Christine Macel - Eine Geschichte

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Eine Geschichte Christine Macel

Eine andere Welt

In den vergangenen dreißig Jahren erlebten die Kunstwelten – und infolgedessen auch die Natur der Kunst – solch große Veränderungen, dass dieser Essay für eine umfassende Analyse keineswegs ausreicht. Es sei hier dennoch mit einer Skizze des historischen Rahmens dieser Umwälzungen begonnen, die für viele ihren Ursprung im Jahr 1989 haben.1 Der Fall der Berliner Mauer im November 1989, gefolgt von der deutschen Wiedervereinigung, die Geschehnisse auf dem Tian’anmen-Platz sowie die Bewegung des vierten Juni in Peking, die spätere Entwicklung Chinas hin zu einer Gesellschaft mit quasi-kapitalistischer Ökonomie, die Bücherverbrennung der Satanischen Verse von Salman Rushdie im Januar desselben Jahres sowie die anschließenden Debatten um Religion und Meinungsfreiheit sind nur einige Beispiele für die Stürme, die in immer stärkerem Maß das Gleichgewicht der Welt zu bedrohen schienen. Vom Golf krieg 1991 über die Terroranschläge vom 11. September 2001 bis hin zur Finanzkrise im Herbst 2008 – um nur einige Beispiele für große kollektive Traumata zu nennen – nahm die Geschichte eine immer bedrohlichere Gangart an. Die Künstler sahen sich in eine Welt gestellt, die ins Chaos zu stürzen drohte und der gegenüber sie nicht länger eine indifferente Haltung einnehmen wollten. Die Auflösung der kulturellen Hegemonie Europas und der Vereinigten Staaten kann als eine der wichtigsten Folgen dieser historischen Verwerfungen bezeichnet werden, mit enormen Auswirkungen auf die Kunst, von der man durchaus sagen kann, dass sie seither selbst global und »Weltkunst« geworden ist, wenngleich nicht mehr universal im Sinne der Auf klärung. Aber auch die Subjektivität selbst hat in der heutigen Konsum- und Mediengesellschaft eine tiefgreifende Wandlung erfahren. Die Veränderungen im Bereich der ästhetischen Erfahrung und der künstlerischen Produktion wären dann als Folge dieses Wandels zu verstehen. Erste Anzeichen der gegenwärtigen »Kulturrevolution« des Subjekts waren die Hoch6

konjunktur der Massenkultur und des Kulturtourismus, neue Konsumformen der Kunst sowie das Vordringen des Marketings in den Kunstbereich. Zugleich war die Wertschätzung zeitgenössischer Kunst noch nie so groß wie seit den 1990er-Jahren. Vorausgegangen war in Frankreich eine Neuauflage der »Querelle des Anciens et des Modernes«, die mit allgemeiner Zustimmung für die Gegenwart entschieden – oder zumindest beigelegt – wurde. Unterdessen explodierte die Zahl der Künstler, der Galerien, der Allianzen zwischen Galerien und Kuratoren oder Ausstellungsmachern. Heute bieten sogar Wintersportorte für die Touristen Kunstausstellungen an, hier in Gstaad beispielsweise eine Ausstellung mit Installationen im Schnee2 oder in Valloire – bisher vor allem als Wohnort des Skirennläufers Jean-Baptiste Grange bekannt und weniger durch seine Kunstförderung – eine Ausstellung von Sophie Calle in der barocken Dorf kirche. Man könnte daraus ableiten, dass seit den 1980er-Jahren eine wahre »Demokratisierung« der zeitgenössischen Kunst stattgefunden hat – sei es durch konzertierte politische Aktionen, sei es durch intensive Bemühungen der Kunstvermittlung. Dennoch speisen sich die hohen Besucherzahlen der Museen nach wie vor in erster Linie aus den Bildungsschichten. Am folgenreichsten war jedoch zweifellos die Entwicklung des Markts für zeitgenössische Kunst seit den 1980er- und vor allem seit Ende der 1990er-Jahre, wobei insbesondere ihr Auftauchen in den Auktionshäusern eine große Rolle spielte. Oder wie Benjamin Buchloh 2011 in einer realistischen, wenngleich pessimistischen sowie radikalere oder distanziertere Künstlerpositionen ausschließenden Zustandsbeschreibung darlegte: Die Äußerungen Warhols aus den 1970er-Jahren zum »Art Business«, die er damals als Parodie interpretiert habe, wirkten auf ihn heute, da Kultur zum Geschäftsfeld und Spekulationsobjekt geworden sei, eher wie eine Prophezeiung.3 Nach den Rekordpreisen von 1988 sowie der Rezession von 1990


ist seit Ende der 1990er-Jahre auf dem Kunstmarkt ein erneuter Höhenflug der Preise zu beobachten, trotz einer weiteren Rezession im Jahr 2008, bei gleichzeitiger Konstanz, ja sogar Hausse, der zeitgenössischen Kunst. Hinter Warhol und Jean-Michel Basquiat rangieren Damien Hirst, Jeff Koons und Richard Prince als die großen Gewinner der jüngsten Transaktionen. Aber auch die Maler Peter Doig, Martin Kippenberger, Gerhard Richter und Christopher Wool konnten mithalten. Dieses Phänomen führt jedoch auch zu Auswüchsen, wie Thomas McEvilley bereits Anfang der 1990er-Jahre klar erkannte, als er konstatierte, dass Kunstwerke bereits als Ware entstehen und nicht erst dazu gemacht werden. Die Folge davon ist, dass anstelle einer Legitimation durch Kunstinstitutionen oder Kunstkritiker häufig die Legitimation durch den Markt stattfindet. Trotz der Entwicklung hin zur »Weltkunst« beherrschen hinsichtlich Wertschöpfung und Volumen die USamerikanischen und chinesischen Künstler den Markt. Die USA waren 2012/13 mit 56 Prozent führend, gefolgt von China 4, Großbritannien und Frankreich. Auch die über den angelsächsischen Raum hinausreichende, noch nie dagewesene Medienwirksamkeit zeugt davon, dass die Gegenwartskunst zu einem Luxusprodukt und einem weltweit geschätzten Investitionsobjekt geworden ist. Doch sollte diese Tatsache nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Großteil ausgestellter Kunst keinen Platz in diesem Markt findet und dass diese Dominanz des Ökonomischen nur für die Spitze der »Kunstpyramide«, wie sie von Artprice oder Artfacts beschrieben wird, zutrifft.5 Die Mehrheit der Gegenwartskunst bleibt von diesem System ausgeschlossen, in dem die Künstler sich entweder zu platzieren versuchen oder zu dem sie bewusst Alternativen in einem stärker als jemals zuvor kontrastierenden Milieu entwerfen. Eine globale Kunst?

