HATE #2

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MAGAZIN FÜR RELEVANZ UND STIL

HATE. #2 2008

THE RAG HUNTER LECK MICH HERRENMAGAZIN SONNTAGS GIBT ES DRAUSSEN NUR KÄNNCHEN



HATE.  #2  2008

»ICH MACHE ALLES AUS LIEBE. MANCHMAL VERZWEIFELE ICH, WENN ICH MIR DIE WELT ANSCHAUE. ICH HABE DEN EINDRUCK, DARAUF NUR MIT ZYNISMUS UND SARKASMUS REAGIEREN ZU KÖNNEN. ABER EIGENTLICH HASSE ICH, WEIL ICH SO VIEL LIEBE IM HERZEN TRAGE.« MARCUS STAIGER

WHAT WE

THIS ISSUE:

what we hate/ love

4–9

Leck mich Herrenmagazin

10

LI NU S VOLKM ANN

Bring The Pain

12

FRANK P. ECKERT   Interview mit Klimmek.

Wasteland HATE  Magazin für Relevanz und Stil Alte Schönhauser Straße 44 10119 Berlin hate-mag.com HERAUSGEBER  R+S Media Gbr Gempp, Scholz Alte Schönhauser Straße 44 10119 Berlin Registernummer: 34/518/53630 REDAKTION  Jonas Gempp jonas@hate-mag.com Nina Scholz nina.scholz@hate-mag.com ART DIRECTION/ GESTALTUNG  Johannes Büttner (AD) johannes@hate-mag.com Ronald Weller ronald@hate-mag.com Helge Peters (Web) ANZEIGEN  Robert Härtel robert@hate-mag.com AUTOREN  Antonia Baum, Frank P. Eckert, Georgi Gavazov, Jonas Gempp, Sebastian Ingenhoff, Moritz Jasper Kuhn, Björn Lüdtke, Felix Nicklas, Jochen Overbeck, Nina Scholz, Linus Volkmann, Jochen Werner FOTOGRAFEN  Ralf Amos, Johannes Büttner, Ute Langkafel (maifoto.de), Marc Schuhmann, Martin Trojanowski FOTOASSISTENZ  Mario, Michael Nadjé, Luzia Schmincke, Philipp Zitzlaff DRUCKEREI  unitedprint GmbH, Hohenzollernring 84, 50672 Köln AUFLAGE  2.500 HATE DANKT  Bender, Carlos de Brito, Brian Cares, Christian Demmler, Peter K. Gempp, Tobias Hagelstein, Roland Wilhelm Kaiser, Katja Krug, Dorian Mazurek, Sandra Molnar, Gareth Owen, Clemens Pavel, Helge Peters, Benjamin Pohl, Ramin Raissi (†), Rejne Rittel, Andreas Sachwitz, Klaus Scholz, Christian Simon, Christian Titze, Remo Westermann, Daniel Wetzel Wer HATE für 3 EUR bestellt, erhält ein auf 250 Stück limitiertes HATE-Poster dazu. HATE erscheint viermonatlich. Die nächste Ausgabe erscheint am 12. Januar 2008

18

FELIX NICKLAS   Der Spreepark in Berlin.

Off to Never Neverland

22

NINA S CHOLZ   über Jack Ketchum

The Rag hunter

24

BJÖRN LÜDTKE/ MAR C S CHUHMANN  Wer reinkommt, ist drin.

Der Hungerkünstler

30

SEBASTIAN INGENHOFF Schreibt kurz über das Verhungern.

Das Ende der Geschichte?

34

JONAS GEMPP   Interview mit Franziska Drohsel, Julia Seeliger und Sami Khatib

Neue Erzähler und Pointenmörder

46

J OCHEN WER NER

Cum From Space

49

JOHANNES BÜTTNER/ MARTIN TR OJANOWSKI

Sonntags gibt es drauSSen nur Kännchen

58

JOCHEN OVERBECK   Die Deutschen und Starbucks

Nest

60

ANT ONI A B AU M

brieffreunde

62

M OR I TZ JASPER KU HN/ G EOR G I G AVAZOV

3


TATORT HASSORT ROM Text von  NI N A S CHO L Z

HERBSTSCHULE: KARL MARX

PIXELPUNK Dennis Busch war es, der Anfang des Jahrtausends als James Din A4 mit seinem Label Esel Bremen auf die Tech-

»Ach, wie toll, dann hast du diesen Sommer ja die tollsten

modisch, so geschmackvoll!«, schreit es in meinem Kopf. Ge-

nolandkarte zurückholte. Musik macht

Kleider an.«, sagt meine Freundin Christine ein bisschen nei-

schmackvoll stimmt sogar teilweise, wenn man die schlicht

er immer noch, aber das alleine reicht

disch, als ich ihr erzähle, dass ich einen Kurzurlaub in Rom ge-

gekleideten ältern Leute auf der Straße beobachtet. Aber mo-

ihm nicht: Inzwischen ist es ihm wich-

plant habe. Mit ähnlichen Erwartungen und einer imaginären

disch? Das muss schon sehr lange her sein. Und dann fällt

tiger sich alles umfassendes Mutter-

Shoppingliste im Kopf steige ich aus dem Flugzeug und mache

es mir auch wieder ein: Wenn wir früher nach Italien gefahren

schiff Madewithhate zu artikulieren und

mich – nach der ersten Pizza, dem ersten Espresso und einem

sind, haben wir unseren Shoppingstopp in Mailand gemacht,

seine zahlreichen Alter Egos darunter

Museumbesuch – auf zur Via dei Condotti, seit Jahrzehnten In-

dort fotografiert auch der unvermeidliche Sartorialist für sei-

zusammenzufassen. Als Madewithha-

begriff von Designerläden und Shoppingexzessen. Ich nehme

nen Blog und ebenda findet auch die Fashionweek statt. Die

te produziert er seit 2006 Mode und

den Weg durch die Via del Corso, hatte ich doch vorher noch

meisten Labels, die Italien so berühmt gemacht haben, liegen

in einem eigentlichen gut informierten Magazin gelesen, dass

in der Nähe Mailands oder im Dunstkreis der Toskana – nicht

an dieser Straße kein Weg vorbei führt, will man sich mit ge-

in der Hauptstadt Italiens. Wenn die Leute in Rom überhaupt

schmackvollen und neuen Trends eindecken. Dass am Anfang

ein Modevorbild haben, scheint das die übersexualisierte, in

der Straße die üblichen Ketten warten, kann ich gut verkraften,

zu kleine Kleider gepresste, zu gebräunte Haut eines Rober-

ist das doch in jeder Stadt ähnlich. Als die italienischen Bou-

to Cavallis und einer Donatella Versace zu sein. Deren Kopi-

tiquen immer zahlreicher werden, steigt auch meine Hoffnung,

en sieht man häufig herumstolzieren, aber Modelle dieser Sti-

hier schon mal einen Teil meiner Urlaubskasse loszuwerden.

le brauche ich mir nicht mit nach Hause zu nehmen.

24.–26. Oktober, Herbst-Schule in den Räu-

Kritische Wissenschaft existiert an

men der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Franz-

deutschen Universitäten nahezu gar

Doch leider kann ich auch nach dem Betreten der Läden und

Mehring-Platz 1, umsganze.blogsport.de,

nicht mehr. Marx, Adorno und Konsor-

Durchforsten von Drehständern (!) mit Gold- und Türkismode-

marxforschung.de, top-berlin.net,

ten werden höchstens noch der Voll-

schmuck, Basttaschen und Tanktops in grellen Lachsfarben,

marx-gesellschaft.de

ständigkeit wegen auf die Schnelle

nichts entdecken was mich auch nur im Geringsten an Mode

und oberflächlich an einem Seminar-

erinnert. Als mich bei einem weiteren Espresso an einer ner-

tag abgehandelt, die wenigen Ausnah-

venberuhigenden Ecke zwischen einer Kirche und dem Fendi-

men lassen sich an einer Hand abzäh-

Laden umschaue, fällt noch etwas ganz anderes auf: Die Mäd-

len. Umso erfreulicher ist es, dass vom

chen und Frauen tragen keine Gladiatorsandalen, viele nicht

24. bis zum 26. Oktober zum ersten

mal Ballerinas, auch Leggings und Röhre – ein Stil, der in den

Mal in Berlin die Herbst-Schule stattfin-

meisten anderen europäischen Städten schon fast nervt –

det, die sich an drei Tagen dem wohl

sind im Stadtbild komplett abwesend. Völlig erschreckt sprin-

wichtigsten und richtigsten Theoreti-

ge ich in die Via die Condotti und werde wieder enttäuscht.

Kunst. Er selber sagt über seine Projek-

ker widmet, nämlich Karl Marx. An die-

Ich wusste, dass Burberry viel geschmacklose Massenware

te: »Alles hängt zusammen, alles irritiert

sem Wochenende dreht sich alles um

für Opis, Omis und andere Golfspieler herstellt, aber warum

sich.« Wer noch keines seiner Shirts im

das so genannte »6. Kapitel des Kapi-

sollte irgendjemand diesen Albtraum aus hellblauen Karos

Schrank hängen hat, sollte sich zumin-

tals«; zwischen Anfängern, Interessier-

und Schleifchen in ein Schaufenster hängen wollen. Max Mara

dest seine Bilder anschauen: Im Novem-

ten und Marx-Experten soll in Panels

sieht in der Auslage noch mehr wie eine schreckliche Espritko-

ber stellt er im Hamburger Hinterconti

und Arbeitsgruppen ein Erkenntnisge-

pie aus, als das sowieso schon der Fall ist und im Schaufens-

als Madewithhate seine Collagen, Sieb-

winn bringender Austausch stattfinden,

ter des Yves Saint Laurent-Ladens, direkt gegenüber der Spa-

drucke und Zeichnungen aus, in denen

denn die Kritik der politischen Ökono-

nischen Treppe, stehen die wunderbaren Sandalen mit den

er Comicstil mit der Realität vermischt,

mie ist aktueller denn je und das Ende

Sternen, die ich mir vorgenommen hatte zu probieren, einfach

die in Filmen und Zeitungen so wider-

der Geschichte keinesfalls absehbar.

in der Auslage rum: Ohne Deko, lieblos, einfach so, als ob sie

sprüchlich vermittelt wird.

Nach dem Eröffnungs-Podium am Freitag findet im Festsaal Kreuzberg eine

vergessen worden wären, so dass ich diesen Gedanken gleich wieder verdränge. An junge Labels oder Läden in den Schnit-

MADEWITHHATE: 28.–30. November 2008 im

Party statt bei der u. a. Knarf Rellöm

te präsentiert werden, die auf eine fortschrittliche Art unge-

HINTERKONTI, Hamburg. hinterkonti.de,

und die Small-Town-Girls auftreten.

wohnt sind, ist erst gar nicht zu denken »Aber Rom ist doch so

madewithhate.de

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SERIENHERBST

schichte mit Christian Slater in der Hauptrolle verspricht. Gro-

ES IST NUR IN DEINEM KOPF

ße Aufregung hatte HBO mit seiner Ankündigung ausgelöst, eine Vampirserie, die in der Jetztzeit in den Südstaaten spielt

Die gute Nachricht zu erst: Trotz des Autorenstreiks Anfang

und von Six feet Under-Schöpfer Alan Ball nach den Romanen

des Jahres, starten diesen Herbst einige neue Serien in Ame-

von Charlaine Harris gedreht wird, zu produzieren. Der Pilot von

rika und viele großartige Formate aus den Vorjahren wurden

True Blood konnte aber leider nicht halten was der Hype ver-

von den Sendern erneut übernommen. Die schlechte Nach-

spricht: Zu viele Geschichten und Ebenen wurden in die erste

richt: Die meisten Formate, die neu starten, können die ge-

Folge geschrieben und auch der romantische Aspekt bedient

wohnte Qualität bei weitem nicht halten. Auf den ersten Blick

nicht unabdingbaren Kitsch, sondern wirkt schlicht bemüht.

Es ist Herbst, das heißt nicht nur,

wurden viele sichere Entscheidungen getroffen und wenig Ri-

Trotzdem haben die Geschichten durchaus Entwicklungspoten-

dass der Sommer bald vorbei ist, son-

siko eingegangen. CW startet nach dem Gossip Girl-Hype mit

tial. Eine faszinierende eigene Welt entwirft die FX-Serie Sons

dern auch, dass der gemütliche Teil des

einem Beverly Hills 90210-Nachfolger und schickt zudem ein

of Anarchy in der Ron Perlman, Charmie Hunnam und Katey

Jahres wieder beginnt. Vorbei sind die

ähnliches Format, das eher komödienlastig ist, aber auch an

Sagal die Hauptrollen spielen: Das Drama um eine waffen-

Wochenenden, die montags auf Ope-

der Westküste spielt, ins Rennen: Leider wurde die Serie im

handelnde Motorradgang entwickelt sich zwar langsam, kann

nair-Raves enden und die Sonntage,

letzten Moment noch von Surving the Filthy Rich schlicht in Pri-

aber trotzdem durch faszinierende Auftritte der Schauspieler

die im Park vertrödelt werden. Die Mu-

viliged umbenannt. Auf der sicheren Seite befindet sich der

begeistern. Einzig und alleine Fringe schafft es von Anfang

seen machen wieder auf, Theater- und

Sender, der unter anderem Buffy und Veronica Mars sendete,

die Begeisterung auszulösen, in die Serien wie Reaper, Sa-

Clubpausen sind vorbei, Bands touren

sicherlich auch mit seinem Realityformat Stylista, das konzep-

rah Connor – The Terminator Chronicles oder Dexter in den

wieder vermehrt durch die Konzerthal-

tionell irgendwo zwischen Project Runway und Der Teufel trägt

letzten beiden Herbstsaison viele Zuschauer versetzt hatten.

len der Städte, und: Es ist die beste

Prada liegt und einer weiteren romantischen Komödie: Valen-

Fringe bringt nicht nur endlich Joshua Jackson zurück auf den

Zeit für Schocker auf dem Sofa. Jedes

tine. Von konservativen Einschätzungen haben sich wohl auch

kleinen Bildschirm, sondern verbindet auf spannende Art die

Jahr wird im Spätsommer auf dem Fan-

die Sender ABC, CBS und NBC leiten lassen und die austra-

Hyperrealität von Thrillerserien à la 24 mit dem Charme von

tasy Filmfest, das mittlerweile in sieben

lische Serie Kath & Kim, sowie die britischen Serien Life on

Naturwissenschaftssplatter, wie das zum Beispiel in der Re-

deutschen Städten stattfindet, gezeigt,

Mars und Eleventh Hour mit eigenen Produktionen ins Ameri-

Animator-Reihe der Fall ist. Insgesamt wird wohl niemand zu

wie weit die Genreformeln Fantasy, Hor-

kanische kopiert. Setbilder und Piloten sehen allerdings viel-

kurz kommen, weil alleine schon der Fernsehstundenplan,

ror und Thriller gedehnt werden können.

sprechend aus. Noch ein Remake hat NBC eingekauft, nämlich

den man sich anhand der wieder neu erscheinenden Serien

Dieses Jahr war das Programm nicht

das von Knight Rider; der trashige Charme der Originalserie

machen kann, für mangelndes Sozialleben sorgen kann und

nur noch abwechslungsreicher und es

wird beibehalten, David Hasselhoff ist leider nicht an Bord.

HBO zum Beispiel noch Serien wie The Last of the Ninth im

waren wieder mehr Filme im Programm

Ansonsten wurde natürlich auch wieder der übliche Mist ge-

Repertoire hat, über deren Starttermin diesen Herbst noch

als noch im letzten Jahr, sondern man

dreht: günstige Realityformate, Einraum-Sitcoms und Ermitt-

nichts genaues bekannt ist. Die Tatsache, dass die Geschich-

kann auf jeden Fall konstatieren, dass

ler, die entweder eine übersinnliche Fähigkeit besitzen oder

te um eine korrupte NYPD-Gruppe in den 70ern von Deadwood

die Zeit der schwarzen Perücken im asi-

eine komplizierte Vergangenheit oder gleich beides. Dass das

und John from Cincinnati-Schöpfer David Milch entwickelt wur-

atischen Horrorfilm oder der moralinver-

die wieder einmal mit einer Genrerolle

und Emily Mortimer zum besten Thriller

Thema Gestrandet auf einsamen Inseln auch noch nicht kom-

de sowie der Ausblick auf die Starts in der Midseason, die im

seuchten Gewaltstumpfheiten im Main-

Vergnügen hat, machen das schnörke-

auf diesem Festival machen. Ebenfalls

plett abgegrast ist, will NBC mit seinem Historyformat Crusoe

Januar beginnt, machen noch mehr Hoffung. Anfang nächsten

streamsplatter erstmal vorbei ist.

lige Gothmusical tatsächlich unterhalt-

ein komplexer Thriller sollte The Oxford

beweisen. Vielversprechend sieht das Ergebnis bis jetzt nicht

Jahres starten dann wegen der Verschiebungen durch den Au-

In The Substitute (Ole Bornedal, Dä-

sam. Der Spaß am Schlachten steht

Murders (Álex de la Iglesia, Spanien/

aus. Und auch My Own Worst Enemy könnte nicht der Hit wer-

torenstreik mehr Serien als sonst und man kann sich unter

nemark 2007) landet eine fremde Le-

auch in Midnight Meat Train (Ryuhei Ki-

Frankreich 2008) werden, der tatsäch-

den, den sich der Sender von der Dr. Jekyll und Mr. Hyde-Ge-

anderem auf Joss Whedons Dollhouse freuen.

bensform auf der Erde, neidisch auf die

tamura, USA 2008) im Vordergrund,

lich durch universitäre Agatha Christie-

Menschen, weil die trotz ihrer Dumm-

in dem neben dem fantastischen Vin-

Atmosphäre

heit, aber dank Empathie jeder ande-

nie Jones samt seinem einzigen Ge-

rungstheorien bestechen kann. Leider

ren Spezies im Weltall überlegen sind.

sichtsausdruck, ein düsterer Teil New

verliert er einiges an Qualität durch

Auf der Suche nach Liebe wird der Alien

Yorks die Hauptrolle spielt. Der kom-

seine erzwungene Abgeschlossenheit

zur Ersatzlehrerin und setzt in der Klas-

plexe Schocker ist in seiner Auslotung

und den vermeidbaren Kitsch in Elijah

se, die sie unterrichtet, eine ganz neue

verschiedener Geschichten ein würdi-

Woods Liebesbeziehungen. Der beste

Erich Kästner-Dynamik in Gang. Lachen

ger Nachfolger von Candyman (Bernard

Film des Festivals war ohne Zweifel L

und Spaß waren wohl auch die Motiva-

Rose, USA 1992) und basiert auch auf

Change the World (Hideo Nakata, Japan

tion Repo The Genetic Opera (Darren

einer Kurzgeschichte Clive Barkers.

2008), der ein feines Gespür für jede

Lynn Bousman, USA 2008) zu drehen,

Ebenfalls in einem Zug spielt Transsi-

noch so kleine Rolle und Szene beweist

denn Bousman bedient nach den mo-

berian (Brad Anderson, Großbritannien/

und der sich mit Humor, Zartheit und

ralingetränkten SAW-filmen nicht mehr

Deutschland/Spanien 2008), der über

Gewalt über alle Genregrenzen erhebt

des erhobenen Zeigefinger, sondern lie-

zwei Stunden lang eine angsteinflößen-

und damit am Ende die Welt rettet.

ber den Spaß an den Gedärmen. Antho-

de und trotzdem subtile Spannung hält

ny Stewart Head und auch Paris Hilton,

und den Woody Harrelson, Ben Kingsley

6

und

Elfenbeinverschwö-

Alle Filme unter: fantasyfilmfest.com

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verstörende melancholie

der alte mann und das mädchen Es ist 2008 und damit

Am Ende kehrt der alte Mann

Vor drei Jahren zeigte die

wischen viele konkrete Orte

nicht nur 70 Jahre nach 1938

zu seiner Frau und dem siche-

Ausstellung Wunschwelten in

zu fantastischen Szenerien,

sondern auch 40 Jahre nach

ren Job zurück und die junge

der Frankfurter Schirn, dass

denen eine halluzinogene Un-

1968. Dass Jahr der Studen-

Frau muss sich fragen ob sie

man der Romantik nicht nur

heimlichkeit immanent ist.

tenrevolte wird in den deut-

für Zukunft nicht doch einen

Unbekanntes, sondern teil-

In keinem dieser Bilder kann

schen Fernsehsendern, Aus-

ganz anderen Weg einschla-

weise auch noch Fortschritt-

der Betrachter Ruhe finden,

stellungsräumen kommunaler

gen möchte.

liches abgewinnen kann, ver-

geschweige

sucht man den Begriff, der

nie mit der Natur. Trotzdem

Gebäude und hiesigen Feuilletons dabei weitaus lieber und

PIERRE GRIMBLAT:

ausführlicher

Slogan (Al!ve/ Pierrotlefou,

behandelt

als

das Jahr in dem die Pogrome stattfanden. Dabei überschlagen sich die einen bei der Verklärung der so genannten Zeit des Aufbruchs, wieder andere kreiden den Achtundsechzigern alles Schlimme

1969/ 2008)

»harter rock kommt nicht aus deutschland, er kommt aus den hüften«

zum

Schimpfwort

denn

Harmo-

wurde,

noch einmal auszuloten und neu zu sortieren. Im Oktober bekommt nun der Künstler, durch dessen Werk man diesen Weg damals am deut-

dieser Welt an. Einzig und alleine der Historiker Götz Aly hat beides gerade gerückt. Einmal gegen die Argumente von Kai Diekmann und Co: »Die Bundesrepublik hatte

Jacques Palmingers Stimme hat sich einen Platz in vie-

lichsten zeigen konnte, am

damals 60 Millionen Einwohner. Die 68er – das waren vielleicht 200 000 Leute. Soll-

le Herzen ersungen und ersprochen: Als Hörspiel-, Thea-

selben Ort seine längt über-

ten die wenigen es geschafft haben, eine ganze Bevölkerung in ihren Wertvorstel-

ter und auch Filmschauspieler, als Studio Braun-Mitglied so-

fällige Einzelaustellung: Peter

lungen zu zerrütten, dann kann es mit diesen Werten nicht weit her gewesen sein.«,

wie als Sänger von Hits wie »Ich mag Chopin«; seit Jahren

Doig. Der fast 60 jährige wird

aber glücklicherweise auch gegen die, die in Berlin eine Straße nach Rudi Dutsch-

immer wieder gewünschter Klassiker bei vielen seiner Auf-

auf dem Kunstmarkt zu den

macht Doig, der in Eding-

ke benennen wollen: »Mir fiel früh auf, dass dieses antibürgerliche, ja antiautoritäre

tritte und »Deutsche Frau« – wahnwitzige Angstpoesie, die

YBA’s (Young British Artists)

burgh, Trinidad, Kanada, Lon-

Verhalten, das Legère, auch Diskursive innerhalb der nationalsozialistischen jungen

wahrer nicht sein könnte. Auf seinem ersten Album, einge-

gezählt, nicht zuletzt, weil er

don lebte und lebt, niemals

Elite etwas mit uns 68ern zu tun haben könnte. Insofern hat mir meine Beteiligung

spielt mit Ric (Rica Blunck) und Vik (Victor Marek), rettet er

von Charles Saatchi schon

halt vor Humor und Absurditä-

an der Studentenbewegung auch geholfen, den Nationalsozialismus zu verstehen:

den Dub vor den Hippies, presst den Ekel vor der Welt in bit-

früh für viel Geld gekauft und

ten. Kuratiert wurde die Aus-

Sie bildete für mich eine totalitäre Selbsterfahrung, die mir zum methodischen Hilfs-

tersüße Absurditäten, die hier, wie so oft bei Palminger, in

dann ausgestellt wurde. Tat-

stellung von Judith Nesbitt,

mittel geworden ist.« Man kann aber auch einfach in die Videothek gehen und aus

absolutem Sinn aufgehen. Es werden Gebote in die Fresse

sächlich hatte er aber, soll-

die maßgeblich am Konzept

Filmen wieder einmal mehr lernen als aus sozialwissenschaftlichen Büchern und Ar-

massiert und der Chanson in überraschend geschmackvol-

te man die unterschiedlichen

der Young Tate in London be-

tikeln: In »Slogan« spielt Jane Birkin ein junges, naives Mädchen, das sich in den

le Richtungen gedehnt. Palminger, der in jeder noch so klei-

Künstler in dieser beliebigen

teiligt ist und dort schon so

alten, hässlichen Serge Gainsbourg verliebt, der seine Frau nicht verlassen möch-

nen Theaternebenrolle zwischen Showtreppe und aggressi-

Kategorie wirklich zusammen-

manche

te. Er sieht sich als kreativen Kopf, der sein Geld aber mit Werbefilmen verdient,

ven Depressionen agiert, sowie drastische Sprachformen

fassen können, schon immer

und Rezeption in neue Rich-

die sich durch Sloganhaftigkeit und entblößte Brüste auszeichnen. Birkin und Gains-

und seinen angenehm störrischen Charakter präsentiert,

eine ganz andere Bildsprache

tungen gelenkt hat.

bourg sehen dabei chic aus und auch die Wohnungen sind formidabel eingerichtet.

kann jetzt endlich zu Hause in jeder Situation genossen

und Bedeutung als Tracey

werden. Noch nie hat jemand schöner mit der Wut und Ver-

Emin und Co. In seinen Wer-

PETER DOIG. Vom 09. Oktober

zweiflung in unserem Herzen kommuniziert.

ken, die Abwandlungen klas-

2008 – 04. Januar 2009 in

sischer

der Frankfurter SCHIRN,

JACQUES PALMINGER & THE KINGS OF DUB ROCK:

Landschaftsmalerei

sind, verschwinden und ver-

Künstlerbedeutung

schirn.de

Mondo Cherry (PIAS/ Rough Trade)

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leck mich, herrenmagazin! Ein Frontbericht von L INUS VO L K M ANN.

