rat wäre immer: Lasst uns doch eine Situation ganz konkret ansehen, bevor wir von vornherein eine Persönlichkeit dafür verantwortlich machen, wie sie mit einer Krise umgeht. Wir sollten fragen: Was sind denn gerade die Stressfaktoren? Es gibt zum Beispiel durch den strukturellen Personalmangel generell ein sehr hohes Stresslevel im Bereich der Altenpflege, und wenn dann eine Kri-


sogenannten Schönheitschirurgie. Wenn man einmal damit anfängt, kann man schlecht wieder aufhören. Nach der vermeintlich krummen Nase fällt plötzlich auf, wie stark das rechte Ohrläppchen hängt. Es entsteht ein Sog, der letztlich zu einer großen Unzufriedenheit führen kann. Das kann sogar so weit gehen, dass auch der Tod optimiert wird. Da ist dann die Rede vom „optimalen Sterben“ und vom „Sterben als Projekt“. Es gibt wirklich, so scheint es, keinen Lebensbereich mehr, in dem nicht noch etwas verbessert werden kann, eine bessere „Performance“ erreicht werden kann und soll. Noch dazu ist Selbstoptimierung ein starkes Konkurrenzinstrument: Man ist ständig damit beschäftigt, sich mit anderen zu vergleichen. Die sozialen Netzwerke gießen dabei wahrscheinlich Öl ins Feuer? Instagram ist eine einzige Selbstoptimierungsmaschine, in der es darum geht, zu zeigen, wer den schönsten Cappuccino trinkt, den idyllischsten Sonnenaufgang sieht oder wer nach einer Geburt ruckzuck wieder topfit ist und den trainiertesten Körper vorweisen kann. Das verschärft den Konkurrenzdruck. Viele haben dabei das Gefühl, dass sie allen anderen unterlegen sind, aber so tun müssen, als wären sie es nicht. Da geht viel Energie, Geld und Zeit drauf. Ich glaube, Selbstoptimierung ist nichts, was Menschen auf Dauer glücklich macht. Und wer ständig damit beschäftigt ist, darüber nachzudenken, wie er oder sie sich optimieren kann, hat auch nicht mehr viel Zeit darüber nachzudenken, wie zum Beispiel gesellschaftliche Bedingungen verbessert werden können. Selbstoptimierung macht tendenziell unpolitisch. Gibt es denn vielleicht dennoch Faktoren für Resilienz, die dazu beitragen, Krisen besser zu bewältigen und Hürden zu meistern? In der Ratgeberliteratur wird meist poj u n i  /  j u l i 20 20

„Der einzelne Mensch wird angehalten, sein oder ihr Verhalten zu ändern, um mit der Belastung besser zurecht­zukommen.“

sitives Denken als die zentrale Tugend der Resilienz genannt. Man solle über Schwierigkeiten nicht hinwegsehen, aber sie positiv umdeuten. Die Grundannahme dabei ist, dass die Gedanken vor den Gefühlen kommen. Man glaubt also: Bevor man sich schlecht fühlt, ist der Gedanke über eine Situation da, die man als schlecht einstuft. Dadurch entsteht das Gefühl und darauf basierend die Handlung, die dazu führt, dass die Situation tatsächlich schlecht bleibt und die Selbsthilfekräfte blockiert sind. Das fällt dann unter den Begriff der inneren Glaubenssätze. Richtig. Es wird davon ausgegangen, dass es anerzogene negative Glaubenssätze gibt, die jemanden daran hindern, die Dinge auch von einer anderen Seite zu sehen. Aber man könne es trainieren, in einer Situation immer auch das Positive zu entdecken. Derzeit finden sich viele Feuilletonartikel im Netz, in denen erklärt wird, man müsse gerade jetzt, auch in der Krise, immer das Positive sehen. Auch das ist wiederum auf der Ebene der Alltagspsychologie nicht falsch, wird aber dann zum Problem, wenn es zur allgemeinen Norm erhoben wird. Warum ist es falsch, der Krise etwas Positives abgewinnen zu wollen? Weil weder auf die Ursachen für Krisen geguckt wird noch auf die unterschied-

lichen Situationen und Menschen in der Krise. Es gibt zum Beispiel Menschen, die diese Zeit der Corona-Pandemie tatsächlich als willkommene Entschleunigung erleben und sie dafür nutzen können, noch mal anders über ihr Leben nachzudenken oder Dinge zu tun, für die sie sonst keine Zeit haben. Diesen Leuten zu sagen, sie sollen aus der Situation das Beste machen, ist unproblematisch. Aber was ist mit denen, für die der Lockdown eine hochbelastende Situation ist, weil sie zum Beispiel in der Pflege arbeiten, im Zwölfstundentakt auf der Intensivstation, im Einzelhandel oder im Homeoffice mit kleinen Kindern und dabei die gleiche Leistung wie sonst erbringen sollen? Denen zu sagen: „Alles kein Problem, solange du das Positive der Situation erkennst“, finde ich fast ein bisschen zynisch. Genau durch diese Art von psychologisierenden Diskursen, deren Kernbotschaft lautet, dass es nur auf die innere Haltung ankommt, wird die völlige Unterschiedlichkeit der Lebenssituationen und Belastungen ausgeblendet. Wie soll diese innere Haltung denn aussehen? Die Liste der Ratschläge ist lang. Je stressiger es zum Beispiel auf der Arbeit ist, umso stärker sollen Angestellte dafür sorgen, dass sie ihre sozialen Beziehungen pflegen, auf ihre körperlichen 21


T I T E L

HÜRDEN

Bedürfnisse achten, Hobbies pflegen und so weiter. Das wird alles schon länger geraten, einigermaßen neu ist aber die Forderung, die jeweiligen Umstände, also zum Beispiel die Arbeitsbedingungen, als unabänderlich zu akzeptieren. Eine wiederkehrende Formel im Zusammenhang mit Resilienz lautet: Akzeptiere, dass du die Dinge nicht ändern kannst. Das kann dann konkret, je nach Anwendungsbereich, ganz Unterschiedliches bedeuten, zum Beispiel, dass man Personaleinsparungen und daraus resultierende Mehrarbeit klaglos zu akzeptieren hat. Resilienz spielt aber auch in ganz anderen Bereichen, etwa in der Entwicklungshilfe, eine immer wichtigere Rolle. Auch da macht es einen großen Unterschied, ob man – zugespitzt formuliert – Textilarbeitern in Bangladesch darin trainiert, psychologisch besser mit der Angst davor klarzukommen, dass die Fabrik über ihnen einstürzt, oder ob man versucht, Unternehmen zu verpflichten, für menschenwürdige Arbeitsbedingungen zu sorgen. Sie raten also, statt die Symptome einer Situation zu bekämpfen, die Ursachen anzugehen. Also statt oberflächliche Kosmetik tiefergehende Veränderungen vorzunehmen? Ja. Um noch ein Beispiel zu nennen: Wir erleben derzeit eine Aufwertung bestimmter Berufsgruppen, die eigentlich gar keine ist. Da wird dann auf Balkonen für Pflegekräfte applaudiert. Dieser Applaus, könnte man sagen, unterstützt die Resilienz der Pfleger, indem er ihre Arbeit positiv bewertet. Entsprechend wird unterstellt, dass sich die Menschen in den beklatschten Berufsgruppen nun darüber freuen. Dabei fragen die sich dann völlig zu Recht: Was ändert sich dadurch konkret an meiner Situation? Wann kann ich von meiner Arbeit endlich leben? Wann wird sie nicht nur symbolisch wertgeschätzt, sondern auch 22

materiell aufgewertet? Anerkennung allein genügt nicht – auch wenn der Wunsch nach Anerkennung generell sehr wichtig geworden ist. Warum machen sich immer mehr Menschen abhängig von einer Meinung von außen? Das hat damit zu tun, dass Erwerbsarbeit einen unglaublich hohen Stellenwert in unserer Gesellschaft hat und zugleich von vielen grundlegend als unsicher erfahren wird. Einen Job hat man nicht mehr bis zur Rente ‒ und das ist eine Unsicherheit, die tief sitzt. Hinzukommt, dass Erwerbslosigkeit extrem stigmatisiert wird. Langzeiterwerbslose sind besonders häufig von Erschöpfung und Depression betroffen. Stressige Arbeit ist ein großer Risikofaktor für Erschöpfung, aber dauerhaft gar keine Arbeit zu haben, ist noch schlimmer, weil in unserer Gesellschaft die Anerkennung einer Person als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zentral von der Erwerbsarbeit abhängt. Anerkennung hilft bei einer bestehenden Überlastung aber auch nicht weiter. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie immer eher von Erschöpfung als von Burn-out sprechen würden. Warum? Das hat mehrere Gründe. Zum einen ist Burn-out eine Zusatzdiagnose, die nicht als eigenständige Krankheit anerkannt und immer mit anderen Erkrankungen zusammen diagnostiziert wird. Zum anderen ist die Abgrenzung zwischen den einzelnen Diagnosen nicht ganz einfach. Der Unterschied zwischen Burn-out und Depression

zum Beispiel ist nicht allein ein medizinischer. So gilt Burn-out inzwischen als Krankheit der High Performer, der Leistungsträger. Depression hingegen gilt als etwas, das eher persönlichkeitsbedingt ist; die Diagnose Depression ist deshalb wesentlich stärker stigmatisiert. Tatsächlich wird bei Menschen in höheren Positionen häufiger ein Burnout diagnostiziert als eine Depression. Und umgekehrt wird bei niedrig Qualifizierten eher eine Depression diagnostiziert. Ich habe Interviews mit Menschen geführt, bei denen ein Burn-out diagnostiziert worden ist, und allen, mit denen ich gesprochen habe, war wichtig, dass klar ist, dass sie keine Depression haben, sondern eben ein Burn-out. Ich bin aber keine Medizinerin, mich interessieren weniger die Abgrenzungen als vielmehr die Übergänge zwischen unterschiedlichen Diagnosen und Phänomenen – und auch die Erschöpfung ohne offiziellen Krankheitswert, die trotzdem massiv sein kann. Deshalb spreche ich zusammenfassend von „Erschöpfung“. Sie schreiben, es gebe einen Zusammenhang zwischen der Erschöpfung und der Führung von Menschen. Worin besteht er? In der arbeitspsychologischen Forschung beschäftigt man sich schon lange mit der Frage, warum es seit fast zwanzig Jahren einen konstant hohen Anteil an psychischen Leiden gibt, die zu vorübergehender oder andauernder Arbeitsunfähigkeit führen können. Die Führungsqualität hat sich dabei als wichtiger Faktor herausgestellt. Der Medizinsoziologe Johannes Siegrist