Die Globalisierung der Kunstwelten stellte die andere große Umwälzung innerhalb der letzten dreißig Jahre dar. Nach 1989 vollzog sich eine Dekonstruktion der westlichen doxa der Kunst, was teils mit der Auflösung der kulturellen Hegemonie Europas und der USA zu tun hatte, teils mit den neuen künstlerischen Ansätzen, wie sie vor allem von afrikanischen, afroamerikanischen und lateinamerikanischen Künstlern verfolgt wurden. Bereits die Ausstellung Primitivsm in 20th Century Art: Affinity of the Tribal and the Modern von William Rubin und Kirk Varnedoe im New Yorker

Museum of Modern Art 1984 lenkte das Augenmerk darauf, dass die westliche Kunst der Moderne nicht ohne den Dialog mit anderen Kulturen denkbar war, wenngleich der Begriff des »Primitivismus« heftig kritisiert und inzwischen auch ad acta gelegt wurde.6 In der Ausstellung wurden afrikanische Kunstwerke, völlig aus ihrem Zusammenhang herausgelöst, Meisterwerken der westlichen modernen Kunst gegenübergestellt, was damals zu lebhaften Diskussionen führte. So warf in der Zeitschrift Artforum Thomas McEvilley den Kuratoren vor, die Objekte aus Afrika und anderen Weltgegenden lediglich als Inspirationsquelle für berühmte Werke der modernen Kunst behandelt zu haben (wie zum Beispiel Picassos Les Demoiselles d’Avignon), ohne ihnen einen eigenständigen Wert innerhalb ihres jeweiligen kulturellen Kontexts zuzuerkennen. Die Ausstellung Les Magiciens de la Terre im Centre Pompidou 1989, kuratiert von Jean-Hubert Martin, markierte in dieser Hinsicht einen gewissen Wendepunkt,7 indem sie zahlreichen Debatten und Kontroversen den Weg bereitete. In der Londoner Ausstellung The Other Story zeigte die pakistanischstämmige britische Künstlerin Rasheed Araeen im selben Jahr erstmals ausschließlich nicht-westliche Künstler, hauptsächlich aus afrikanischen Ländern und aus Indien8 – womit in der Kunst endgültig die postkoloniale Ära einsetzte. Vor allem die neu gegründeten Biennalen für zeitgenössische Kunst sowie die damals neu etablierten Süd-Süd-Beziehungen trugen seit Ende der 1980er-Jahre dazu bei, die Rollenverteilung in der Kunstwelt zu verändern, sodass die Hegemonie des Westens allmählich aufgelöst wurde. Die Biennale von Havanna im Jahr 1986 gilt heute als erste wahrhaft globale Biennale der Welt. Ihr Gründer Gerardo Mosquera fühlte sich dabei vom Geist der »konkreten Utopie« getragen. Nach der Premiere 1984 mit Künstlern aus der Karibik und Lateinamerika wurden beim zweiten Mal auch Künstler aus Afrika und Asien eingeladen, womit erstmals eine Biennale ohne westliche Beteiligung stattfand.9 Die zweite Ausgabe der Biennale von Johannesburg im Jahr 1997 mit dem Titel Trade Routes, konzipiert von Okwui Enwezor, widmete sich genau diesen Fragen der Geschichte, Geografie und Globalisierung und rief zu einer postkolonialen Kritik der herrschenden Denkmuster auf, in der die Begriffe kultureller Konjunktion und Disjunktion eine zentrale Rolle spielten. Die sechs Ausstellungssektionen der Biennale wurden von Kuratoren aus unterschiedlichen Weltregionen 7


betreut, unter anderem aus Kuba (Gerardo Mosquera), Lateinamerika (Octavio Zaya), China (Hou Hanru) und Korea (Yu Yeon Kim). Als Kurator der documenta 11 (2002) setzte Okwui Enwezor (unter Mitarbeit von Kuratoren aus aller Welt, inbesondere Sarat Maharaj10 aus Südafrika) diesen globalen Ansatz in noch größerem Maßstab fort. Bei über zweihundert Biennalen auf allen Kontinenten kann heutzutage mit Fug und Recht von einer weltweiten Kunstlandschaft gesprochen werden. Neben den »Gründungsbiennalen« – der Biennale von Venedig (1895), der Whitney Biennial (1932) und der Biennale von São Paulo (1951) – eroberten sich inzwischen so viele weitere Ausstellungen im Zweijahresturnus einen festen Platz im internationalen Kunstkalender, dass sogar ein Symposium zum »Biennale-Effekt« stattfand.11 Lässt sich daraus ableiten, dass im Zeitalter des Multikulturalismus die Kunst tatsächlich global geworden ist, verbunden mit einer Lockerung der ethnischen Identitäten sowie dem Versuch, einen neuen Dialog mit dem Anderen zu etablieren, trotz der Gefahr von Übersetzungsproblemen zwischen verschiedenen kulturellen Sphären? Laut Joaquín Barriendos Rodríguez, Analytiker des decolonial turn, verhinderte die Anerkennung anderer Modernitäten und anderer Kunstszenen jedoch nicht die gleichzeitige Re-Okzidentalisierung,12 ein von Gerardo Mosquera auch »Manhattanzentrismus« genanntes Phänomen.13 »Die Institutionalisierung des Konzepts einer globalen Kunst als neues Leitbild einer vom Westen geprägten Museografie«, so Joaquín Barriendos Rodríguez, »ist eine der Modeerscheinungen, in denen eine solche Kolonialität der Macht heute zum Ausdruck kommt.«14 Welche Begrifflichkeit aber wäre geeignet, den Zustand der Gegenwartskunst angemessen zu beschreiben, da der Begriff des Universalismus dafür nicht mehr tauglich ist?15 Die Bezeichnung globale Kunst oder neuer Internationalismus erscheint dafür passender als der Begriff einer »globalisierten Kunst«,16 vor allem da zahlreiche Künstler als Reaktion auf die Globalisierung gerade lokale oder regionale Aspekte betonen. Auch existieren zu viele kulturelle Mischformen und sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern zu offenkundig, als dass eine solche begriffliche Nivellierung der jeweiligen Situation angemessen wäre. Man denke nur an die sich entfaltende Kunstszene in Saudi-Arabien, eine Folge des unlängst erfolgten Modernisierungsschubes, 8

