Gentlemen's Report No.6

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DIE USA ENTDECKEN RADQUER GERADE NEU

Und so kommt’s, dass das Wetter am «Süpercross» das Gegenteil dessen ist, was man sich gemeinhin unter Radquer vorstellt. Menschen wie Rocha tragen das Herz auf der Brust – es gibt, so dünkt es einen, gar keine andere Möglichkeit, als dass das «Süpercross» ein Erfolg wird. Die Sonne scheint, und es ist warm. Der Fotograf, der sich auf Schlammschlachten gefreut hat, flucht leise vor sich hin. Die Fahrer aber, darunter mit dem Belgier Sven Nys so etwas wie der Superstar der Szene, freuen sich. «Keiner von uns mag Schlamm», sagt Flückiger, der Zweiter wird. «Das ist ein doofes Klischee.» Es gibt nur solche, die besser mit Schlamm und Schnee zurechtkommen, es sind die technisch versierteren unter den Radquerfahrern. Echte Männer mit Feingefühl. Männer, die über Stock und Stein rasen, auf und ab, die sich im wilden Gelände bewegen, als wären sie dafür geboren. Unter dem Hintern ein nur leicht modifiziertes Rennvelo, die Reifen 32 Millimeter dick, ein Velo also, das der deutsche Essayist Konrad Paul Liebermann in seinem Buch «Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen» folgendermassen beschreibt: «Das Rennrad bleibt sehnsüchtig dem gewundenen, glatten Asphaltband verbunden, Zeichen dafür, dass Menschen der Natur zu entkommen trachten. Die Strasse ist und bleibt der Ort seiner Erfüllung.» Mit Verlaub: Liebermann täuscht sich. Wer sieht, wie Radquerfahrer auf ihren Rennvelos behende und leicht vorankommen, Tänzern gleich, wird den Eindruck nicht los, dass hier eine Betätigung völlig zu Unrecht aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwunden ist. Jedenfalls in der Schweiz. In Belgien sind Radquerfahrer auch heute noch kleine Rockstars. Aber was lässt sich an einem dieser grauen Herbst- und Wintersonntage in Belgien auch anderes tun als Radquerfahren. Wahre Wertschätzung erfährt der Radquersport derzeit in den USA. Im Land, das mit dem Mountainbiken und seinen vollgefederten Ungetümen als Untersatz einst die Antithese zum Radquerfahren erfunden hatte. In Las Vegas wurde Ende September vor zehntausend Zuschauern ein Radquer durchgeführt. Las Vegas! Zehntausend Zuschauer! Flückiger, der Junge aus Ochlenberg, war einer der Gäste aus dem fernen Europa. Amerikaner haben sich schon oft einen Spass daraus gemacht, sich Trends zu widersetzen, mit Vorliebe solchen, die sie selber gesetzt hatten. Selbiges geschieht nun in der Veloszene, deren Grösse in gewissen Regionen nicht zu unterschätzen ist. Mountainbiken ist out, Radquerfahren ist in. Wenn Thomas «Frischi» Frischknecht heute noch einmal jung wäre, würde er die Radquerkarriere vielleicht nicht zugunsten jener als Mountainbiker opfern. Denn damals, Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre, als er noch in der Lehre war, fuhr Frischknecht manchmal viermal pro Monat nach Belgien hinauf, weil nur dort anständige Rennen zu bestreiten waren, die Szene kam ihm klein und alt vor. Mountainbiken hingegen, sagt er, sei trendig und reizvoll gewesen. «Das wollte ich machen.» Bloss: Die Vorstellung, dass Radquerfahren dereinst auch in der Schweiz trendig wird, ist schwer zu ertragen. Radquerfahren ist Anarchie und ist Aufstand – mit dem Anstrich des Modischen ginge jede Romantik verloren.

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