„ Bestimmte Managementstile führen deutlich schneller zur Erschöpfung.“


Foto: picture alliance

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spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend von einer „Gratifikationskrise“. Das heißt, dass es ein Ungleichgewicht gibt zwischen dem, was ich in die Arbeit stecke, und dem, was ich zurückbekomme. Dabei geht es nicht nur um Geld, sondern eben auch um Wertschätzung und Anerkennung seitens der Vorgesetzten und um ein gutes Betriebsklima. Wenn das Gefühl entsteht, dass die Rechnung nicht stimmt, kann das auf Dauer in eine Arbeitsunfähigkeit führen. Auch bestimmte Managementstile, sogenannte indirekte Steuerungsformen, also die Führung durch Zielvereinbarungen, häufig in Form von Projektarbeit, führen deutlich schneller zur Erschöpfung. Warum ist das so? Weil häufig die Ziele so gesetzt werden, dass sie nur mit maximaler Anstrengung zu erreichen sind, was zu Überbelastung führen kann. Da werden zum Beispiel Deadlines gesetzt, die in der regulären Arbeitszeit gar nicht zu schaffen sind. Manchmal werden auch Teams so zusammengestellt, dass die Ziele nicht erreicht werden können, wenn eine Person ausfällt. Dann ist der Druck, bloß nicht krank zu werden, natürlich ungleich höher. Es gibt auch Zielsteuerungen, die eskalierend wirj u n i  /  j u l i 20 20

ken, wenn die Führungskraft sagt: In diesem Quartal habt ihr zwei Prozent mehr Umsatz geschafft, dann schafft ihr im nächsten fünf Prozent mehr. In dieser Logik wird man gewissermaßen dafür bestraft, mehr geschafft zu haben. Was sollten Unternehmen und Führungskräfte denn tun, um eine Erschöpfung zu verhindern? Auch hier geht es darum, die strukturellen Ursachen anzugehen. Ein Beispiel: Ich habe kürzlich ein Seminar mit Personalräten aus Schulen gemacht. Lehrer sind eine hoch belastete Berufsgruppe, das ist seit langem bekannt. Bei den Frühverrentungen aufgrund psychischer Diagnosen liegen sie ganz vorne. Das hat unterschiedliche Ursachen, die man etwas vereinfacht auf einen Nenner bringen kann: Personalknappheit. Nun ist es so, dass laut Arbeitsschutzgesetz Betriebe dazu verpflichtet sind, eine Gefährdungsbeurteilung auch im Hinblick auf psychische Überlastung durchzuführen. Viele Unternehmen versuchen das zu vermeiden, weil es in der Durchführung recht aufwendig ist. An den Schulen, an denen meine Seminarteilnehmer arbeiten, wurde aber überall eine solche Gefährdungsbeurteilung

durchgeführt. Dabei kam, wenig überraschend, heraus, dass das Belastungspotenzial hoch ist. Daraufhin wurde im Anschluss mal das Lehrerzimmer gestrichen, mal ein Wasserspender aufgestellt und mal ein Yogakurs angeboten. An der strukturellen Ursache hat sich nichts geändert. Yoga und Wassertrinken, um die Personalknappheit auszuhalten? Ja. Maßnahmen wie diese folgen einem Trend, den wir seit langem im betrieblichen Gesundheitsschutz beobachten: von der Verhältnis- zur Verhaltensprävention. Der einzelne Mensch wird angehalten, sein oder ihr Verhalten zu ändern, um mit der Belastung besser zurechtzukommen. Im Falle der Lehrer, auch das haben die Personalräte berichtet, führt das dazu, dass einige bereits freiwillig Stunden reduzieren, um dann mit der vollen Arbeitszeit tatsächlich hinzukommen und ihre Arbeit noch gut erledigen zu können. Sie entscheiden sich sozusagen für einen freiwilligen Gehaltsverzicht. Was würden Sie einem Personaler entgegnen, der einem überlasteten Angestellten auf die Kritik an der Arbeitsdichte antwortet: „Es ist ja niemand gezwungen bei uns zu arbeiten.“? Die Frage berührt einen wichtigen Aspekt und hat zugleich viel mit der Führungskultur zu tun. Man kann sich einerseits fragen: Warum machen die Leute das mit? Warum lassen sie sich das gefallen? Bei der Suche nach einer Antwort muss man sich immer auch die Struktur auf dem Arbeitsmarkt ansehen: Gibt es einen Fachkräftemangel oder ein Überangebot in dem bestimmten Bereich? Ist Letzteres der Fall, macht das natürlich erpressbar. Der Personaler, den sie zitieren, spricht von der anderen Seite. Er sagt: Wir haben momentan die freie Auswahl und wenn sich die Angestellten nicht als resilient genug erweisen und mit dem Stress nicht umgehen können, suchen 23


T I T E L

HÜRDEN

Widerstand Sie mussten viele Hürden nehmen in ihrem Leben. Eine Auswahl von Menschen, die aller Erschwernis zum Trotz Großes erreicht haben.

Eine Bilderstrecke von Jeanne Wellnitz

Der blinde Künstler Er malt Häuser, Berge, Schmetterlinge, Vögel und Menschen, doch sehen kann er all das nicht. Der türkische Maler Esref Armagan ist von Geburt an blind. Er hat noch nie Farben, Formen, Licht oder Schatten gesehen und kann dennoch perspektivisch zeichnen. Armagan führt den Stift immer an den Fingerkuppen des linken Zeige- und Mittelfingers entlang über das Papier. Sie geben Richtung und Ende der Linien vor. Danach taucht er die Finger in Farbtöpfe; Pinsel benutzt er nicht, weil er nicht einschätzen kann, wie viel Farbe an ihnen hängt. Der 67-jährige Mann aus Istanbul hat keine professionelle Mal- oder Zeichenausbildung. Doch hat ihn sein Vater in dem Wunsch zu malen immer ermutigt und bestärkt. Armagans Bilder wurden international vielfach ausgestellt und es wurde ein Dokumentarfilm über sein Leben gedreht. Neurologen sind bis heute verblüfft über diesen rätselhaften Künstler: In Gehirnscans wird deutlich, dass Armagans Sehzentrum beim Malen auf die gleiche Weise aktiv ist wie bei einem Sehenden.

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Screenshot: https://www.youtube.com/watch?v=hGzULFzpX2w

Esref Armagan


Hülya Marquardt

Foto: Dennis Marquardt

Eine Frau mit Stärken und Schwächen Als Hülya Marquardt ihren späteren Mann auf Facebook kennenlernt, weiß er noch nicht, dass sie mit Fehlbildungen an den Armen und Beinen auf die Welt kam. Dennis Marquardt fand einfach ihr Foto schön und wollte sie treffen. Bei ihrer ersten Begegnung war das Erste, was ihm auffiel, ihre Fröhlichkeit. Heute sind sie verheiratet und teilen ihr Leben auf Instagram mit ihren über 19.500 Followern. Dysmelie lautet der medizinische Fachbegriff für die Fehlbildung, mit der weltweit nur 0,02 Prozent Kinder geboren werden. Die Ursachen dafür sind noch unklar, äußere Einflüsse während der Schwangerschaft werden vermutet. In ihrem 18. Lebensjahr werden Hülya Marquardt beide Beine infolge einer Infektion amputiert. Im Büro trägt sie Prothesen, in der Freizeit j u n i  /  j u l i 20 20

bewegt sie sich auf dem Skateboard, den Händen und im Rollstuhl fort. Die Menschen in ihrem Umfeld haben sich mittlerweile daran gewöhnt, trotzdem hört sie manchmal Sätze wie: „Wie tapfer, dass Sie trotzdem rausgehen.“ Dann lächelt die junge Frau freundlich. Sie hat kein Problem mit ihrer Behinderung, eher sind es die anderen. Dennoch irritiert es sie, zu Vorstellungsgesprächen in den 5. Stock eingeladen zu werden, ohne dass es einen Fahrstuhl gibt, oder wenn sie gefragt wird, ob sie denn überhaupt schreiben könne. Dennis Marquardt war der erste Mann, bei dem Hülya Marquardt sich ganz als Frau mit Stärken und Schwächen fühlen konnte – und nicht als die Frau ohne Beine. Er ist Lehrer, sie Kursmanagerin bei der Handwerkskammer. Nach dem Feierabend und am

Samstag führt sie mit ihrer Schwiegermutter eine Modeboutique in Baden-­ Württemberg. Der Sonntag gehört jedoch ganz dem gemeinsamen Hobby des Ehepaars: der Fotografie. Sie zeigen auf diese Weise den gemeinsamen Alltag. In den Porträts wird die Behinderung nicht offenkundig thematisiert, aber auch nicht versteckt; sie ist vielmehr in ihrer Selbstverständlichkeit präsent. Die Bilder eröffnen den Raum für den Facettenreichtum von Schönheit und sind für viele Menschen mit ähnlichem Schicksal Anlass, sich mit dem Ehepaar auszutauschen. Seit wenigen Wochen sind Hülya und Dennis Marquardt nicht mehr nur zu zweit. Auf einem aktuellen Instagram-Bild hält sie ihr Baby im Arm.

