Annette Hass, Die Astraumnauten

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GolubBooks Edition Green Gables


Annette Hass

Die Astraumnauten Eine Reise durch (T)raum und Zeit

GolubBooks


Annette Hass, Die Astraumnauten Roman 1. Auflage, 2014 GolubBooks, Edition Green Gables, Nr. 7 Lektorat: Sophia Weiss Logo: V-print B.V., Niederlande Umschlagillustration: ©Susanne Schäffler Covergestaltung: BGV, Karlsruhe Satz: BGV, Karlsruhe ©Annette

Hass ©GolubBooks ISBN 978-3-942732-14-7

GolubBooks, Karlsruhe www.golub-books.de Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


„[…] Nihil est toto,quod perstet, in orbe; cuncta fluunt, omnisque vagans formatur imago.“ [aus der Rede des Pythagoras in Ovids Metamorphosen, Buch XV, 177f.] „Nichts gibt es auf der ganzen Welt, was von Dauer ist; alles ist im Fluss und jedes Bild wird im Wandel geformt.“

Dieses Buch nahm seine Form auch beim Schreiben an und seine Gestalt wird durch die Leser, die es hoffentlich findet, wieder verändert. Ein wunderbarer Mensch hat mich zum Schreiben ermutigt, indem er immer an mich glaubt. Liebster Marco, herzlichen Dank für deine Geduld und Unterstützung in allem, was ich anfange. Ohne dich wäre alles halb so schön. Du bist ein wahrer Schatz! Aufrichtiger Dank gilt auch meinen Eltern, Kornelie und Werner Hass, die in mir die Freude am Lesen und Schreiben verankert haben. Ihr seid unersetzlich für mich! Gewidmet ist dieses Buch meiner Schwester Bettina Rössler, die ich von ganzem Herzen liebe.


Am allersch旦nsten ist die Jugendzeit, Wenn Umarmungen nicht enden wollen. Doch manchmal dr端ckt das Herzeleid, wenn Steine vor die Herzen rollen. Das Buch soll dir ins Leben scheinen, Die dunklen Tage heller machen. Soll Wunsch und Wirklichkeit vereinen Und deine Phantasie entfachen. Der Leser formt sich selbst ein Bild Und wird ein zweites Buch erfinden, so dass sein Herz sich doppelt f端llt und Phantasien doppelt z端nden. [Werner Hass, 2014]


FLUCHT „Anna! A –N –N –A!“ Anna öffnete die Augen und schloss sie sofort wieder. Gleißendes Sonnenlicht hatte ihre empfindlichen Augen, die noch nicht an das Licht gewohnt waren, getroffen. Die Mutter hatte die Rollläden hochgezogen – nicht einmal davon war Anna wach geworden. Jetzt stand die Mutter neben dem Bett und rüttelte an ihrer Schulter. „Aufstehen! Du musst zur Schule. Es ist schon nach sieben! Hast du dir den Wecker nicht gestellt? Jetzt aber zack zack!“ Während der Redeschwall auf sie hernieder prasselte, startete Anna vorsichtig einen erneuten Versuch, die Augen zu öffnen, und blinzelte mehrmals, rieb sich die Augen, gähnte und hätte sich am liebsten noch einmal umgedreht, um sich in den weichen Kissen zu vergraben. Doch die Mutter ließ nicht locker. „Raus jetzt aus den Federn!“, kommandierte sie im Feldherrenton. „Du musst den Bus noch kriegen; Papa ist schon zur Arbeit, ich habe also kein Auto und kann dich nicht fahren! Was ist nur los mit dir? In letzter Zeit verschläfst du dauernd.“ „Ist ja schon gut“, murrte Anna, „du kannst jetzt gehen; ich bin wach und beeile mich.“ Endlich marschierte die Mutter aus dem Zimmer. Was die Mutter nicht wusste: Anna hatte den Wecker absichtlich nicht gestellt. Heute nicht und die letzten Tage auch nicht. Sie wollte schlafen, nein, sie wollte träumen. Dann konnte sie in Welten flüchten, in denen sie ein schönes, beliebtes und glückliches Mädchen war. Leider sah es in der Realität nämlich anders aus. Vor ungefähr einem halben Jahr hatte es angefangen, seitdem dicke rote Pusteln ihre Stirn und das Kinn zierten. Von da an war alles anders geworden. Man sollte es nicht für möglich halten, welche Wirkung solche fiesen, kleinen Eiterherde haben konnten! Die engsten Freunde begannen sich aus Ekel zu distanzieren und besonders die Jungen nahmen großen Abstand, 7