oder an Brasilien, wo die Gegenwartskunst an eine eindrucksvolle Tradition der Moderne im 20. Jahrhundert anknüpfen kann. Die Museen für zeitgenössische Kunst sahen sich angesichts dieser Entwicklung – und nach der Krise der »Nationalmuseen« in den 1990er-Jahren17 – vor die Aufgabe gestellt, die Wende zur globalen Kunst und zum Transnationalismus aktiv mitzugestalten, und dies trotz des paradoxerweise gleichzeitig wiedererstarkenden Nationalismus. Es galt, »Zentrismen« aller Art zu überwinden. Darüber hinaus waren die Museen mit den zahlreichen Neugründungen privater Stiftungen sowie mit einem neuen Typus von Sammler konfrontiert, wodurch sich die Situation für sie deutlich gewandelt hatte.18 Die Strategie des Musée national d’art moderne du Centre Pompidou, seit jeher international ausgerichtet, bestand darin, jungen Kunstszenen in aller Welt besondere – oder auch neu erwachte – Aufmerksamkeit zu schenken. Dabei wurde ein verstärkter Fokus auf bestimmte Länder und Kunstszenen gelegt, sei es in Fortführung bereits exisitierender Sammlungsschwerpunkte, sei es im Rahmen von Ausstellungsprojekten oder großzügigen Spenden von Freundeskreisen und Stiftern. Eine solche vertiefte Sammlungstätigkeit erstreckte sich auf die Länder des ehemaligen europäischen Ostblocks, China, den Libanon und weitere Länder des Nahen Ostens, Indien, Südafrika, aber auch Mexiko und Brasilien. Da es nahezu unmöglich geworden ist, den Überblick über die gesamte weltweite Entwicklung der Kunst zu behalten, wurde eine gezielte Auswahl getroffen, statt auf Totalität abzu zielen. Auch das MoMA, die Tate Modern und das Guggenheim Museum haben auf ihre Weise begonnen, die Geschichte der modernen und zeitgenössischen Kunst neu zu schreiben. Die Tate Modern beispielsweise erweiterte ihre Förder- und Freundeskreise bis nach Indien, Afrika und in den Nahen Osten. Das Guggenheim Museum legte mit Unterstützung von UBS ein neues Programm zu weltweiten Kunstankäufen auf. Jedoch ist es den Museen bisher nicht gelungen, ein Grundproblem zu lösen, nämlich das der Rekontextualisierung der Werke in ihre lokalen Entstehungszusammenhänge. Nicht nur erweist sich jede historische Narration als zwangsläufig homogenisierend, für eine solche Rekontextualisierung sind auch, was häufig nicht bedacht wird, zusätzliche personelle und finanzielle Mittel notwendig. Allerdings bildete sich in den vergangenen Jahren verstärkt die dafür erforderliche


engere Partnerschaft zwischen Forschung und Museum aus. Bei neuen Ankäufen wird darauf geachtet, dass gleichzeitig eine Dokumentation des lokalen Umfeldes erstellt wird, um später eine nicht-verkürzende Analyse der Heterogenitäten zu ermöglichen. Wie und nach welchen Kriterien wird die Geschichte der Kunst heute erzählt?

Auch die Präsentation von Kunst sowie deren kritische Bewertung im Rahmen öffentlicher oder privater Institutionen durchlief im selben Zeitraum einen signifikanten Wandel. Dies hat zum einen mit der zuvor in dieser Weise nicht gekannten Vormachtstellung der Ausstellungsmacher oder Kuratoren zu tun, die als Stars des Kunstbetriebs und der Medien nicht nur zuweilen die Künstler in den Hintergrund gedrängt, sondern auch die »Kunstkritiker« in ihrer Rolle als normative Instanz ersetzt haben. Was den kunstkritischen Diskurs betrifft, so wurde er bis auf wenige Ausnahmen – man denke in Frankreich an die Artikel von Christophe Kihm in der Zeitschrift Art Press, in denen er diese Position aufrechtzuerhalten versucht19 – inzwischen meist durch beschreibende Texte ohne wertende Stellungnahme ersetzt. Dieser Entwicklung folgten die Kunstzeitschriften umso bereitwilliger, als sie in ihrer prekären wirtschaftlichen Lage auf Werbeeinahmen angewiesen waren. Diese Situation scheint einerseits Folge der enormen Zunahme von thematisch orientierten Gruppenausstellungen zu sein, wodurch dem Kurator die führende Rolle zugewiesen wurde – was durchaus nicht allen Künstlern gefiel. Daniel Buren etwa griff fast vierzig Jahre nach seiner ersten Kritik an der Rolle des Kurators seine Überlegungen von 1972 in dem Text »Where Are the Artists?«20 aus dem Jahr 2000 wieder auf, um die Rolle des Künstlers als eines Interpreten der thematischen Vorgaben durch einen Kurator abzulehnen und dazu aufzurufen, den Kurator bei Kunstereignissen wie der documenta durch den Künstler zu ersetzen. Mit dieser Entwicklung ging auch die explosionsartige Vermehrung von Texten über den Kurator und das Kuratieren einher.21 Die Zeitschrift The Exhibitionist – herausgegeben von Jens Hoffmann – beschäftigt sich ausschließlich mit der kuratorischen Praxis. Auch das Journal of Curatorial Studies gilt es hier zu erwähnen, wie überhaupt die curating studies inzwischen einen – teils unverhältnismäßig – großen Raum einnehmen, verglichen mit dem Studium der Kunstgeschichte als Basis hierfür.