M ATA D O R F Ü R L I N K E OFT FRAGEN WIR VON DER BETRUNKENEN KULTURLINKEN JA DRITTE, WIE ES GERADE SO UM DEUTS C HL AND S HE R R E NMAG AZ I NE BESTELLT IST. LOGISCH. DENN MAN MÖCHTE DEM FEIND JA NICHT DURCH KONTROLLKÄUFE GELD IN DIE KRIEGSKASSE SPÜLEN. DAVON KAUFT SICH DAS PACK DOCH BLOSS WIEDER TEURE UHREN (»CHRIST PROMASTER FUNK-PILOTEN-CHRONOGRAPH – GRENZENLOS PRÄZISE« – GQ JULI 08) ODER JIGGY SHIRTS MIT DEM PLAYBOYHASEN – DIESEM SCHEISS UNGLÜCKSBOTEN AUS DER HUGH HEFNER GROTTE.

sich in besagtem Magazin auch engagierteste Apologeten-

Und damit sind natürlich nicht Schabracken wie Court-

Lyrik zu Penisgilden wie K.I.Z. (»ist doch alles nicht so ge-

ney Love, Yoko Ono, die »pummelige Renee Zellwegger«

meint«, #35/2007) oder auch ihrem lutsch-mein-schwanz-

(#22/2008), Tita von Hadenberg etc. gemeint. Die tauchen

igen Hometurf Royal Bunker (»Sprache schafft doch keine

im Berliner Herrenmagazin zwar auf, werden aber stets ange-

Realität, bildet sie bloß ab! Und Judith Butler kann man mir

strengt gedisst. Was wollen die Alten auch? Die haben uns

eh nackend vorbinden – da tut sich nix bei mir«, #7/2005).

Männern doch noch nie was Gutes getan. Sogar unsere wert-

Tja, auf soviel Rohheit stößt man – und ist ja auch kein

vollen Beatles und Nirvanas mit ihrer Niedrigkeit in den Tod

Wunder, schließlich liest man in den Löcher, in denen solche

getrieben. Und – noch schlimmer – wagen sich mitunter pum-

Zeilen ausgewichst werden einfach nichts Erbauliches. Zum

melig aufs Parkett.

Beispiel Diedrich Diederichsen:

Als gute Frau gilt im Heftchen zum Beispiel Scarlett Johansson. Etwas eigensinnig wird ihr zugute gehalten »sie kön-

»Dem Titanic-Zeichner Bernd Pfarr wird in seinem Zweitausend-

ne sich nur in Gegenwart von Männern über 30 wohlfühlen«

eins-Buch präventiv vom einem Interviewer dieser Ball zugespielt:

(Chance!) und »sie betont ihren Sex-Appeal und spielt ihn zu-

›Was ganz allein auf deine Kappe geht, ist deine rasende politi-

gleich hierunter, denn sie schwärmt für Bier und Pizza und är-

sche Unkorrektheit, so nennt man das heute wohl. Hemmungs-

gert sich über verhungerte Models.« (#23/2008) Was der

los lässt du Neger auftreten und nennst sie auch noch so …‹ […]

Autor nicht weiß: Frauen müssen im Rampenlicht nicht nur

Hier also mal ein ungeschönter Einblick darin, was sich die

In dem Mehrseiter-Text zu der wahnsinnig wellenschlagenden

Darauf Pfarr ›Politische Korrektheit finde ich vollkommen ver-

schlank und sexy sein, sondern stets noch glaubhaft verge-

Typen auf der anderen Seite so alles aktuell zusammenhecheln

(mittlerweile längst wieder abgesetzten) Niels-Ruf-Show auf

logen. Wer glaubt, er handele politisch korrekt, verleugnet sei-

wissern, dass all dies total anstrengungslos zu haben ist und

– nur weil man mal wieder bei drei nicht auf dem Baum war.

SAT1 findet sich also bereits das Herren-Idealbild: Der wahre

ne eigenen Abgründe.‹

man dabei essen könne, was man wolle. Die Perfidie dahinter

Mann, ach, Rebell zeichnet sich aus in der politischen Unkor-

Tja, das wäre unverzeihlich, vor allem wenn in diesen Abgründen

kann man im Herrenmagazin natürlich nicht diggen. Wie auch,

rektheit und bricht dort u. a. die langweilige (wenn auch kom-

so wertvolle Gemmen wie die korrekte Bezeichnung dunkelhäuti-

hey, immerhin steht die Alte auf ältere Typen – und schöner als

plett imaginierte) Hegemonie des Radikalfeminismus.

ger Menschen schlummern. Diese Naturalisierung von Rassismus

Woody Allen ist man doch allemal? Na, also!

Als Beispiel soll stellvertretend ein sehr bekanntes Herrenmagazin betrachtet werden. Aus Berlin. Ein großes Thema ist dort – auch lange nach den Neunziger noch –, wie übel all den benachteiligten Herren die Ge-

Denn das Herrenmagazin weiß eben, was wirklich Spaß

als das, was von Innen aus den Abgründen kommt und daher rich-

Aber – das sollte man nicht außer Acht lassen – auch

dankenpolizei Political Correctness immer mitspielt. Nur weni-

macht. Und findet es sogleich in dem sexistischen Trash-Ro-

tig sei, stellt dann die endgültige Versöhnung zwischen linksstäm-

Frauen besetzen Positionen im Herrenmagazin. Tauchen zwar

ge Mutige (in dem Sinne von: der Status Quo bis hin zu allen)

man »Kill your Friends« (Heyne) von John Niven.

migen Männerauthentizität – Primat der Selbstverwirklichung, die

textmäßig seltener auf, aber wenn dann können sie endlich

trauen sich, gegen diese unsichtbare Diktat aufzubegehren:

Sau rauslassen, auch wenn dies so eine öde Nummer wie Joe Co-

mal von ihrer Seite der Medaille künden. Und zwar in dem sie

»Das Buch ist von vorne bis hinten ein einziges Dauergedröhne,

cker oder Opis Rassismen meint – und der rechtsstämmigen Agi-

zum Beispiel mitfiebern, welchen Mann sich Carrie Bradshaw

»Kritisierte man [Niels] Ruf, wurde man von seinen Fans auch

völlig überzogen, komplett irre und ziemlich spaßig. Frauen sind

tation gegen die linke Gehirnpolizei, die uns unser Bestes verbie-

aus »Sex And The City« denn im Film wohl schnappt und wel-

schnell als Langweiler, als dogmatischer Verfechter einer öden

für Stelfox [Hauptfigur des Buchs] konsequent Votzen, Schlampen

ten will (im Zweifelsfall eben unseren Rassismus und Sexismus).«

cher ihrer Serien-Liebschaften doch der Bessere gewesen sei

Political Correctness in die Reihe der Radikalfeministinnen

oder beides.«

Diedrich Diederichsen »Politische Korrekturen«

(#20/2008)

(KIWI)

Noch mehr Beispiele? Ach, mehr Beispiele am Arsch. Und

und moralischen Spießer gestellt. Und wer möchte schon so ein

10

(#22/2008).

Spielverderber sein? Das Attribut der politischen Unkorrektheit

Votzen, Schlampen, Schwule, Spastis – Ach, so spaßig kann

Und wenn man sich im aktuellen Herrenmagazin nicht gerade da-

das klassische Herrenmagazin, aus dem alle Zitate stam-

wurde hingegen zu einer Auszeichnung künstlerischer Größe, zu

die Welt sein – das wird man doch wohl mal sagen dür-

mit beschäftigt findet, »herrlich politisch unkorrekt« zu handeln, gibt

men, ist eigentlich auch eher ein verkapptes: Das Feuilleton

etwas Neuem und Rebellischem.«

fen! Kann man sich nicht nehmen lassen! Und so findet

es natürlich noch ein anderes großes Terrain. Genau: Geile Weiber.

der Jungle World.

(#18/2008)

11


»Ich habe das total gehasst«, so der Diskussionsbeitrag ei-

Mille Plateaux 2002) bis in die Wohnzimmer und Studios der

ner Zuhörerin bei einer der ersten Ghetto Ambient Performan-

lokalen Musiker und Künstler (Bizz Circuits play Initifada Off-

ces von Sebastian Meissner. Dass diese Aufführung, die im

spring Volume 1: Nishbar Li Ha’Zayin«, Mille Plateaux 2004,

Januar 2006 als diskursiver Teil der Ausstellung »Projekt Mig-

eine DVD und Mix-CD, die die ganze Bandbreite aktueller, nicht

ration« im Kölnischen Kunstverein stattfand, eine derart dra-

nur elektronischer Musik und Video/ Filmkunst in Israel dar-

matische Reaktion hervorrufen konnte mag überraschen, an-

stellt und von der gleichnamigen Internetseite als Kommuni-

gesichts der zurückhaltend fließenden, Ambient nahen Klänge

kationsplattform und Austauschmedium begleitet wird). Die

aus fernen Pop-Echos und konkretem Geräusch, die an dem

auch biografisch motivierte Beschäftigung mit der jüdischen

Abend zu hören waren, begleitet und kontrastiert durch urbane

Kultur in Westeuropa und Israel, fand ihren Vorläufigen Kulmi-

Szenarien von Einschluss und Ausschluss, Konstruktion und

nationspunkt auf »Into The Void« (Sub Rosa 2006), einer Ko-

Verfall, Sozialität und Einsamkeit, die es dazu zu sehen gab.

operation mit den israelischen Videokünstlern und Musikern

Der harsche Kommentar kam Meissner allerdings gar nicht

Ran Slavin und Eran Sachs, Erinnerungsfragment und Spu-

ungelegen, ist doch eines seiner zentralen Anliegen sich als

rensuche jüdischen Lebens im heutigen Polen. Daneben gab

Künstler und Musiker dem allgegenwärtigen Wegsehen, dem

und gibt es das nach dem Familiennamen seiner Großmut-

Ausblenden von Inhalten entgegenzustellen, zur Diskussion

ter Zofia benannte Musikprojekt Klimek, das die in den ande-

und zum selber denken anzuregen – auch um den Preis sich

ren Projekten expliziter behandelten Themen wie durch einen

unbeliebt zu machen und zu polarisieren. Die Denkanstöße

feinporigen Filter aufnimmt und in einer von Ruhe und unter-

und Diskussionsvorschläge, die Meissner dabei unterbreitet,

schwelliger Spannung geprägten, von Stille und Fluß getrage-

funktionieren allerdings gerade nicht über Provokation und ver-

nen Musik umprägt, Musik die erst einmal einfach nur schön

Bring THE PAIN Ein Interview von FRANK p. E C KE RT

Melancholie ist Subversion Sebastian Meissner/ Klimek/ Random Inc./ Ghetto Ambient

12

bale oder visuelle Radikalisierung. Das Krasse ist nicht sein

ist. Schönheit allerdings immer in einen Kontext eingebunden

Geschäft. Im Gegenteil, das was zur Disposition steht, sind

ist, der ihre Bedeutung bereichert und verschiebt, den Samen

politische und künstlerisch-emanzipative Positionen, in denen

ihrer Negation in sich trägt. All dies geschieht in einem subti-

Meissner sich eher als Diskussionsknotenpunkt denn als so-

len Netz aus Verweisen und bisher möglicherweise unerkann-

litäre Künstlerpersönlichkeit setzt. Zu finden in den, in karger

ten Bezügen aus Liebe und Hass, Verzweiflung und Hoffnung

Schönheit wie erstarrten Fotografien desolater urbaner Situa-

und ihre Umsetzung in Kunstwerke, wie sie auf der bislang

tionen, die Meissner als Autokontrast macht, in den abstrak-

letzten CD (Klimek »Dedications«, Anticipate 2007) aus der

ten Videoanimationen von Tiny Little Elements wie auch in der

Zusammenführung ganz unterschiedlicher Menschen und Wel-

instrumentalen, samplebasierten elektronischen Musik, die er

ten in den Tracktiteln entstehen – und damit so etwas wie

seit zehn Jahren unter diversen Pseudonymen veröffentlicht.

eine »organische« Dialektik entfalten. Meissners Pseudonyme

Angefangen mit dem Projekt Autopoiesis mit Ekkehard Ehlers,

und Projekte eint eine Bedachtheit und Tiefe, die Komplexi-

in dem er seine musikalische Sozialisation von Chain Gang

täten ertragen kann. Eine Langsamkeit, die nicht selbstbezo-

Blues bis zur Neuen Musik sampledelisch aufarbeitete, zur

genen Rückzug oder raunende Erhabenheit anstrebt sondern

Beschäftigung mit Israel und Palästina, einem Thema dem er

Kommunikation, eine Stille die versucht den Hörer zu aktivie-

sich in einer Art »Close-Up« Perspektive annäherte: beginnend

ren. Missverständnisse oder Ignoranz auf Seiten der Rezepti-

mit dem Blick aus dem Flugzeug (Random Inc. »Jerusalem:

on sind dabei nicht ausgeschlossen, was besonders bei der

Tales Outside the Framework of Orthodoxicity”, Ritornell 2001)

Veröffentlichung von Klimeks »Milk & Honey« auf dem Tech-

in die Straßen der Stadt (Random Inc. “Walking in Jerusalem«,

no-Label Kompakt offenbar wurde: Kaum ein (oder besser ge-

13


sagt: gar kein) Rezensent hat sich auf von den in den Trackti-

vermarktet wird. Das sind diese Branding-Geschichten, die

umkämpft sind und weil ich mich in dem was ich auflege, doch

teln, im Cover (die Trennmauer zwischen Israel und Palästina)

scheinbar noch immer erschreckend effektvoll wirken bei der

immer zu gerne zwischen die Stühle setze, kein kohärentes Mi-

und im Booklet mehr als angedeuteten Inhalten, weit genug ir-

Vermarktung von Musik. Dann natürlich die Geto Boys »The

nimal-Set runterreiße, was nicht immer so gut ankommt.

ritieren lassen, um die offenbare Schönheit der Musik mit der

world is a ghetto«. Mike Davis klar. »City of Quartz« war wich-

eigentlich nicht weniger offenbaren Gewalt und Schmerzlich-

tig und sehr prägend. Also mir ging es primär darum sich zu

keit der verhandelten Inhalte kurzzuschließen. Dennoch ist es

fragen: Wo ist denn heute das Ghetto? Was bedeutet es ei-

letztlich genau diese Offenheit, dieses Zaudern und die Weige-

gentlich? Hat nicht Kinski gesagt: wenn man den Kopf über

rung sich auf einfache Positionen zurückzuziehen, die Meiss-

die Mauer eines Ghettos steckt landet man schon im nächs-

ners Arbeiten so selten und wertvoll macht. Geboren in Bytom,

ten? Ich denke, dass das Wort Ghetto heute keine einsei-

Oberschlesien und aufgewachsen im Frankfurt am Main, lebt

tig vorgefärbte Definition hat oder haben muss. Der Ursprung

Kinosaal. Da kann ich das Maximum an Aufmerksamkeit mei-

Meissner seit zwei Jahren in Berlin. Ein Gespräch zum Stand

im Venezianischen Ghetto sollte klar sein, auch 1933-45 ha-

nen Arbeiten gegenüber erwarten. Die Leute wissen wie es

der Dinge:

ben den Begriff stark geprägt. Nur denke ich nicht, dass das

im Kino abläuft: rein, hinsetzen, Futter & Drinks auspacken,

Das »Ghetto Ambient« Projekt scheint der neue Attraktor zu sein,

Phänomen Ghetto und was man eben auch darunter verste-

Klappe halten, und wenn es einem nicht passt, still rausge-

um den sich deine Arbeit herum entwickelt. Was war deine Motivati-

hen könnte, ausschließlich mit der Kasernierung der europäi-

hen. Diese Situation »Galerie mit Barbetrieb« ist sehr undank-

on zu dieser Art der Präsentation der Musik mit Bilder überzugehen?

schen Juden in Nazi-Deutschland in Verbindung stehen muss.

bar. Wenn man mit kontemplativer Musik, die mit leisen Pas-

Das wollte ich immer schon so machen. Fotografiert habe ich

Ich suche nach diesen Orten. Wenn ich als Tourist durch Rand-

sagen arbeitet, gegen gesprächshungrige Besucher anspielen

schon bevor ich Musik gemacht habe. Für mich ist es ein me-

bezirke Algiers mit einer deutsch-französischen Austausch-

muss. Und da wir schon bei den Orten sind und wie sie die

gruppe fahre und mich im Bus so sehr wohl und sicher füh-

Wahrnehmung mitprägen: man muss sich bewusst machen

le und gar nicht weiß wie das Leben da draußen ist. Ghetto

was bestimmte Räume an Ehrfurcht im Kulturkonsumenten

kann für mich die virtuelle Welt sein, Gesinnungsghettos wie

auslösen. Sorry für meinen Snobismus, aber in einem Orches-

Squats oder Nazienklaven, die »Festung Europa« die Konsum-

tersaal mit angesagtem Namedropping auf der Eintrittskarte

ghettos der Shopping Malls und natürlich auch das »Ghet-

erzittern die Zuschauer schon fast automatisch vor Ehrfurcht

to Israel«, einer der Leitthemen der israelischen Band-Anar-

vor der Kultur – da kann das musikalisch-visuell Dargebotene

Sind Stadtsoziologie und Urbanismus eine Klammer die Bilder und Mu-

chos Yisrael. Von welcher Seite aus ist Israel das Ghetto?

noch so unrelevant sein.

sik zusammenhalten? Oh, ja. Ganz und gar. Psychogeographie.

Worum es mir geht, ist die klassische, reine Schönheit zu brechen. Mit Wehmut, mit Melancholie, nicht mit Krach oder Hässlichkeit, sondern was schon Dürer in seiner Allegorie der »Melencolia« versucht hat: das Düstere und nachdenklich Selbstbezogene der Melancholie in etwas Positives und Produktives umzudeuten.

Allerdings in Form einer unakademischen, intuitiven Herange-

Weil es ausschließt oder weil es ausgeschlossen wird? Ich

Ist das Kino der Rückzugsort für instrumentale Musik? Der Ort,

denke schon, dass der Begriff sich diskursiv gut dazu eignet,

an dem es noch möglich ist, anspruchsvolle Zuhörmusik zu Gehör zu

um auch einige Phänomene unserer Gesellschaft aufzugrei-

bringen? Auf jeden Fall ist es für mich sehr interessant und

Verstehst du den Begriff Psychogeographie in Bezug auf Musik,

fen, zu beobachten und darüber nachzudenken. Mich nervt

wichtig. Ich will ja Geschichten erzählen mit der Musik. Auch

ähnlich wie Christian von Borries, als spezifische Aufführungspraxis

das statische und unemanzipierte Tabuisieren von Schlagwor-

das ist ein starker Link zum Kino. Das ist mir auch wichtiger

und Ortsbezogenheit, rauszugehen aus den einschüchternden Orten

ten, damit man sich dann gar nicht mehr inhaltlich auseinan-

als die ganzen musikpsychologischen Aspekte, die bei klas-

der klassischen Musikaufführung, aus Konzerthalle und Oper in offene

der zu setzen braucht.

sisch geschulten Filmscorekomponisten mitspielen. Für eine

Räume und Situationen, wie er es z. B. mit Wagner im entkernten Pa-

hensweise an das Thema.

Rückt mit so dominanten Kontexten die Musik nicht tendenziell

bestimmte Situation eine bestimmte »geeignete« Moll-Tonart

last der Republik praktiziert hat? Ja, aber nicht nur. Das ist völ-

ditatives abstraktes Kino das ich mache. Das ist auch aus

in den Hintergrund? Aus meiner Sicht nicht. Die bewegten Bil-

zu nehmen, liegt mir doch fern. Wenn dann ergibt sich das

lig legitim und gut für das was er als klassischer Musiker da

all der »Laptop-Performance« Kritik entstanden: Laptopmusik

der, die ich produziert habe, drücken der Musik natürlich einen

bei mir intuitiv.

macht. Für mich ist diese Art der Psychogeographie als Auf-

hat für mich nach dem ursprünglichen Novelty Aspekt und ih-

starken visuellen Stempel auf, legen eine Interpretation nahe.

Hast du schon mal überlegt, statt in die Galerien, in die funktiona-

rer Eroberung von Galerien und Kunsthallen als Performance

Aber so wollte ich es ja auch. Nachdem ich bei meinen Klimek-

le Club/Techno Richtung zu gehen? Sicherlich. In den Club würde

ausgedient und als Konzert im klassischen Sinne kann ich es

Alben gesehen habe, wie resistent der durchschnittliche elek-

ich gerne, habe ich auch schon ein bisschen angefangen – als

auch nicht sehen. Es gibt einfach nur diesen über sein Lap-

tronische Musikhörer Inhalte ausblendet, wollte ich den Inhalt

Ambient Pimp mit DJ-Sets und als Harz mit FFM-Oldschool-In-

terial, mit den lokalen Gegebenheiten zu arbeiten? Die Orte zu se-

top gebeugten Typen zu sehen und man kann nicht nachvoll-

gleichberechtigt neben die reinen abstrakten Ästhetik rücken

dustrial-Techno – aber das hat sich als schwierig herausge-

hen und zu fühlen und mit den Menschen vor Ort zu reden

ziehen kann was der da macht. Eigentlich ist es auch gar nicht

– mit eigenen Visuals. Es ist interessant zu beobachten wie

stellt, weil die DJ-Mischpulte, besonders hier in Berlin, heiß

bedeutet mir sehr viel für meine Arbeit. Ich suche die direk-

interessant was er macht. Also hätte ich mir überlegen kön-

sehr diese Vorgehensweise meine Zuschauer und Zuhörer po-

te Auseinandersetzung mit den Men-

nen zum Entertainer zu werden (wie Lawrence von Felt gesun-

larisiert. Resümierend würde ich aber sagen, dass es bisher

schen und Orten. Die Möglichkeiten,

gen hat: »Maybe I should entertain, the very fact that I’m insa-

ein fast nur bei in Deutschland stattfindenden Konzerten auf-

die man als klassischer Audiokünst-

ne«) oder einen anderen Kontext kreieren – und der war ja mit

tretendes Phänomen war. Das »irgendwie linke« Publikum re-

ler im Rahmen einer CD-Veröffentli-

der Fotografie schon da. Die Visuals probieren auf abstrakte

agiert dann auf solche, besonders hierzulande überbelegten

chung hat sind einfach sehr begrenzt.

Weise Geschichten zu erzählen, Stellungen zu beziehen, Fra-

und tabuisierten und auch unaufgeklärten Symbole, beson-

Ich habe das ja bei den Random Inc.

gen aufzuwerfen.

ders sensibel. Danach habe ich angefangen die Schrifttafeln

CDs über Booklet und Artwork ver-

auszubauen und Erläuterungen zu den Orten zu machen.

sucht, aber es wird einfach nicht ge-

»Ghetto Ambient« ist ein starker Begriff. Ghetto als Szenario des

führungspraxis der Musik sozusagen eine natürliche Beigabe, die immer da ist. Auch »Site Specific« vor Ort zu sein, mit dem vorhandenen Ma-

Einschlusses mit der Assoziation der jüdischen Ghettos, oder als Sze-

Gibt es überhaupt noch andere Möglichkeiten heute Ambient oder

lesen, nicht gesehen. Wie gesagt; es

nario des Ausschlusses, wie von Mike Davis für LA/South Central be-

(in ihrer Langsamkeit und Stille) fordernde und zum genaueren Zu-

ist schon erstaunlich und eigentlich

schrieben. Was sind deine Assoziationen dazu? Also zuerst war

hören auffordernde Musik irgendwo anders aufzuführen oder aufzu-

unglaublich wie sehr man als Musik-

es eine Trotzreaktion auf Pop Ambient wie es von Kompakt

legen als in einem Kunstkontext? Für mich ist der ideale Ort der

konsument Inhalte ausblendet.