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TITEL

Eine Fabrik in Arbeiterhand Klammheimlich hatte sich Christina Philippou im Jahr 2011 aus dem Staub gemacht. Die Besitzerin der griechischen Fabrik Viome hatte ihren Arbeitern seit Monaten keinen Lohn mehr gezahlt, sie aber auch nicht offiziell entlassen. Es war das Jahr der sogenannten Griechenlandkrise, in dem der einst erfolgreiche Keramikfliesenhersteller Philkeram Johnson bankrottging und damit auch die Tochterfirma Viome in die Insolvenz riss. Die dreißig verbliebenen Arbeiter gingen dennoch weiterhin zur Fabrik, um die Maschinen zu warten, in der Hoffnung, dass es

bald wieder losginge. Dann hatten sie eine Idee: Statt Fliesenkleber zu produzieren, planten sie in Selbstverwaltung ökologische Seifen und Flüssigreiniger herzustellen. Denn die Produktion war preisgünstiger und in der aktuellen wirtschaftlichen Not würde in Griechenland ohnehin niemand Fliesen verlegen wollen. Waschen müssen sich Menschen jedoch immer. Die Arbeiter besetzten also die Fabrik, fanden Unterstützer und starteten als Kooperative ihre Seifenproduktion – ohne Chef und in Job-Rotation. Sie trotzten der Arbeitslosigkeit und Armut, der Räumung durch die Polizei

und der drohenden Zwangsversteigerung. Bis heute verkaufen sie Seife auf Märkten, Festen, sozialen Einrichtungen und ins Ausland – und stellten sogar neue Mitarbeiter ein. Die Wirren der Corona-Krise nutzend, hat ein Polizeiaufgebot im März den Strom gekappt, denn die Regierung wehrt sich gegen die Besetzung der Fabrik, statt sie zu legalisieren. Durch Spenden konnten die Arbeiter sich Generatoren leihen. Die Sozialkooperative gilt in Griechenland als Leuchtturm der Solidarität: Die Arbeiter produzieren Seife für Flüchtlinge, für vom Staat vernachlässigte Gefängnisse oder arme Familien.

Foto: picture alliance

Arbeiter des Viome-Kollektivs

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HÜRDEN

Size doesn’t matter!

Sie werde es nie zu etwas bringen, prophezeiten ihr Tanzlehrer. Um Tänzerin zu werden, müsse sie erst einmal Gewicht verlieren. Lizzy Howell wiegt 124 Kilo und tanzt jeden Tag, seitdem sie sechs Jahre alt ist. Es gibt ihr Halt, macht sie glücklich und lindert ihre Ängste, denn Lizzy kämpft seit Jahren gegen Hass, Häme und Hänseleien an. Im Alter von fünf Jahren verlor sie ihre Mutter bei einem Autounfall, seither lebt sie in der Obhut ihrer Großtante, die sie stets ermutigte, den Traum vom Tanzen nicht aufzugeben. Und die US-Amerikanerin ließ nicht locker: Sie teilt ihren Tanzalltag auf Instagram und Facebook – eigentlich, um ihre Fa-

milie daran teilhaben zu lassen. Als sie jedoch im Jahr 2017 ein Trainingsvideo von einigen Fouettés en tournant veröffentlichte, ging das Video viral. Die Drehung gilt als eine der anspruchsvollsten im Ballett. Der New Yorker Fotograf und Bestsellerautor Jordan Matter porträtierte sie daraufhin in seinem Buch „Born to Dance“. Die mittlerweile neunzehnjährige Lizzy Howell widersetzt sich erfolgreich jeglicher Stereotypen und Klischees und hat zahlreiche Engagements als Tänzerin, unter anderem beim Auftritt des französischen Sängers Bilal Hassani beim Eurovision Song Contest 2019.

Foto: EBU Thomas Hanses

Lizzy Howell

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Tiemo Grimm

Foto: Privat

Humangenetiker mit Legasthenie

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In Mathematik war Tiemo Grimm Klassenbester, in den Sprachen waren seine Leistungen jedoch nur mangelhaft. Er galt als einseitig begabt. Nachmittags brachte ihm seine Mutter mühsam das Lesen mit der Buchstabiermethode bei. Am Ende verschlang er sogar die Abenteuer von Karl May. Nur laut vorlesen, das mochte er nicht. Seine schlechten Noten verbesserte er durch Referate, die er frei hielt, und im Medizinstudium konnte er alle Prüfungen mündlich ablegen. Heute ist Tiemo Grimm 75 Jahre alt und blickt auf eine Karriere als Humangenetiker zurück. Was während seiner Schulzeit in den Sechzigerjahren noch niemand ahnte: Tiemo Grimm ist Legastheniker. In Deutschland sind rund 3,5 Millionen Menschen von der Lese-Rechtschreib-Störung betroffen.

Der Professor wurde sich dessen erst gewahr, als drei seiner sechs Kinder in der Schule Schwierigkeiten hatten, schreiben und lesen zu erlernen. Sie hatten nicht so viel Glück mit ihren Lehrern und Mitschülern wie ihr Vater: Sie wurden für dumm und faul befunden, gehänselt und getriezt. Damit sie dennoch ihr Abitur ablegen konnten, mussten sie auf ein spezielles, teures Internat gehen. Die Förderung dafür erstritten die Eltern in 22 Widerspruchs- und Gerichtsverfahren gegen das Jugendamt. Sie haben alle gewonnen. Gemeinsam mit einem seiner Söhne erreichte Tiemo Grimm Jahre später vor Gericht einen Nachteilsausgleich für legasthene Studenten. Heute arbeiten seine drei Kinder mit Legasthenie erfolgreich als Unfallchirurg, Urologin und Bauingenieur. 33


TITEL

Deutschlands berühmtester Obdachloser Als Kind schlief Richard Brox im Flur auf einem Ausziehsofa, hinter zwei verschlossenen Türen ruhten seine Eltern in getrennten Schlafzimmern – sie weinten und schrien im Schlaf, dann huschte die Mutter zum Vater oder andersherum. Sie trösteten sich. Richard Brox wurde hingegen nie getröstet, er wusste auch nicht, weshalb seine Eltern derart litten. Sie brachten ihn nicht in den Kindergarten, und so lebte er jahrelang hauptsächlich in dem dunklen Flur. Mit fünf kam er ins erste Heim, viele weitere sollten folgen. Mit 13 wurde er kokainabhängig. Als seine Eltern starben, verlor Brox seinen Wohnsitz

und geisterte, nur noch vom Kokain aufrecht gehalten, durch Mannheim. Mit 25 Jahren blickte er in den Neckar und dachte darüber nach, zu springen – doch er entschied sich für einen anderen Weg und fuhr in eine Suchtklinik. Nach dem Entzug streifte er als „Kurpfälzer Wandersmann“ durch Deutschland. Jahre später trifft er in einem Internetcafé Menschen, die ihm helfen, einen Blog zu erstellen. Denn Richard Brox wollte Wohnsitzlosen und Suchtkranken Halt bieten, indem er soziale Einrichtungen bewertete. Die Klickzahlen stiegen rasant. Er wurde zum Protagonisten in Günter Wallraffs Dokumentarfilm „Unter Null – Obdachlos durch

den Winter“. Mit Hilfe des Journalisten Dirk Kästel begann Brox die Heime zu konfrontieren, in denen er als Kind Prügelstrafen und Missbrauch ausgesetzt gewesen war. Dann fand er in Archiven die traurigen Beweise über das Grauen, dem seine polnische Mutter und sein Vater, der den Kriegsdienst verweigerte hatte, ausgesetzt gewesen waren. Als seine Biografie „Kein Dach über dem Leben“ erschien, war das mediale Echo enorm und Brox wurde zum wohl bekanntesten Obdachlosen Deutschlands. Den Erlös seiner Biografie spendete der 55-Jährige einem Haus der Heilsarmee in Göttingen.

Foto: Tim Ilskens

Richard Brox

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HÜRDEN

Foto: Maria Ten/unsplash

The Dark Side of Leadership 36


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Ein Interview von Jeanne Wellnitz

Darth Vader gilt als einer der größten Bösewichte der Filmgeschichte. Geboren wurde er als Anakin Skywalker und kämpft im Star-Wars-Kosmos als Jedi-Ritter für die helle Seite der Macht. Anhänger der dunklen Seite der Macht, Sith genannt, säen in ihm Zweifel, arbeiten mit seinen Ängsten und seiner Wut. Und so verwandelt er sich zum gefürchteten Darth Vader. Der dunkle, in sich zerrissene Lord wechselt am Ende jedoch auf die gute Seite und gibt sein Leben für das seines Sohnes.

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Schlechte Führung ist ein schwer zu fassendes Phänomen. Die Entscheidung darüber, was gut und was schlecht ist, ist höchst subjektiv. Miese Chefs stellen ihre Mitarbeiter vor zahlreiche Hürden. Wie können Personaler für mehr ­Gerechtigkeit sorgen?