Andererseits erscheint die Auf hebung der traditionellen ästhetischen Kriterien sowie das allmähliche Verschwinden eines kritischen Diskurses, an dessen Stelle hagiografische Texte treten, eben den geschilderten Veränderungen der Kunstwelten geschuldet. Benjamin Buchloh spricht von der Kapitulation der Kunstkritik gegenüber dem Museum und den trustees, das heißt gegenüber der Macht des Kunstmarkts und seiner Institutionalisierung.22 Keineswegs nostalgisch artikuliert er die von vielen empfundene Notwendigkeit einer neuen Reflexion der Bewertungskriterien künstlerischer Werke und Praktiken, die – falls überhaupt noch vorhanden – häufig durch ethische Urteile abgelöst wurden. Eine Wende zur political correctness und zum sozialpolitischen Engagement in der Kunst veranlasste zahlreiche Kritiker dazu, die früheren Kriterien kunstkrititischer Wertung durch ethische Maßstäbe zu ersetzen, wozu vor allem die »Nachdrücklichkeit« eines Engagements zählt. Ebenso wie ethische Aspekte seit jeher Bestandteil künstlerischer Arbeit sind, gehören formale, ästhetische, konzeptuelle und intellektuelle Gesichtspunkte ebenfalls zum Nachdenken über ein Kunstexperiment, unabhängig davon, wie es beschaffen ist und welche Botschaft es vermittelt, auf die es jedoch nicht zu reduzieren ist. In den letzten Jahren fanden in der Kunst mehrere große Kurswechsel statt. An erster Stelle ist hierbei der durch die medientechnologische Entwicklung bedingte Wandel zu nennen. Digitaliserung, Internet und virtuelle Wirklichkeiten ließen die Definition der Fotografie als »Lichtbild« hinfällig werden, ebenso wie die Autonomie von Medien wie Film oder Video. Rosalind Krauss gebraucht den Begriff des »postmedialen« Zeitalters,23 um die neue Situation der Kunst zu beschreiben, die nicht nur ihre Autonomie verloren, sondern auch die frühere Undurchlässigkeit der von den Künstlern inzwischen häufig vermischten medialen Kategorien hinter sich gelassen hat. Diese technologische Revolution führte auch zu einer völligen Umgestaltung der künstlerischen Netzwerke, einer bisher nicht dagewesenen Verdichtung von Zeit und Raum, sowie einer größeren Mobilität der Künstler. Neue Kunstpraktiken entstanden. Stärker als zuvor wird nun der Klang24 als eigenständiges Material für Installationen genutzt. Die Künstler profitieren dabei von den neuen Technologien, die es ihnen ermöglichen, Klangfolgen auf dem Computer zu programmieren, häufig in Verbindung mit Bildmaterial. Ganze Ausstellungen – von manchen als eigenes 9


Medium betrachtet – lassen sich als Loop entwickeln, man denke etwa an Arbeiten von Philippe Parreno oder Anri Sala. In den vergangenen dreißig Jahren haben sich die Kunst und das Künstler-Sein grundlegend gewandelt. Diesen Wandel will die Ausstellung Eine Geschichte nachvollziehen. Sie folgt dabei keinem chronologischen oder im engeren Sinne thematischen Konzept, sondern zielt vielmehr auf eine tiefergehende Analyse dessen ab, was künstlerische Tätigkeit heutzutage ausmacht, jenseits nationaler Kunstszenen oder bestimmter Kulturbereiche. In der globalen Kunst von heute treten nämlich trotz aller Partikularismen bestimmte »Kraftlinien« zutage, die mit der Art und Weise des Sich-in-Beziehung-Setzens zur Welt, zur Wirklichkeit, zu unterschiedlichen Feldern des Wissens sowie den Feldern, die mit der bildenden Kunst eng verbunden sind, zu tun haben und weniger mit einer ganz bestimmten künstlerischen Praktik im Atelier, das sich für viele auf einen Schreibtisch oder einen Computer reduziert oder in ein Unternehmen verwandelt hat. Der Begriff »Praktik« – oder auch Untersuchung –, der in zahlreichen Texten über zeitgenössische Kunst den Werkbegriff abgelöst hat, zeugt von einem bedeutenden Umbruch im Verhältnis des Künstlers zu seiner »Arbeit«, ein ebenfalls häufig gebrauchter Begriff – Anzeichen dafür, dass die zeitgenössische Kunst die hierarchische Logik von Werk und Meisterwerk, die für die Moderne noch kennzeichnend war, hinter sich gelassen hat. Der Begriff der Praktik, wie Franck Leibovici in seiner aufschlussreichen Studie25 herausstellt, zeugt überdies davon, dass jeder Künstler seine Haltung ausgehend von einer Lebensform neu erfindet, sei es durch Sammeln und Archivieren, das Abhalten von Workshops oder die Erkundung mit traditionellen Mitteln wie Zeichnung, Malerei, Fotografie oder Skulptur. Das Spektrum solcher Praktiken war noch nie so breit wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wo der »Wettstreit der Medien« glücklicherweise beendet zu sein scheint und die Künstler ihre Tätigkeitsfelder gerade neu abstecken. Auch die Kunstgeschichte war Gegenstand zahlreicher Debatten. So verkündeten etwa Francis Fukuyama und Arthur Danto in den 1980er-Jahren das Ende der Geschichte und den Eintritt in das Zeitalter der Postmoderne. In den 1990er-Jahren erfolgte dann die Hinwendung zu einer nichtlinearen, stärker horizontal als vertikal ausgerichteten Geschichtsschreibung, die auch lokale Mikroerzählungen einbezog. Damit 10