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Du hast dich immer ausdrücklich davon distanziert jegliche Art von Wellness-Musik zu machen. Passt dazu die erweiterte Kontextualisierung über die Bilder, Videos und Installationen? Ja. Schönheit, die dir im Halse stecken bleibt. Vielleicht liegt in ihrer Schönheit der wahrlich subversive Charakter meiner Tracks. Worum es mir geht, ist die klassische, reine Schönheit zu brechen. Mit Wehmut, mit Melancholie, nicht mit Krach oder Hässlichkeit, sondern was schon Dürer in seiner Allegorie der »Melencolia« versucht hat: das

und hörte diese Melodie und nahm das mit, dass er sich da-

Düstere und nachdenklich Selbstbezogene der Melancholie in

von erinnern konnte und fiddelte seine Version auf seinem

etwas Positives und Produktives umzudeuten. So sehe ich das

Zuhausehügel weiter. Ich sample aus tiefstem Respekt, aber

Leise und Schöne als Subversion, eben nicht »In Your Face«,

nicht aus Nostalgie. Es muss nicht Vergangenheit sein, aber

aber dennoch klar und unmissverständlich.

etwas was das elektronische Musikghetto erweitert. Auf »Dedi-

Siehst du deine Arbeiten als politisch im Sinne von kritisch auf et-

cations« verspüre ich nicht zu jedem der genannten Menschen

was hinweisen oder emanzipativ etwas zur Verfügung stellen oder ist

uneingeschränkte Sympathien. Musik und Klang sind frei. Nie-

das eher eine Art von Künstlerkritik, die erst mal für sich stehen soll,

mand kann sie besitzen. Ein Künstler/Musiker kann nur versu-

als Werk, und weitere Funktionen (z. B. zum Diskutieren anregen) ha-

chen sie ständig aufs Neue zu interpretieren.

ben kann, aber nicht muss? Kritisch möchte ich natürlich schon

In den jüngeren Projekten scheint sich dieser Netzwerk-Aspekt ein

sein, auch gerne mir selbst gegenüber. Ich denke Kunst sollte

wenig verschoben zu haben. Der Austausch scheint eher mit anderer

emanzipieren – ein Vorbild ist in der Hinsicht der Warschauer

Kunst oder Musik stattzufinden, als mit anderen Personen? Fakt ist,

Künstler Artur Zmijewski, ein negatives Beispiel Santiago Sier-

dass gerade der mittelständische Künstler eine starke Nei-

ra – und ich möchte, dass sie mich immer wieder fordert und

gung hat sich zu isolieren. Kollaborationen mit anderen gehen

beim Denken unterstützt. In erster Linie will ich diskutieren,

gar nicht so einfach wie ich es mir manchmal gerne wünschen

aber das wollen nur so wenige Leute. Es will so selten jemand

würde. Es liegt vielleicht an meiner überspontanen Natur. Die

was Passendes und Mutiges sagen. Auch in Kunstzusammen-

bedachte Künstlerperson wird da skeptisch und nimmt erst

hängen spüre ich eine Tendenz zur Ästhetisierung. Obwohl so

mal eine abwartende Haltung ein. Kommunikation ist das an-

viele Kunst »kritisch« und »diskursiv« daher kommt: über In-

dere Problem und all die unterschiedlichen Wahrnehmungen

halte will keiner mehr sprechen. Wenn etwas offen stehen ge-

die man von einander haben kann.

lassen wird, wird es einfach ignoriert. Ich habe den Eindruck,

Hat dein Fokus auf Israel/Palästina und die jüdische Kultur mit

dass vermehrt nur noch das ankommt was sich besonders

»Into the Void« ein vorläufiges Ende gefunden? Ein Ende gibt es für

dunkel und unverständlich gibt, was man also praktisch belie-

mich nie. Erst nach dem Tod. Israel und Palästina spielen für

big und vor allem privat für sich interpretieren kann.

mich immer noch eine Rolle, eben dann wenn ich etwas Neues

Du hast dich immer wieder als Kontextkünstler und Netzwerk-

dazu sagen kann. So ist auch das Projekt für den Steirischen

künstler bezeichnet, der vor allem von der Interaktion und den Wech-

Herbst entstanden (Lost Spaces, im Rahmen des Steirischen

selwirkungen mit anderer Kunst/Musik und mit anderen Künstlern/

Herbstes, 2.-26. Oktober 2008 in Graz). Ich wollte nicht wie-

Musikern lebt. Ist das so etwas wie die »Appropriation Art« ein eman-

der mit ein paar israelischen Musikerfreunden für ein Festival

zipatives Projekt des Zueigenmachens fremder Kunst oder eher Hom-

die Laptops aufklappen dürfen um den Kultureuropäern wie-

mage, das Aufzeigen und Wiederhervorholen geliebter Vergangenheit

der mal ein besseres Gewissen verschaffen zu können, sich

oder Gegenwart in einem persönlichen Kontext? Darauf wäre ich

mal mit »dem Konflikt« auseinandergesetzt zu haben. Ich woll-

jetzt nicht gekommen, weiß aber was du meinst. Es ist aber

te auch mal den Blick umdrehen.

nicht ganz so; Sampling ist moderne Folklore für mich. Ein be-

Was kommt als nächstes? Soundobjekte als Releaseform, mit

stimmtes klangliches Element in der Musikgeschichte weiter-

Jan Rohlf, der schon das »Dedications«-Cover gemacht hat und

zutragen. Früher hat einer auf seinem Hügel mit der Fiddel

ein neues Album auf Anticpate.

herumgefiddelt und dann zog einer auf der Durchreise vorbei

random-industries.com

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Ma r c o l o

MS aS13 or lvad

Email: bbv@gmx.ch

Bezug unter: www.hood.de GSSgangstreetstyle

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Wasteland Auf dessen Spuren hat sich  Felix Nicklas   begeben.

Vergnügungsparks und Jahrmärkte ziehen vornehmlich die Bizarren und Grotesken in ihren Bann. Freaks, übergewichtige Touristen, Michael Jackson und vor allem Kinder. Doch ein Mann, der wie niemand sonst mit den Wirren um Berlins einzigen Vergnügungspark, dem Spreepark, verbunden ist, hebt sich aus dieser illustren Runde als eine Art Lichtgestalt hervor: Norbert Witte.

Die Schaustellerei liegt Norbert Witte im Familienblut. Be-

nach dem Unfall in Hamburg, per Gerichtsbeschluss für ge-

reits sein Großvater Otto Witte brachte es schon zu zweifel-

schäftsunfähig erklärt worden war. Doch hinter den glitzern-

haften Ruhm und sogar zu einem Königstitel. Bereits mit 8

den Kulissen des Vergnügungsparks war er es, der die Fäden

Jahren vom Fake-Glanz des Jahrmarktsbetriebs betört, folg-

in der Hand hielt. Und so nimmt eine außerordentlich gestör-

te ein turbulenter Lebenswandel. Jahrmärkte, eine Entfüh-

te Geschichte ihren Lauf. In blinder Aufbruchsstimmung flos-

rung, Kerker, Fremdenlegion und türkische Spionageabwehr

sen Abermillionen D-Mark an Bankkrediten in den Park. Neue

waren nur einige Stationen auf seinem Lebensweg. Witte be-

Attraktionen wurden erworben, das Gelände kostspielig umge-

hauptete sogar 1913 mit seinem Freund, dem Schwertschlu-

staltet. Doch trotz all der baulichen und strukturellen Verän-

cker Max Schlepsig, am Ende des ersten Balkankriegs nach

derungen blieben die Besucherzahlen über Jahre hinweg rück-

Albanien gereist zu sein, um sich dort als Thronfolger, Prinz

gängig. Die Summe der Bankkredite belief sich damals schon

Halim ed-Din auszugeben. Am 15. Februar 1913 sei er auf-

auf über 50 Millionen DM.

grund dessen schließlich zum König ausgerufen worden. Sei-

1997 schloss Witte deswegen mit der Stadt Berlin einen

ne Regentschaft dauerte jedoch nur fünf Tage, bis der wah-

Erbbaurechtsvertrag ab, der ihm die Bankkredite sicherte und

re Thronfolger eintraf. Doch bis zu seinem Lebensende 1958

die Stadt Berlin dazu verpflichtete, für Witte mit einer Grund-

bestand er darauf ausschließlich mit: »ehemaliger König von

schuld von weiteren 20 Millionen DM zu haften. Zeitgleich mit

Albanien« angesprochen zu werden. Die Berliner Polizei ge-

der sich bereits am Horizont abzeichnenden CDU-Parteispen-

stand ihm dies sogar in seinem Pass, im Sinne eines Künst-

den Affäre, begann nun auch Norbert Wittes Engagement in

lernamens, zu. Eine Tatsache, die ihm in seinem Stadtteil

der Politik. Angestellte des Spreeparks wurden für den CDU

Berlin Pankow Berühmtheit verschaffte.

Wahlkampf abkommandiert, klebten Plakate oder verteilten

Das Leben seines Enkels Norbert sollte ebenfalls dem ei-

Broschüren. Witte, beflügelt von einem plötzlich erwachten po-

ner Achterbahnfahrt gleichen. Bereits im Alter von 26 Jahren

litischen Bewusstsein, wurde auch selber aktiv und warb kräf-

hatte er das verheerendste Jahrmarktunglück der deutschen

tig Mitglieder für die Partei. Die meisten davon sollten sich

Geschichte zu verantworten. Bei dem Versuch ein defektes

jedoch doch später als Karteileichen entpuppen. Das gesam-

Getriebe seiner Loopingbahn auf dem Hamburger Dom im

te Programm politischer Degeneration wurde durchexerziert.

August 1981 mit einem nicht versicherten, nicht zugelasse-

Doch meistens beruht so eine Partnerschaft auf Wechselwir-

nen Kran auszuwechseln, schwenkte er in die Flugbahn des

kung und so schien es niemanden aufzufallen, dass Witte seit

Nachbarfahrgeschäfts und zerfetzte dessen Gondeln. Sieben

eineinhalb Jahren mit den Pachtraten für das 29,5 Hektar gro-

Menschen starben, Fünfzehn wurden verletzt. Witte wurde für

ße Grundstück in Verzug geraten war. Am Ende kostete diese

dieses Kirmesunglück wegen fahrlässiger Tötung und Körper-

unseelige Episode die Stadt Berlin weitere 30 Millionen DM.

verletzung zu einem Jahr auf Bewährung verurteilt. Kurz da-

Als sich 2001 die Spreepark GmbH auch noch Insolvenz an-

rauf verschwand er jedoch ins damalige Jugoslawien und

melden musste, haftete die Stadt Berlin, durch den Erbbau-

ward bis zur Wende nicht mehr gesehen.

rechtvertrag verpflichtet, mit den veranschlagten 20 Millionen

Mit dem Mauerfall gingen dann auch die Eigentumsrech-

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DM plus der entstandenen Zinsen.

te des Spreeparks, vormals VEB Kulturpark in Treptow an den

Dies war auch der Moment indem schierer Wahnwitz und Irr-

Berliner Senat über. Die Marktwirtschaft hielt Einzug, der Park

sinn den Spreepark vollends ruinierten. In einer Nacht und Ne-

wurde abgewickelt und ein neuer Betreiber wurde gesucht.

bel Aktion wurden 20 Container angeliefert, zusammen mit dut-

Den Zuschlag erhielt die westdeutsche Witte GmbH. Inha-

zenden Schwarzarbeitern aus Polen, die dann auch sofort damit

berin war Pia Witte, Norbert Wittes Ehefrau, da Witte selbst,

begannen sechs der Spreeparkattraktionen, unter anderem die

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Achterbahn »Fliegender Teppich«, auseinander zunehmen und

Die Zeit hat ihre Spuren im Park hinterlassen. Vergleiche

zu verladen. Über Nacht verschwand Witte mitsamt seiner Fami-

mit Chernobyl drängen sich auf, wenn man durch den Plän-

lie, acht Millionen Euro und den Fahrgeschäften. Erneut.

terwald spaziert, das Heizkraftwerk auf der gegenüberliegen-

Die Geschichte setzt sich nun in Südamerika bzw. Peru

den Spreeseite betrachtet, um von dort den Blick nach links,

fort. Unter dem Namen »Lunar Park« begann er auch hier, in

durch den Maschendrahtzaun hindurch auf das ausgestorbe-

einem Land, das keinen Auslieferungsvertrag mit Deutsch-

ne Gelände wandern lässt. Der Anblick ist wohl derselbe wie

land unterhält, einen Park zu errichten. Doch andere Länder,

der, der ukrainischen Stadt  P rypjat . Ironischerweise sollte

andere Sitten. Bald nach der Ankunft wurde Witte sehr deut-

fünf Tage nach dem Unglück in Chernobyl am 1. Mai 1986 der

lich gemacht, dass er ohne entsprechende Schutzgelder kein

neuen Vergnügungspark eröffnen. Doch soweit kam es nie.

Vergnügen im Lunar Park haben würde. Acht Millionen Euro

Kein Mensch hat den Park jemals betreten. Die Natur vernich-

schmolzen schnell dahin. Der  S preepark   mit den verblie-

tet seitdem ungestört den Ort und den Park.

benen Attraktionen fiel unterdessen in einen Schneewittchen-

Eine seltsame Paranoia ergreift von einem Besitz, wenn man

schlaf, der in ein tiefes Koma überging und irgendwann konn-

um das Geländer streift. Der Blick wird unstet und versucht

te nur noch der Tod festgestellt werden.

Schwachstellen im Zaun auszukundschaften, von denen das

In Peru hingegen fand Norbert Witte, gerade als das Ver-

Auge jede Menge entdecken kann. Manche wirken wie Einladun-

mögen beinahe aufgebraucht war, neue Mäzene – erneut wur-

gen. Ein Vergnügungspark liegt dort im hohen Gras, der für Men-

de Geld vorgestreckt. Als Gegenleistung erwarteten diese neu-

schen, die es in ihrer Kindheit liebten auf Baustellen zu spielen,

en Kontakte nur einen kleinen Freundschaftsdienst von ihm.

gemacht zu sein scheint. Der Verfall, der ehemals schönen Din-

Dafür wurde Witte dann aber auch eine Rückkehr ohne lästige

ge, hat Anziehungskraft und eine nicht zu unterschätzende Äs-

Geldsorgen garantiert.

thetik. Die Natur erobert sich inmitten der Stadt ihren Platz zu-

Der Deal war folgender: 181 Kilogramm Kokain. Markt-

rück. Verstörend in dieser apokalyptischen Unwirklichkeit wirkt

wert etwa 15 Millionen Euro. Peru-Deutschland. One-Way. Ein-

nur ein Stillleben aus akkurat ausgerichteten, weißen Plastik-

geschweißt in das Stahlgerüst des »Fliegenden Teppichs« soll-

gartenmöbel mit einer sorgsam arrangierten Schnittblumen ne-

ten die Drogen problemlos in den Hamburger Hafen einlaufen

ben dem obligatorischen Marlboro Porzellanaschenbecher, das

und mit den anderen, zurückkehrenden Fahrgeschäften entla-

sich die Angestellte der Security Firma inmitten des Rosts und

den werden. Doch der Deal geriet zu einem Fiasko. Noch im

Der S preepark Berlin war ein Vergnügungspark im Berliner

P rypjat ist eine Stadt in der Ukraine, die 1970 im Zusammen-

des bröckelnden Betons hergerichtet haben. Denn wie in Pryp-

Hafen von Lima wurde das Kokain von der Peruanischen Poli-

Bezirk Treptow-Köpenick. Er ist auch unter seinem früheren Namen

hang mit dem Bau des Kernkraftwerks Chernobyl gegründet wurde

jat wird die »kontaminierte« Zone bis heute bewacht. Und so ist

zei konfisziert. Ein verdeckter Ermittler hatte den entscheiden-

Kulturpark Plänterwald bekannt. Auf dem 21 Hektar großen Are-

und ist die nächstgelegene Siedlung zum Reaktor. Hier wohnten zum

der Park nicht so verlassen wie er erscheint. Das herunterge-

den Tipp gegeben.

al gab es verschiedene Fahrgeschäfte und Attraktionen, wie zum

Zeitpunkt der Katastrophe von Chernobyl etwa 48.000 Menschen, die

kommene Gelände mit seinem kaputten Flair hat einen derma-

Marcel Witte, der 23 jährige Sohn, der vom Vater einge-

Beispiel Achterbahnen (davon eine mit Looping), zwei Wildwasser-

meisten von ihnen Arbeiter im Kernkraftwerk und ihre Familien. Prypjat

ßen anziehenden Charme, dass sich eine Art Untergrund Touris-

weiht und damit beauftragt worden war den Coup in Lima zu

bahnen, eine Bühne für Shows, ein Westerndorf und ein englisches

liegt mitten in der unbewohnbaren 30-Kilometer-Zone rund um das am

mus entwickelt hat. In Internetforen werden die Schichtzeiten,

überwachen, wurde noch vor Ort festgenommen. Sein Vater

Dorf. Die alte Webseite ist immer noch online: spreepark.de.

26. April 1986 havarierte Kraftwerk und ist heute eine Geisterstadt.

der auf dem Gelände kontrollierenden Security Streifen, dezi-

war in diesem Moment auf Stippvisite in Deutschland und wur-

diert protokolliert und Stalker Sightseeing Empfehlungen ausge-

de einen Tag später am 6. November 2003 auf dem Berliner

sprochen. Weder die Warnschilder, die patrouillierenden SUVs

Ku’Damm aufgegriffen.

oder die eingesetzten Hunde scheinen zu schrecken. Wird man

Beide erhielten mehrjährige Haftstrafen. Norbert Witte, der in Moabit vor Gericht stand wurde aufgrund seines damals

auf dem Gelände gestellt, bleibt es auch meist bei einer Verwarnung, theoretisch steht auf den Einbruch Hausfriedensbruch.

kritischen Gesundheitszustandes zu 7 Jahren Haft verurteilt,

Einen legalen Weg in den Park gibt es nur für Fachbesu-

sein Sohn in Lima zu 20 Jahren in einem Peruanischen Ge-

cher, die Norbert Witte höchstpersönlich ihr professionelles

fängnis. Es erübrigt sich zu erörtern, was dies bedeutet. Die

Interesse an dem Park vortragen. Danach darf man in Beglei-

fehlenden Auslieferungsverträge sind eben auch bilateral.

tung eines sog. Objektschützers für eine Stunde über das Ge-

Heute ist Norbert Witte wieder frei, nach viereinhalb Jahren

lände wandern, fotografieren, fragen, schauen, staunen und

Haft wurde er im Mai dieses Jahres vorzeitig aus der JVA Düp-

unter Umständen unerlaubte Besucher hetzen. Das ganze Pa-

pel entlassen. Kurz darauf begann Witte ein kurzes Jobinter-

ket gibt es für fünfzehn Euro, die damit nur knapp über den da-

mezzo als Hausmeister in einer Charlottenburger Table-Dance

maligen Eintrittspreisen liegen. Eine Quittung gibt es aber na-

Bar und ein paar Wochen später wurde das Insolvenzverfahren

türlich nicht. Doch im Rahmen geführter Touren kann heute ja

gegen die Spreepark GmbH wegen fehlender materieller und

auch Prypjat besichtigt werden, da die Hauptstraßen dekonta-

finanzieller Masse eingestellt.

miniert wurden. Die übrigen Gebiete der Stadt, wie der Vergnü-

Somit ist Norbert Witte, stellvertretend für seine nunmehr Ex-

gungspark, sollten jedoch nicht betreten werden.

Frau, skuriller Weise schon wieder Manager des Spreeparks. Oder zumindest der Überreste davon. Pläne, den Park zu restaurieren,

Alle Fotografien mit freundlicher Genehmigung von Ute Langkafel aus ihrer Serie

gibt es jedoch keine. Die Zukunft scheint noch unbeschrieben.

MAIFOTOSUPERMARKT/ SPREEPARK/ maifoto.de.

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Off to Never Neverland N ina S cholz   hat sich in die gruselige, brutale und einzigartige Welt des Schriftstellers Jack Ketchum begeben.

mand diese Nische, also was in Low-Budget-Filmen erlaubt ist, auch in Romanen ausgefüllt hatte. Ich wollte das einfach verbinden und hatte das Gefühl, dass ich auch derjenige sein könnte, der diese Lücke füllt. Ich hätte nie gedacht, dass es einzige sein würde, was ich als Schriftsteller je machen würde. Aber es ist so.“ Mittlerweile hat Jack Ketchum fast 20 Romane geschrieben und unzählige Kurzgeschichten veröffentlicht. Interessanterweise hat er für The Box, die einzige seiner Geschichten, die von Gespenstern handelt, den im Genre be-

Writing is high-level play. You get to live in a world entirely of your own imagining for a while just like when you were a little kid. Who, except schizophrenics maybe, wouldn’t enjoy that?  Jack K etchum

deutenden Bram Stoker-Award verliehen bekommen. Ansonsten sind die Menschen sein Thema. Drei seiner Bücher – Red, The Lost und The Girl Next Door – wurden in den letzten Jahren verfilmt. Bemerkenswert an den Filmen ist, dass sie fast eins

Kleine Kinder können fies sein. Selbst die netten haben

kanischer Verlag auf jedem Paperbackdeckel damit hausieren

zu eins Umsetzungen der Bücher sind. Zu dem Film im Kopf

eine dunkle Seite, da braucht man nur Peter Pan lesen. Dal-

geht, erklärt sich von selbst. Ketchum beschreibt seine ers-

beim Lesen gibt es kaum Abweichungen. Es scheint fast so,

las Mayr sagt über sich, dass ein großer Teil von ihm nie wirk-

te Begegnung mit Stephen King mit größtem Understatement:

als ob der Fantasie nur der Platz zum Atmen gegeben wird, den

lich erwachsen werden wollte. Dieser große Teil heißt Jack

„Ich habe Steve das erste mal getroffen als ich nach Bangor

Ketchum dem Leser lässt. Selbst die ekel- und angstgewohn-

Ketchum, denn unter diesem Pseudonym schreibt Mayr sei-

geflogen bin. Wir waren ziemlich schnell auf einer Wellenlän-

testen Leser werden bei Ketchum an ihre Grenzen geführt.

ne Kurzgeschichten und Romane, die sich oft um das Le-

ge. Altersmäßig sind wir nur einen oder zwei Monate auseinan-

Der schweißerprobteste Leser ertappt sich wie er das Buch

ben von Kindern und Jugendlichen drehen. In Ketchums be-

der und wir beziehen uns auf die gleichen Dinge, haben beide

weglegen muss - aber nicht kann. Draußen in der Literaturwelt

kanntestem Roman The Girl Next Door, der im Deutschen

den gleichen schwarzen Humor und ähnliche Interessen.“ Hier

wird er entweder nicht wahrgenommen oder als Gewaltporno-

schlicht Evil heißt, erzählt er die Geschichte zweier Schwes-

hören die Parallelen der beiden nicht auf. Ketchum, der Jahr-

graph beschimpft. Der Vorwurf des Stumpfsinns geht aber weit

tern, die nach dem Tod der Eltern im Haus ihrer Tante und

gang 1946 ist, datiert seine prägendste Zeit zurück auf das

an Ketchums Kunst vorbei: In seinen zahlreichen Geschichten

deren Söhne aufwachsen. Detailreich und schmerzhaft für

College. Die 60er Jahre an der nördlichen Ostküste Amerikas,

zeigt er, dass die Menschen neben arbeiten, lieben, trinken

den Leser beschreibt er aus der Perspektive des Nachbars-

Elvis, Kiffen und zu viel Speed, aber auch spannende Literatur-

und schlafen einander schlimme Dinge antun. Jede Geschich-

jungen David, wie eine der Schwestern von ihrer Ersatzfa-

kurse werden im Rückblick zu Initiationsmomenten. Kurz dar-

te von Ketchum behandelt ein anderes Thema, öffnet eine an-

milie und den Nachbarskindern zu Tode gequält wird. Man

auf sieht er im Kino jene Filme, die bis heute den Kamerawin-

dere Welt, allerdings kehren bestimmte Charaktere bei ihm

erlebt die amerikanische Welt des 50er-Jahre-Suburbia, er-

kel seiner Geschichten prägen: Texas Chainsaw Massacre und

immer wieder: der einsame ältere Mann, dessen Frau gestor-

innert sich wie viel verstörender man die Welt der Erwach-

Shivers. Sein erster Roman Off Season ist wahrscheinlich das

ben ist und der sich höchstens mal mit seinem besten Freund

senen noch als Kind erlebt hat, aber auch, dass man mit

brutalste Buch, das jemals geschrieben wurde, gerade weil es

auf einen Drink trifft; die junge, oft erfolgreiche Frau, sowie der

Kindern, die man 10 Jahre später nicht mal mehr gegrüßt,

von so großartiger Bildhaftigkeit und Detailreichtum bestimmt

brutale, skrupellose junge Mann begegnen sich immer wieder.

geschweige denn verstanden hätte, eine Welt geteilt hat.

wird. Der Roman wurde 1981 das erste Mal veröffentlicht und

Darüber hinaus gibt es detailverliebte Studien; beispielsweise

Auch in The Lost erschafft Ketchum eine verwirrende und

seine Dynamik und Atemlosigkeit ist deutlich geprägt von den

über die Brutalität der quälenden Mutter in The Girl Next Door.