lästerten und spotteten. „Pickelface, Gesichtsbaracke, Kratergesicht“ wurde sie genannt. Doch sie konnte ja nichts dafür! Es war ja nicht so, dass sie sich nicht wusch; im Gegenteil sie peelte täglich ihre Haut mit den ätzendsten Mittel, rannte von Hautarzt zu Hautarzt und war schon bei diversen Kosmetikerinnen. Da konnte man Herzen transplantieren, aber gegen diesen unästhetischen Gesichtsschmuck war kein Kraut gewachsen. Immerhin wusste Anna nun, dass sie Pharmazie studieren würde. Wäre doch gelacht, wenn man dieses Pubertätsproblem nicht in den Begriff bekäme! Da die Mutter sie nun also in ihrem Vorhaben, die Schule zu verschlafen, jäh unterbrochen hatte, beschloss Anna Plan B zu wagen. Statt sich anzuziehen, schlüpfte sie in ihre plüschigen Hausschuhe und schlurfte zum Zimmer hinaus, die Treppe hinunter und in die Küche, wo die Oberkommandeurin gerade Pausenbrote schmierte. „Mir ist schlecht“, keuchte Anna. „Kann ich nicht zu Hause bleiben, Mamutschka?“ So nannte Anna ihre Mutter immer, wenn sie etwas haben wollte. „Kind“, entgegnete die Mutter barsch – sie war auf dem Mamutschka-Ohr wohl bereits taub geworden -, „du kannst nicht schon wieder den Unterricht versäumen. Deine Fehlzeiten seit dem Schuljahresanfang sind enorm. Du hattest immer so gute Noten und nun bringst du in Mathe nur noch 5er mit nach Hause. Du musst dich zusammenreißen!“ „Aber es geht mir nicht gut“, schluchzte Anna und die Tränen quollen ihr aus den Augen. Es stimmte ja: Ihr ging es nicht gut! Zwar hatte sie weder Bauchschmerzen noch Kopfweh, aber sie litt dennoch. Wenn sie nur daran dachte, wie die Jungen aus ihrer Klasse wieder über sie lachen und sie beschimpfen würden und wie die anderen sie meiden würden, um selbst nicht Opfer der Gehässigkeit zu werden. Selbst Petra, die ihr immer einen Platz im Bus freigehalten hatte, setzte sich neuer8


dings lieber neben Ira, obwohl sie die doch nie besonders gut leiden konnte. „Jetzt husch, ab ins Bad!“, befahl Mutter, völlig unbeeindruckt von Annas Tränenmeer. Weil Anna nun keine andere Wahl zu bleiben schien, trottete sie wieder nach oben ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht und stellte sich beim Zähneputzen ihrem unliebsamen Spiegelbild. „Ich hasse dich“, schoss es ihr durch den Kopf. Eigentlich war Anna ein sehr hübsches Mädchen. Sie hatte langes, glänzendes kastanienbraunes Haar und große haselnussbraune Rehaugen. Ihre Mutter hatte ihr erzählt, dass die Leute auf der Straße stehen geblieben waren, wenn sie mit ihr im Kleinkindalter an der Hand vorbeispaziert war, so bezaubert wären sie von ihrem puppengleichen Aussehen gewesen. Doch nun war sie entstellt. Doofe Akne.

SCHULE Eine dreiviertel Stunde später betrat Anna den Schulhof mit hängenden Schultern. Wie immer hatte sie sich viel Zeit für den Weg von der Bushaltestelle zur Schule gelassen. Sie wartete bis kurz vor dem Läuten, denn diese ersten Minuten des Tages, bis endlich ein Lehrer in das Klassenzimmer kam, waren die Hölle auf Erden. Während die Mädchen in der Pause auf die Toiletten rannten, um sich eine neue Schicht Make-up aufzulegen, oder sich auf den Gängen vor den Klassenzimmern der Großen herumdrückten, um ein Lächeln ihres Schwarms zu ergattern und anschließend wie wild herumzugackern, und es die Jungen eilig hatten, zur Tischtennisplatte hinauszurennen, bevor sie andere Schüler in Beschlag nehmen konnten, saßen nun alle lauernd auf ihren Plätzen. Am Morgen, wenn es zwar schon geklingelt hatte, aber von einer Autoritätsperson noch keine Spur war, 9