eröffnete sich ein weites neues Forschungsfeld. Fragen der ethnischen Identität standen ebenfalls im Zentrum, wobei hier vor allem afroamerikanische Künstler die Diskussion entscheidend prägten, von denen sich einige bereits – in der Begrifflichkeit der Kuratorin Thelma Golden und des Künstlers Glenn Ligon – der Ära der »post-black art« zurechneten. Nicht zuletzt muss die Kunstgeschichte der vergangenen dreißig Jahre den Maßstäben der postcolonial studies standhalten und den besonderen Kontexten der jeweiligen Kulturbereiche gerecht werden. Unablässig entstehen neue Kunstszenen, sei es in Vietnam26 oder in den Ländern des Kaukasus27. Große Länder wie Indien oder China haben sich bereits seit den 1990er-Jahren fest etabliert. Schließlich hat die feministische Bewegung zahlreiche Arbeiten von Künstlerinnen ans Licht geholt, etwa durch legendäre Ausstellungen und Kataloge wie Wack! Art and the Feminist Revolution (2007/08) in New York und Los Angeles, Elles im Centre Pompidou in Paris (2009–2011) 28 und Modern Women im New Yorker MoMA (2010). Darüber hinaus bildeten sich die Themen Gender und Postgender als Schwerpunkte einer Debatte heraus, in der vor allem Judith Butler mit ihrer Schrift Das Unbehagen der Geschlechter (dt. 1991) großen Einfluss auf eine junge Generation von Künstlerinnen und Kritikerinnen ausübte.29 Die Künstler reagierten auf die neuen Wirklichkeiten mit einer häufig kritischen Haltung und entwickelten neue Praktiken der Auseinandersetzung mit einer sich in sprunghaftem Wandel befindlichen Welt. In Verkürzung auf einige Hauptlinien der Entwicklung ließe sich sagen, dass in den 1990er-Jahren zunächst der Künstler als Geschichtsschreiber und Archivar die Bühne betrat, in Reaktion auf die allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen, aber auch aufgrund der bisweilen schmerzvollen und brüchigen eigenen Lebensgeschichte. Eine neue, teils von rückwärtsgewandter Sehnsucht geprägte Erinnerungskultur griff in der Kunst um sich, ganz als würde die noch ungenügende Erforschung und gedankliche Bewältigung der jüngsten Vergangenheit schwer auf den Gemütern lasten; oder als würde die zeitgenössische Gegenwartsfixiertheit, die manchmal mit der Unfähigkeit, im Augenblick zu leben, einhergeht, zu einer Selbstvergewisserung in der Vergangenheit herausfordern. Ein Großteil der Künstler, vor allem im westlichen Kulturbereich, wandte zudem den Blick überprüfend zur Moderne zurück und betrieb in der eigenen Arbeit


ein »re-enactment«, wobei sie gleichzeitig die in den 1980er-Jahren so beliebte Zitatkunst fortführten, wie von Jan Verwoert30 oder Claire Bishop aufgezeigt. Historische Dokumente konnten somit sowohl als Quellenmaterial wie auch als Thema relevant sein, ebenso wie Archäologie, Ethnologie und Anthropologie für zahlreiche Künstler der 1990er- und 2000er-Jahre – von Mark Dion bis Camille Henrot – wichtige Inspirationsquellen und zugleich Modell für ihre Arbeit waren. Ein dokumentarisches Bedürfnis hat sich in einer Art von neuem »Realismus« Bahn gebrochen, wie an der Überfülle von Fotografien, Videos und Filmen abzulesen ist, welche die Wirklichkeit, vor allem in ihrer sozialen und politischen Dimension, möglichst ungeschminkt abzubilden versuchten (man denke hier nur an Allan Sekula oder Bruno Serralongue, aber auch an Renée Green, Ferhat Özgür und Marie Voignier). Das Wirkliche selbst und Alltagsgegenstände waren Ausgangspunkt für unzählige Skulpturen und Installationen, die das Banale poetisch verklärten und die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit – zweier selbst ebenfalls tiefen soziologischen Umwälzungen unterworfenen Sphären – neu artikulierten. Gabriel Orozco zählt zu den herausragenden Vertretern dieser sensiblen Erkundungen. Die neue »prekäre« Skulptur – um eine Formulierung des Kunstkritikers Hal Foster31 zu verwenden – widmete sich mit politischem Anspruch ebenfalls dem veränderten und erneuerten Bezug zur Form, wofür vor allem der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn steht. Andere, wie Philippe Parreno, Rirkrit Tiravanija, Liam Gillick, Dominique Gonzalez-Foerster und Pierre Huyghe, befassten sich dagegen mit den virtuellen Welten und schufen dabei völlig neue Partizipationsund Kollaborationsmodelle. Für die 1990er-Jahre war es dabei charakteristisch, dass die Künstler sich weniger durch eine gemeinsame Ästhetik – oder esthétique relationnelle mit Nicolas Bourriaud – als durch starke persönliche Bindungen, künstlerischen Austausch und wiederholte Zusammenarbeit verbunden fühlten. Der Künstler wurde zum Produzenten, eine bereits von Walter Benjamin postulierte und später von Dan Graham aufgegriffene Haltung,32 die in den 1990er-Jahren eine Realität ausdrückte, da die Künstler sich häufig am Film und seinen Produktionsweisen (einschließlich der Postproduktion) orientierten. Das Thema der Subjektivität, in der zeitgenössischen Diskussion manchmal vernachlässigt, führte zu zahlreichen um das eigene Selbst kreisenden Reflexio-