brutale Welt der Teenager. Brutal, weil die Welt in der sie

Bildern und der Erzählweise der amerikanischen Horrorfilme

Glücklicherweise geschieht das ohne nähere Erklärungen. Und

aufwachsen gemein und es schwierig ist, sich darin zu

der 1970er wie The Hills Have Eyes. Was Ketchum da sieht,

selbst in den kürzesten Geschichten schafft es Ketchum Be-

recht finden. Brutal auch, weil sie selber nicht mehr un-

verwendet er für sein Schreiben: Keine langen Einführungen

weggründe, Abgründe und Geschichten mehrerer Figuren zu

schuldig sind. Ketchum erweckt diese Welt mit Musik, die

der Charaktere, es gibt viele Figuren, statt eines Protagonis-

beschreiben und den Leser zu fesseln. Genau hier ist der ent-

in den Autoradios und Bars spielt, den Comics, die gele-

ten, der Leser wird nach wenigen Sekunden selbst zum Be-

scheidende Unterschied zum Gewaltporno. Gewaltszenen im

sen werden und mit der Sprache, die gesprochen wird,

wohner dieser Welt. Die Dialoge sind knapp und wenn sie län-

Film sind, ähnlich wie Sexdarstellungen, erst mal sinnentleer-

zum Leben. „Romane, Comics, Filme, Fernsehen, Wäl-

ger sind, ist es für die Geschichte unbedingt nötig. Dafür sind

te Drastik und im besten Falle Stimulation, wenn sie nicht,

der – eigentlich jede Aktivität, die nicht zuviel Sozialle-

die Handlungen, besonders die drastischen, detailreich. Mo-

wie das bei Ketchum durchgängig der Fall ist, schlüssig mit

ben bedeutet, interessiert mich und hat mich damals in-

nologe gibt höchstens um Nachdruck zu erzeugen. Offseason

einer Geschichte, einem Sinn verwoben werden. Die Vorwür-

teressiert.“ Wie bei seinem Lieblingsautor Stephen King,

spielt im Bundesstaat Maine: Eine Gruppe Dreißigjähriger mie-

fe lassen Ketchum, der seine Homepage und Myspaceseite

dessen Bücher Ketchum als eine seiner Hauptinspira-

tet ein Hütte an der Küste und wird dort von Kannibalen über-

gerne nutzt, um seine Fans über Termine und Neuerscheinun-

tionsquellen bezeichnet, sind die Geschichten über die

fallen. Genau wie die wenigen Überlebenden, lernt der Leser

gen auf dem Laufenden zu halten, aber sowieso kalt. Der fühlt

Welt kleiner Jungs, wenn auch oft die brutalsten, gleich-

schnell, was er bereit ist, auszuhalten. Ketchum hatte, bevor

sich sehr wohl in dem ihm zugewiesenen Genre, ist ein fleißi-

zeitig aber auch die schönsten; eine Mischung aus Alb-

er Horrorautor geworden ist, geschauspielert, als Lehrer, Lite-

ger Conventionbesucher und lernt mir großem Vergnügen sei-

träumen, Träumen, verklärten Erinnerungen und der ver-

raturagent und Holzvertreter gearbeitet. „Ich habe keine Karri-

ne Leser kennen. Das unsoziale und fiese Kind in ihm gelangt

wirrenden Welt da draußen. King sagt über Ketchum,

ere geplant, sondern mich eher umgeschaut. Allerdings habe

nur noch zwischen die Buchdeckel.

dass dieser der angsteinflößendste Schriftsteller Ame-

ich immer viel Spaß mit der sogenannten „Neuen Welle“ des

rikas sei, kein Autor oder Leser könne eine Geschichte

Horrors gehabt, die zu dieser Zeit [den 70ern] in den Roma-

Weitere Informationen unter:

Ketchums jemals wieder vergessen. Dass sein ameri-

nen und Filmen immer größer wurde und ich fand, dass nie-

jackketchum.net und myspace.com/jackketchum

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WER REINKOMMT, Text von  B jörn Lüdtke

IST DRIN

Unser moderner Alltag ist durch und durch ästhetisiert.

gendwie will ja jeder irgendwo dazu gehören. Und wenn man

mehr Freiheiten, und die Mode ist durch ihre Vielfalt span-

Das ist nichts Neues, wir sind schliesslich in und mit der

einer ist, der nirgendwo dazu gehören will, dann gehört man

nender als je zuvor. Also: warum senkt sich mein Magen,

Postmoderne aufgewachsen. Handtuchabteilungen, sogar

automatisch zu denen, die nirgendwo dazu gehören wollen.

wenn ich mir Bilder von gut gekleideten Menschen im In-

die im Kaufhof, sind inzwischen so ordentlich nach Farben

Dann darf man sich auch nicht beschweren. Autsch! Bin ich

ternet anschaue?

sortiert wie ein Pantone-Fächer. Beim Knipsen im Urlaub ei-

vielleicht so einer? Oder noch schlimmer: Bin ich einer der

fern wir Mario Testino nach, und selbst in Studentenküchen

rein will, aber nicht rein darf?

Vielleicht bin ich ja nur sauer, weil der FAC E HUNTER 2 jedes Mal zur Berliner Fashion Week nur an mir hoch und

wird Obst heutzutage arrangiert, nicht mehr einfach nur in

runter schaut und dann nicht mal im Traum daran denkt,

eine Flohmarktschale gelegt. Die beste Freundin meiner Mut-

ein Bild von mir zu machen. Vielleicht bin ich für den Face

ter stimmt sogar die Früchte farblich zur Tapete ab! Und dann gibt es da noch die Fashion Blogs, die uns davon überzeugen, dass in allen Winkeln dieser Welt alle Menschen immer ge-

»DIE BESTE FREUNDIN MEINER MUTTER STIMMT SOGAR DIE FRÜCHTE FARBLICH ZUR TAPETE AB!«

Hunter einfach schon zu alt. Na, dann warte ich eben, bis der Sartorialist mal wieder in der Stadt ist und in Mitte vorbei kommt – der fotografiert ab und zu mal vor meinem Haus. Wo war ich da wohl das letzte Mal? Wahrscheinlich

nau das Richtige zur richtigen Zeit tragen.

in Charlottenburg …

Welchen Stellenwert unsere Kleidung hat, wird spätestens dann deutlich, wenn auf T H E S A RT O R IA LIS T mit 245

Das kleinste Detail kann heute darüber entscheiden, ob man

Beim Betrachten der Blogs fällt mir irgendwann auf,

Kommentaren deren Aufbewahrung diskutiert wird: »Do You

mitmischt oder nicht. Vor allem weil der gekonnte Fashion-

dass jeder – ob Nase gerade oder krumm, Beine spindel-

Use Your Shoeboxes?« Hier erfahren wir, dass manche ihren

Faux-pas inzwischen ein Muss ist. Das macht die Mode zwar

dürr oder wohlgeformt – mit Styling gut aussehen kann.

Schuhkarton gar nicht aus dem Laden mitnehmen. Es wird an-

interessanter aber auch anstrengender als je zuvor. Als ich

Durch die Blogs lösen sich Schönheitsideale auf. Vor 20

genommen, dass vor allem Frauen die Kartons gerne mitneh-

meinem besten Freund zu einer kurzen Bundfaltenhose in rosa

Jahren, als es wirklich noch ein Modediktat gab, da wurde

men, um ihre vielen Schuhe besser lagern zu können. Manche

rate kommt der Bumerang eine Woche später: »Und wozu zie-

auch diktiert, wie Gesicht und Körper auszusehen haben.

bevorzugen gekaufte, durchsichtige Boxen, um Wanzen fern-

he ich die jetzt an, ohne dass ich wie ein Schuljunge ausse-

Das löst sich meinem Empfinden nach nicht nur auf, son-

zuhalten aber gleichzeitig sehen zu können, um welche Schu-

he?« Gott sei Dank weiß ich von Men.style.com (zufällig zwei

dern verkehrt sich sogar ins Gegenteil. Was früher oft als

he es sich handelt. Langweilig? Über Sinn und Unsinn solcher

Tage vorher gelesen), dass der gekonnte Bruch mit der kurzen

Makel empfunden wurde, wird heute meist erst recht be-

Blogs wird an anderer Stelle schon genug diskutiert. Ich un-

Hose darin liegt, sie so zu kombinieren, als handle es sich um

tont und so zum neuen Ideal erhoben. Weiße Haut? Kurzer

terhalte mich mit meinen Freunden auch über solche Themen,

ein ganz normales Business Outfit mit gestärktem Hemd und

Rock! Krumme Nase? Grosse Brille! Kleine Locken? Gro-

warum also nicht darüber bloggen. Mir geht es darum heraus-

Lederschuhen. Nur eben, dass die Hose etwas aus der Reihe

ßer Afro! Die Blogs beweisen uns, dass wir unser Schön-

zufinden, warum mir das Ganze so auf den Senkel geht.

tanzt. Unbemerkt – diese Konversation findet am Telefon statt

heitsideal selbst schmieden. Man kann sich nicht mehr

– kicke ich meine Birkenstock-Sandalen von den Füssen. Ich

nur auf Zeitschriften verlassen und wenn’s schief geht, de-

trage auch kurze Bundfaltenhosen.

nen die Schuld in die Schuhe schieben. Nur sich selbst.

1

Eigentlich wünsche ich mir seit meiner Jugend in den Achtzigern, dass sich mehr Menschen gut anziehen. Ich bin auf einem kleinen Dorf aufgewachsen. Zeitschriften waren für mich

Bildüberschriften wie »This Man Knows The Power Of The

fast die einzige Informationsquelle über das, was in den Metro-

Well Chosen (colorful) Accessory« setzen mich unter Druck. Im

Gerade überlege ich, ob ich diesen Artikel an dieser Stel-

polen dieser Welt so vor sich geht. Dank Sex and the City weiß

Fall der kurzen rosa Hose hatte ich noch Mal Glück, dass ich

le beenden kann. Denn an sich macht mir Mode Spaß. Da

heute jeder, wer Manolo Blahnik ist und das Internet tut sein Üb-

den Blog kurz zuvor gelesen hatte und meinem Freund mit Rat

stolpere ich über diesen Satz von MISTER MIC K EY 3 :

riges. Früher war es einfacher, sich durch Wissen modisch ab-

zur Seite stehen konnte. Aber beim Betrachten von Bildern

»There’s fabulousness everywhere you go and you can eit-

zugrenzen, weil nur wenige Zugang zu den relevanten Informati-

auf The Sartorialist bekomme ich sofort ein schlechtes Ge-

her focus on that or be an asshole and look for negativi-

onen hatten. Allein der Besitz einer Männer Vogue (heute GQ)

wissen. Vorausgesetzt ich trage überhaupt ein Einstecktuch

ty!«. Man muss nur ehrlich zu sich selbst sein und sich

hat ausgereicht, um seine Informiertheit und Coolness unter

in der Brusttasche meines Sakkos: ist es auch originell genug

ein wenig Mühe geben, dann klappt’s auch mit dem Out-

Beweis zu stellen. Heute haben alle zur gleichen Zeit die glei-

drapiert? Oder habe ich es mal wieder einfach nur so reinge-

fit. Jetzt muss ich nur noch wie zufällig zum richtigen Zeit-

chen Informationen. Deshalb muss man mehr denn je wissen,

steckt … Und die Blume habe ich auch vergessen!

punkt vor meinem Haus entlang spazieren.

was man tut.

Anna and her Baby, Ku’damm

Und deswegen hasse ich Fashion Blogs. Eigentlich.

Früher konnte man beim Ankleiden ganz einfach das Mode-

In der Postmoderne haben wir gelernt, dass alles erlaubt ist:

diktat heranziehen. In den Achtzigern trug man Ray Ban, krem-

anything goes. Stimmt das noch? Ich bezweifle, dass das

pelte seine Hosen hoch und mindestens ein Kleidungsstück

überhaupt jemals gestimmt hat, denn in der Mode geht es

musste die Farbe Mint haben (Huch, ich stecke in einer Zeit-

um Gruppenzugehörigkeit. Wer reinkommt ist drin. Und ir-

schleife, aber das ist ein anderes Thema). Heute hat man viel

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THE RAG HUNTER

1 2 3

thesartorialist.blogspot.com facehunter.blogspot.com Mister Mickey schreibt für das New Yorker Paper Magazine. Er ist für Mode dort, was Dr. Sommer in der Bravo für Sex ist. papermag.com

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Pretty in Pink, Lovely in Contrast Daß Ursulas Lippenstift heute zum Hemd ihres Freundes passt ist reiner Zufall, beteuert sie. Alles andere ist Absicht.

Blumenmädchen Schwarze Margerite Frau Arnulf trägt nur Maßgeschneidertes (»Das ist doch hier jetzt nur ein einfacher Baumwollanzug …«). Sie kommt eher selten nach Mitte oder Prenzlauer Berg, sie freut sich aber, daß wir mal was über den Westteil der Stadt machen: »Das finde ich sehr freundlich!« Als Expertin für Herrenausstattung fragen wir sie nach dem absoluten Don’t für Männer: kurze Hosen und Sandalen. Nur bei gut aussehenden jungen Männern würde sie da ein Auge zudrücken …

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… Be sure to wear some flowers in your hair! Isabel hat keine Stilvorbilder, will aber auf keinen Fall aussehen, wie alle anderen. Sie hat immer Blumen im Haar und bastelt sich ihre Spangen selbst. Diese gelbe auf ihrem roten Haar gefällt uns besonders gut.

Viele Grüsse, Frau Prada Frau Willmore ist viel unterwegs und holt sich ihre Inspiration überall, kauft aber überwiegend in ihrer Bleibtreustrasse ein. Looks global, shops local.

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Zweireiher und Zigarette am Olivaer Platz

Frühstück im Freien, Savignyplatz Daß Mutter und Tochter beide in Schwarz und Weiss gekleidet sind, sei reiner Zufall …

Die Grande Dame der Bleibtreustrasse Hosta Müller trägt ausschliesslich japanische Designer aus ihrem Laden: »Was ich hier trage ist handbemalt!« Ihr Hund heisst Leo. Sein Frauchen erzählt uns: »Seit wir auch einen Laden in Mitte haben, weiss er ganz genau, wie er sich vor der Kamera in Szene setzt.« Tolle Frisur!

Kühne Farben in Schöneberg Grün/gelb und gold/lila sind Antheas Lieblingsfarbkombos, schon seit ihrer Kindheit. Man beachte diese Kombination aus Short, Tasche und Strümpfen!

Mittagspause in Wilmersdorf Frank und Stefan: »Aber nicht, daß ihr drunter schreibt: Die sind doof.«

In den Tiefen Schönebergs Jeanette Moch freut sich, daß wir sie fotografieren wollen: »Ich hab’ gewusst, daß ich irgendwann nochmal entdeckt werde!« Ihr Mann möchte aber lieber in ihrem Opel Senator (Baujahr 1981) sitzen bleiben. Uns gefällt besonders gut, wie Bluse, Tasche und Schuhe aufeinander abgestimmt sind.

Krawall aufm Ku’damm Frau Schünemenn denkt zuerst, wir wollen sie verkackeiern, als wir sie fragen, ob wir sie fotografieren dürfen. Nachdem wir ihr erklären, um was es bei HATE geht, antwortet sie: »Finde ich gut, ich bin gerade auf Krawall aus …« Besonders beeindruckt hat uns allerdings ihr Glitzer-Lipgloss!

Idee, Direction und Text: B JÖRN LÜDTKE Photographie: M ARC SCHUHMANN Photoassistenz: LUZIA SCHMINCKE,

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PHILIPP ZITZLAFF


Der Hunger künstler von  Sebastian Ingenhoff

Bruce war mir das erste Mal in der Tram aufgefallen. Da-

bursche, dessen Gaul einen Haufen Äpfel auf den englischen

mals trug er nadelgestreifte Anzughosen, hochhackige Stie-

Garten der Kaiserin verschissen hatte, und der nun vor den

feletten, ein schwarzes Muskelshirt und schien Mitte Dreißig

Augen des versammelten Schlosses den Unrat wegschaufeln

zu sein. Die umbrafarbenen Locken hielt er noch unter einem

musste und obendrein zwanzig Peitschenhiebe auf die nackten

Haarnetz versteckt, ein hauchdünner Bart über der schmalen

Fußsohlen erhielt. Ich rannte zurück ins Gebäude, sah seine ge-

Oberlippe sorgte für den angemessenen Grad an Exzentrik,

waltige Silhouette noch in einem der engen Gänge verschwin-

desinteressiert blätterte er in einer dieser Umsonstzeitungen,

den. Kurz vor dem großen Hörsaal stellte ich ihn atemlos.

welche an den Bahnstationen jetzt immer auslagen. Als wir

»Hallo, ich wollte mich noch mal entschuldigen. Nicht dass

mit Tempo die scharfe Kurve auf den Ring nahmen, knarzte

du was falsch verstanden hast. Ich bin natürlich auch auf der

es mit einmal laut. Der Kerl sprang epileptisch zuckend auf

Seite der Ausgebeuteten, nicht auf der der Arschlöcher«, stam-

und schrie »Anhalten«, während das Geräusch berstenden Me-

melte ich und erntete nur einen spöttischen Blick.

talls die Luft erfüllte. Neugierig hob ich den Blick und sah das

»Klar, ihr Latte Macchiato-Trinker seid immer auf der Sei-

ganze Ausmaß der Katastrophe. Bruce hatte sein Treckingbike

te der Ausgebeuteten. Sitzt tagsüber in den Cafes und redet

genau zwischen die Gelenkverbindung der beiden Waggontei-

über Foucault und subversive Post-Gender-Identitäten. Aber

le platziert, in der Kurve wurde es zusammengequetscht wie

beschäftigt eine polnische Putzfrau, die das Parkett eures

eine Bierbüchse beim Dosenstechen. Die beiden Räder waren

Bohème-Palastes im Belgischen Viertel schrubben darf«.

hoffnungslos verbogen, der Rahmen nur noch ein deformier-

Schweiß rann mir den Rücken herunter, direkt rein in den

ter Klumpen Schrott. Er trug es mit Fassung. »Das zahl ich de-

Polyesterslip. Er musterte mich jetzt zumindest etwas freundli-

nen heim«, knurrte er zu sich selbst, schulterte das Wrack und

cher. »Also gut. Ich habe mich entschlossen, deine Entschuldi-

stieg mit Schwung an der nächsten Station aus.

gung anzunehmen. Man nennt mich Bruce. Und ich muss jetzt

Ich dachte mir nur »Den merk ich mir«, hatte Bruce aber fast wieder vergessen, als ich ihn das nächste Mal gut zwei Monate

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zügig von dannen.

später an der Uni traf. Ich hatte mein Seminar verpasst, stand

Später fand ich heraus, dass er in Wahrheit Bernd hieß, seit

Kaffee trinkend vor dem Aushang, warf meine Zigarette auf den

jeher aber Bruce gerufen wurde, weil er die Deutschen nämlich

Boden und drückte diese leichtfertig mit dem Schuh aus.

hasste, so sehr, dass er keinen ihrer Namen guten Gewissens

»Das solltest du so nicht machen«, tönte es hinter mir.

Irgendwann hörte ich auf, die Tage zu zählen. Mittlerweile waren es jedenfalls Wochen oder Monate, die ich auf der kleinen Matratze verbracht hatte, ohne mich zu bewegen. Ab und an, wenn Emily sich im Nebenraum befand, versuchte ich mich aufzurichten, konnte mich aber keine drei Sekunden mehr auf den Beinen halten.

los. Vielleicht sehen wir uns ja noch mal.« Dann schritt er groß-

tragen konnte. Er war zudem Anführer einer Art Geheimbande.

Irgendwann Ich drehte mich um, vor mir stand ein in schwarz gekleideter

hörte ich auf, die Tage zu zäh-

len. Mittlerweile waren es jedenfalls WoRiese, den ich nach zwei Sekunden Rätselratens schließlich chen oder Monate, die ich auf der kleinen als jenes Wesen identifizierte, dessen Fahrrad die moderne verbracht hatte, ohne mich zu Bahnbaukunst tückisch zerlegt hatte. »Das solltest duMatratze näm-

bewegen. Ab und an, wenn Emily sich im Nelich überhaupt nicht machen«, sprach er mit bebender Vibefand, versuchte ich mich aufbratostimme, sammelte die Zigarette vom Boden auf benraum und zurichten, konnte mich aber keine drei presste sie mir in die Handfläche. »Dir ist doch hoffentSekunden mehr auf den Beinen halten. lich klar, dass die eine der osteuropäischen Reinigungskräfte später für dich aufheben muss? Und jetzt hinaus mit der Kippe, raus aus dem Gebäude, mir aus den Augen,

Bruce begriff sich als eine Art numinosen Bakunin-Wieder-

bourgeoiser Lump«, duldete er keinen Widerspruch, zeigte mit

gänger, dessen kollektivistischen Anarchismus er als die Bes-

herrischem Blick in imposanter Geste gen Tür.

te aller möglichen Ideen pries, nur mit dem Unterschied, dass

In tiefster Demut stolperte ich mit hängenden Schultern

es einen herrschaftsfreien Raum erst peu à peu geben kön-

zum Ausgang und warf den Stummel ordnungsgemäß in den

ne, einer müsse anfangs alles im Blick haben und dazu hät-

dort feststehenden Aschenbecher. Ich fühlte mich wie ein Stall-

te er halt vorübergehend sich auserwählt. Er aber würde nur

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eingreifen, wenn es wirklich absolut nötig sei und die genau-

einzigen Galerie ausgestellt geschweige denn verkauft wor-

Auf jeden Fall, als ich einen Tag später das nächste Mal er-

Fleisch, welches auf der schäbigen Matratze leise vor sich

en Details könnten wir auch später noch absprechen. Einig

den. Die Bilder waren meist monochrom, ein bisschen wie aus

wachte, waren plötzlich auch meine Hände mit Metallhand-

hin verdorrte.

waren wir uns alle, dass das bestehende System nicht wei-

dem Farbkasten, genaugenommen wie von einem Dreijährigen

schellen auf den Rücken gefesselt, was ich nur mehr resigniert

ter aufrechtzuerhalten wäre. Wir würden also erst einmal hier

gemalt, obwohl ich mich da vertun mag. Jedenfalls war das

zur Kenntnis nahm. Emily hatte mir eine dünne matratzenar-

alles zum Einstürzen bringen und dann gäbe es schon einen

nicht gerade Yves Klein. Auch die Plastiken sahen sich sehr

tige Matte untergeschoben, dazu ein kleines rotes Couchkis-

Eines Morgens kam Emily in mein Zimmer geschlichen und

Dominoeffekt. Wir würden die Welt aus den Angeln heben.

ähnlich, zumeist deformierte Rümpfe, deren ausladende Brüs-

sen. Ich hatte keinerlei Spielraum mehr, war ihren Machen-

löste mir langsam die Fesseln. Sanft schaute sie mich an und

Hätten wir erst einmal genug Geld, würden wir uns auch ein

te im Vergleich zum Rest völlig fehlproportioniert wirkten.

schaften hilflos ausgeliefert.

strich mir übers brüchig gewordene Haar. Meine Arme und Bei-

anständiges Hauptquartier mieten. Meine Aufgabe war es, die Sparkasse am Eigelstein zu beschatten, weil wir die irgendwann überfallen wollten. Also saß ich den ganzen Tag auf einer Bank vor der doofen Filiale und guckte in der Gegend herum. Am nächsten Tag wieder dasselbe. Ich sollte eine Statistik anfertigen. Bruce gab mir Stift und Papier, für jeden Polizeiwagen, der an der Straße

Aber Emily war nett und ich bekam noch mehr Wein, von da

Jegliches Leben war aus meinen Gliedern gewichen. Beide wussten wir längst, dass es vorbei war.

ne konnte ich schon lange nicht mehr bewegen. Sie hob mich

an hielt ich höflichst meinen Rand. Meine Augen wurden klei-

Jeden Tag bekam ich genau eine minimalst kleine Mahlzeit.

behutsam hoch wie ein Kind und trug mich in den Nebenraum.

ner, es war schummrig warm. Ich schlief schließlich in der Mit-

Für die Dauer des Essens zog Emily mir das Klebeband vom

An der Wand hatte sie zwischen dem ockerfarbenen Tableau

te des Raumes auf dem Teppichboden ein, während Emily re-

Mund und hielt mich währenddessen mit altbekanntem Instru-

und einer der kryptischen Gipsskulpturen ein Strohlager für

dete und redete.

ment in Schach. Sie verließ die Wohnung so gut wie nie und

mich errichtet, auf welchem sie mich nun Jesusartig drapierte.

schlief wenig, so dass ein Fluchtversuch völlig ausgeschlos-

Über mir hing ein Messingschild, dessen Inschrift ich erst nach

Als ich aufwachte, schlug es gerade elf. Ich hätte Bruce

sen war. Ich konnte mich in einem Radius von vielleicht einem

einigen Minuten konzentrierten Hinguckens entziffern konnte.

vorbei fuhr, sollte ich auf dem Papier einen Strich machen, für

Emily lag hinten auf der Schlafcouch und sägte mit beben-

halben Meter bewegen und kam an keinerlei Gegenstände he-

Ich bin mir wirklich nicht mehr ganz sicher, aber ich meine, das

jeden Wachtmeister auf Fußstreife ebenso, und so weiter. So

den Nüstern vor sich hin. Ich konnte sie ja schlecht wecken.

ran, mit denen ich sie hätte überwältigen können, auch meine

Wort »Hungerkünstler« hing über mir eingraviert. Ich war also

könne er das Risiko angeblich besser abschätzen.

Also griff ich mir Stift und Papier von dem kleinen Arbeitstisch-

Arme blieben stets auf dem Rücken zusammengebunden. Ihre

ein Künstler, das war ja was. Meine Muskulatur hatte vollends

längst berichten müssen.