Herr Weibler, beinahe jeder Mensch hat schon Erfahrungen mit schlechten Chefs gemacht. Sie auch? Ich erinnere mich noch an einen Trainer in meiner Jugendzeit, der mir immer Hoffnung auf einen Einsatz machte. Ich blieb aber auf der Ersatzbank. Mein Befinden scherte ihn nicht das Geringste. Er schien sogar Gefallen daran zu finden, dass ich mich grämte. Ich habe den Verein verlassen und wurde Stammspieler bei einem anderen Spitzenverein. Wie definieren Sie ein so schwer zu fassendes Phänomen? Bei Bad Leadership, also schlechter Führung, geht es, wie sich in meinem Beispiel zeigt, nicht um einzelne Ausfälle, sondern vielmehr um gehäuftes, systematisches unethisches Verhalten. Die Erscheinungsformen sind natürlich zeit- und kontextabhängig, obwohl eine Führung, die den eigenen Vorteil auf Kosten anderer sucht, noch nie goutiert wurde. Heutzutage wird schlechte Führung vor allem medial stärker thematisiert. Allerdings haben wir keine exakten Daten dazu, wie sich eine schlechte Führung innerhalb der letzten einhundert Jahre empirisch verändert hat. Es bleibt deshalb eine Frage der Wahrnehmung und der eigenen Erfahrung: Wie stark wird das Problem thematisiert? Was wird in ei-

ner Gesellschaft als zumutbar erachtet? Welche Bewertungskriterien sind aktuell? Die bekanntesten dunklen Wesens­ züge von Menschen werden unter dem Begriff „Dunkle Triade“ zusammen­gefasst. Genau, es handelt sich um Narzissmus, subklinische Psychopathie und Machiavellismus. Subklinische Psychopathen sind gefühlslos in Bezug auf das Schicksal anderer. Ihre Intelligenz funktioniert jedoch sehr gut. Sie verfügen über ein exzellentes Wissen darüber, was wichtig ist, um Menschen zu beeinflussen. Der Narzisst ist im Vergleich zum Psychopathen auf andere angewiesen. Um seinen Glanz zu mehren, braucht er ihre Bewunderung. Der Machiavellist stärkt seine Macht ohne Moral. Die drei Eigenschaften der Dunklen Triade können natürlich auch korrelieren. Diese Schnittmenge gilt gemeinhin als die Essenz des Bösen. Ist diese Aufschlüsselung ein Versuch, Fehlverhalten messbar zu machen? Wir müssen natürlich vorsichtig sein, weil wir uns in einem Bereich bewegen, der sich schwer messen lässt. Es gibt kaum verlässliche Studien. Vieles ist Alltagsbeobachtung. Gesichert ist aber, dass in Gemeinschaften einige wenige genügen, um eine Kultur zu 37


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zerstören oder eine Gemeinschaft zu entsolidarisieren. Sie vergiften die Atmosphäre. Weshalb werden narzisstische Chefs aber dennoch oft als effektiv wahrgenommen? Das macht die Sache so gefährlich: Wenn Narzissten in Gänze ineffektiv wären, würden sie nicht Karriere machen. Sie begeistern, können Teamleistungen für kurze Zeit extrem steigern, setzen hohe Ziele und sanktionieren Mitarbeiter knallhart, die ihre Ziele verfehlen. Das kann für die Organisation kurzfristig erfolgversprechend sein, sofern sich keine Widerstände formieren. Das ist auch kein neues Phänomen: Wir müssen nur die ausbeuterischen Lieferketten betrachten, in denen Unternehmen durch niedrige Einkaufspreise die Produktpreise drosseln und damit anderen noch mehr Arbeit aufbürden. Sie folgen der gleichen Logik. Hinzu kommt, dass häufig eine überholte heroische Führung gepriesen und damit Bestehendes zementiert wird. Viele Menschen interessieren sich kaum für die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen des Erfolgs. Weshalb gibt es immer mehr Bad Leader? Das liegt womöglich an der immensen Arbeitsverdichtung und dem überbordenden Erfolgsdruck, der auf den Teams und Organisationen liegt. Erholungsphasen werden in der heutigen Arbeitswelt nicht mehr zeitlich einkalkuliert. Effizienzgewinne werden nicht genutzt, um Mitarbeitern eine Verschnaufpause zu geben, sondern um ihnen noch mehr abzuverlangen. Das heißt im Umkehrschluss: Sie können so gut arbeiten, wie sie wollen, sie gewinnen nichts. Das begünstigt Bad Leadership. Welche Folgen hat das? Entgegen der großen Erzählung, irgendwann würde sich alles rächen, sehen Mitarbeiter, dass die Menschen, die auf Kosten anderer nach vorne ge38

hen, oftmals munter weiter reüssieren. Es kommt dann leicht zur Ernüchterung und vermehrt zu Bad Leadership. Hinzu kommt, dass wir uns an das gewöhnen, was schlecht ist: Es ist ein schleichendes Gift, das uns suggeriert, dass es sich um normale Verhältnisse handelt. Dabei ist es nicht normal, bis an seine Grenzen zu gehen und sich nie zu erholen. Wird sich daran etwas ändern? Nur wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Ich habe die Hoffnung, dass die jüngere Generation das zumindest einschränken kann, weil dort die Bereitschaft, alles hinzunehmen, beispielsweise Hierarchien zu akzeptieren, nur weil formal eine da ist, geringer ist. Die jüngere Generation lebt eher den New-Work-Zeitgeist, der getragen wird von Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe. Trägt agiles Management dazu bei, dass es mehr Good Leader gibt? New Work hat gute Ziele, aber es sind am Ende Ideen, die von den meisten aufgegriffen werden, weil sie eine Funktionalität für heutige Produktionsweisen haben. Das Konzept der Agilität, gerne in diesem Kontext eingeworfen, hilft uns also erst einmal nicht weiter. Sie ist keine Antwort auf

die Arbeitsdichte der heutigen Zeit und bedeutet nur, dass wir schneller und flexibler auf Kunden reagieren können. Der Kunde wird zum Boss. Wer in flachen Hierarchien aufsteigen möchte, muss für sich werben, sichtbar sein, Versprechen geben. Manche behaupten, für Narzissten sei der Unbossing-Trend wegen ihres Charismas und Netzwerktalents von Vorteil. Wie sehen Sie das? Narzissten finden überall ihren Nährboden. Sie haben die Fähigkeit, sich veränderten Bedingungen anzupassen. Flache Hierarchien sind dabei zusätzlich vorteilhaft, weil Narzissten sehr einnehmend sind und sie dort, wo Netzwerke die Arbeitsformen bestimmen, möglicherweise noch besser agieren können. Auf der anderen Seite sind die Offenbarungsmechanismen jedoch besser geworden: Durch vernetzte Kommunikation kann Fehlverhalten viel schneller und auch retro­ spektiv offengelegt werden. Inwiefern tragen Mitarbeiter eigentlich selbst zur zerstörerischen Führung bei? Es gibt Menschen, die Bad Leadership aus den verschiedensten Motivationen begünstigen können: Zum einen herrscht oft schiere Angst vor dem Aufbegehren, weil das zu Schikane

„ Bei Google muss das Team eine Empfehlung geben, ob eine Führungskraft auch für höhere Positionen infrage kommt, ob sie also dem Team gegenüber verantwortungsvoll und integer agiert hat.“


„ Wenn Narzissten in Gänze in­effektiv wären, würden sie nicht Karriere machen.“

Jürgen Weibler ist Professor für Betriebswirtschaftslehre mit den Schwerpunkten Personalführung und Organisation an der Fernuniversität in Hagen. Nach der Promotion arbeitete er zunächst als Unternehmensberater, habilitierte an der Universität St. Gallen und wurde Forschungsleiter des dortigen Instituts für Führung und Personalmanagement. Er verantwortet gemeinsam mit seiner Tochter die Internetplattform „Leadership Insiders“ und ist neben Thomas Kuhn Co-Autor des Buchs „Bad Leadership. Von Narzissten & Egomanen, Vermessenen & Verführten. Warum uns schlechte Führung oftmals gut erscheint und es guter

Foto: Kenzo Volgmann

Führung häufig schlecht ergeht“.

oder Kündigung führen kann. Zum anderen gibt es jene, die stillhalten in der Hoffnung, dass alles wieder vorbeigeht. Dann gibt es einen großen Teil an Mitarbeitern, die versuchen, davon zu profitieren, indem sie den Chef unterstützen. Es gibt außerdem viele Menschen, die Gehorsamen, die es gewohnt sind, Autoritäten zu folgen. Sie j u n i  /  j u l i 20 20

haben das ein Leben lang so gelernt. In Ihrem Buch führen Sie HR als mögliche Rachegöttin gegen destruktive Leader an. Wie kann HR etwas gegen schlechte Führung unternehmen? Solange in vielen Unternehmen ein Profit-at-all-costs-Denken von HR gefordert wird, sehe ich erst einmal kein natürliches Korrektiv. HR akzeptiert die Vorgaben, versucht, sie umzusetzen. In diesem Sinne ist die eigentlich wünschenswerte Tendenz, dass der Personaler Business Partner wird, gefährlich. Was sollte HR also tun? HR sollte als Erstes die Belastungssituation durch Arbeitsverdichtung verstehen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Wenn das nicht gelingt, passiert gar nichts. Zweitens sollte definiert sein, wie Grenzüberschreitungen zu ahnden sind. Dann muss Personalentwicklung wieder ganzheitlicher verstanden, variable Vergütungssysteme müssen kritischer beäugt werden. Kann man im Recruiting schon die dunklen Seiten einer künftigen Führungskraft erkennen? Begrenzt. Am besten wäre es, wenn Personaler wüssten, wie sich die Führungskraft bei ihrem vorherigen Arbeitgeber verhalten hat – da hat HR natürlich ein Datenzugriffsproblem. Hinzu kommt, dass man die Zeugnisse vergessen kann, weil sie durch die enorme Arbeitsverrechtlichung kaum

aussagekräftig sind. Was HR zumindest professionalisieren würde, wäre der Einsatz von validen Persönlichkeitstests wie dem Freiburger- oder dem NEO-Persönlichkeitsinventar. Es gibt aber auch Skalen zur fokussierten Messung problematischer Persönlichkeitszüge, beispielsweise einer Machiavellismus-Neigung. Ergänzende Gespräche mit geschulten Diagnostikern würden den vielfach aussagelosen Auswahlprozess gerade bei Spitzenführungskräften beleben. Was können Personaler bezogen auf den Unternehmensalltag tun? Die Personalabteilung sollte sich dafür interessieren, wie die Führungsbeziehungen im Unternehmen ablaufen, und bei guten und schlechten Ergebnissen wissen, wie sie erzielt wurden. Dafür kann man standardisierte Verfahren zur Messung des Führungsverhaltens verwenden. Noch wichtiger sind Mitarbeitergespräche, auch bei Fortgängen, um Atmosphären erfassen zu können und Hinweise aufzunehmen. Transparenz über Verhalten und Kommunikation ist ein Gegengift für machiavellistisch motivierte Führungskräfte, denn sie brauchen einen mikropolitischen Dunkelbereich, in dem sie agieren. Außerdem sollte HR sich für die Lebenssituation der Führungskräfte interessieren, ihnen Coachings und Hilfe anbieten, wenn sich die Führungskraft in eine falsche Richtung verändert. 39