nen, sowohl in narrativer wie auch in performativer Weise, wobei der – manchmal geradezu obsessiv behandelte – Bezug zum Körper eine besonders große Rolle spielte. Viele Künstler verstanden sich nun auch als Erzähler oder Autobiografen und widmeten sich nach dem Beispiel von Christian Boltanski einer fiktiven Darstellung intimer Lebensbereiche. Manche Praktiken wie die Performance erfuhren einen beachtlichen Wiederaufschwung, mit vielfältigen Anleihen bei anderen Kunstformen wie dem Tanz, dem Theater oder der literarischen Lesung. Ausstellungen in Hotelzimmern,33 Ausstellungen on stage,34 diskursive Ausstellungen oder Ausstellungen als Plattform – wie Utopia Station bei der Biennale von Venedig 200335 –, nicht visuelle oder choreografierte Ausstellungen36 … die Ausstellung, für manche Künstler zu einem eigenen Medium geworden, definiert sich seither immer wieder neu und anders. Unabhängig von all diesen Fragestellungen befassten sich viele Künstler, die weiterhin Malerei betrieben, mit einer Neuerfindung ihres Mediums, wovon die Räume des Musée national d’art moderne in den vergangenen Jahren beredtes Zeugnis ablegten. In der Nachfolge eines Daniel Buren oder Olivier Mosset, um besonders radikale Beispiele zu nennen, wies etwa Steven Parrino der Malerei neue Wege, während in der Generation von Künstlern wie Wade Guyton oder Cheyney Thompson neue Malweisen mit Computern und Druckern erprobt wurden und werden. In den 2000er-Jahren war dann – von Reena Spaulings bis Claire Fontaine – eine Tendenz zu neokonzeptueller Kunst zu beobachten, der Michel Gauthier eine treffende Analyse widmete.37 Manches Zeitgeist- und Modephänomen wird die Zukunft sicherlich anders bewerten, doch lässt sich mit geschärftem, ironischen Blick bereits heute allzu Vergängliches erkennen. In Anlehnung an Modemagazine machte sich ein anonymer Kritiker einen Spaß daraus, aufzuführen, was gerade als besonders »hot« gelte und was nicht – mit dem Ergebnis, dass es zum Zeitpunkt seines Resümees offensichtlich angesagt war, transversal, postfiktional, superperformativ und mit nicht-humanen Spezies zu arbeiten.38 Diese »Kraftlinien«, denen die einzelnen Kapitel des vorliegenden Kataloges nachgehen, konturieren Teilbereiche einer Kunstgeschichte, die es erst noch zu schreiben gilt und deren Aufgabe es wäre, Mikroerzählungen und die Kunst an den Rändern mit den »großen Erzählungen« zu verbinden. Eine Geschichte – gleichwohl eine Teilgeschichte, da es sich dabei um 11


Werke aus der Sammlung des Centre Pompidou handelt, aus denen zudem eine bestimmte Auswahl getroffen wurde – versteht sich deshalb als Ansatz zu einer neuen Kunstgeschichte, die ohne hierarchische Wertung und auf dialektische Weise – in der Begrifflichkeit der Kunsthistorikerin Zdenka Badovinac – Partikularismen und Parallelgeschichten mit den lautstarker vorgetragenen dominanten Erzählungen zu verknüpfen weiß und damit dem Phänomen der globalen Kunst unserer Zeit gerecht zu werden vermag.

12


1

Siehe dazu den Sammelband 1989, hg. v. Paul Ardenne, Paris

Herkunftsland äußert. Zu dieser Kategorie zählen beispiels-

1995, sowie den Essay von Dieter Roelstraete in der vorlie-

weise Palästinenser, Iraner, Chinesen und Südafrikaner«,

genden Beilage, S. 16–21. 2

Elevation 1049. Between Heaven and Hell, Ausstellung mit Werken verschiedener Künstler in situ in Gstaad, Schweiz, 27.1.–8.3.2014.

3

Unübersetzbarkeit des Anderen sind hier aufschlussreich.

2011, S. 76–82. Buchloh bezieht sich darin auf Andy Warhols

Siehe Sarat Maharaj, »Perfidious Fidelity: The Untranslatab-

The Philosophy of Andy Warhol (From A to B and Back Again)

ility of the Other«, in: Jean Fisher (Hg.), Global Visions:

von 1975 mit dem Abschnitt »Art Business Versus Business

Towards a New Internationalism in the Visual Arts, London

»China nach 1989 ist ein Beispiel dafür, welcher Preis für einen Kompromiss zwischen Regierungspolitik und Kunsthandel gezahlt werden muss«, Hans Belting, »Contemporary

5

2010. 12 »Innerhalb sehr kurzer Zeit hat der Mainstream sein Territorium verlassen und sich auf die Suche nach der

Andrea Buddensieg (Hg.), The Global Art World, Ostfildern

Peripherie begeben. Wie in den alten Tagen des kolonialisti-

2009, S. 39 (Übers. B.O.).

schen Expansionsdrangs wecken Alterität, Exotismus,

Malcolm Bull, »The Two Economies of World Art«, in:

Diversität – oder in einem Wort, das Andere – die Begierde

Jonathan Harris (Hg.), Globalization and Contemporary Art,

der Museen, Galerien, Makroausstellungen und Messen für

New York 2011, S. 179–190. Malcolm Bull setzt sich darin mit

zeitgenössische Kunst […] Die Fetischisierung der Alterität

Boris Groys auseinander, der in Art Power, Cambridge (MA)

und die Ästhetisierung des Niedrigen und Marginalen zählt

2008, weiterhin die »Freiheit« der Kunst proklamiert.

wahrscheinlich zu den irreführendsten und widersprüchlichsten Erscheinungen der Multikulturalität«, Joaquín

New York, Dezember 2006 – Januar 2007, kuratiert von

Barriendos Rodríguez, »Global Art and the Politics of

Studierenden von Susan Vogel, Columbia University, New

Mobility: (Trans)Cultural Shifts in the International

York.