Schon am zweiten Tag hatte ich überhaupt keine Lust mehr

chen und hinterließ eine Nachricht, in der ich mich artig für

Motive blieben mir rätselhaft. Zunächst dachte ich, sie bräuch-

den Geist aufgegeben, lediglich die Augen schienen noch ein-

und guckte gar nicht mehr auf die Straße, sondern machte am

Gastfreundschaft und Gesöff bedankte. Dann schnappte ich

te einfach nur Gesellschaft, aber sie redete kaum noch mit mir

wandfrei zu funktionieren. Mit ihnen fixierte ich nun den Raum.

Ende des Tages nach Gutdünken elf Striche bei »Polizeiauto« und

mir meinen Mantel und hurtete zur Wohnungstüre, kam aber

und auch die anfängliche Herzlichkeit erschien wie weggebla-

Ich sah Emily vor mir auf einem Sessel sitzen, mich zufrieden

vier bei »Wachtmeister. Am Vortag waren es zehn Polizeiautos in

nicht weit, weil irgendetwas Kaltes an meinem Fuß zerrte. Ich

sen. Sie wirkte schroff und unterkühlt.

bemusternd. Ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Unter-

zwölf Stunden gewesen. Die Präsenz der Uniformierten hier war

blickte an mir hinunter. Um meinen Knöchel war eine silber-

Meine Klamotten stanken. Ich hatte sie tagelang nicht

leib, ich glaube, eine der beiden Nieren hatte sich gerade ver-

ein Witz. Wir konnten problemlos nicht nur die Sparkasse, son-

ne Metallfessel geschnallt, welche mir, je mehr ich dran zog,

mehr gewechselt. Selbst aufs Klo gehen durfte ich nicht, ich

abschiedet. Vermutlich die linke, denn dort zog es jetzt sehr

dern das ganze Viertel komplett leer räumen, wie es schien.

schmerzhaft ins Fleisch schnitt. An dieser befand sich wieder-

urinierte und defäkierte in eine Bettpfanne, die Emily jedes

heftig. Emily nickte mir liebevoll zu. Mir wurde schummrig, da-

um eine Kette, die bis unter die Wandheizung reichte. Ich war

Mal mit ekelverzogenem Gesicht entsorgte.

für fror ich aber nicht mehr ganz so schlimm. Helle Punkte

Am dritten Tag lernte ich schließlich Emily kennen. Sie

angekettet. Und wurde ziemlich hysterisch.

Sie hielt sich vorwiegend im Nebenzimmer auf, nachts

tanzten wie Glühwürmchen auf der Wand vor sich hin und fla-

war in den Siebzigern oder Achtzigern mal Schauspielerin und

Mein lautes Gebrüll ließ Emily jedenfalls mit voller Wucht

wachte sie auf der Couch ein paar Meter weiter über mich. Sie

ckerten rasch. Ich glaube, der Fernseher lief, jedenfalls hörte

Künstlerin gewesen, hatte es aber nie in eines der ganz gro-

von der Couch plumpsen. Überrascht schien sie, mich wie ein

starrte regelrecht. Ihren rastlosen Blick konnte ich im Dun-

ich irgendetwas im Hintergrund hallen.

ßen Ensembles geschafft und war auch in künstlerischer Hin-

Kleinkind schreien zu sehn, deutete dann mit ihrem Zeigefin-

keln auf mir spüren. Weder erotisiert, noch mörderisch schien

Der Tagesschausprecher wirkte ernsthaft konsterniert.

sicht ziemlich erfolglos geblieben. Ich glaube, sie war Frührent-

ger auf den Lippen an, dass ich wohl ruhig zu sein hätte.

er zu sein, im Gegenteil, jegliche emotionale Färbung ging ihm

Was war denn los? Ich versuchte, mich auf den Ton zu konzen-

ab, dem Blick. Emily schien sich zunehmend in einer Art Tran-

trieren, aber in meinem Kopf rauschte es nur. Die Moderati-

ce zu befinden.

on wurde ruckartig unterbrochen, stattdessen floss unten ein

nerin oder so was, jedenfalls erschien sie mir ziemlich jeck.

Ich schrie indes fleißig weiter, schließlich war ich kein Tier,

Sie hatte massig Zeit und unterhielt sich prächtig. Das golde-

das man mal so eben an einem Baum festband. Sie hastete in

ne Zeitalter, Zadek, Fassbinder, Peymann, Päffgen, Czukay und

die Küche und kam mit einem Elektroschockgerät und einer Rolle

Meine Kräfte ließen nach. Ich bekam von Tag zu Tag weni-

Nachrichtenband durchs Bild. »Kapitalismus soeben zusam-

wer auch immer, sie hatte mit jedem schon mal irgendwo ge-

Klebeband wieder, von der sie säuberlich einen Streifen abschnitt

ger zu essen. Meist nur noch ein bisschen Kartoffelpüree und

mengebrochen«. Ich sah Bruce auf der Mattscheibe. Es war

sprochen, gezecht und erzählte mir alles haarklein.

und auf meinem Mund platzierte, meine Gegenwehr wurde indes

ein Glas Wasser.

wohl ziemlich dringend.

Sie spendierte uns eine Flasche Wein und so saßen wir

durch glühende Stromschläge im Keim erstickt. Ich solle mich

Irgendwann hörte ich auf, die Tage zu zählen. Mittlerweile

Er grinste in die Kamera. Im Hintergrund tanzende Menschen.

auf der Bank und tranken fröhlich vor uns hin. Irgendwann kam

erst einmal hinsetzen und wieder beruhigen, lautete ihre Anwei-

waren es jedenfalls Wochen oder Monate, die ich auf der klei-

Ein hupender Autokorso. Ganze Straßenzüge voller Glück. Sie

eine Frau in Kostüm und hochhackigen Schuhen aus der Filiale

sung. Wenn ich auch nur davon träumte, den Klebestreifen anzu-

nen Matratze verbracht hatte, ohne mich zu bewegen. Ab und

hatten es geschafft. Zweifellos ganz ohne meine Hilfe.

gehetzt, sie würde gleich die Polizei rufen, wenn wir hier weiter-

fassen, würde sie mich nämlich in Schutt und Asche legen. Dann

an, wenn Emily sich im Nebenraum befand, versuchte ich mich

Ich war so glücklich, dass mein Herz ein letztes

hin alkoholische Getränke konsumierten und die Kunden ver-

faltete sie die Hände in ihrem Schoß und bestaunte mich.

aufzurichten, konnte mich aber keine drei Sekunden mehr auf

Mal tobte, das Restblut in mir den finalen Triumph-

den Beinen halten. Ich krachte immer wieder zusammen. Ob

zug durch den Kreislauf antrat, ehe Emily leise mit ei-

Bruce wenigstens nach mir suchte, mein getreuer McGuffin?

ner Kerze auf mich zu geisterte und mir mit sanfter Hand auf im-

schreckten durch unser kurioses Äußeres. Ich entgegnete zwar,

Meinen Protest konnte ich aus naheliegenden Grün-

da könne sie lange warten und zeigte ihr zum Beweis meinen

den verbal nicht äußern, von da an beschränkte sich dieser

Strichzettel, aber es half alles nichts und so zogen wir weiter.

auf emsiges an der Kette rütteln, die Fessel schien nicht

Emily vernachlässigte mich zunehmend. Schließlich be-

Emily wohnte in einer kleinen Bruchbude hinterm Breslau-

mal ein Loch für einen Schlüssel zu haben. Unter der Hei-

kam ich gar nichts mehr zu essen, nicht einen einzigen sch-

er Platz. Ich hatte eh nichts groß mehr vor, abends musste ich

zung befand sich ein an die Wand eingelassener Metallring,

malen Happen. Auch kein Wasser. Nicht mal einen Blick. Mir

Bruce zwar meinen Bericht abliefern, aber das war erst in ein

an welchem meine Fessel wie selbstverständlich befestigt

wurde zunehmend kalt. Ich fühlte mich innerlich ausgetrock-

paar Stunden. Wir schlenderten also zu ihr nach Hause, wo es

hing. Emily hatte eine hochprofessionelle Kerkereinrich-

net. Die Kachexie fiel über meinen schwachen Leib her, zerr-

mehr Wein und jede Menge Geschichten zu erzählen gab.

tung in ihrem kleinen Drei-Zimmer-Appartement installiert.

te ihn nieder. Von Muskelkrämpfen wurde er geschüttelt. Aus

mer die Augen verschloss.

An den Wänden hingen unzählige Bilder, die ganze Woh-

In meinem Magen wurde es flau, als würde ich von innen

meiner Kehle kam kein Laut mehr, so sehr ich mich auch ab-

nung war voller Skulpturen, Plastiken, Lithografien. Sie erklär-

gekitzelt. Keine Chance, die Kette aus der Wand zu reißen

mühte. Nur ein leises Krächzen hallte aus dem Rachenraum

te mir alles, während ich weiterhin viel trank. Die meisten Ar-

oder meinen Fuß auf andere Art zu befreien. Auch traute ich

gegen die Klebebandvorrichtung und wieder zurück. Ich lag

Von Sebastian Ingenhoff ist im Ventil Verlag bereits die postmoderne

beiten waren von ihr selber und sind nie auch nur in einer

mich tatsächlich nicht, das Klebeband abzureißen.

einfach da. Mein Körper war nur noch ein saftloses Stück

Rebellennovelle »Rubikon erscheint.

32

33


DAS EnDE DEr gESCHiCHTE

Gab es denn Vorbilder für Euch?

Zufall und ich hätte ein rechtes Arsch-

War Che Guevera für euch ein Held? Die 68er

loch mit der gleichen Biographie werden

oder daraus folgende Gruppierungen?

können, das ist so kontingent, da würde

HATE

Personenvorbilder oder je-

ich niemals im Nachhinein sagen: Nur

manden zu vergöttern ist nicht so mein

weil das bei mir so geworden ist, muss

Ding und war es auch nie.

man das nun wieder so machen. Im Ge-

JULIA

Ein Interview von J O NAS G E M pp

Mit der Wiedervereinigung 1990 und dem Ende des Konkurrenzkampfes zweier höchst unterschiedlicher Gesellschaftssysteme änderten sich in Deutschland politische und gesellschaftliche Konstellationen. Seitdem sind 20 Jahre vergangen; Jonas Gempp hat sich an einem regnerischen Montag im Juli mit drei sehr unterschiedlichen Linken getroffen und sich mit ihnen ausführlich über L I NK E P OL I T I K unterhalten.

SAMI Che Guevera war schon ein

genteil: Mich haben die konservativen

Vorbild, aber ein richtiges Idol? Karl

Lehrer einfach politisch mehr gefordert

Marx hingegen war sehr früh für mich

als die Gruppenarbeitslehrer. Ich konnte

ein Idol; Marx und Feuerbach habe ich

an denen mein Profil entwickeln. Es wa-

mit 17 oder 18 gelesen; wir hatten uns

ren eben charismatische Lehrerpersön-

im Religionsunterricht mit Religionskri-

lichkeiten, die autoritär waren und mit

tik auseinandergesetzt und ich fand das

einer kritischen Distanz hat man inter-

von Anfang an richtig. Marx war in sei-

essante Sachen gelernt. JULIA

Der typische Lateinlehrer …

SAMI

Lateinlehrer, aber auch Ge-

HATE Ihr drei kommt aus unterschiedlichen Spektren: Julia und Fran-

dann noch mehrere Optionen was man machen kann; Nazi

nem gesellschaftlichen Kontext schon

ziska, ihr arbeitet beide parteipolitisch, Sami, Du machst außerparlamenta-

werden war keine Option, also bin ich erst mal Linker ge-

damals Punk. Das ist alles in der Schu-

risch Politik und arbeitest wissenschaftlich. Gibt es ein Ereignis oder einen

worden. Allerdings waren meine politischen Ansichten ziemli-

le passiert. Ich wurde sozusagen von

schichte und Gemeinschaftskunde, wäh-

Punkt in eurem Lebenslauf, der euch zu aktivem politischem Engagement

cher Mainstream und fast schon konservativ. Zumindest war

Sami Khatib wurde 1976 in Hamburg ge-

links-liberalen Lehrern in der Schule an-

rend Deutsch-Lehrer eher die linkeren wa-

gebracht hat? Beschreibt doch mal eure politische Sozialisation.

ich nicht angezogen von der linken Szene in der Studenten-

boren, wuchs in der hessischen Provinz

gefixt und verdanke ihnen sehr viel.

ren und die Religionslehrer links-liberal.

JULIA SEELIGER Ich war als Jugendliche zwar schon immer

stadt Marburg; dort gab es zwar viele Linke, aber eher Alter-

auf und lebt seit 1999 in Berlin. Bis 2004

für soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz, aber nicht sonder-

native und Ökos, das war gar nicht mein Ding. Später in den

lich politisch. Irgendwann war ich mal bei einem Vortrag eines

90ern war mir nach den Neonazi- und Deutschmobattacken

CDU-Politikers und der sagte, man solle sich engagieren und da dachte ich mir: »Ja, das mache ich mal.« Mit einem Erlebnis wie »Als ich 1991 bei der Demo gegen den Irak-Krieg war …« kann ich leider nicht dienen. FRANZISKA DROHSEL Mein politisches Grundbewusstsein

Wir hatten auch solche Leh-

HATE Was waren im Nachhinein be-

studierte er an der Freien Universität Ber-

rer. Die haben mich aber immer genervt.

trachtet der Kontext für euer politisches En-

lin Philosophie und Publizistik, schreibt

Das waren so Alt-68er, die immer Grup-

gagement?

auf Ausländer klar, dass ich links bin. Ich war damals dann

gerade seine Doktorarbeit (über Karl Marx

penarbeiten machen wollten …

auch schon antheoretisiert, wohnte in Hamburg und da war

und Walter Benjamin); arbeitet als Jour-

SAMI Das war bei mir nicht so. Die

scheidend, dass ich mich als Linke lo-

man auch schnell draußen …

JULIA

FRANZISKA

Für mich war es ent-

nalist (u.a für die de:bug) und beschäftigt

waren richtig frontal und straight, ha-

gischerweise auf Seiten einer linken

HATE

… wenn man kein Popper war?

sich außerdem noch mit Popkultur, Mu-

ben uns zum Lesen gezwungen, vor al-

Partei organisiere. Ich hatte das Glück,

SAMI

Nein, ich war immer Popper, schon auf dem Dorf war

sik (Teilzeit-DJ, Teilzeit-Polit-Party-Organi-

lem waren das aber die konservativeren

dass ich bei den Jusos mit 15 auf Leu-

ist durch meine Eltern geprägt, die politische Menschen sind

ich gegen die Metaler und ich war Pet Shop Boys-Fan, aber das

sator) und Politik (von Lesekreis bis De-

Lehrer. Eigentlich waren die die ge-

te getroffen bin, die ähnliche Interes-

und durch den Kontext Alt-68er und zweiter Bildungsweg politi-

hat sich in Hamburg als Großstadt umgedreht. Da trugen die

monstration).

rechteren, weil sie alle zum Lesen ge-

sen hatten. Wir haben die gleichen Fra-

siert wurden. Als ich 13 war, kamen dann Grunge und Nirvana.

Popper alle Barbour-Jacken und hochgeklappten Kragen, das

zwungen haben und mit ihren konser-

gen gestellt und haben uns in einem

Das habe ich voll mitgemacht; dieses Grundgefühl, dass alles

war nicht so mein Ding. In den Jahren nach der Wiedervereini-

vativeren Bildern haben sie mich dazu

Lesekreis mit Marx und Rosa Luxem-

Scheiße ist und sowieso nichts bringt. Mit 15 war ich auf den

gung gab es dann die Anschläge gegen Ausländer und ich lan-

FRANZISKA Bei mir kann man das

gezwungen das ideologische Angebot

burg beschäftigt. Dann kam noch hin-

Demos gegen die französischen Atomtests auf dem Mururoa

dete in Göttingen. Dort habe ich mich dazu durchgerungen,

schon sagen. Bei uns wurde viel über Po-

der anderen Fraktion gegen sie auszu-

zu, dass man bei den Jusos beides

Atoll. Dort habe ich eine Schülergruppe getroffen, die sich ge-

mich auseinanderzusetzen.

litik geredet. Ich bin in Berlin aufgewach-

spielen. Das hat wunderbar geklappt.

machen konnte: sich einerseits mit ra-

sen, habe relativ früh Obdachlosigkeit

Marx war gegen Religion, gegen Staat,

dikaler Gesellschaftskritik beschäftigen

und soziale Ungleichheit mitbekommen

gegen Alles. Ein totaler Outlaw und das

und grundsätzliche Fragen stellen, um

und wurde auch von meinen Eltern auf

hat mir imponiert.

gen Atomkraft bei den Jusos engagierte, bei denen habe ich mitgemacht und seitdem mache ich Politik.

HATE

Hast du dann auch schon damit angefangen auf Demons-

trationen zu gehen?

HATE Also durch ein politisches Ereignis, das war bei dir ähn-

SAMI

Nein, das war erstmal eine theoretisch Auseinan-

dersetzung. Als heranwachsender Junge wirst du ja gezwun-

lich, Sami?

JULIA

Aber daraus würdest du

nicht die Forderung nach möglichst

man das mit dem Atheismus ernst nimmt, dann kann man ja

gressiv links, meine Mutter war immer

frontalem Unterricht ableiten, dass

nicht mehr die religiöse Karte ziehen, wenn man den Wehr-

recht öko, ich konnte aber dadurch auf

man nur die konservativen Knochen

dienst umgehen will. Es sei denn du bist Zyniker und du sagst

der politischen Ebene nicht wirklich ge-

vor die Klasse stellt, damit Wider-

aufwächst und nicht

»Scheißegal!«. Ich habe mir dann aber nach und nach den poli-

gen meine Eltern rebellieren.

stand provoziert wird?

in die Kirche geht,

tischen Überbau gesucht und den mit Marx auch gefunden.

gen dich zu äußern und zwar bei der Musterung und wenn

de, war ich Atheist, zumindest bilde ich mir das im Nachhinein ein. Wenn man wie ich auf dem Dorf

ist

man

draußen.

erstmal Es

gibt

HATE

Ihr habt aber alle drei auf Grund eurer bildungsbürgerli-

chen Herkunft gewisse linke Werte vermittelt bekommen?

Julia Seeliger wurde 1979 in Buchholz in der Nordheide (Niedersachsen) geboren, studiert Tech-

JULIA

Ein bisschen rebellieren ging

SAMI Nein, man sollte sowieso

bei mir schon, aber an sich ist mein Hin-

nicht zuviel aus einem retrospektiven

tergrund ein liberal-bürgerlicher.

Gefühl ableiten. Vielleicht ist es auch

SAMI

Franziska Drohsel wurde 1980 in Berlin geboren, promoviert gerade an der Humboldt

nikjournalismus und gehört seit Dezember 2006 dem Parteirat von Bündnis 90/Die Grünen an.

Universität zu Berlin in Rechtswissenschaften. Sie ist Mitglied im Parteivorstand der

Von 2004 bis 2006 war sie Mitglied des Bundesvorstandes der Grünen Jugend, seit 2007 ist sie

SPD und seit November 2007 Bundesvorsitzende der Jusos. Franziska ist seit 1995 bei

frauen- und geschlechterpolitische Sprecherin der Grünen in Berlin.

34

das Thema gestoßen. Meine Eltern sind auch pro-

Schon bevor ich politisch und Linker wur-

SAMI KHATIB

den Jusos aktiv und seit 2001 Mitglied in der SPD.

35


ein kritisches Bewusstsein zu verbreiten, aber andererseits

spruch hätte ich nicht ausgehalten und deswegen war eine

man Sachen verändern, um zu neuen Lösungen zu kommen,

hen und verstehen was Kapitalismus überhaupt ist; was ist

eben auch Realpolitik. Man diskutiert also nicht nur und geht

Partei keine Option für mich.

aber bei den Grünen ist das anders: Es gibt andere Flügelkon-

das für ein gesellschaftliches Verhältnis? Sie muss also erst-

Gesellschaftskritik

stellationen; die einen, die viel Real- und somit Machtpolitik

mal darüber Auskunft geben und wenn man kritisieren will, ist

kostenloses Kita-Jahr gibt oder was man eben gerade sinnvoll

bleibt auf Parteibasis ja nun auch immer innerhalb eines gewissen

machen und der andere Flügel, der aber auch sagt »Wir sind

es zunächst eine theoretische Position, die mit anderen politi-

findet. Gleichzeitig muss man aber auch sagen, dass das Ver-

Rahmens, das hat man ja bei Franziska mit der Roten Hilfe gese-

die Realisten!«. Das ist ein Problem der Partei: Die Realos hef-

schen Positionen aushandelt, sich aber nie den Weg ins refor-

hältnis zur SPD als Linke schwierig ist.

hen; über einen gewissen Punkt kann man nicht hinweggehen, sonst

ten sich das Pragmatismus-Label an und stellen die Linken als

mistische Lager verbauen muss. Antifaschismus ist ein gutes

kommt es eben zu Reaktionen wie z. B. diese widerliche Homepage na-

Fundis dar. Daher war mir das eher fremd, dass es eine Ein-

Beispiel, denn da wird immer Bündnispolitik gemacht. Man arbeitet mit bürgerlichen-liberalen Kräften zusammen, denn man muss aus den historischen Fehlern der Linken lernen; wie vor

auf Demos, sondern kann sich dafür einsetzen, dass es ein

HATE

Bist du SPD-Mitglied?

HATE Apropos Widersprüche:

Radikale

FRANZISKA Ja, ich bin irgendwann eingetreten. Man kann

mens stoppt-drohsel.de, die von Brandenburger JU-Spinnern gemacht

teilung in Reform/Theorie gibt, wie das bei den Jusos der Fall

auch nur Juso-Mitglied sein und das war ich recht lange, aber

wird. Sobald der Verdacht aufkommt, dass eine Staats- oder Kapitalis-

ist. Bei uns geht es um zwei widerstreitende Ideologien. Die ei-

letztendlich ist es sinnvoll sich klarzumachen, dass man, wenn

muskritik über einen gesunden Reformismus hinausgeht, ist man ganz

nen sagen, man muss das marktwirtschaftlich lö-

dem 1. Weltkrieg, als einige Kommunisten mein-

man jahrelang bei den Jusos Politik macht, Teil der Sozialde-

schnell in der links-extremistischen Ecke. Bist du in dieser Hinsicht

sen, die anderen sagen, man muss das über den

ten: »Lasst die Imperialisten sich gegenseitig ver-

mokraten ist.

vorsichtiger geworden?

Staat machen und zu Regelungen kommen, aber

nichten, wir wollen realpolitisch gar nichts ma-

antikapitalistisch bin ich nicht. Ich bin nicht dafür

chen.« Man muss schon eingreifen und ich sehe

Geld abzuschaffen, Geld ist eine coole Sache.

da auch keinen Widerspruch.

JULIA

Als ich 18 war, wollte ich auch immer zur SPD ge-

FRANZISKA

Es ging bei der roten Hilfe um die Mitglied-

hen, weil ich gewerkschaftlich geprägt war, meine Eltern be-

schaft und erstmal nicht um eine explizite politische Position.

kamen immer die Zeitung der GEW und die SPD war erstmal

Aber es gibt allgemein schon einige Widersprüche und die Tat-

»gut«. Das war in den 90er-Jahren aber auch eine andere Zeit:

sache, dass man in einer Partei ist, die historisch viele tolle,

Die SPD hatte solide Wahlergebnisse und stand einfach po-

aber auch viele schlimme Sachen gemacht hat – Kriegskredi-

sitiv da. Das ist jetzt auch keine Kritik an der heutigen SPD,

te, Kosovo-Krieg, Agenda 2010 – ist für mich als Linke schwie-

Positionen, die es schon seit fast 100 Jahren gibt: Links, links-

noch mit Stolz getragen wird, aber letztendlich nur als identitäres La-

sondern ich will damit nur meine damalige Position erklären.

rig. Aber mein Selbstverständnis war es immer, dass ich in

liberal, linksradikal und letztendlich ist die Finalperspektive im-

bel zu entlarven ist. Und was ist denn dann noch das bindende Glied in

Ich fand es auch attraktiv, dass es den Bezug zur Arbeiterbe-

einer Partei bin um die Positionen, die ich richtig finde, durch-

mer eine andere. Ich persönlich würde sagen, dass das Pro-

einer pluralistischen und bis ins Letzte ausdifferenzierten Linken?

wegung gab und diese großen Theorien. Als ich mir dann aber

zusetzen und daher ist das für mich ein strategisches Kampf-

gramm »Kapitalismus verschönern« zu neuen Widersprüchen

JULIA Das stimmt, aber was erreicht man damit? Natürlich

überlegte, dass ich mich in einer Partei engagieren möchte,

feld und man hat, vor allem bei den Jusos, die Freiheit radika-

führt und nichts wirklich ändern kann und deswegen bin ich so

muss man Sachen verändern, um zu neuen Lösungen zu kom-

merkte ich aber, dass die SPD doch nicht so mein Ding ist und

le Gesellschaftskritik zu äußern. Wenn man sich aber konkret

radikal, dass ich den ganzen Referenzrahmen, in dem sich das

men, aber bei den Grünen ist das anders: Wir haben nicht die-

dass eher die Grünen zu mir passen. Zum einen wegen des

in die reformistische Politik rein begibt, dann hat man es na-

abspielt, kritisiere. Da es aber im Kapitalismus kaum eine an-

se Spaltung in Theorie und Praxis. Deswegen streiten wir uns

Öko-Aspekts, aber auch wegen der individualistischen Viel-

türlich mit in den Zwängen der Realpolitik zu tun.