Mit Ignoranten reden

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Irgendwann trifft jede Führungskraft auf einen ignoranten ­Kollegen oder Mitarbeiter. Wie kann diese Hürde genommen werden? Und was ­können Führungskräfte von ihnen lernen? Zehn Widerstandsregeln Ein Gastbeitrag von Peter Modler

D Foto: gettyimages

ie meisten Menschen gehen davon aus, dass ihre Weise zu kommunizieren sofort von allen verstanden werden müsste. Doch ist diese Annahme naiv. Führungskräfte, die wirklich erfolgreich sein wollen, wechseln sogar zwischen unterschiedlichen Sprachsystemen. Anfang der Neunzigerjahre identifizierten Vertreter der Soziolinguistik wie Deborah Tannen zwei große Systeme: Es gibt Menschen, die zuerst Rang- und Revierfragen klären müssen, bevor sie sich inhaltlich mit einer Diskussion befassen können. Sie kommunizieren „vertikal“. Dann gibt es jene, die Informationen auf Augenhöhe austauschen, dabei hierarchische Aspekte jedoch fast ausblenden – sie kommunizieren „horizontal“. Am produktivsten ist es, wenn man zwischen beiden Systemen wechselt, so dass sie sich ergänzen können.

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„Vorsicht vor unkontrollierten Verdammungs­ automatismen!“

Ich selbst habe immer dann am wenigsten von meinen Gegnern gelernt, wenn ich sie im Konflikt moralisch abgewertet habe. Dadurch hatte ich hohen inneren Widerstand erzeugt und war weder in der Lage, die vielleicht berechtigten Anliegen meiner Kontrahenten zu erkennen noch deren strategisches Vorgehen zu durchblicken, um darauf angemessen zu reagieren. Diese zehn Tipps können dabei helfen, ignoranten Kollegen oder Chefs Paroli zu bieten:

In fremde Milieus begeben Von Zeit zu Zeit sollte man die eigenen Sprachgewohnheiten von außen betrachten, so als wären sie einem selbst noch fremd: Können Sie sich fließend und interessiert mit Leuten außerhalb Ihrer sozialen Schicht unterhalten? Falls Sie dabei laufend ins Stocken geraten oder Ungeduld empfinden, dürfen Sie das als Hinweis auf eine eigene Sprachschwäche verstehen. Wahrscheinlich ist nicht die andere Seite beschränkt, sondern Sie sind es selbst. Begeben Sie sich also getrost öfter in fremde Milieus. Setzen Sie sich beim Betriebsfest mal zu den Hausmeistern. Schrecken Sie nicht vor den Azubis oder den IT-Leuten zurück. Trauen Sie sich das zu und gehen Sie von der Hypothese aus, dass die tatsächlich auch etwas Interessantes zu sagen haben.

Empörungsreflexe herunterregeln Nur weil Ihr Gegenüber vielleicht Ihre geliebte Sekundärliteratur nicht kennt, nicht das gleiche Fach studiert hat wie Sie oder nicht dieselben Buzzwords benutzt, müssen Sie ihn nicht abwerten. Vorsicht vor unkontrollierten Verdammungsautomatismen! Natürlich dürfen Sie zu Ihren Überzeugungen und Werten stehen, aber steigen Sie herunter vom hohen Ross. Von da oben bekommen Sie oft gar nicht mit, was in Bodennähe läuft.

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Sprachqualität jenseits von Eloquenz ­wahrnehmen Wenn Sie merken, dass Ihr Gegenüber auf Argumente keinen Wert zu legen scheint, achten Sie auf seine sonstige Kommunikation: Ihr Gesprächspartner spricht vielleicht eher durch Bewegungen, Blicke, auffälliges Schweigen oder körperliche Signale – und weniger mit rhetorischer Brillanz. Das ist auch ein Mittel, um Macht zu demonstrieren. Er oder sie muss deshalb nicht per se doof sein, sondern drückt sich einfach nur durch eine andere kommunikative Kompetenz aus.

Das Offensichtliche aussprechen Das ist eine Maxime aus dem Improvisationstheater, die auch im Arbeitsleben Gold wert ist: Das Offensichtliche aussprechen, statt gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Das kann eine Situation komplett verändern. Normalerweise sind wir diesen direkten Umgang nicht gewohnt und man muss vorsichtig damit umgehen, weil er massive Auswirkungen haben kann. Aber gerade, wenn es kommunikativ stockt, kann Direktheit eine lähmende Gesprächssituation auflösen. Beispiele wären: „Sie schauen auf Ihr Handy, aber nicht zu mir“, „Sie blättern in Ihren Unterlagen, wenn ich mit Ihnen rede“ oder „Sie kommen regelmäßig als Letzter“. Aber bitte wirklich nur beobachtend ansprechen, nicht werten, nicht deuten. Also sagen Sie: „Sie schauen mich nicht an“, aber bloß nicht: „Sie beachten mich nicht“.

Keine falschen Erwartungen haben Manche glauben, wenn sie einen Besprechungsraum betreten, dass alle von Anfang an bereit sind zuzuhören. Aber leider ist das oft nicht so. Vielleicht sind Sie mit Ihrem Zuhörinteresse sogar in der Minderheit? Dann muss man eine Zuhörbereitschaft erst herstellen. Und da genügt es nicht, einen Beamer einzuschalten oder Unterlagen auszuteilen. In der Regel klappt das mit kleineren theatralischen Elementen, indem Sie beispielsweise lauter reden als eigentlich nötig oder auf den Handyjunkie zugehen und demonstrativ warten, bis er sein Gadget wegpackt. Oder mit direkten Antworten auf vermeintliche Störungen: „Wir fangen erst an, wenn jeder was zu trinken hat“ oder “Solange Sie nicht sitzen, können wir nicht weitermachen“. Nur seien Sie bitte nicht überrascht, wenn Ihnen nicht von Anfang an zugehört wird. Das ist im Grunde etwas völlig Normales.


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HÜRDEN

„Es gibt keine Standardlösung.“ Der Arbeitsplatz kann für Angestellte mitunter eine ziemliche Hürde sein: schlechte Raumluft, ein hoher Lärmpegel und dunkle Kabuffs können einem die Lust am Arbeiten verleiden. Wie sieht eine gelungene Bürogestaltung aus und was gilt es angesichts der Pandemie zu beachten? Foto: picture alliance

Ein Interview von Hannah Petersohn

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Frau Dienes, was machen Arbeitgeber aus Ihrer Sicht derzeit noch grundlegend falsch bei der Gestaltung der Arbeitsplätze? Oft machen sich Arbeitgeber zu wenig oder gar keine Gedanken über die Arbeitsplatzsituation. Das ist die zentralste Hürde, die bei vielen erst überwunden werden muss. Es fehlt das Bewusstsein dafür, dass die Gestaltung des Arbeitsplatzes relevant und wichtig ist, um die Arbeitgebermarke zu stärken und neue Talente zu gewinnen. Die Arbeitsplatzgestaltung hat zudem große Auswirkungen auf die Kreativität. Dafür sind der Raum an sich und die Raumstruktur enorm wichtig. Leider werden aber bestimmte Dinge immer noch falsch angegangen. Welche sind das? Die Arbeitsplatzgestaltung ist komplex und betrifft nicht nur die Optik, sondern genauso die Unternehmenskultur. Unternehmen sollten sich fragen: Wie darf eigentlich gearbeitet werden? Welche Entscheidungsfreiheiten über den Arbeitsort, die Arbeitszeit und -weise geben wir unseren Angestellten? Das Büro zeigt immer nur die Oberfläche eines Unternehmens, das, was darunterliegt, ist aber genauso wichtig. Tischkicker sind immer noch ein beliebtes Stilelement, mit dem Unternehmen für sich werben. Feelgood Manager sollen für das nötige Ambiente sorgen und eine Wohlfühlatmosphäre schaffen. Ist das die Lösung? Die Gestaltung muss authentisch bleiben und das Unternehmen widerspiegeln. Es sollte keine Gestaltungselemente geben, die von den Mitarbeitern als Fremdkörper empfunden werden. Unternehmen müssen aufpassen, dass sie nicht einfach nur bestimmte Einrichtungsstile kopieren und dann glauben, damit sei das Thema erledigt. Das ist grundlegend falsch. Der Tischkicker allein wird nichts veränj u n i  /  j u l i 20 20

dern. Man muss sich erst einmal ansehen, wie ein Unternehmen aufgebaut ist, wie derzeit gearbeitet wird und in Zukunft gearbeitet werden soll. Es gibt keine Standardlösung. An welcher Stelle sollte ein Unternehmen ansetzen, wenn es die Bürogestaltung verändern will? Wenn man über neue Arbeitswelten spricht, sollten sich Unternehmen zuerst einmal fragen: Wie sehen bei uns die Tätigkeiten der Zukunft aus? Es gibt noch ein großes ungenutztes Potenzial bei den Themen Wissenstransfer, Kommunikation, informeller Austausch und Kreativität. Durch künstliche Intelligenz und Digitalisierung werden sich die Tätigkeiten weiter verschieben. Man darf nie vergessen: Unternehmen sind sehr individuell ‒ deswegen kann es auch kein Grundrezept in der Bürogestaltung geben, das für alle gültig ist. Nehmen wir mal ein herkömmliches Büro, in dem viel am Computer gearbeitet wird. Wie sollte das Büro raumpsychologisch betrachtet im besten Falle aussehen? Man sollte sich die Bürowelt als Landschaft vorstellen: vielfältig, mit unterschiedlichen Raumstrukturen, also so, wie man es auch aus dem Stadtbild kennt. Da gibt es vielleicht eine Blockrandbebauung mit einem Innenhof, das intime und eher geschlossene Zuhause, einen offenen Marktplatz, auf dem sich Menschen austauschen. Dann gibt es noch Infrastrukturen, die