dann mutierte die Meute zur Höllenbrut und hackte aus purer Langeweile auf ihr herum. Schon von Weitem sah Anna einen Jungen, seinen Schulrucksack lässig über die Schulter geworfen, auf dem Hof stehen. Er wirkte unschlüssig, schien zu zögern. Anna schätze ihn ein wenig älter ein, als sie es war. Sportlich war er und hatte dunkles Haar, eigentlich ganz gutaussehend. Ob sie ihn ansprechen sollte? Sollte sie ihn fragen, ob sie ihm helfen könne? Offenbar war er neu; zumindest hatte sie ihn noch nie hier gesehen. Doch dann überholte sie ihn und ging schnurstracks in das Gebäude – einen Anpfiff von Herrn Wolf konnte sie gerade noch gebrauchen! Alle würden sie anstarren, ihre dummen Pusteln sehen und hinter vorgehaltener Hand böse Sprüche klopfen. Und auch der Junge auf dem Hof hätte sich sicher nur angeekelt gefragt, warum sie ihn anquatsche. Glücklicherweise kam der Mathelehrer wie immer fast pünktlich und Anna blieben die gemeinen Kommentare ihrer Klassenkameraden erspart. Doch Herr Wolf kam nicht alleine. Hinter ihm schlurfte der Junge vom Schulhof. „Aha, ein Neuer“, dachte sich Anna sofort. „Das ist euer neuer Klassenkamerad. Er ist vor kurzem von Frankfurt hierher gezogen. Sein Name ist Otto“, wurde der Neuling vorgestellt. Einige Mädchen kicherten aufgeregt. Alexander der Große – so nannten die anderen den großkotzigen Angeber in der Klasse – zischte irgendetwas Abfälliges über den Namen. „Otto kommt also aus Hessen und ging dort in die 8. Klasse. Da herrscht bei uns ein anderes Niveau! Otto wird es deshalb hier erst einmal mit der 7. Klasse versuchen!“, ergänzte Herr Wolf. „So ein hinterlistiger Fiesling“, dachte Anna, denn sie hatte die gemeinen Anspielungen sehr wohl herausgehört, und Otto tat ihr leid, gleich zu Beginn so bloßgestellt zu werden. 10


Herr Wolf wies ihm einen Platz in der Reihe schräg hinter Anna an und begann mit seinem gähnend langweiligen Unterricht. Obwohl sie es nicht wollte, sah Anna zu dem Neuen hinüber und ihre Blicke begegneten sich. Wie peinlich! Anna merkte, wie ihre Backen eine ungewollte Farbe annahmen, und senkte ihre Augen sofort zu Boden. Doch so sehr sie sich auch zwang, nicht wieder zu Otto zu schauen, nur kurze Zeit später geschah es wieder – als wäre sie eine Marionette, an der jemand zieht. Immer noch blickte Otto sie an. „Der findet mich wohl auch abstoßend“, mutmaßte Anna. Da lächelte Otto plötzlich! Lachte er sie aus? Er kannte sie doch gar nicht, warum warf er ihr nun ein Kopfnicken zu, als seien sie alte Bekannte?

RETTER Eigentlich war das ja klar! Otto hatte bald viele Freunde und scherte sich nicht um Anna. Wieso auch? Nur manchmal schauten sie sich zufällig gleichzeitig an. Anna fühlte sich dann jedes Mal ertappt und schaltete auf Rot wie eine Ampel. Wenigstens machte er bei dem Terror gegen sie nicht mit; dafür war Anna dankbar genug. An einem Montag vor der ersten Stunde – Herr Wolf war ganz gegen seine sonstige Gewohnheit zurzeit recht unpünktlich, weil er immer noch lange mit der Klassenlehrerin Frau Bruder auf dem Gang diskutierte – ging wieder eine Tirade von Beleidigungen auf Anna herab. „Pickelmonster“, lästerte der Große, zog eine Fratze und fügte hinzu: „Dich würd ich nicht mal mit ner Beißzange anfassen!“ Otto stand an der Türe Schmiere und lauerte, ob Herr Wolf sich näherte, damit alle urplötzlich auf sein Signal ihre Plätze einnehmen könnten, und Herrn Wolf nicht gleich durch ein heilloses Lärmen verärgerten. „Wenn ich so aussehen würde wie du, dann würde ich mir einen Sack 11