HATE

»Links« wird also sehr unterschiedlich rezi-

HATE Aber macht es denn dann überhaupt noch

piert. Wie würdest du dein Links-Sein einordnen, Sami?

Sinn von einem linken Oberbegriff auszugehen. Ist das

Das sind ja nun die klassischen linken

nicht ein sozialromantischer Anachronismus, der zwar

SAMI

tikapitalistische Praxis per se gibt, muss man sie immer fin-

bei unseren Parteitagen auch immer so sehr: Man geht davon

Das finde ich schwierig, ich bin eine pragmatische

den, man kann sie nicht fixieren, denn diese Praxis ist liquide.

aus, dass die Bundestagsfraktion sich dafür einsetzt, dass die

etwas Gutes hat. Aber es passt nicht dazu wie ich Politik ma-

Linke und ich würde diese Spaltung zwischen Realpolitik und

Da hat Julia Recht, wenn sie sagt, dass das eine theoretische

Parteitagsbeschlüsse umgesetzt werden. Theoretische Grund-

chen möchte. Ich brauche eher ein kreativeres, chaotischeres

Theorie nicht wollen. Erstmal benutze ich Reformismus nicht

und schon fast scholastische Position ist. Eine Position, die ir-

satzdiskussionen sollen auch zu politischer Praxis werden.

Umfeld. Bei einem Grünen-Parteitag kann immer etwas Unvor-

faltsperspektive. Die SPD ist mehr die alte Tante, was ja auch

JULIA

mit solch einer Verachtung. Eine pragmatische linke Politik

gendwelche Marx-Kapital-Exegeten untereinander aushandeln

Zwar gibt es Leute, die sagen »Wir sind die Realisten!« und an-

hergesehenes passieren. Ich denke das ist bei der SPD nicht

sollte, und das hört sich jetzt richtig realohaft an, auch jeden

können. Das ist ein Vorwurf den man an Lesekreis-Linke ma-

dere, die sagen »Seid doch mal visionär«, aber eine klare Ein-

so. Klar war auch, dass ich mich in einer linken Partei engagie-

Euro nur einmal ausgeben, aber ich finde dennoch, dass man

chen kann. Der ist sicher zum Teil zutreffend, auch wenn ich

teilung in »Theorie« und »Praxis« gibt es bei uns nicht. Und noch

re. Auf Bratzen wie die FDP hätte ich keine Lust.

sich Handlungsspielräume schaffen muss …

selber dieser Fraktion angehöre. Aber man muss das nicht to-

mal zu dem antikapitalistisch sein: Man braucht einen starken

tal undialektisch sehen und wahrscheinlich bin ich da auch nä-

Sozialstaat und starke Institutionen auf nationaler und inter-

her an Franziska dran; ich würde nämlich auch sagen, dass ich

nationaler Ebene, aber antikapitalistisch bin ich nicht. Ich bin

den Kampf um Handlungsperspektive im Kapitalismus nicht

nicht dafür Geld abzuschaffen, Geld ist eine coole Sache.

SAMI

Die Grünen waren bei mir auch mal im Gespräch.

Ich fand das radikalere Modell in den frühen 90ern – der blei-

FRANZISKA

Kurze Frage: würdest du dich denn als antika-

pitalistisch verstehen?

ernen Helmut Kohl Zeit – interessant. Die Grünen waren mir

JULIA

auch mentalitätsmäßig näher als die SPD. Die SPD war mir

FRANZISKA

verlassen kann, nur weil ich den Referenzrahmen kritisiere. Es

HATE Aber macht es denn dann überhaupt noch Sinn von einem

schon immer suspekt. Das fing im Geschichtsunterricht mit

JULIA Ich bin aber auch nicht so theoriefixiert. Ich möchte

ist sogar eher andersrum: Ich würde sagen: Die Kritik im Jetzt

linken Oberbegriff auszugehen. Was ist denn dann noch das binden-

der Revolution an. Nicht Fisch nicht Fleisch; mal so, mal so.

eine Politik machen, die jedem Individuum gleiche Rechte gibt.

beraubt sich seiner Möglichkeiten, wenn von vorneherein ge-

de Glied in einer pluralistischen und bis ins Letzte ausdifferenzierten

Das war mir nicht geheuer. Ich hatte einen Hang zu erlebnis-

Es geht darum, soviel sozialen Ausgleich zu machen, wie wir

schrieben wird: wir wollen nicht radikal sein, sondern geben

Linken?

orientierter und direkterer Politik und zu radikal-theoretischen

können, so viele Kita-Plätze schaffen, wie wir können und wir

jeden Euro eben nur einmal aus. Gerade die wahrhaft refor-

Positionen. Das findet man in Parteien eher nicht. Man hat

müssen auf internationaler Ebene viele Regelungen schaffen,

mistische Position müsste bei den Forderungen immer drü-

das zwar abgeschwächt, aber immer in einem parlamentari-

wie man Lebensräume gerecht verteilen kann und dass die gro-

ber liegen, über dem was machbar ist innerhalb der Verhält-

HATE Aber nach Gleichheit streben auch die Nazis. Die wollen

schen Rahmen, auch bei den Vorfeldorganisationen. Außer-

ßen Konzerne nicht die Umwelt straflos

nisse, um aus einer Defensiv-Position

auch eine gerechte Verteilung, wenn man sich anschaut, was Autono-

dem muss man noch die geographischen Kontingenzen da-

verschmutzen können.

zu einer Offensiv-Position zu gelangen.

me Nationalisten für Forderungen vertreten.

Nein. Okay, das ist dann ein Unterschied.

JULIA Dass man nach sozialem Ausgleich strebt und anderen Leuten nicht die Lebensmöglichkeiten beschränkt.

zurechnen; mit Städten, Leuten, die man kennt und was das

HATE Aber man kann doch Verhält-

Also rein aus einer polittaktischen Per-

Umfeld eben gerade so macht. Damals war dann eben der

nisse mit dem Wissen kritisieren, dass sie

spektive. Ich selber bin ja im Refor-

Kampf gegen Nazis extrem wichtig. Die etablierten Parteien,

sich in den nächsten Jahrzehnten wahr-

mismus nicht groß tätig, aber es kann

außer vielleicht partiell die Grünen, hatten da keine Antwort

scheinlich eher nicht ändern werden, aber

taktisch durchaus sinnvoll sein, Anti-

Streben das Nebeneinander von Volksgemeinschaften bzw. Völkern an

drauf. Diese Appeasement-Politik gegenüber dem deutschen

trotzdem den Reformismus als eine Linde-

kapitalismus im Reformismus selbst

und da spielt soziale Gerechtigkeit auch eine große Rolle.

Mob fand ich extrem problematisch. Man ist in einer Partei in

rung verstehen.

zu verorten. Das könnte man zumin-

JULIA Aber Nazis sind ja nicht für Gleichheit, sobald man

Das stimmt, aber was er-

dest diskutieren. Die Position »linksra-

nämlich aus einem anderen Land kommt, gilt dieser Gleich-

reicht man damit? Natürlich muss

dikal« jedoch muss an die Wurzel ge-

heitsgrundsatz nicht mehr.

einer schwierigen Lage, denn man muss ja an diese Leute adressieren, um eine Wahl zu gewinnen. Diesen inneren Wider-

36

JULIA

JULIA Wobei bei den Linken noch eine internationale Perspektive hinzukommt … HATE

… welche die Nazis aber durchaus auch haben, denn sie

37


Dennoch ist es aber auch so, dass die Koexistenz von

mal kurz darauf eingehen was Julia

Es muss also auf Höhe des Kapitals eine Selbstkritik sein,

HATE Warum muss denn dieses linke Label beibehalten werden?

Völkern zwar die »Anderen« ausschließt, aber ihnen dennoch ein

gesagt hat, nämlich dass Linkssein

z. B. der Globalisierung. Da kann man vom Abstrakten ins Kon-

Links ist so ausdifferenziert und pluralistisch, dass die Überschneidun-

Existenzrecht zugesteht.

natürlich ein Resultat von gesell-

krete gehen, aber was wichtig ist, ist die Selbstkritik des Ka-

gen teilweise extrem gering sind. Ist man Menschen, die liberal sind –

schaftlichen Kämpfen ist. Links ist

pitals, denn sonst sitzt man mit den Nazis im selben Boot,

also richtig liberal, nicht im FDP-Sinn – nicht näher als den SteinzeitAnti-Imperialisten?

HATE

JULIA

Das ist dann allerdings eine biologistische Heran-

also genau das, was gesellschaftliche Gruppen ausgehandelt

dann ist die Analyse nicht daran geknüpft, was das Kapital

FRANZISKA »Links« ist halt in der politischen Diskussion ein

und definiert haben. Aber man darf eines nicht vergessen: Am

eigentlich sein soll und man ist sehr schnell bei der struktu-

SAMI Ich weiß, was du meinst. Es geht wieder um die

Kampfbegriff und die Frage was »links« heißt, muss in unter-

Ende geht es um eine Politik der Wahrheit; links ist nämlich et-

rell antisemitischen Kapitalismuskritik. Man versucht also Ver-

Wahrheit: Was ist »links«? Wenn man die soziologische Ka-

was »Richtiges«.

hältnisse, die sich in Personen kristallisieren, an diesen fest-

tegorie benutzt, dann ist der Linke solange ein Linker, wie er

gehensweise und damit nicht »links«.

schiedlichen Kontexten immer wieder neu erkämpft oder verteidigt werden. Es ist einfach nichts Feststehendes. Aber es macht

JULIA

Was du richtig findest …

durchaus Sinn, an dem Label und der Begrifflichkeit »links« fest-

SAMI

Ja, aber genau das ist ja der Diskurs. Das ist es,

zumachen. Es geht also um eine Politik der Wahrheit. HATE

Dann gibt es diesen gemeinsamen Nenner aber doch ei-

gentlich nicht. Denn für einen Großteil der Linken ist jene verkürzte Kapitalismuskritik doch typisch, wenn man beispielsweise mal die globlisierungskritische Linke betrachtet. JULIA

Aber sind das nicht Randerscheinungen? Das hat

man doch selbst bei Gruppen wie ATTAC inzwischen erkannt. HATE Aber spielt sich das wirklich nur am Rand ab? »Heuschrecke« ist eine Begrifflichkeit, die in den letzten Jahren von links kam,

sich von meiner Kritik adressiert fühlt. Aber wenn man diesen

aber in breiten Teilen der Gesellschaft angekommen ist und auf nati-

soziologischen, empirisch wahrnehmbaren Bereich verlässt,

onalsozialistische Rhetorik zurückgeht. Menschen werden mit Tieren

könnte man fragen: warum brauche ich diese Linken? Da kann

gleichgesetzt, Verhältnisse werden personifiziert, das Wesen der Cha-

ich genauso den Liberalen adressieren und dann wird das Ar-

raktermasken wird nicht erkannt. Ich sehe da kein bindendes Glied

gument scharf. Aber bei meiner radikalen Gesellschaftskritik

mehr in der Linken.

finde ich keinen Gesprächspartner im marktradikalen Bereich.

Doch, ich sehe das schon. Eben weil sie sich von

Komischerweise finde ich den eher noch in der strukturell anti-

der Kritik, die du übst und die ich so weitestgehend teile, ad-

semitischen Linken, weil der sich qua Ansprechbarkeit als Lin-

SAMI zuhalten, denn es gibt in der Gesellschaft noch immer Interes-

was Linke ausmacht; das Aushandeln dessen. Aber wenn man

ressiert sehen, weil sie sich in einem innerlinken Diskurs des

ker immer noch eher als Gesprächspartner erweist, als der sa-

senskonflikte und ich würde grundsätzlich sagen, dass man als

das von vornherein aufgibt und sagt, dass es nicht um Wahr-

Aushandelns befinden. Es gibt keine a priori richtige linke Po-

turierte und angekommene Markliberale, auch wenn der 90%

Linker erstmal auf der Seite derer steht, die Pech haben und de-

heit geht, bricht genau das weg, was die Diskurse vorher am

sition ohne Aushandlung.

der Analyse teilt.

nen es nicht so gut geht. Alles was verhindert, dass in dieser

Laufen gehalten hat. Ich würde sagen, dass es eine retroakti-

Gesellschaft Menschen frei und gleich zusammenleben, also

ve Wahrheit gibt. Man kann auf einer sehr abstrakten Ebene

gleiche und nachdem Müntefering das gesagt hatte, wurde be-

alle Strukturen, die dazu beitragen, dass das nicht so ist, sind

vielleicht sagen, dass eine emanzipatorische Selbstkritik des

reits thematisiert, dass das schlecht ist. Das war vielen Leu-

SAMI Das kann man so sehen …

zu kritisieren. Aber man muss in seiner Kritik genau bleiben.

Kapitalismus links ist, aber dann müsste man schauen, was

ten nicht klar, denke ich.

FRANZISKA

HATE

Man nimmt also Zustände oder Verhältnisse als ungerecht

und falsch wahr und »links« ist dann die Symptombekämpfung.

JULIA

Das wurde aber auch diskutiert, gerade die Tierver-

HATE Also ist der Kern des Ganzen doch ein sozialromantisches Gefühl? Nein, ich sehe das im Ergebnis nicht so. Das

Na ja, was man sicher schon sagen kann ist,

Gemeinsame von Leuten, die sich als links verstehen, ist im-

sie sind nicht emanzipatorisch, sondern regressiv. Sie halten

dass die Friedensbewegung und die globalisierungskritischen

mer noch der Ansatz, dass sie sich an der Gesellschaft des-

Proteste in Teilen antisemitisch und antiamerikanisch ist …

halb stören, weil Menschen nicht frei oder gleich sind. Das

das bedeutet. Die Nazis sind ein ganz gutes Beispiel, denn

FRANZISKA

FRANZISKA Nein, wenn man feststellt, dass es soziale Un-

an Sachen fest, die der Kapitalismus bereits zerstört hat, z. B.

gleichheit gibt und man sagt das liegt am Kapitalismus – also

die Vorstellung, dass es Rassen gibt oder Völker und eine Ord-

Kapitalismus als System, das Konkurrenz und damit auch im-

nung. Dann kommt der Kapitalismus dazu und vermischt das

Ja gut, vielleicht auch das, über die Ausprä-

richtig, dass es Ungleichheit gibt und betrachten diese Un-

mer Verlierer produziert – und dass die Überwindung dieser

alles, »Rassenschande« sagen dann die Nazis. Hingegen wol-

gung kann man sicher streiten. Bewegungen und Gruppen

gleichheit als Ergebnis von Konkurrenzprozessen. Dann gibt

Verhältnisse erstmal etwas wünschenswertes ist, dann ist das

len die Linken nicht dahinter zurückfallen. Wenn die Güter frei

kämpfen auch um Meinungen und auch da muss man um

es natürlich Leute aus linken Gruppen oder die sich als Lin-

mehr als bloße Symptombekämpfung.

zirkulieren, wollen wir, dass auch die Menschen frei zirkulie-

progressive Antworten kämpfen bzw. diese geben. Es gab in-

ke verstehen, die bei den komplett falschen Antworten lan-

SAMI

Manifest antiamerikanisch …

FRANZISKA

ist bei Marktliberalen nicht der Fall, denn die sagen, dass ist

In dem Zusammenhang ist mir auch ein Spruch ein-

ren. Wenn es Barrieren gibt, die am Horizont des Kapitalismus

nerhalb der Linken immer reaktionäre Antworten und es wird

den und strukturell antiamerikanisch argumentieren. Und na-

gefallen: »Gleiche Rechte für Ungleiche«, das finde ich gut,

als abbaubar erkannt werden können, dann wollen wir noch

sie auch immer geben. Die Frage ist, was der progressive Teil

türlich spiegeln sich diese falschen Gedanken auch im linken

weil es die Differenz zwischen unterschiedlichen Menschen

einen draufsetzen. Wenn wir sehen, dass das Recht zu allen

ausrichten kann.

Kontext wieder. Die Frage ist nur, ob man es von progressiver

beschreibt, unterschiedliche Nationalitäten, Religionen etc.

Menschen gleich ist, die abstrakte

Seite aus schafft, dass sich antisemitische Gedanken nicht

dürfen keine Rolle spielen, sondern alle sollen die gleichen

Gleichheit aber Ungleichheit produ-

durchsetzen. Heiligendamm ist in gewisser Hinsicht ein posi-

Rechte haben. Ich meine damit aber nicht nur Bürgerrechte,

ziert, dann können wir sagen, dass

tives Beispiel. Die Debatten um Antiamerikanismus und Anti-

sondern auch soziale Rechte.

das Kapital bereits einen Hinweis da-

semitismus hat es vor Ort ja auch gegebenen und auch euer

JULIA

HATE Aber ist nicht der Kapitalismus an sich ungerecht? Ist es

rauf gibt, was abstrakte Gleichheit

Block, Sami, hat sich von gewissen Argumentationsweisen dis-

nicht vollkommen unlogisch zu fordern, dass es da eine Ordnung geben

sein könnte; also wollen wir die reale

tanziert und eine progressive Kapitalismuskritik formuliert.

muss, die eine bestmögliche Gerechtigkeit herstellen soll?

Gleichheit. Aber ich möchte noch mal

JULIA

Ich bin nicht so in diesen roten Lesekreisstrukturen

SAMI Der Kapitalismus ist beides; gerecht und unge-

auf die Wahrheit kommen; Wahrheit

drin, weil es das bei uns nicht gibt. Das heißt aber nicht, dass

recht. Die Rechtigkeit im Kapitalismus, die Gleichheit vor dem

hat natürlich einen Zeitkern und das

ich keine radikalen Veränderungen möchte. Denn diese sind

Recht, ist faktisch eine Ungerechtigkeit. Aber ich möchte noch

Kapital entwickelt sich immer weiter.

ja in Anbetracht der ungerechten Verteilung des Reichtums

38

39


auf der Welt notwendig.

weltvernichtung schon einpreisen und mit einberechnen. Das

arbeiten soll, da unterstütze ich dich auch, aber es ist eben

es zu entwickeln und man kann z. B. die richtigen Fragen stel-

Ich finde auch den Punkt

ist ein sehr gutes Beispiel wie es machbar ist, eine schein-

keine radikale Gesellschaftspolitik. Ökologie ist ein sehr gutes

len. Warum kann ein Kind nur zwei Eltern haben? Zuerst gab es

Reisefreiheit interessant:

bar linke antikapitalistische Frage, kapitalistisch umzuformu-

Beispiel für die Wandelbarkeit des Kapitalismus. Der Kapitalis-

die Diskussion ob Schwule und Lesben heiraten können und

Was

passieren,

lieren und da sind die Grünen sowieso gut drin, was ja erstmal

mus scheint ein System zu sein, ein Zusammenhang, der alle

sollen, jetzt gibt es wenigstens die eingetragene Lebenspart-

wenn alle Grenzen offen

nichts Schlechtes ist. Aber es gibt auch Möglichkeiten auf et-

Hindernisse, die man ihm entgegenstellt in einen Motor für

nerschaft. Ich denke, dass es schon Initiierungsimpulse aus

wären? Die Globalisierung

was zu verweisen, dass außerhalb des jetzt Denkbaren liegt.

das eigene Vorkommen verwandelt. Das ist faszinierend.

der Linken gibt und diese führen auch zu Fortschritten.

würde

Aber mir ist nicht klar, was das mit der Praxis zu tun

SAMI Das stimmt, aber hat natürlich auch eine gewisse

dass morgen die Marsmännchen kommen, dass die Welt un-

hat? Wenn du dir z. B. die Auswirkungen der Umweltverschmut-

Halbwertszeit. 1979 war das radikal, heute ist es nicht mehr

tergeht, eine Eiszeit anbricht, wir können uns alles mögliche

zungen anschaust. Der Kapitalismus, wenn ich ihn als System

radikal. Es gibt einen Zeitkern. Die Antwort ist sozusagen in der

Vorstellen, aber das Ende des Kapitalismus ist komplett au-

sehe, nimmt doch gar keine Rücksicht auf die Umwelt und es

Person von Franziska enthalten: Franziska hat eine Scharnier-

ßerhalb der Reichweite unserer Gedanken. Das Einfachste der

ist doch überhaupt nicht möglich alles einzupreisen, weil es

funktion zwischen

Welt ist nicht denkbar.

viel zu komplex ist. Ich glaube, dass die Komplexität der Zu-

progressiven linken

kunft wie auch der Umwelt nicht einschätzbar ist, daher kann

Positionen und der

man es auch nicht einpreisen.

Partei. Man kann

Žižek hat mal diesen Witz gemacht: Wir können uns vorstellen,

FRANZISKA Deswegen frage ich mich aber auch, wie eine antikapitalistische Praxis aussehen kann. Bei den Jusos wurden früher so genannte systemüberwindende Reformen diskutiert – Reformen, die zwar reformistisch umgesetzt werden, aber hat globalisierte Kommunikation und globalisierten Handel er-

den Kern der Systemüberwindung, der Emanzipation des Men-

möglicht, aber Reisefreiheit und Mobilität sind für viele Men-

schen in sich tragen.

schen immer noch eingeschränkt und wenn es eben diese Reisefreiheit gäbe, würde es drunter und drüber gehen.

JULIA

SAMI

Nicht die ganze Umwelt, aber die wichtigen Sachen,

die für das Überleben des Kapitalismus entscheidend sind. JULIA

Aber es geht ja um die Menschen … SAMI

Das mag sein, aber der Horizont ist of-

ganz

gut

sehen,

dass

Antisemitis-

mus und eine fetischistische Kapita-

möchte

fen und was ich sagen will: Der Kapitalismus hat

lismuskritik ein Thema geworden sind, aber man sieht auch

noch mal auf das Ein-

Ökologie adaptiert, hat sie zum Teil seiner eigenen

ganz gut das historische Moment: Eben in dem Moment wo

JULIA

Ich

SAMI Man kann die gesellschaftlichen Fronten offen sam-

preisen zurückkommen:

Entwicklung gemacht. Sie ist angekommen im Ka-

ein unreflektierter Philosemitismus um sich greift, wo Angela

meln. Es gibt einen Kernbereich linker Politik, wo mit Libera-

Sami, du denkst also,

pitalismus.

Merkel Israel zur Staatsräson Deutschland erklären will – was

len nichts zu machen ist. Ich würde sagen, dass du marktlibe-

es ließe sich alles ein-

HATE Ich glaube worauf Sami hinaus will, ist die Tat-

von völliger Selbstüberschätzung zeugt – und sich einige ost-

rale Leute findest, die 90% meiner Ansichten teilen oder ich

preisen. Aber das wird

sache, dass Ökologie genauso im Kapitalismus enthalten ist

deutsche Antifas als widerliche Rassisten gegenüber den Pa-

ihre, aber es sind eben 10% Differenz. Und da gibt es wohl

ja in der Realität gar

und ausgehandelt wird und dass der Kapitalismus sich in

lästinensern erweisen, in dem Moment, wo der Kampf gegen

eine Schere zwischen der Wahrheitsposition und der soziologi-

nicht gemacht.

dem Maße Umweltschutz zu Nutze macht, dass dieser ihm

Antisemitismus zu einem ganz langweiligen, identitären Allge-

hilft, sich zu reproduzieren und seine Existenz zu sichern.

meinplatz wird, ist die Avantgardefunktionen der Linksradika-

schen Position, die dann aber entscheidend ist, denn sie ent-

SAMI

Erdöl ist aber

hält die Marx’sche Aufforderung, dass alle Verhältnisse umzu-

doch ein gutes Beispiel;

werfen sind, in denen der Mensch ein geknechtetes Wesen

da wird eingepreist bis

ist. Aber noch mal zur Begrifflichkeit »radikale Gesellschafts-

zum Geht-nicht-mehr.

kritik«: Das heißt natürlich radikale Veränderung. Die Grünen,

JULIA

Aber

SAMI

Wobei wir natürlich nicht wissen, ob der

Kapitalismus damit Erfolg hat.

man

len natürlich weg. Und wenn man sich anschaut, wie es mit dem Philosemitismus, als schönem Bruder des historischen

JULIA

Können wir das Thema wechseln?