um den Marktplatz herum angeordnet sind, vielleicht Parkflächen mit viel Grün, wo man einmal alles um sich herum vergessen kann. Und so ähnlich verhält es sich mit der Bürowelt. Was derzeit oft unter den Teppich fällt, sind Rückzugsorte, weil es häufig vor allem um spontane Begegnungen und Austausch geht. Wir gehen aber jeden Tag sehr unterschiedlichen Tätigkeiten nach und brauchen deswegen auch unterschiedliche Räume für diese Tätigkeiten: Morgens checkt man vielleicht erst einmal in Ruhe die E-Mails, dann bereitet man sich vielleicht auf ein Meeting vor. Ein anderes Mal schreibt man einen Bericht und muss dafür recherchieren. Eine Umgebung muss für diese unterschiedlichen Bedürfnisse ausgelegt sein. Unterschiedliche Räume und Sphären, das klingt erst einmal toll. Aber wie sieht die Realität in Deutschland tatsächlich aus? Ich denke schon, dass sich das ein oder andere bewegt, weil wir sehr viele Anfragen bekommen von Firmen, die etwas verändern wollen. Vielen Unternehmen ist aber tatsächlich noch nicht bewusst, dass die Arbeitsumgebung eine Veränderung bewirken kann. Ich gehöre zur Generation Y und für mich war die Arbeitsumgebung ein Grund, den Arbeitsplatz zu wechseln, denn die Umgebung und die Atmosphäre sind für mich entscheidende Faktoren. So wie für Sie war das Büro-Design für jeden Zehnten aus der Genera-

„Unternehmen müssen aufpassen, dass sie nicht einfach nur bestimmte Einrichtungsstile kopieren und dann glauben, damit sei das Thema erledigt“ 45


Foto: gettyimages

HĂźrdenlauf

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Auch wenn die Hürden im Recruiting-­Prozess nicht exakt vorhersehbar sind, kann ein Unternehmen sich auf sie vorbereiten. Fünf Fehler, die Personaler vermeiden sollten Ein Gastbeitrag von Diana Roth

nerseits schnell mit Kündigungen und suchen andererseits händeringend nach Spezialisten. Das spricht sich herum.

Wie ticken Personalabteilungen? In jedem Unternehmen hat die Arbeit der Personalabteilung einen anderen Stellenwert. Firmen sollten sich selbst verorten, um das Recruiting zu verbessern und über folgende Fragen nachdenken: Wofür steht die Firma? Welche Werte deklariert sie? Welche Unternehmenskultur wird gelebt? Wo ist die HR-Abteilung im Unternehmen, im Organigramm positioniert? In kleinen Unternehmen liegt das Recruiting meist in Händen der Geschäftsleitung und der Führungskräfte, weil es schlichtweg keine HR-Abteilung gibt. Dementsprechend variieren die Abläufe zwischen überlegtem, natürlichem Pragmatismus oder chaotischem Vorgehen.

Deshalb finden Bewerber und Job nicht ­zusammen

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er Recruiting-Prozess ist voller Hürden. Für potenzielle Kandidaten kann die Online-Bewerbung derart komplex, umständlich und verwirrend sein, dass sie eher abschreckt als anzieht. Oft sind die Anforderungen in den Ausschreibungen so hoch, dass auch ein durchaus geeigneter Bewerber sich nicht wagt, die Bewerbung einzureichen. Auch das Motivationsschreiben bereitet vielen Probleme: Manche Bewerber beauftragen sogar Karrierecoachs oder Freunde mit dem Schreiben, weil sie sich überfordert fühlen. Zu guter Letzt wissen viele Bewerber schlichtweg nicht, welche klugen Fragen sie im Rekrutierungsgespräch stellen können. Unternehmen hingegen haben mit dem Fachkräftemangel zu kämpfen. Stellen sollen möglichst schnell wieder besetzt werden, doch gibt es kaum Bewerber. Und die Unternehmen selbst wagen es nicht, abseits vertrauter Recruiting-Wege zu experimentieren. Die firmeninternen Entscheidungswege sind außerdem oft langatmig, weil zu viele Personen daran beteiligt sind. Gute Bewerber springen durch lang gestreckte Prozesse oft ab. Die meisten Unternehmen haben immer noch nicht erkannt, dass Mitarbeiter großen Wert auf die Unternehmenskultur legen. Viele Organisationen leiden noch dazu unter einem schlechten Unternehmensimage. Sie sind eij u n i  /  j u l i 20 20

Es ist grauenhaft, welche Absagen Bewerber erhalten. Teilweise bekommen fähige Fachkräfte nach intensiven Bewerbungsgesprächen schriftliche Absagen, die aus nur wenigen Standardzeilen bestehen. Die wahren Gründe, wie der Bewerber oder die Bewerberin ist zu jung, zu qualifiziert oder zu schwanger, werden nicht genannt. Vorgeschobene Gründe, die dem Arbeitsgesetz Genüge tun, werden mit Wortgirlanden formuliert, digitalisiert und per Knopfdruck abgesandt. Davon abgesehen, dass es immer noch einen kleinen Anteil von Bewerbern gibt, die nie eine Rückmeldung erhalten. Es ist tatsächlich äußerst schwierig, eine Absage gut zu formulieren. Sie muss gut überlegt und arbeitsrechtlich einwandfrei sein. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz hält Personaler davon ab, ein detailliertes Feedback zu geben. Dabei wird äußerst selten gegen eine Absage geklagt. Aber genau diesen kleinen Prozentsatz nehmen viele zum Anlass, zurückhaltend zu sein. Vermeiden Sie jegliche Diskriminierung in Bezug auf Alter, Religion, ethnische Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung oder eine Behinderung und beziehen Sie sich in der persönlichen Absage auf konkrete Anforderungen der Stelle, die der Bewerber nicht ausreichend erfüllt hat. 49


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IM FOKUS

Wie verändert die CoronaKrise das Recruiting?

Mit der Pandemie bricht für das Recruiting eine neue Ära an. Digitale Prozesse und Tools werden immer wichtiger. Gleichzeitig ändern sich die Vorzeichen auf dem Jobmarkt und viele Recruiter werden mit geringeren Budgets mehr leisten müssen.

Ein Gastbeitrag von Christoph Athanas

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Fotos: gettyimages

ie Dynamik der Ereignisse in der Corona-Krise überrollte alle. Binnen weniger Tage wurden ganze Teams ins Homeoffice versetzt und manchen Unternehmen regelrecht die Geschäftsgrundlage genommen. Das Maß an gefühlter Unsicherheit war und ist vielerorts noch größer als während der Finanzkrise. Arbeitgeber und Jobsucher reagierten so, wie Menschen es häufig tun, wenn viel Unsicherheit im Spiel ist: Die Füße stillhalten und erst einmal abwarten. Kein Wunder also, dass jeder zweite Arbeitgeber von weniger eingehenden Bewerbungen verglichen mit der Vor-Krisenzeit berichtet. Das ist ein Ergebnis aus unserer aktuellen Studie „Recruiting in der Coronakrise“, die wir mit dem Online-Jobportal stellenanzeigen.de gemeinsam durchgeführt haben. Die Bewerberrückgänge waren jedoch unterschiedlich hoch. Bei rund 15 Prozent der betroffenen Arbeitgeber waren es mehr als 75 Prozent weniger eingehende Bewerbungen. Ein wichtiger Grund dafür war die Ablenkung der Jobsucher durch die aktuellen Ereignisse. Zugleich haben ebenfalls viele Arbeitgeber ihre Recruitingaktivitäten verringert oder antizipierten bereits, dass ihr Unternehmen – oder ihre Branche – durch die aufkommende Krise weniger attraktiv sein wird. Zwei Drittel

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A N A LY S E

Für immer mehr von dem, was auf uns ­zukommt, fehlt uns die Erfahrung. Führungs­ kräfte sollten deshalb den fantasievollen ­Regelverstoß wagen. Doch wie sieht Führung jenseits der Norm aus?

Führen ohne Drehbuch Ein Gastbeitrag von Hans A. Wüthrich

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n Krisen suchen wir Orientierung. Das vertraute Reaktionsmuster lautet: Rückgriff auf das faktische Wissen, das uns Sicherheit gibt. Wir halten uns an die Empfehlungen autorisierter Institutionen und das Urteil von Experten. Je größer die Unsicherheit, desto lauter der Ruf nach Führung. Von Führungskräften wird erwartet, dass sie Sicherheit vermitteln und eindeutige Lösungen für mehrdeutige Probleme haben. Was geschieht jedoch, wenn – wie wir es in der Corona-­ Krise erleben – dieses orientierungsgebende Wissen nicht vorhanden ist? Institutionen, Politikern und Führungskräften fehlt das Drehbuch mit klaren Handlungsanweisungen. Sie müssen aushalten, nicht zu wissen, was in den kommenden Wochen auf sie zukommt. In echten Krisen ist es deshalb essentiell, Experimente zu wagen, denn in der Ungewissheit ersetzt das Experiment fehlendes Wissen.