übers Gesicht ziehen. Diesen Anblick musst du anderen Menschen echt ersparen!“, traktierte Alexander die arme Anna weiter. Sie würde nicht mehr weinen! Niemals! Diese Freude bereitete sie diesem gemeinen Kerl nicht mehr. Sie sah sich auch nicht mehr hilflos nach Petra oder einer anderen scheinbaren Freundin um, denn von denen hatte sie schon lange nichts mehr zu erwarten. Sie ließ die Beschimpfungen einfach wortlos, ohne sich zu wehren, über sich ergehen. Bald würde Herr Wolf kommen und dann war es vorbei….bis zum nächsten Morgen. Doch innerlich krampfte sich ihr Magen zusammen und sie kämpfte gegen ihr Schluchzen. Otto dagegen war längst ein beliebter Junge; jeder wollte mit ihm befreundet sein. Er war im Fußball der Beste und schaffte es regelmäßig ins Tor zu treffen, selbst wenn sich Alexander davor breit machte. Auf diese Weise wurde er nicht nur ein Star bei den Jungs, sondern auch der neue Held der Mädchen. Da er ein Jahr älter war als seine Klassenkameraden, genoss er Ansehen, ohne viel dafür zu tun. Nur sein Name hatte anfänglich für ein paar bissige Kommentare gesorgt, aber bald nannten ihn alle nur noch bei seinem Nachnamen „Retter“. Während der Retter nun also an der Türe den Beobachterposten innehielt, attackierte Alexander der Große die zierliche Anna mit Papierkügelchen und lästerte: „Hier kommen fliegende Pickel zu Besuch!“ „Lass sie doch in Ruhe!“, mit diesen Worten fuhr Otto herum. „Fass dich lieber mal selbst an deine Schweinenase!“ Sofort kehrte eine unheimliche Stille ein, in der Ottos Worte noch lange nachhallten. Anna stockte der Atem. „Und bevor ihr anderen euch einmischt: Schaut euch doch mal selbst im Spiegel an! Ihr habt doch alle etwas an euch, für 12


das ihr nicht gerade einen Schönheitswettbewerb gewinnen würdet! Heinz hat rote Haare wie Pumuckel, Jonas ist viel zu klein geraten und deine Ohren, Dumbo“, er zeigte auf seinen Nebensitzer, „stehen ab, als ob du sie zum Fliegen hättest!“ Die Mädchen kicherten. Nur gut, dass er keine von ihnen angegriffen hatte, schoss es Anna durch den Kopf. Mädchen waren viel nachtragender als Jungen und auch viel eitler. Ob die jungen Herren Otto allerdings vergeben würden, stand auch nicht wirklich fest. Während Anna sich Ottos Zukunft als neuer Außenseiter in den schwärzesten Farben ausmalte – und sie wäre schuld daran! – hob dieser erneut an: „Und bevor ihr mir nun irgendwelche Mängel vorwerft: Ich habe die schlimmsten OBeine weit und breit! Seht her! Mir kann beim Gehen ein Helikopter durch die Beine fliegen!“ Um seinen Worten entsprechenden Nachdruck zu verleihen, schritt Otto mit betontem O-Bein-Gang von der Türe weg mitten ins Klassenzimmer – die Stimmung lockerte sich. „Und – jetzt alle aufgepasst – für das hier kann ich auch nichts!“ Bei diesen Worten schob sich Otto das T-Shirt unters Kinn und drehte sich im Kreis. Auf seinem Rücken schlängelten sich dicke Regenwürmer kreuz und quer: Narben wie von Peitschenhieben. Anna war geschockt. Die Mädchen verstummten mit ihrem albernen Gekicher. Die Jungen schwiegen beharrlich weiter. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn nicht plötzlich, mitten in dieser stummen Stille, die Türe aufgegangen und Herr Wolf hereingekommen wäre? Otto aber reagierte blitzschnell; zog das Shirt über seinen Bauch und schoss wie ein Pfeil an seinen Platz.

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OTTOS PARABEL Ein gläubiger Flüchtling kam zu einem andersgläubigen Mann und bat ihn um Zuflucht. Dieser sagte: „Mein Gott verbietet es, einem wie dir zu helfen. Wenn du bei mir bleiben willst, musst du dich bekehren lassen.“ Der Gläubige versprach, dies zu versuchen. Als aber ein Jahr vergangen war und er immer noch an seinem alten Glauben festhielt, sagte der Andersgläubige: „Du hast dich trotz deines Versprechens nicht bekehren lassen. Ich fordere dich auf zu gehen!“, und er schickte ihn in den gewissen Tod. Da erwiderte der Todgeweihte: „Zwar konnte ich meinen Gott nicht aufgeben, doch ich hielt den deinen für ebenso gut. Nun hast du mich an einem einzigen Tag überzeugt, niemals an deinen Gott zu glauben.“

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Annette Hass, geboren 1978 in Bad-Friedrichshall, studierte Latein und Germanistik. Sie arbeitet als Lehrerin am Schรถnborn-Gymnasium in Bruchsal und lebt in Karlsruhe.



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