Contemporary Art-System«, in: Mieke Bal und Miguel Á.

Siehe Lucy Steeds u.a., Making Art Global: Magiciens de la

Hernández-Navarro (Hg.), Art and Visibility in Migratory

terre 1989, Bd. 2, London 2013, und Annie Cohen-Solal,

Culture. Conflict, Resistance, and Agency, Amsterdam 2011,

Magiciens de la Terre, retour sur une exposition légendaire, Paris 2014. 8

1994, S. 28–35. 11 Elena Filipovic u.a. (Hg.), The Biennial Reader, Ostfildern

Art as Global Art, a Critical Estimate«, in: Hans Belting und

6 Primitivism Revisited: After the End of an Idea, Sean Gallery,

7

Havana Biennial 1989, Bd. 1, London 2011. 10 Insbesondere die Überlegungen von Maharaj zum Begriff der

Benjamin Buchloh, »Was tun?«, in: Texte zur Kunst, 81, März

Art«. 4

S. 341 (Übers. B.O.). 9 Siehe Rachel Weiss u.a., Making Art Global: The Third

Siehe Christine Macel, »L’artiste comme historien«, in: Une histoire. Art, architecture, design des années 1980 à nos jours, hg. von Christine Macel, Ausst.-Kat. Musée national

S. 313–334 (Übers. B.O.). 13 Gerardo Mosquera, »The Marco Polo Syndrome, Some Problems Around Art and Eurocentrism«, in: Third Text, 6, 21, Winter 1992, S. 35–41 14 Joaquín Barriendos Rodríguez, »Geopolitics of Global Art:

d’art moderne, Centre Pompidou, Paris 2014/15. Paris 2014,

The Reinvention of Latin America as a Geo-Aesthetic

S. 169–176, sowie die Veröffentlichungen von Rasheed

Region«, in: Belting/Buddensieg (Hg.) 2009 (wie Anm. 4),

Araeen, The Other Story: Afro-Asian Artists in Post-War Britain, Ausst.-Kat. Hayward Gallery u.a., London 1989/90,

S. 98–115 (Übers. B.O.). 15 Siehe dazu Christine Macel, »Universalisme et art contem-

London 1989; »From Primitivism to Ethnic Arts«, in: Susan

porain dans un monde globalisé«, in: Dominique de

Hiller, The Myth of Primitivism, Perspectives on Art,

Font-Réaulx und Charlotte Chastel-Rousseau (Hg.), Louvre

London/New York 1991, S. 159–182; »A New Beginning,

Abou Dabi. Enjeux du musée universel (im Druck): »Seit den

Beyond Postcolonial Cultural Theory and Identity Politics«,

1990er-Jahren wurde der mit der Französischen Revolution

in: Rasheed Araeen (Hg.), The Third Text Reader: on Art,

und dem Projekt der Auf klärung verknüpfte Begriff des

Culture and Theory, London/New York 2002, S. 333–345. Im

Universalismus parallel zur Kritik am Nationalstaat einer

letztgenannten Aufsatz äußert Araeen Kritik am Multikultu-

Dekonstruktion unterzogen, die seine Verwendung heute

ralismus und sogar an der postkolonialen Kulturtheorie. »Die

problematisch erscheinen lässt. Vor allem dem Geist der

Feier des exotischen Anderen heutzutage ist nicht neu. Neu

cultural studies verpflichtete amerikanische, britische und

ist daran nur, dass der Andere nicht mehr nur der kulturell

indische Intellektuelle – wie Arjun Appadurai, Homi Bhabha,

exotische Andere ist. Wir haben jetzt auch den politisch

Sarat Maharaj oder deren Gründer Stuart Hall – haben dazu

exotischen Anderen, von dem erwartet wird, dass er sich

beigetragen, nicht zuletzt weil ihre akademische Sozialisie-

entweder im Exil befindet oder sich kritisch über sein

rung fernab der universalen und enzyklopädischen Kultur

13


der französischen Auf klärung erfolgte, wie sie für Kuratoren

Öffentlichkeit kaum wahrgenommene Sammlung solcher

in Frankreich immer noch prägend ist, weshalb bei ihnen der

Werke. Das hierfür gewählte Display besteht aus einem

Begriff des Universalismus nach wie vor weit verbreitet ist.«

Arrangement von Sitzgelegenheiten der Designer Ronan und

(Übers. B.O.).

Erwan Bouroullec mit Richtungslautsprechern. Zur

16 Hans Belting verteidigt den Begriff einer globalen Kunst mit

siehe Paul Schütze, »Audio Visual. The problems of defining

Kriterium nicht hinreichend erscheint, zumal ohne Kritik am

and exhibiting sound art«, in: Frieze, 158, Oktober 2013,

Modell des Multikulturalismus geäußert, ganz als hätten sich

http://www.frieze.com/issue/article/audio-visual/ (aufgeru-

die unterschiedlichen Identitäten auf gleichwertige Weise befreit und als ob der Exotismus des Anderen der Vergangen-

fen am 22.1.2016). 25 »Wichtig ist vor allem zu begreifen, dass ein Kunstwerk sich

heit angehörte. Vgl. Belting 2009 (wie Anm. 4). Der Begriff

nicht auf einen hübschen Gegenstand beschränkt, den man

einer Weltkunst zählt für ihn zum Erbe des Universalismus

sich auf den Kamin stellen oder womit man einen Salon oder

und der Moderne, obwohl er aus meiner Sicht lediglich die

ein Museum dekorieren kann, sondern dass es sich dabei um

historisch spezifische weltweite Situation der Kunst

einen Prozess handelt, um das Bewusstmachen eines

beschreibt. Auch scheint mir die Kunst weder in eine

Prozesses, eine Etappe innerhalb eines solchen Prozesses,

posthistorische noch in eine postethnische Ära eingetreten

eine Art und Weise, die Dinge in einem bestimmten Moment

zu sein, auch wenn afroamerikanische Künstler für sich die

festzuhalten, wobei man diesen Stand durch eine bricolage

Epoche des »post black« reklamieren. Es steht jedoch zu

selbst herbeigeführt hat; es gilt, sich bewusst zu machen,

hoffen, dass Belting zumindest im letzten Punkt recht hat.