Foto: wikimedia.org

Die Organisation als Labor verstehen

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In unseren Organisationen hat das Experiment jedoch keine Lobby. Wer als Führungskraft experimentiert, handelt in den Augen vieler semiprofessionell. Denn es dominieren Analytik, Rationalität und Systematik. Wie lässt sich ein ex57


P R A X I S

7 GEDANKEN

Zwischen Nähe und Distanz Jede Veränderung beginnt mit ­einem ­Gedanken. Hier sind sieben zur ­Arbeitszeit­gestaltung in Zeiten von ­Social ­Distancing Schaffen Sie ­ Kernarbeitszeiten ab

Schränken Sie physische Nähe ein Die Corona-Pandemie wird uns noch längere Zeit begleiten. Um Infektionen zu vermeiden, müssen Sie die direkte Kommunikation zwischen den Mitarbeitern, aber auch im Umgang mit den Kunden einschränken. Das ist das genaue Gegenteil dessen, was in den vergangenen Jahren aus guten Gründen en vogue war – man denke nur an die aktuellen Büro-Konzepte: die Herstellung von auch physischer Nähe.

Dort, wo die Mitarbeiter ihre Arbeitszeiten selbst steuern, müssen Regeln entfallen, die gemeinsame Anwesenheit erzwingen. Das betrifft insbesondere die Kernarbeitszeiten (bei oft standardisierten Pausenzeiten), wie es sie in vielen Betrieben immer noch gibt, obwohl sie kundenunfreundlich und wirtschaftlich unsinnig sind und noch dazu die Mitarbeiter unnötig einschränken. Aber auch eine Erweiterung des Arbeitszeitrahmens, innerhalb dessen gearbeitet werden darf, kann bei der nötigen Entkopplung der individuellen Arbeits- und Pausenzeiten helfen.

Lassen Sie die Arbeitszeit durch die Mitarbeiter selbst erfassen Mobiles Arbeiten sollte, auch weil es für Mitarbeiter nützlich sein kann, systematisch und nachhaltig eingeführt werden – am besten so, dass hierfür genau dieselben Regeln gelten wie für das Arbeiten im Betrieb. Dann kön-

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nen die Mitarbeiter unabhängig von ihrem aktuellen Arbeitsort zum Beispiel gemeinsam Servicezeiten abdecken, während derer den internen und/oder externen Kunden das sofortige Erbringen bestimmter Leistungen garantiert wird. Auch bei der Erfassung der Arbeitszeiten empfiehlt sich Einheitlichkeit – und dann kann es beim ortsflexiblen Arbeiten sowie angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, die Arbeit im Betrieb zu unterbrechen, nur um deren Selbsterfassung (zum Beispiel per App) gehen. Die weitverbreitete elektronische Kommt-/ Geht-Zeiterfassung, die nur Anwesenheiten misst und damit auch belohnt, ist damit passé. Auch dieser Ablösungsprozess steht schon lange an – und wird von der Corona-Pan-


PRAXIS

zum Beispiel dadurch, dass die Mitarbeiter in zwei Gruppen aufgeteilt werden, die wochenweise wechselnd Montag, Mittwoch, Freitag beziehungsweise Dienstag, Donnerstag, Samstag im Betrieb arbeiten. Zur Vertragsarbeitszeit fehlende Arbeitszeit kann jeweils an den übrigen Werktagen mobil erbracht werden, nach Absprache aber auch im Betrieb: außerhalb der von den Kollegen an „ihren“ Betriebstagen genutzten Zeit.

Gestalten Sie den ­Schichtbetrieb flexibler

demie befördert.

Fotos: gettyimages, Andreas Hoff

Nutzen Sie w ­ eniger ­Arbeitsplätze Kann der erforderliche Mindestabstand zwischen Arbeitsplätzen nicht eingehalten werden, sollte – ehe man Trennwände einbauen oder Masken vorschreiben muss – einfach nur eine geringe Anzahl der Arbeitsplätze besetzt werden. Arbeitszeitgestaltung kann das sehr gut unterstützen – etwa dadurch, dass die Mitarbeiter statt bisher fünf nur noch vier Tage pro Woche im Betrieb arbeiten, wobei der fünfte Tag über alle Betriebstage hinweg rotiert: Schon so kommt man mit 20 Prozent weniger Arbeitsplätzen aus. Noch deutlich höhere Einsparraten können bei Einbeziehung des Samstags erreicht werden: 50 Prozent j u n i  /  j u l i 20 20

Im Schichtbetrieb ist Social Distancing noch wesentlich aufwendiger. Hier wird man zum einen um individuell versetzte oder gar entkoppelte Schichten – die sich also nicht berühren – nicht herumkommen. Zum anderen muss die Vermischung von Schichtteams vermieden werden. Und diese sollten nach Möglichkeit noch einmal in kleinere, voneinander isolierte Gruppen aufgeteilt werden, damit bei einer Ansteckung nicht viele Mitarbeiter auf einmal ausfallen. Und Sie brauchen Notfallpläne für den letztgenannten Fall, in denen eventuell auch die vorübergehende Einführung von 12-Stunden-Schichten vorgesehen werden muss.

Gewähren Sie Arbeitszeit für die Einhaltung der ­Hygieneregeln Es kostet Zeit und Produktivität, die Hygienevorschriften einzuhalten, Arbeitsplätze und Arbeitsmittel regelmäßig zu desinfizieren und/oder Masken zu tragen, weswegen Letzteres stets nur als letzte Option genutzt werden sollte. Diese Zeit muss den Mitarbeitern innerhalb ihrer Arbeitszeit eingeräumt werden. Dabei sollten die Mitarbeiter die Regeln der Desinfektion eigenverantwort-

lich beachten und anwenden, weil sie nun einmal am besten wissen, was sie genutzt haben beziehungsweise nutzen werden.

Ergreifen Sie die Chancen, Kosten zu reduzieren Weniger direkte Kommunikation bietet auch Chancen: So können beispielsweise Meetings entfallen, mit kleinerer Teilnehmerzahl und/oder digital abgehalten werden, wobei Letzteres zugleich oft zu ihrer Verkürzung führt. Ebenso können Dienstreisen eingespart und im Schichtbetrieb Übergabezeiten dadurch verringert werden, dass fortlaufend und in guter Qualität dokumentiert wird. Auf diese Weise können – ebenso wie durch eine systematische Kopplung von betrieblicher und mobiler Arbeit – Kosten reduziert und die Produktivität gesteigert werden, auch über die Corona-Pandemie hinaus.

Andreas Hoff ist Wirtschaftswissenschaftler und Mathematiker. Er berät Unternehmen zur Gestaltung von Arbeitszeiten.

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RECHT

Endlich Freunde? Arbeitsrechtler werden von Personalern oft zu spät eingebunden, so dass Fehler entstehen, die im Nachhinein schwer zu korrigieren sind. Ähnlich verhält es sich mit Führungskräften, die mit rudimentären Arbeitsrechtskenntnissen loslegen, und HR gar nicht erst um Rat fragen. Weshalb Arbeitsrecht und HRM beste Freunde werden sollten Ein Essay von Alexander R. Zumkeller

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es lässt sich nicht beschönigen: Deutschland ist durchreguliert. Das gilt für viele Bereiche. Im Steuerrecht haben wir uns klaglos daran gewöhnt. Das gilt auch für das Arbeitsrecht – inklusive der Nebengebiete wie dem Sozial- oder Arbeitsschutzrecht. Wen wundert es da noch, dass selbst die Anzahl der Toiletten im Betrieb und die Entfernung dieser vom Arbeitsplatz exakt vorgeschrieben sind? Weshalb diese Durchregulierung auch problematisch sein kann? Weil man dann eigentlich nur noch alles falsch machen kann. Das gilt auch für andere Rechtsgebiete. Im Arbeitsrecht gibt es jedoch eine Besonderheit. Fangen wir mit den Schwellenwerten an: Wohl dem Arbeitgeber, der gleich ein paar Tausend Beschäftigte hat! Er muss sich nicht darum kümmern, welche Gesetze er befolgen muss: Es gelten einfach alle! Was ist mit kleinen und mittleren Unternehmen? Werden bestimmte Mitarbeiterzahlen überschritten – die sogenannten Schwellenwerte – hat das Auswirkungen auf Kündigungsschutz, Teilzeitanspruch, Bildung eines Betriebsrats, Einschränkung von Leiharbeitnehmern, Pausenraum, Sicherheitsbeauftragten, Schwerbehindertenquote, Sanitätsraum und so weiter. So braucht man beispielsweise ab einem Mitarbeiter einen Betriebsarzt, ab zwei Mitarbeitern Ersthelfer, ab fünf kann ein Betriebsrat gebildet werden, der Kündigungsschutz greift ab zehn Angestellten – die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Und dem Gesetzgeber fällt mit jeder Regelung ein neuer Schwellenwert ein. Es wäre jedoch zu einfach, nur die Köpfe im Unternehmen zusammen zu zählen. Nein, mal ist der Arbeitgeber die Basis, dann einzelne Betriebe, mal zählen alle Angestellten, dann nur jene in Voll64

zeit. Recherchieren Sie am besten vor jeder Neueinstellung, welcher Schwellenwert Ihnen eine neue Regelung beschert. Eine weitere Finesse des Gesetzgebers besteht in der Gestaltung der Regelungen. Man kann einerseits vieles gestalten im Arbeitsrecht, es gibt aber auch viele Grenzen. Prämien oder Zusatzvergütungen werden in der Regel begrenzt auf rund 25 bis 30 Prozent der Jahresvergütung – amerikanische Kollegen werden das nie verstehen. Kündigungsgründe gibt es nur die, die in § 1 KSchG und in § 626 BGB normiert sind. Ganz zu schweigen vom engen Korsett des Arbeitszeitgesetzes, was nicht nur für die Dauer, sondern auch die Lage der Arbeitszeit gilt. Aber innerhalb des Korsetts gilt die Gestaltungsfreiheit, juristisch formuliert:„Privatautonomie“. Wenn Personaler hoffen, sie hätten einen Arbeitsvertrag, der beide Seiten gleichermaßen bindet, werden sie enttäuscht. Der Arbeitgeber kann allenfalls im Rahmen des Weisungsrechts Ort, Lage und Inhalt der Arbeit näher bestimmen – soweit es der Vertrag nicht anders regelt. Der Arbeitnehmer jedoch hat Anspruch auf Teilzeit, Pflegezeit, Arbeitszeiterhöhung, auf Entgeltumwandlung in Altersversorge und vielleicht auch schon bald auf Homeoffice. Mit dem Anspruch auf Entgeltumwandlung in betriebliche Altersversorgung hat der Gesetzgeber den Arbeitgeber übrigens in eine nie gewollte Nachhaftung gebracht. Personaler sind also gut beraten rechtzeitig einen Arbeitsrechtler einzubinden. Der kann zwar nicht immer unliebsame Folgen abwenden, aber er kann darauf aufmerksam machen, was, wann und für wen gilt. Das gilt auch für den Arbeitsvertrag und um es gleich vorweg zu nehmen: Es gibt nicht den einen richtigen Vertrag. Finger weg von Muster-