Antisemitismus in Deutschland, der immer nur die schöne Sei-

HATE

Okay. Hat die radikale Linke eine Avantgarde-

te der Sonderbehandlung dargestellt hat, aussieht, dann ist

so wie ich sie verstehe, wollen zwar Veränderung, aber keine

müsste ja auch theo-

Funktion? Sowohl für die Linke als auch gesamtgesell-

eine Avantgarde-Funktion nicht mehr gegeben. Das muss man

radikale. Denn radikale Veränderung geht immer an die Wur-

retisch die Umweltver-

schaftlich? Sei es eine Israel-Solidarität, die sich in Fahnen

kritisieren und natürlich geht es auch darum, eine emanzipa-

zel. Radikal wäre es hier, den Referenzrahmen selbst zu hinter-

schmutzung einpreisen.

auf Demos explizierte und Skandale evozierte und inzwi-

torische Kritik an der israelischen Politik in Palästina zu formu-

Das wird ja

schen in weiten Teilen der Linken angekommen ist, aber

lieren, denn die Zustände dort sind katastrophal.

fragen und das tun die Grünen nicht. JULIA

Das ist jetzt aber deine Wahrnehmung. Nur weil

SAMI

auch gemacht.

man rhetorisch radikal ist, heißt das noch nicht, dass man

JULIA

Nein,

auch die Pop- und Kulturlinke, die ja traditionell von stump-

JULIA Das sehe ich anders. Das würde ja bedeuten, dass

das

fem Antiamerikanismus geprägt ist, lehnt inzwischen z. B.

die Debatte sinusförmig verläuft und sich irgendeinem Ziel an-

wirklich was verändert. Deswegen finde ich auch, dass man

wird

gemacht.

das Palituch ab. Bei den Jungen Grünen kursierte, in Anleh-

nähert und dann wieder entfernt, aber das Ziel sollte doch real

z. B. die ökologische Frage als soziale Frage denken muss.

Der

Emmisionshandel

nung an einen ehemals antideutschen Blog, ein Flugblatt

sein. Bei uns trat auch so ein entleertes Pop-Antideutschtum

Man müsste also bestimmte Autos verbieten und mehr sub-

ist doch ein Witz. Das

mit dem Titel »Koksen, Kotzen, grüne Jugend«, welches sich

auf und es wurde, wie bei einem Fussballspiel, »Israel, Israel«

ventionieren …

ist

mit antideutschen Positionen auseinandersetzt.

gerufen und ein Künstler auf dem Medienmarkt in Weimar, for-

nicht

theoretisch

alles

SAMI Da stimme ich dir ja zu; du kannst, ohne das rhe-

denkbar, aber schau dir

FRANZISKA Wobei das alles innerlinke Diskurse

derte einen jüdischen Staat in Thüringen einzurichten. Das fand

torisch auszuarbeiten, antikapitalistisch sein in dem was du

doch mal an, wie es mit

sind. Israelsolidarität ist ja nun auch in anderen Mi-

ich nicht so cool, weil man viele Probleme mit Nazis in Thürin-

forderst. Es kommt nicht darauf an zu sagen, dass man rhe-

Kyoto

lieus zu finden. Was aber schon eine Rolle spielt ist

gen hat und die jüdische Gemeinde fand das auch nicht toll.

torisch radikal ist, sondern du kannst qualitativ fordern und

ist und wirklich auf erneuerbare Energien umstellen ist ein

die Tatsache, dass es ab und zu wahrnehmbare radikale Gesell-

Vielleicht ist das auch einfach etwas Avantgardistisches gewe-

dann bist du antikapitalistisch, denn was du forderst, ist im

hohes Ziel.

schaftskritik gibt. Das erzeugt in der Gesellschaft nämlich die

sen, was ich nicht verstanden habe, aber wenn man jetzt den

Hier und Jetzt definitiv nicht machbar. Und was du mit der Glo-

weitergegangen

Aber so ist das eben im Kapitalismus; da existiert

Notwendigkeit, sich damit auseinanderzusetzen, das ist wich-

Philosemitismus kritisiert, wie du das machst, führt das zu ei-

balisierung ansprichst: Es würde den Kapitalismus natürlich

ein Ideal und ein Ist-Zustand, der immer schlecht und zu kri-

tig. Ich finde aber, dass Avantgarde in dem Zusammenhang eine

nem ewigen Hin und Her. Man muss danach trachten, das wei-

aus den Angeln heben, wenn die Migrationsströme nicht regle-

tisieren ist und den dann anzugreifen ist Politik. So war das

blöde Formulierung ist.

ter auszudifferenzieren. Es ist natürlich gut, dass es eine Kehrt-

mentiert wären. Aber die Ökofrage ist total kapitalistisch, denn

schon immer und ist bei Umweltpolitik genauso, aber das ist

der Ökokapitalismus ist der nächste Punkt der Vergesellschaf-

klassische reformistische Politik. Die ist total wichtig und ich

tung. Das Kapitalverhältnis wird jetzt und in Zukunft die Um-

will gar nicht sagen, dass das ein Feld, ist auf dem man nicht

40

SAMI

HATE

Das soll aber erstmal keine elitäre Implikation haben, son-

dern nur eine Vorreiterrolle beschreiben. JULIA

Wenn man radikal ist, entsteht die Möglichkeit Neu-

wende gab, weg von einem stumpfen Antiamerikanismus und einer stumpfen Israelschelte auf einer vermeintlichen Basis des Völkerrechts, die viele Aspekte ausblendete. Ich finde es sinn-

41


voll, dass man mit Gruppen nach Israel fährt und sich näher mit

ner Aussage »Monogamie ist keine Lösung« hören. Ich war

nicht so gerne macht,

gut, das ist aktive Stadt-

der Politik Israels und dem Antisemitismus in Deutschland aus-

dann fast schon beruhigt als ich den Artikel las. Natürlich ist

vor allem bei Jugendli-

gestaltung. Früher gab es

einandersetzt, dass das Thema einfach erschlossen wird.

das positiver Sexismus, denn mir werden vermeintlich weib-

chen oder gerade anpo-

Reclaim The Streets, aber

Ich meinte aber, dass es unterschiedliche Adressa-

liche Attribute zugeschrieben; Unschuld, freundlich, lieb, kur-

litisierten Anfang-Zwan-

das ist irgendwann einge-

ten gibt: Der Linksradikale spricht erstmal die anderen Linken

zer Rock und so was. Zum Thema Sexismus: Bei den Grü-

zigern, denn das sind

schlafen. Von den Themen

an oder die anderen Linksradikalen. Die Gewerkschaftsleute

nen gibt es eine Frauenquote, die man auch als positiven

Nerv-Jobs und meistens

her ist der ganze Bereich

der IG Metall schicke ich nach Israel, die sollen sich mal mit ih-

Sexismus sehen könnte, die ist jedoch nur eine Übergangs-

machen das Frauen.

soziale Ungleichheit einer,

rem antisemitischen Antikapitalismus auseinandersetzen, die

lösung bis die Gleichberechtigung zwischen den Geschlech-

antideutschen Philosemiten schicke ich einfach mal nach Pa-

tern hergestellt ist. Unterdrückung durch Männer gibt es bei

sitzt bei Veranstaltungen

eine ganze Weile

lästina in die besetzten Gebiete und die sollen sich dann die

den Grünen nur dahingehend, dass sich diejenigen, die stark

auf dem Podium oder

schäftigen wird. Eine ent-

Vor-Ort-Politik der israelischen Besatzungstruppen angucken,

als Männer sozialisiert wurden, in Diskussionen vordrängen.

entscheidet was im Flug-

scheidende Frage, die ich

dann kann man sich darüber noch mal unterhalten. Es gibt für

Wenn man dann keine Instrumente wie eine quotierte Rede-

blatt drinsteht?

mir stelle, ist, ob die Zu-

mich einfach verschiedene Ansprechpartner, es gibt verschie-

liste hat, dann führt das dazu, dass solche Männer in einer

dene Blind-Spots bei verschiedenen Leuten. Warum sage ich

Gruppe viel mehr Einfluss haben, aber diese Hilfsstrukturen

eine

Philosemitismus? Weil einfach die ganze Situation im Nahen

hat man bei den Grünen noch und die helfen, dass man zu-

Geschichte geht, dann

die

Osten rückgespiegelt und als Reflektionsmedium missbraucht

mindest auf den höheren politischen Ebenen ein Gleichge-

macht man das fifty-fifty,

politisch aktiv sind, denn

wird für eine innerlinke Debatte in Deutschland.

wicht hat. Ich denke aber dennoch, dass Männer und Frauen

natürlich kann es auch

der Druck für Jugendli-

die gleiche Machtpolitik machen.

vorkommen, dass dann

che Fremdsprachen zu ler-

doch zwei Männer oder

nen, Praktika zu machen

SAMI

HATE Aber dem Philosemitismus geht doch eine theoretische Israel-Solidarität voraus? SAMI

Der aktuelle Philosemitismus ist bei einigen an-

tideutschen Linken eigentlich, nur eine identitäre Figur, die

HATE Wobei weibliche Machtpolitik erstmal aus einer Indifferenz resultiert. Kann man das so gleichsetzen?

FRANZISKA

SAMI

Und wer

den meine Partei noch

Wenn es um

wichtige

spitzung von sozialen Zu-

mediale

nur zwei Frauen auf dem Podium sein …

be-

ständen dazu führt, dass Menschen

weniger

und Lebenslauf orientiert die eigene Biographie zu gestalten,

Und was kommt da in der Praxis bei raus? Wie vie-

nimmt zu. Ich denke, dass man dann keine Zeit mehr für kol-

versucht ein Objekt in der Weltgeschichte ausfindig zu ma-

konnotiert das erstmal männlich, weil wir in der patriachal-ka-

le Männer und wie viele Frauen sind das dann? Habt ihr also

lektive Interessensorganisation oder politisches Engagement

chen, dem man alle Weihen menschlicher Emanzipation ver-

pitalistischen Gesellschaft leben und diese Gesellschaft erst-

eine Doppelspitze?

findet und es kein Äquivalent zur klassischen Arbeiterbewe-

leihen kann. Früher hatte die Arbeiterbewegung als emanzipa-

mal männlich ist, aber ich finde, dass Machtpolitik, zumindest

torisches Subjekt eine ähnliche Rolle. Das ist jetzt die Kritik, die ich innerhalb eines gewissen Kreises (den Antideutschen) üben würde, aber bei der IG Metal oder der Sozialdemokratie

JULIA

Machtpolitik ist aber erstmal Machtpolitik, man

JULIA

Nein, so was wie eine Doppelspitze gibt es bei uns

gung gibt, dass also Betroffene ihre Interessen formulieren.

bei uns Grünen, von beiden Geschlechtern gleich erfolgreich

nicht. Es ist alles viel unorganisierter, aber wenn es offiziell

Und ich stelle mir dann die Frage,was die politische Organisie-

gemacht wird.

wird, dann wird schon auch mal drauf geachtet, meistens war

rungsantwort darauf ist.

FRANZISKA

Es gibt bei uns auch quotierte Redelisten und

würde ich eine andere Kritik üben, denn dort herrschen wie-

quotierte Vorstände. Das sind Instrumente, die ich auch im-

der andere Zustände, andere Diskurse. Das ist aber Interaktion zwischen Linksradikalen und Linken, die ja auch stattfindet und es gibt Themen, wo gleiche Wellen existieren; das kann

SAMI

es sogar noch schwieriger den männlichen Part zu finden.

SAMI Mediaspree ist ein gutes Beispiel für Perspektiven

Als ich noch bei der Grünen Jugend war, da haben

linker Politik. Da können sich alle drauf einigen, weil es der

mer verteidigen würde und es trägt dazu bei, dass es in den

wir auch gemerkt, dass sich in der BUND-Jugend, die keinen

Gegner einfach verdient hat. Diese kleinbürgerlichen Volltrot-

offiziellen Gremien angenehmer ist. Bei den Jusos geht es

Vorstand, sondern eine »Bundes-Jugend-Leitung« hat und ak-

tel aus Berlin, die die halbe Stadt für einen Appel und ein Ei

überwiegend, weil da schon ein gewisser Konsens herrscht

tivistischer ist, mehr Frauen engagieren. Bei der Grünen Ju-

an irgendwelche Idioten verscherbeln. Das ist der Klassiker

man Rückblickend beim Sexis-

hinsichtlich der Kämpfe und Ziele der Frauen-

gend hingegen engagieren sich mehr Männer, die kandidieren

in Berlin und bis ins bürgerliche Lager denken die Leute: »Oh

mus in den 90ern sehen; das

bewegung. In der Partei oder dem gesamten

öfter und verbleiben länger im Amt, während es bei Frauen

man, wie kann man nur so blöd sein? Da bin ich dagegen.«

ging in der Linken los und heu-

politischen Geschehen erlebe ich allerdings

eine höhere Fluktuation gibt. Es sieht so aus, als sei dieses

Und Politik funktioniert auch ein bisschen flashmobmässig;

te reden alle wie selbstver-

auch oft diesen positiven Sexismus. Mich

antihierachische attraktiver für Frauen.

es gibt ein paar Leute, die das organisieren, es existiert ein

ständlich vom Gender-Main-

nervt es einfach, dass ich mich mit so einem

SAMI Ja, Frauen scheinen vermeintlich zuverlässiger für

einfacher Kristallisationspunkt und dann machen die Leute ihr

streaming.

Scheiß auseinandersetzen muss, dass ich mir

diese ehrenamtlichen Jobs und genau das ist problematisch,

Kreuzchen. Aber das hört bei der Agenda 2010 schon wieder

denn es zeigt auf der anderen Seite: die anderen sind zu faul.

auf. Gab es da ein Volksbegehren? Nein.

JULIA

HATE Wo wir bei Sexismus

Sprüche anhören muss, dass man was erklärt

sind, würde mich interessieren

bekommt. Wie ist das denn bei euch, Sami ?

HATE Wir haben über die linken Unterschiede, Gemeinsamkei-

wie das für euch als junge Frau-

Gibt es da einen Unterschied in der Gruppe, ob

ten und Differenzen gesprochen, aber was sind denn eurer Meinung

en in der Politik ist? Werdet ihr

man ein Mann oder eine Frau ist?

nach Arbeitsfelder für die Zukunft? Kann der Spagat zwischen radika-

dass es diese kleinen bzw. kleinteiligen, schlagfertigen Orga-

Es gibt auf jeden Fall einen Unter-

ler Gesellschaftskritik und gestaltender Lebensweltpolitik gemeistert

nisationen gibt, die auch Anbindung an Parteipolitik haben,

vem, konfrontiert? Julia, zu dir

schied. Vielleicht ist es besser als bei den Ju-

werden? Was ist mit den Protesten gegen Mediaspree hier in Berlin?

deswegen ist es auch wichtig, dass es Menschen wie Julia

schrieb die Bildzeitung, als du

sos, aber es hat sich herausgestellt, dass die

Scheinbar können sich alle auf die Gegnerschaft einigen. Existiert mit

und Franziska gibt, die eine Scharnierfunktion haben. Aber

entscheidenden organisatorischen und struk-

dieser Art der Stadtgestaltung wieder ein kleinster gemeinsamer Nen-

so richtige Perspektiven im Sinne eines gemeinsamen Pro-

ner? Welche Perspektiven gibt es für linke Politik?

jektes gibt es nicht. Und als Linksradikaler hat man erstmal

mit Sexismus, auch mit positi-

SAMI

in den Parteirat gewählt wurdest, folgendes: »Lila Jacke zum knappen Mini, unschuldiger Blick – Julia

turellen Dinge immer von Frauen gemacht werden … Oh …

Seeliger sieht so harmlos aus. Doch mit ihren Ansichten mischt die

JULIA

27-jährige Grünen-Politikerin die Ökopartei kräftig auf!« Werdet ihr

FRANZISKA

Ach, ist das so?

FRANZISKA SAMI

Gleiches gilt für die Bahn-Privatisierung.

Ich bin da ein bisschen ratlos; es ist total wichtig,

JULIA Ich finde das gut, man sollte das aber auf eine hö-

viele Gegner; Gegner kann man mit unterschiedlichen Mitteln

here Ebene bringen, wenn man nicht nur öffentlichen Raum an-

bekämpfen, bearbeiten und adressieren und bei Mediaspree

Ja, diese Basis-Dinge sind häufig von Frauen be-

eignet und verteidigt, sondern eben auch sagt, dass man die

hat es endlich mal geklappt mit allen Menschen dagegen

setzt. Die wichtigen Funktionen, die Hausarbeit einer Politgrup-

Errungenschaften des Sozialstaates verteidigen muss und da-

zu sein. Aber diese Flashmob-Politik hat ihre Grenzen, das

Ich hatte ja einen viel schlimmeren Artikel erwar-

pe, machen meist die Frauen. Da müssen Postfächer geleert

für eine breite öffentliche Sphäre schafft.

leuchtet schnell auf und verschwindet dann wieder. Es gibt

tet, denn die Bild-Zeitung rief mich an und wollte was zu mei-

und Geld eingetrieben werden. Das sind alles Sachen die man

mit so etwas öfters konfrontiert? Wie ist das in der Partei? Macht sich das in Arbeitsweisen bemerkbar? JULIA

42

SAMI

FRANZISKA

Ich finde die Aktionen zu Mediaspree auch

kein Reflektionsmedium, dass man sich mit den Leuten aus-

43


tauscht und mehr erreicht als der re-

Berlin – so, dass sie zur langweiligen Betonwüs-

alpolitische, direkte Erfahrungsraum

te verkommt?

das suggeriert.

JULIA

JULIA Ich bin mal gespannt was

Vielleicht kann da der Theoreti-

ker was zu sagen?

bei der Mediaspree-Sache heraus-

SAMI

Es ist ein wichtiges Politikfeld

kommt. Ich bin da pessimistisch und

in dem sich die Leute direkt und haptisch

hoffe, dass sich der Bezirk nicht tot-

ihrer Handlungsmacht bewusst werden

zahlen muss und die Sache trotzdem

können. Mit dem Verlust des Ideologie-

gut ausgeht.

kampfes Kapitalismus versus etwas an-

HATE Was heißt denn gut ausgehen?

deres, wird die Attraktivität dieses Feldes

JULIA Gut ausgehen heißt, dass

groß, weil man gewisse Fragen ad acta le-

man möglichst viel öffentlichen Raum

gen und sich darum kümmern kann wie

erhält, damit viel Freiraum bleibt, den

der Kiez aussieht. Aber man sollte anders-

man gestalten kann.

rum denken: Globale Fragen lokal formulieren. Bei Stadtpolitik

HATE Aber momentan ist der Raum ja nicht öffentlich. Die Mul-

bist du nach drei Sätzen bei Geld sticht weniger Geld, am Ende

tis, die kommen und »uns« das Spreeufer wegnehmen, sind also auch

ist man beim Protektionismus und der Frage: Wen will man im

nur die halbe Wahrheit.

Kiez haben. Nach dem postfordistischen Modell heißt es jetzt,

FRANZISKA Da hat sich neulich auch jemand beschwert,

dass alles wieder rückgängig gemacht wird; keine Trennung

dass er eben nicht einfach das schöne Spreeufer betreten

von Arbeit und Wohnen mehr; die reichen Leute kommen in

kann, weil die Strandbars alle Eintritt kosten.

die Innenstädte und gehen nicht mehr in den Speckgürtel. Da

JULIA Ja, aber unabhängig davon ist es ein Beispiel für

entscheidet halt der Geldbeutel und damit bist du ganz schnell

erfolgreiche basisdemokratische Organisierung

auch bei einer Kapitalismuskritik, das ist

von Leuten und das ist schon mal eine gute Sa-

also eine große Chance, aber wenn man

che. Ich fände es gut, wenn es so etwas öfter

das auf dem Niveau von Kiezverschöne-

gäbe, auch wenn ich dieses Anliegen nicht teile.

rung und Selbstvergewisserung für ideo-

FRANZISKA Da ist dann halt auch noch mal

logische Kleingärtner betreibt, dann hat

die Frage wofür.

man nur eine Scheinlösung für tief lie-

JULIA Für ihr Anliegen. FRANZISKA

gende gesellschaftliche globale Proble-

Aber es kann ja auch ein ver-

me erzeugt und ich würde sagen, dass

kehrtes Anliegen sein.

die unterschiedliche Art und Weise auf

JULIA Ich fand das Anliegen ja auch verkehrt

die sich Kapitalismus als Gesellschafts-

und polemisch, aber es ist ein positives Beispiel

verhältnis in die verschiedenen Städte

für erfolgreiche Demokratie im Kiez.

einschreibt ein hochinteressantes Feld

HATE

Praktische Lebensraumgestaltung …

JULIA In dem Fall haben sich aber auch nicht alle Akteure im Kiez richtig beteiligt, vielleicht wird das in Zukunft noch mehr.

ist. Die radikale Linke würde sich ins eigene Fleisch schneiden, wenn sie das Potential nicht erkennt. JULIA

Ich glaube die Leute werden schlauer. Irgendwann

Ich finde es ja auch gut, aber eine Initiative

formulieren sie dann ihre Vorstellungen. Mediaspree ist sehr

gegen Moscheebau ist nicht toll. Es ist ja schon immer die

polemisch, vielleicht formulieren sie beim nächsten Mal et-

Frage wofür die Leute sich organisieren. Alleine die Tatsache,

was genauer und erzielen über das Thema hinausgehende

dass sich Volkes Stimme erhebt und organisiert, ist noch

Fortschritte.

FRANZISKA

nicht per se gut.

FRANZISKA

Es ist halt auch die Frage, was wir als politi-

Es sind alles Erfolgser-

sche Handlungsfelder sehen. Überall wo es Wi-

lebnisse: Bei Mediaspree haben

dersprüche gibt, besteht auch die Möglichkeit

die Leute mal was angekreuzt

politisch zu intervenieren. Das ist aber auch

und es hatte direkte Auswirkun-

eine alte Frage, denn schon die Hausbeset-

gen. Das wird jetzt schwieriger,

zer haben städtischen Raum angeeignet. Aber

das Ding zu bauen.

ich sehe das genauso wie Sami; das kann et-

SAMI

HATE Wie kommt es, dass stadt-

was Reaktionäres sein, wenn Kleinbürger ih-

politische Themen auf soviel Anklang

ren Kiez gegen Eindringlinge verteidigen, aber

stoßen? Haben wir es mit einer neu-

es kann auch etwas Progressives sein, wenn

en sozialen Bewegung zu tun? Man ge-

städtischer Raum für alle gefordert wird.

staltet sich die Stadt – in diesem Fall

HATE Vielen Dank für das Gespräch.

44

45


Neue Erzähler und Pointenmörder von  Jochen Overbeck

Die amerikanische Kinokomödie hat sich im 21. Jahrhundert neu erfunden. Filmemacher wie  J udd A patow Jared Hess oder Todd Phillips und Darsteller wie Will Ferrell oder Jon Heder befreien sie von den Fesseln der Pointe und führen sie in neue Richtungen. Jochen Werner erklärt, wo die postpointierte Komödie steht, wohin sie will und warum das interessant ist.

46

Man konnte es leicht versäumen, wenn man nicht so genau

Léaud für die nouvelle vague war – einen stereotypisch über-

hingesehen hat. Konnte Judd Apatows »The 40 Year Old Virgin« in

zeichneten Geek, der in der Selbstbewusstseins- und Aufreiß-

der Ahnenreihe jener Sexkomödien verorten, die seit den Spät-

schule des diabolisch coolen Billy Bob Thornton zum neuen

neunzigern und »American Pie« ungebrochen die Lichtspielhäu-

Menschen zu werden strebt. Die ersten Augenblicke reihen nun

ser überfluten. Konnte in Will Ferrell einen Epigonen früher Adam-

eine Reihe von kurzen Sequenzen aneinander, in denen der

Sandler-Komödien sehen, und konnte die Filme von Jared Hess

stoffelige Roger in seinem Versagertum charakterisiert und ko-

für von Internetgeeks überhypte Nerdklamotten halten. Vermut-

mödientypisch vorgeführt wird – bis schließlich etwas ganz und

lich könnte man das heute noch, wenn man denn unbedingt woll-

gar Ungewöhnliches geschieht. Nachdem Roger die finale De-

te. Und doch, inzwischen scheint es selbst das konservativste

mütigung hinnehmen musste, indem er beim Big-Brother-Pro-

Feuilleton spitzgekriegt zu haben: In der amerikanischen Kinoko-

gramm für Waisenkinder von seinem Schützling zurückgewie-

mödie ist einiges in Bewegung. So hat denn mittlerweile jede Ta-

sen wird (zum wiederholten Mal!), läuft er konsterniert hinaus

geszeitung, jedes Stadtmagazin und wahrscheinlich auch schon

auf die Straße – und ganz plötzlich verzerrt sich sein Gesicht,

die Bäckerblume einen Leitartikel zu Judd Apatow im Repertoire

stürzen Tränen aus seinen Augen, beginnt sein Körper sich zu

gehabt, mit recht ähnlichen Ergebnissen: Seine Filme sind gera-

krümmen und buchstäblich in sich zusammenzufallen. Und auf

de sehr erfolgreich, und irgendwie total lustig. Der eigentlichen

einmal, ganz abrupt, ist an dieser Situation nichts mehr lus-

Frage aber, warum denn gerade all das, wo die Finger von Wri-

tig, sieht man sich als Zuschauer unversehens damit konfron-

ter/Director/Producer/Tausendsassa Apatow drinstecken, um

tiert, dieser Figur beim Zerstörtwerden zuzusehen. Das macht

so vieles besser funktioniert als ähnlich gelagerte Werke der ci-

freilich nur einen (wenngleich prominent platzierten) Moment

néastischen Konkurrenzmanufakturen, wollte man bislang noch

in Phillips’ Film aus, und doch verleiht es dem Werk als Gan-

nicht so recht auf den Grund gehen – vermutlich sind die meis-

zem eine andere, dunklere Tönung. Das liegt daran, dass hier

ten der armen Lohnschreiber, die einen Text zu Apatow & seiner

schon im Auftakt eine überraschende Dynamik zwischen dem

Crew herunterbrechen mussten, sich ihrer noch nicht einmal be-

Lachen mit und dem Lachen über einen Charakter etabliert

wusst. Die Kinokassen entscheiden, und Apatow ist halt gerade

wird – und vor allem daran, dass hier jene Kategorie reanimiert

hip, oder, gottbewahre: Kult. Nicht selten gerät einem beim Lesen solcher Huldigungen Peter Fondas Anekdote aus jener Zeit

wird, die im Grunde schon immer einen lustigen Film von einer großen Komödie unterschieden hat: die der Fallhöhe. Wil-

in den späten 60ern in den Sinn, als er soeben mit Drogenkum-

ders »The Apartment«, Edwards’ »Breakfast at Tiffany’s«, oder

pel Dennis Hopper und »Easy Rider« das amerikanische Kino ge-

jüngst die Meisterwerke Wes Andersons – eigentlich immer wa-

rettet hatte: Der Punkt, als ihr Film an den Kinokassen einschlug

ren die größten Kinokomödien jene, bei denen man die meis-

wie eine Bombe und völlig unerwartet viel Geld einbrachte, sei

te Zeit über traurig war. (Und andererseits ist es natürlich auch

der Zeitpunkt gewesen, an dem das verständnislose Kopfschüt-

so, dass eine Komödie, die pausenlos zum Lachen reizt, noch

teln allerorten aufgehört habe – um von verständnislosem Ni-

längst nicht automatisch einen guten Film ausmacht.) Fragt

cken ersetzt zu werden.

man sich schließlich, warum eigentlich das so ist, so rührt man

Der Frage, warum die Neue Amerikanische Kinokomödie so

an die Grundfesten der Kunst überhaupt: Eine Pointe, das ist

gut funktioniert, lässt es sich vielleicht am besten über die

schließlich zunächst einmal ein Mechanismus, augerichtet auf

ersten fünf Minuten von Todd Phillips’ »School for Scoundrels«

ein eindeutiges Ziel – den Lachreiz. Schönheit, und somit der

– einer Art Variation auf Peter Segals Meisterwerk »Anger Ma-

Kern eines jeden Kunstwerks, entsteht aber erst in der Abkopp-

nagement« mit Adam Sandler auf der Höhe seiner Kunst – an-

lung eines Elementes von seinem Gebrauchswert. (Hierin liegt

nähern. Darin gibt Jon Heder – der für die Neue Amerikani-

etwa der Grund, dass ein allzu ausgefeiltes Drehbuch ein filmi-

sche Kinokomödie das zu werden verspricht, was Jean-Pierre

sches Meisterwerk meist eher verhindert als bedingt.)