dass ein Werk auch und vor allem etwas über die Lebensform

17 Anstelle des Begriffs einer »nationalen Kunst« erscheint die

aussagt, die sein Urheber für sich selbst zu er-finden

Bezeichung als Kunst eines Kulturbereichs oder einer

versucht, indem er sich vorgefertigten Lebensformen

kulturellen Sphäre, wie von Sarat Maharaj vorgeschlagen,

verweigert«, Franck Leibovici, Des formes de vie. Une

treffender.

écologie des pratiques artistiques, Aubervilliers (Paris) 2012,

18 Als eines der markantesten Beispiele sei die Herrscher familie von Qatar genannt, die 2011 für 250 Millionen Dollar Die Kartenspieler von Cézanne erwarb. 19 Christophe Kihm, »L’art doit-il être pertinent?«, in: Art Press, 404, Oktober 2014, S. 57–66. 20 Daniel Buren, »Where are the Artists?«, in: Filipovic (Hg.) 2010 (wie Anm. 11), S. 212–221. 21 Siehe Okwui Enwezor, »Curating Beyond the Canon«, in: Paul O’Neill, Curating Subjects, London 2007, S. 109–122; Michael Brenson, »The Curator’s Moment: Trends in the

(Übers. B.O.). 26 Siehe Chorégraphies suspendues, hg. von Jean Marc Prévost u.a., Ausst.-Kat. Musée d’art contemporain, Nîmes 2014, Nîmes/Paris 2014. 27 Vgl. den Schwerpunkt auf den Galerien des Kaukasus von Aserbaidschan bis Georgien bei der 8. Art Dubai 2014. 28 Siehe auch Élisabeth Lebovici und Catherine Gonnard, Femmes artistes/Artistes femmes. Paris, de 1880 à nos jours, Paris 2007. 29 Als ein Beispiel hierfür siehe Beatriz Preciado, Kontrasexuel-

Fields of International Contemporary Art Exhibitions«, in:

les Manifest, Berlin 2003, und weitere Schriften von

Art Journal, 57, 4, Winter 1998, S. 16–27; Paul O’Neill, »The

Preciado; 2012–2015 war Preciado für das Independent

Curatorial Turn: From Practice to Discourse«, in: Judith Rugg

Studies Program am Museu d’Art Contemporani de Barcelona

(Hg.), Issues in Curating Contemporary Art and Performance, Bristol/Chicago 2007, S. 13–28; Boris Groys, »On the

verantwortlich. 30 Jan Verwoert, »Living with Ghosts, From Appropriation to

Curatorship«, in: Ders., Art Power, Cambridge (MA) 2008,

Invocation in Contemporary Art«, in: Art and Research, 1, 2,

S. 43; Élie During u.a., Qu’est-ce que le curating?, Paris 2011,

Sommer 2007, http://www.artandresearch.org.uk/v1n2/

S. 26–64; Paul O’Neill, The Culture of Curating and the Curating of Culture(s), Cambridge (MA) 2012. 22 Buchloh 2011 (wie Anm. 3), S. 149. 23 Rosalind E. Krauss, A Voyage on the North Sea: Art in the Age of the Post-Medium Condition, London 2000 (Anmerkung von Joanna Slotkin). 24 Zur Ausstellung Eine Geschichte zählt auch eine Sound

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Diskussion um das Ausstellen von Klangwerken in Museen

Verweis auf die wirtschaftliche Globalisierung, was mir als

verwoert.html (aufgerufen am 22.1.2016). 31 Hal Foster, »Precarious. On the Art of the Decade«, in: Artforum, Dezember 2009, S. 97–99. 32 Walter Benjamins Vortrag »Der Autor als Produzent«, gehalten am 27.4.1934 in Paris, wurde erst Mitte der 1960er-Jahre wiederentdeckt und publiziert. Als Hommage an Benjamin verfasste Dan Graham darauf hin den Text »The

Lounge, die sich als Lösungsvorschlag für die viel zu wenig

Artist as Producer«, veröffentlicht in: Dan Graham, Rock My

diskutierte Frage nach der Präsentation von Klangwerken im

Religion: Writings and Projects 1965–1990, hg. v. Brian

Museum versteht. Das Centre Pompidou besitzt eine von der

Wallis, Cambridge (MA) 1994.


33 Hans Ulrich Obrist, Hotel Carlton Palace: Chambre 763, Paris 1993. 34 Hans Ulrich Obrist und Philippe Parreno, Il Tempo del Postino, Manchester Opera House 2007, Theater Basel 2009, siehe http://iltempodelpostino.com (aufgerufen am 22.1.2016). 35 Vgl. www.e-flux.com/projects/utopia (aufgerufen am 22.1.2016), konzipiert und kuratiert von Hans Ulrich Obrist, Molly Nesbit und Rirkrit Tiravanija. 36 Mathieu Copeland, Une exposition chorégraphiée, La Ferme du Buisson, Noisiel 2008, oder auch Une exposition parlée, Jeu de Paume, Paris 2013. 37 Michel Gauthier, »Néo-conceptuels: la redistribution des rôles«, in: Art Press, 355, April 2009, S. 52–59. 38 Siehe die amüsante Glosse in Frieze, 151, November/ Dezember 2012, http://www.frieze.com/issue/article/ whats-hot-whats-not/ (aufgerufen am 22.1.2016).

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