IMPRESSUM

verträgen! Sie können eine Anregung sein – aber mehr auch nicht. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie wollen einen kaufmännischen Angestellten beschäftigen, vielleicht einen Betriebswirt oder einen Industriekaufmann, und haben nun die Wahl, was Sie in den Arbeitsvertrag schreiben. Ein befreundeter Personalfachmann rät Ihnen: „Schreib rein ‚kaufmännischer Angestellter‘, dann kannst du ihn nachher beliebig versetzen.“ Ein anderer, Ihnen wohlgesonnener HR-Kollege, sagt hingegen: „Der soll doch den Einkauf für den asiatischen Raum übernehmen. Schreib das rein, sonst weiß man nie, was passiert.“ Und beide haben Recht. Einige Jahre später wollen Sie, dass der damals eingestellte kaufmännische Angestellte den Verkauf für den europäischen Raum betreut. Mit der erstgenannten Vertragslösung können Sie ihn versetzen, mit der zweiten Lösung brauchen Sie sein Einverständnis oder eine Änderungskündigung. Wenn es um viele Fälle geht, kommen Sie damit vielleicht sogar in die Interessenausgleichspflicht, Massenkündigung et cetera. Hier wäre also die erste Vertragslösung die passende. In einem anderen Szenario – gleiche Ausgangssituation – wäre es jedoch vielleicht die zweite: Einige Jahre nach Einstellung des Einkäufers Asien geben Sie den asiatischen Raum komplett auf und konzentrieren sich auf Europa. Sie haben – neben dem Einkäufer Asien – noch zwei Einkäufer, einen für Europa und einen für Amerika, beide jung, ledig und ohne Kinder. Im Fall der ersten Vertragsgestaltung müssen Sie eine Sozialauswahl treffen – also dem Beschäftigten mit dem geringsten sozialen Schutz, gemessen an Dienstjahren, Unterhaltspflichten und Lebensalter ist als Erstem zu kündigen – im Fall der zweiten nicht. Ob das Ergebnis einer Sozialauswahl Ihnen gefällt oder nicht, Leistungsgesichtspunkte dürfen Sie nicht berücksichtigen – nur die im Gesetz genannten Sozialkriterien. Welcher Vertrag ist nun für Sie besser? Das kann im Zeitpunkt der Vertragserstellung vermutlich niemand sagen, nicht einmal Sie selbst. Aber Ihr Arbeitsrechtler kann Ihnen vor Vertragsabschluss sagen, welche Formulierungen welche Folgen haben – und Sie können dann einschätzen, was für Sie vermutlich vorteilhafter ist. Wenn Ihr Arbeitsrechtexperte das Unternehmen kennt, wenn er in HR-Prozesse wie auch in wirtschaftliche Überlegungen frühzeitig involviert ist, kann er für das Unternehmen oder den Unternehmensbereich maßgeschneidert Arbeitsverträge entwickeln.

Die Fehlerquellen und ihre Urheber Die für Arbeitsrechtler ärgerlichste – weil vermeidbare – Fehlerquelle sind Führungskräfte, die über keine arbeitsrechtliche Sensibilität verfügen. Gut also, wenn Führungskräfte auf kurzem Weg den Arbeitsrechtler fragen können, was sie tun oder besser lassen sollten. Nur wenige Beispiele verdeutlichen das:

Herausgeber Rudolf Hetzel Torben Werner (V. i. S. d. P.) Redaktion Hannah Petersohn (hp) Chefredakteurin hannah.petersohn@quadriga.eu Jeanne Wellnitz (jew) Redakteurin jeanne.wellnitz@quadriga.eu Autoren der Ausgabe Christoph Athanas Joël Luc Cachelin, Andreas Hoff Dieter Lederer, Peter Modler Diana Roth, Pascal Verma Mareike Wächter, Hans A. Wüthrich Larissa Zeichhardt Alexander Zumkeller Lektorat Christa Melli www.literatur-und-film.de Gestaltung Marcel Franke Kristina Haase Anzeigen Norman Wittig norman.wittig@quadriga.eu Abonnement Stefanie Weimann aboservice@quadriga.eu Druck PIEREG Druckcenter Berlin GmbH Benzstraße 12 12277 Berlin Im Internet www.humanresourcesmanager.de/ magazin Verlags- / Redaktionsanschrift Quadriga Media Berlin GmbH Werderscher Markt 13 10117 Berlin Telefon: 030 / 84 85 90 ­ Fax: 030 / 84 85 92 00 redaktion@humanresourcesmanager.de

Wartezeit Ein neueingestellter Mitarbeiter ist erkrankt. Dem Voraus ging, das die Führungskraft ihn nach nur drei Monaten nicht beurteilen wollte und ihm zusagte, nach drei weiteren Monaten werde sie das tun. Nach diesen sechs Monaten kommt die Führungskraft allerdings zum Schluss, dass der neue Mitarbeiter doch nicht der Richtige sei und möchte ihm kündigen – wundert sich jedoch, dass der interne Arbeitsrechtler fragt, wie hoch die Abfinj u n i  /  j u l i 20 20

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LETZTE SEITE

Die Saniererin Auf sie hat die traditionell geprägte Sanitär­ branche nicht gewartet, dennoch hat es ­Mareike Wächter als eine von wenigen ­Frauen und mit einer Digitalisierungsstrategie im Handwerk an die Spitze geschafft.

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Mein erster Mitarbeiter war … ein Programmierer, der für uns eine eigene komplexe Software entwickelt und unsere erste Website programmiert hat. Im Vergleich zu heute sah die Seite allerdings eher so aus, als ob zwei ehemalige Berater eine Powerpoint-Präsentation online gestellt hätten. Den Fachkräftemangel im Handwerk begegnen wir … mit sehr vielen Einstellungen von Quereinsteigern. Durch unseren starken Fokus auf Onboarding und softwareunterstützte Prozessabläufe können wir sie schnell einlernen und zu Profis in ihrem Job machen. Durch unser schnelles Wachstum mussten wir … unsere Organisationsstruktur sehr oft anpassen. Kaum haben wir unser Organigramm aktualisiert, stellen wir es bereits wieder infrage. Die Geburt meines zweiten Kindes wird mich nicht daran hindern … mich täglich mit Banovo zu beschäftigen, über Entwicklungsmöglichkeiten nachzudenken und durch Badzeitschriften zu blättern. Am meisten freue mich jedoch darauf … für ein paar Wochen aus dem operativen Geschäft raus zu sein und die Gedanken auch mal um strategische Themen wie Consumer und Employer Branding kreisen zu lassen.

HR ist für mich eine Herzensangelegenheit, weil … der Erfolg von Banovo komplett von unseren Mitarbeitern abhängt. Das umfasst nicht nur das Recruiting von Toptalenten, sondern es bedeutet auch im bestehenden Team auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten einzugehen – für mich beides zentrale Themen unserer Personalarbeit. Ein Buch, das ich immer wieder lesen würde, ist … „Die kleine Raupe Nimmersatt“. Muss ich meiner Tochter mehrfach täglich vorlesen und dient natürlich auch als mein Ernährungsratgeber. Eine Farbe, die Badfliesen meiner Meinung nach nie haben dürfen, ist … braun! Früher hätte ich grün geantwortet, aber mittlerweile gibt es wirklich tolle Bäder in Grüntönen. Mein absoluter Favorit fürs Gäste-WC: dunkel­blaue Fliesen mit gold-matten Ar­maturen. Die Fragen stellte Jeanne Wellnitz

Mareike Wächter gründete mit Michael Dreimann 2015 Banovo. Das Münchener Start-up revolutionierte mit seinen Online-Badsanierungen die traditionelle Sanitärbranche und beschäftigt mittlerweile 100 Mitarbeiter. Die 38-jährige ehemalige Unternehmensberaterin war zuvor Head of Finance bei Planet Sports.

Foto: Stefan Schmerold

Die Sanitärbranche macht es Newcomern nicht leicht, weil … sie mit ihrem intransparenten dreistufigen Vertriebsmodell digitale Geschäftsmodelle eher scheut. Die Idee, Badsanierungen online anzubieten, kam mir … im Austausch mit meinem Mitgründer Michael, als er ein Haus für sich und seine Familie sanierte und feststellte, dass eine Badsanierung für den Endkunden komplex, schwierig koordinierbar und preislich intransparent ist. Da dachten wir: Das geht besser! Als Frau in dieser männerdominierten Branche ist es am schwierigsten … im Raum als Chef identifiziert zu werden. Es kommt manchmal zu lustigen Situationen, wenn ich von Externen gebeten werde, ich möge dem Chef doch etwas ausrichten. Ich kann mich jedoch sehr gut durchsetzen und mit Fakten überzeugen. Dafür ist es dadurch leichter als Frau … weil man bei Branchenveranstaltungen nie bei den Damentoiletten anstehen muss. Die größte Hürde bei der Gründung war für mich … die komplexen Prozesse und Abläufe einer Badsanierung mit all ihren Gewerken und Produkten bis ins kleinste Detail zu verstehen und in digital unterstützte Prozesse zu übersetzen.


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