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Das Projekt der Neuen Amerikanischen Kinokomödie könnte

thisch und fast immer sogar klug. Radikaler hingegen präsentie-

man nun beschreiben als eine Befreiung der Komödie von ih-

ren sich einige jener Filme, in denen der offenbar durchaus auf

rer Strukturierung durch die Pointe. So bleibt etwa festzustellen,

einen gewissen Mainstream-Appeal bedachte Apatow sich auf

dass Apatows Filme »The 40 Year Old Virgin« und »Knocked Up«

die Produzentenrolle beschränkte. So etwa mit den von Adam

eigentlich nicht einmal so sehr zum lauten Lachen reizen – eher

McKay inszenierten »Anchorman: The Legend of Ron Burgun-

handelt es sich um Filme, die zum konstanten Grinsen animie-

dy« und »Talladega Nights: The Ballad of Ricky Bobby« die bei-

ren. Die klassische Pointe als Strukturelement dominierte die Komödiengeschichte seit dem Slapstick des frühen Films und hatte nur selten (etwa bei Tati) die Chance, erwachsen zu werden. Vielleicht lässt sich nun die Differenz zwischen der klassischen, pointenstrukturierten, und der neuen, postPOINTIERTEN Komödie ähnlich greifen wie der von Hitchcock erläuterte Unterschied zwischen

An die Stelle der Rekonstitution der Narrativität durch die Öffnung der Struktur in den Filmen Apatows tritt also hier eher eine Überschreitung, ein AuSSerkraftsetzen bei gleichzeitiger, stark betonter Zelebration.

surprise und suspense: Wo die erstere einen aufwendigen, außerhalb dieser Funktion aber wertlosen, Aufbau benötige, um zu einem Effekt – der Überraschung oder dem Schock – hinzuführen, kreiert letztere eine durchgängige

den bisherigen Hauptwerke Will Ferrells: Diese beiden Filme,

Emotion. Beide Methoden rufen folglich starke Wirkungen her-

und überhaupt Ferrell als Komiker, funktionieren durchaus eben-

vor, wobei sich aber die surprise, bzw. Pointe, blitzartig in einem

falls über das Erzählen, aber in einem ganz anderen Sinn. So er-

Höhepunkt entlädt, dem alle anderen Elemente als bloße Werk-

zählen Ferrells Filme mit ihren Geschichten von tiefem Fall und

zeuge in der Kinomaschinerie untergeordnet sind, während der

spektakulärem Comeback grundsätzlich eigentlich immer das-

Suspense-Thriller oder die postpointierte Komödie die zugrun-

selbe, tun dies aber mit einem heiligen Ernst, der weniger ein-

de liegende Emotion eher zu verflüssigen trachten. Die post-

zelne Situationen (das Leslie-Nielsen-Prinzip) als vielmehr die

pointierte Komödie betrachtet sich stärker als ihre klassische

Erzählung in ihrer Gesamtheit ins Absurde kippen lässt, und

Form als ein Ganzes im Sinne eines Kunstwerks, und als sol-

widmen sich detailbesessen den Schnörkeln und Ornamenten,

ches sucht sie sich mit Komik gewissermaßen zu durchtränken,

mit denen sie ihre monströs klischeehaften Charaktere über-

um in einer offeneren Struktur frei zu werden und so jedes The-

reich verzieren. An die Stelle der Rekonstitution der Narrativität

ma behandeln, jede Geschichte erzählen zu können. Nur so ist

durch die Öffnung der Struktur in den Filmen Apatows tritt also

es, am Rande betrachtet, überhaupt noch möglich, die Filme ei-

hier eher eine Überschreitung, ein Außerkraftsetzen bei gleich-

nes Wes Anderson in die Form der Komödie zu integrieren; spre-

zeitiger, stark betonter Zelebration. An die äußersten Grenzen

chen diese doch tatsächlich von nichts anderem als Tod, Ver-

wird diese Überschreitung dann in den Filmen von Jared Hess

lust, Schmerz und Scheitern.

getrieben, die ihren Schöpfer in ihrer Konsequenz letztlich als

Wenn nun in dieser V e r f l ü s s i g u n g des Humors das Band

den wahren Avantgardisten unter den Autorenfilmern der Neuen

besteht, das die Kreativen der Neuen Amerikanischen Kinoko-

Amerikanischen Kinokomödie qualifizieren. Als one-joke movies

mödie zusammenschmiedet, so nutzen sie doch diese ähnliche

wurden »Napoleon Dynamite« und »Nacho Libre« nicht selten dif-

Ausgangsposition dazu, in ganz unterschiedliche Richtungen

famiert – und damit wider Willen nicht einmal schlecht charak-

aufzubrechen. Judd Apatow etwa, und darin mag nun tatsäch-

terisiert. Wo das Slapstickkino sich von jeher im Spannungs-

lich das Geheimnis seines großen Erfolges liegen, benutzt die-

feld von Reiz und Reaktion entfaltet und seine Pointen durch

ses Modell, um wieder im klassischen Sinne erzählen zu kön-

Verkürzung oder Verlängerung der Verbindungen zwischen die-

nen. So nimmt etwa Steve Carell in »The 40 Year Old Virgin«

sen Polen konstruiert hat, da scheint für Hess’ ortlose Protago-

bereits offenkundig jenen vermeintlichen Karriereumschwung

nisten diese Verbindungslinie gekappt, ziellos, ins Unendliche

vorweg, der ihn später im weitgehend misslungenen »Little Miss

überdehnt. Napoleon Dynamite etwa, glamourös unglamouröse

Sunshine« als einzigen Lichtblick strahlen ließ und als sensiblen

Galionsfigur der Neuen Amerikanischen Kinokomödie, scheint

Charakterdarsteller outete; und spätestens die zweite Regiear-

eher einem Beckett-Stück entsprungen als einem Teeniekla-

beit »Knocked Up« ließ es dann überdeutlich werden: Apatow

mauk, und seinem Schöpfer Jared Hess scheint es eher um

ist in erster Linie ein handwerklich blitzsauberer und ein wenig

das langsame Erwürgen denkbarer Pointen zu gehen als um

konservativer Geschichtenerzähler. Jene Rückwendung zum ge-

eine massenkompatible Lachnummer. Natürlich sind seine Fil-

konnten Handwerk, für die im Hollywood des 21. Jahrhunderts

me trotzdem schreiend komisch, aber eben auf einer ande-

Namen wie Peter Jackson oder Sam Raimi im Spektakelkino

ren Ebene. In Anlehnung an den Godard der späten 60er Jah-

oder die späte Entdeckung Clint Eastwoods im dramatischen

re könnte man zusammenfassen: der Neuen Amerikanischen

Fach zeugen, verkörpert Apatow für die Komödie. Selten revo-

Kinokomödie ist nicht mehr daran gelegen, komische Filme zu

lutionär und bestimmt nicht Avantgarde, aber souverän, sympa-

machen – sondern daran, Filme komisch zu machen.

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CUM FROM SPACE Ciao! i’m on a trip with my little spaceshuttle, because i felt incredibly bored on my planet. i found the white record, so i’m searching for a place where i can drop this fat electro bomb. my engine had a breakdown. i crashed into this forest and discovered the turntable. i started spinning the record and burned down this place with my presure. i couldn’t help myself i have to touch myself. when i woke up totally exhausted i gave signs with my smoke stick that they have to pick me up and bring me back to my planet.

fotografen johannes buettner,

Martin trojanowski, model Francesco aka Mr.Ties (myspace.com/mrties) asistenten michael nadjé, Mario

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I WANT YOU NOW, I NEED YOU NOW I CAN’T GO ON, I MUST BE SURE I COME FROM SPACE, I WANT TO KNOW IF I CAN DO, MY LOVE IS TRUE

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Horror. Suspense. Myster y. Action. Sci-Fi. Anime. Fantastisches. Surreales.

Deadline. Das Filmmagazin. Alles außer Fußball. -------------------------------------------------------------------------------

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D

Neu!

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Sonntags gibt es drauSSen nur Kännchen

Eine Betrachtung von Beweggründen und Ressentiments gegenüber dem amerikanischen Kaffeeimperium.

Jochen Overbeck  untersucht den Hass der Deutschen auf Starbucks.

Eigentlich war es eine kleine Meldung der Grafiker-Adres-

ebenfalls zu irritieren. Und dann ist’s natürlich die Globalisie-

großen Global Player findet: Als McDonalds vor gut einem Jahr

se Fontblog: Starbucks, so wurde dort berichtet, würde in zwei

rung: Der Amerikaner macht sich breit und sorgt dafür, dass

seine erste Filiale in Kreuzberg eröffnete, war die Entrüstung

Niederlassungen in den USA quasi umdekorieren: Statt dem

die Fußgängerzonen von München, Düsseldorf und Berlin aus-

bekanntlich groß. Substanzlos war sie freilich auch, denn für

üblichen grün-schwarzem Logo würde man sich dort auf die Ur-

sehen wie die Einkaufsstraßen in Los Angeles, London oder

den ernährungstechnisch völlig gleichgeschalteten Bezirk ist

sprünge beziehen und das Zeichen verwenden, das die Kaf-

Kuala Lumpur. Nebenher weigert sich die Firma, sich gemäß

der Burgerbrater fast eine Bereicherung, und ob die Arbeitszei-

feeröster bei ihrer Gründung Anfang der 70er-Jahre benutzten:

den Vorschriften von Attac und Co. zu verhalten: Hintergrund

ten und -bedingungen sowie die Qualität der Rohwaren bei der

ebenfalls eine Meerjungfrau, aber weniger abstrahiert und kör-

ist vor allem die angebliche Weigerung des Unternehmens, Ge-

Dönerbude ums Eck besser sind, ist dann doch eine Frage.

perlich – nun ja – detailreicher dargestellt: mit Brüsten und ei-

werkschaftsmitglieder einzustellen und der Kauf von konven-

Zurück zum Kaffee beziehungsweise zu der Variante, die ir-

nem Bauchnabel. Was folgte war keinesfalls eine Diskussion

tionellen Kaffeeprodukten. Das dritte Argument ist indes ein

gendwo schnell runtergezogen wird: Das ist übrigens keine

über die Qualitäten des Logos – die Internetcommunity griff lie-

durchaus stimmiges: Starbucks ist teuer, wer einen großen

grundamerikanische Errungenschaft. Was gerne vergessen

ber in den großen Topf der Ressentiments. Auch Ulrich Rosen

Milchkaffee bestellt, darf gute vier Euro berappen. Schon ein

wird, ist, dass in Sachen Coffeeshop, nach wie vor eine urdeut-

notiert in seinem Blog Nachdenkenswertes zum Thema Star-

Batzen Geld für ein Getränk, aber eine Sache, die letztendlich

sche Firma ganz vorne mitspielt. Die meisten Ausschankstel-

bucks: Da kann man dann eine Audiodatei anhören, wo der

der Markt regeln wird.

len dürften unter dem Tchibo-Logo und damit Beiersdorf-Füh-

Blogger irgendetwas sehr Großes mit einem sehr amerikanischen Namen bestellt, um zu zeigen, dass man in einem dieser Läden ja unmöglich einen Kaffee (ganz normal, also nach deutschen Maßstäben) bekommen würde. Das Problem an der Sa-

rung ihrem Geschäft nachgehen. Und bei denen geht so richtig

Einmal ist da das typisch dummdeutsche Herummäkeln an allem Neuen.

che: Es ist Unsinn, und zwar gleich doppelter. Denn erstens ist

der Punk ab. Massive Verletzungen des Datenschutzes, der Gewinn der zweifelhaften »Plagiarus«-Auszeichnung für Ideenklau und Zulieferer, denen massive Verletzungen der Arbeitsund Menschenrechte vorgeworfen werden. Bei der Koffeinauf-

das von ihm gewählte Getränk technisch gar nicht herstellbar,

Bisweilen treibt die Coffeeshop-Skepsis absurde Blüten. Da

tankstation für die Ü-60-Generation geht’s traditionell rund.

und zweitens kann man auch in jeder Starbucks-Filliale – eben-

wird dann einfach mal alles kritisiert, was geht. Die Freundlich-

»Jede Woche eine neue Welt« titelt man und verkauft neben

so, wie bei Coffee Fellows, San Fancisco Coffee Company oder

keit, eh klar. Weil sie nicht vom Herzen kommt. Aber auch das

Kaffeeprodukten Porzellan, Tangastrings, Reitstiefel und Tele-

Balzac – einen ganz normalen Filterkaffee bestellen. Tipp: Ein-

W-Lan, das ab und an ja sogar umsonst ist. Gerne werden dann

fontarife. Kritik? Gibt’s. Unlängst demonstrierte eine Blogge-

fach mal fragen, meistens steht’s aber auch auf der Tafel.

Sätze gesagt wie: »Ich trinke meinen Kaffee lieber in einem

rin im über einen Service der Firma bedruckten T-Shirt vor ei-

Aber darum geht es ja gar nicht. Die in einem breiten Kon-

kleinen, unabhängigen Laden als bei einer Kette«. Als Beispiel

ner Filiale in Hamburg. Alleine, wohlgemerkt. Starbucks muss

sens formulierte Starbuckskritik hat andere Wurzeln. Einmal

werden dann gerne Läden wie die portugiesischen Cafés auf

sich indes in den USA ganz anderer Kritik ausgesetzt sehen:

ist da das typisch dummdeutsche Herummäkeln an allem

der Hamburger Schanze genannt. Das Ausleben der eigenen

Nachdem eine Hoax-Mail in Umlauf kam, in der behauptet wur-

Neuen. Dass man plötzlich selbst überlegen kann, wie sein

Vorlieben ist natürlich eine feine Sache und soll hier nieman-

de, dass Starbucks den Irak-Einsatz amerikanischer Truppen

Getränk schmeckt und auch bei der Größe ein gewisses Mit-

den verboten werden, das Problem ist aber, dass diese Verwei-

ablehne und deshalb einer Bitte nach Kaffeespenden nicht

spracherecht hat, mag für ein Land, in dem Kaffee noch vor 20

gerung der Großkette gegenüber oft genug auf einen morali-

nachkommen wollte, bezog das Unternehmen Stellung – und

Jahren nur als magenkratzende Filterplörre und Sonntags nur

schen Thron gehoben wird, der doch arg unsicher steht. Denn

teilte lapidar mit, dass die amerikanische Armee in der Tat kei-

im Kännchen gereicht wurde, ein schwer fassbares Glückser-

auch der Feinbäcker am Schulterblatt agiert nach den Geset-

ne Care-Pakete bekommen würde – weil es sich dabei um kei-

lebnis sein. Dass die Menschen, die einen bedienen, zumin-

zen des Kapitalismus. Auch hier steht im Laden ein Angestell-

ne karitative Organisation handle und weil es steuerrechtlich

dest an der Oberfläche freundlich sind – mehr kann man ja bei

ter, der vermutlich relativ mies bezahlt wird, während irgend-

nicht möglich sei. Die vermeintliche Speerspitze des Bösen

einem Verkaufsgespräch kaum erwarten – und dass man die

jemand den großen Reibach macht. Ein systemimmanentes

Globalisierungshalligallis als vaterlandslose Gesellschaft?

Ware anschließend nicht nur innerhalb des Lokals, sondern an

Problem, das von der Wohlfühllinken gerne wegignoriert wird

Vermutlich ganz gut, dass die deutsche Gefühlslinke das nicht

jedem Ort verzehren kann, an dem man das möchte, scheint

und seinen Höhepunkt bei der Diskussion um einen anderen

weiß – sie würde vermutlich implodieren oder so.

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Nest Text von  A ntonia B aum

Gucken Sie, was gelebt und so genannt wird, ist ein Platz

Neun Stunden pro Tag (eher werden es zwölf) bewacht sie mit

mit braunhölzernen Ansammlungen drauf, gestapelt, gefä-

vorgehaltenem Speer ihren gläsernen Schreibtisch und vor al-

chert, gespickt, ineinander gesteckt, verkeilt, vermischt und

lem sich. Sie begrenzt sich und bekämpft anderer Leute Ansin-

vermengt. Aus Gründen tragen die versammelten Menschen

nen. Sinnvollerweise, denn nur zwei Tage, da war ihr Federkleid

Speere mit sich durch die Enge und es ragen blutverklebte

schon bekotzt und bekotet1. Ohne ihren Speer, den sie inzwi-

Spitzen in die Luft. Die Tragweite kennt im Einzelnen keiner,

schen professionell durch die Luft zu peitschen weiß, selbst

aber mein Gott (ja, der liebe Gott, dem hätte vielleicht wer Be­

wenn überhaupt gar kein anderer in Reichweite ist, wäre sie

scheid sagen sollen, wenn der überhaupt mal irgendwann da

wahrscheinlich schon längst Suppenhuhn im Topf der Allge-

gewesen wäre).

meinheit. Nun ist sie ja aber gerade eben erst dem, mit der

Aber am Ende will’s ja nie einer gewesen sein, man selbst

verdorbenen Familienjauche drin entkommen. Was gelebt und

am allerwenigsten und dann kriegt man Seitenhiebe und blu-

so genannt wird »lässt sie sich jedenfalls von nichts und nie-

tet von Kriegen mit der Mama, dem Papa und dem Geschwis-

mandem mehr verderben«, ist, was sie sich vor dem Spiegel

terchen auch (ein Geschwisterchen, ei, wie schön, viel schö-

stehend, mit der Drei-Minuten-Intensiv-Kur im Gesicht, laut auf-

ner!, knackt es aus dem morschen Familiengestänge und das

sagt, bevor sie sich zwischen kalten Bettschichten einnistet,

nächste Ei liegt mit zerplatzter Schale am Boden).

um sich Kraft anzuschlafen, für den nächsten Tag, an dem wie-

Da ist die Wirtschaftswissenschaft aber inzwischen schon so

der der Speer von ihr vor ihr her gejagt werden muss.

weit, da kriegt man dann einmal die Woche einen ausgebildeten

Muss denn das Alles sein, fragt sie sich nun doch hin und

Seelenverwalter zur Seite gestellt zum Krieg gegen die einen Be-

wieder immer öfter dann am Wochenende. Das ist doch kein Le-

kriegenden und der bricht dann eine Lanze. Auch für Dich, we

ben, ich soll doch aber leben und Spaß dabei haben. Wege zum

want you, dafür brauchst Du aber ein properen Seelenhaushalt,

Glück, glatter Haut, Besteck aus Edelstahl, dem Traummann und

sonst können wir dich hier nicht brauchen. Schon fährt der Pati-

das Alles. Einen Arbeitsplatz habe ich doch jetzt auch. Auf dem

entin der nächste Zeigefinger ins Herzfleich. Es tropft, der Notarzt

Platz aus braunhölzernen Ansammlungen findet sie nur so recht

kommt und transportiert die Patientin endlich aus dem Nest ab.

ihren Platz nicht, aber sie schlägt sich tapfer. Den Speer in der

»Mein Gott, was hamse denn wieder gemacht?«

Hand faucht, sticht und zischt sie zähneklappernd mit den rest-

Ja eben nichts.

lichen Angestammten mit, macht Leichen und wird selber eine.

»So befreien sie sich doch endlich. Ade zur Familierei,

Da ist es nicht mehr schwer ihr den Speer aus der Hand zu schla-

raus aus dem Fetttopf, Sie mit den kleinen verklebten Flü-

gen et voilà: finde raus, ob er wirklich dein Traummann ist! Die-

gelchen«. Die werden jetzt noch mal eben abgerieben, desin-

ser unbewegte Lehmklumpen mit den starken Schultern, immer

fiziert, trockengeföhnt und! auch bestreichelt. Wichtig, betont

da, mit gutem Einkommen, mit dem wird sie schon auskommen.

der Seelenstudierte.

Ganz gewiss, weiß sie und gemeinsam macht man sich an den

Und es tuckert Kochsalzlösung, Valium und was sie da

Nestbau. Bedauerlicherweise, lässt sie (denn er lässt sie ein-

sonst noch so reinspritzen durch das von Haut umspannte

fach nicht) beim Ineinanderstecken, Hämmern und Vermischen

Fleischgerüst. Tatütata, der Arzt, der Seelenspezialist ist wie-

beträchtlich viele Federn und lässt ihn darüber völlig vertrock-

der da. Er guckt noch mal besorgt nach unten, auf die Patien-

nen. In seine aufgeplatzte Oberfläche hackt sie ihr SEIN rein,

tin. »Da, sehen Sie«, sagt er zu dem Auszubildendenden ne-

dafür erhält sie im Gegenzug die Flügel mit seinen Lehmvorstel-

ben dran, »da kommt wieder Farbe ins Gesicht. Die kommt

lungen bestrichen und drum herum haben sie gebaut: Das Nest

wieder auf die Füße, in zwei bis drei Wochen«, aber im Leben

(Tusch, Einweihungsfeier mit Grillen & Nudelsalat). Das Ehepaar

halt nicht mehr, »also, raus an die Luft mit Ihnen«. Die Patien-

hat einen engmaschigen Korb gewählt, Reisig in die Zwischen-

tin fliegt durch die Luft an die Luft, probiert ihre neu gereinig-

räume gestopft, Holzpflöcke an entsprechenden Stellen verkeilt

ten Flügel aus und jauchzt: »Oooo, was ist das groß hier.«

(zur Sicherheit für die Statik) und ein rostfreies Alarmschloss in-

Sie segelt über die braunen Ansammlungen aus Menschen,

stalliert. Geschafft! Nachwuchs wird schnell geschaffen, denn

umschifft geschult ihr dickflüssiges Sekret (aufpassen auf die

dann kann ja nichts mehr schief gehen, wird sich gedacht. So

Flügel!) und gleitet geübt an den senkrecht in die Luft ragenden

lässt es sich überleben, auf dem Platz mit den braunhölzernen

und durch sie hindurch fliegenden Speeren vorbei, auf schnells-

Ansammlungen. Mit der Mama, dem Papa und dem Geschwis-

tem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, einem Sekretariat. Geschafft.

terchen auch. Ein Geschwisterchen! Ei, wie schön! 1

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Ab hier ist es dann aber wirklich Kunst, okay?

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Text von  M ORITZ JASPE R KUHN & G E O R G I G AVA Z OV

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brian cares - fingerprints CD Bar25 - 08 / 2008 featuring howard katz / raz ohara / justine electra / jake the rapper album out oct 6th on bar25 via wordandsound brian cares - fingerprints 12 inch Bar25 - 07 / 2008 including mymy rmx and exclusive re-edits of album tracks 12 inch out sept 15th on bar25 via wordandsound all music also available as digital download myspace.com/briancares

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