Filmpodium 7. Oktober – 15. November 2013

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7. Oktober – 15. November 2013

George Cukor.

Der grosszügige Blick

Französische Filme der zwanziger Jahre.

Das erste goldene Zeitalter.


ik o Va L L E , M E x Jo s é L u is

} s r e k r o {w schnell o s n a m d ir Lidia w nd sc ha u «Rafael und Fr an kf ur te r Ru .» n e s s e verg nicht wieder

Ab 28. November im KiNo

Die Edition für Filmliebhabende www.trigon-film.org – 056 430 12 30


01 Editorial

Der Schwule und die Frauen Die berühmte Autorenfilmtheorie, die besagt, dass herausragende Regisseure selbst in industriellen Produktionsverhältnissen wie dem Hollywood-Studiosystem Filme mit persönlicher Handschrift schaffen, wurde im Paris der frühen Nachkriegszeit vom Kritiker André Bazin und den jungen Enthusiasten in seinem Umkreis entwickelt. Leute wie Jean-Luc Godard, François Truffaut und Bertrand Tavernier entdeckten damals das amerikanische Kino, das in den Kriegsjahren zensuriert worden war, und ernannten Unterhaltungs-Grössen wie Hitchcock und Hawks zu ihren Göttern. So wirkungsmächtig diese schöne Theorie war, so einseitig ist sie. Denn Kritiker, so wünscht man sich zumindest, haben zwar ein scharfes ästhetisches Urteil – und wissen dieses rhetorisch fulminant zu verabsolutieren. Von den prägenden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Filmgewerbes aber haben die meisten, pardon, wenig Ahnung. So pries etwa Godard im Paris der fünfziger Jahre den Existenzialismus im Werk des «Westernauteurs» Anthony Mann, und in der gleichen Traditionslinie – damit sind wir beim Thema – machen Kritiker bis heute das Gespür des grossen «Frauenregisseurs» George Cukor für das weibliche Geschlecht und die augenscheinliche Sympathie dieses notgedrungen heimlichen Homosexuellen für die Anliegen einer anderen diskriminierten Gesellschaftsgruppe als augenfälliges Merkmal seines Werks aus. Dass Cukor allerdings zu keinem einzigen seiner fünfzig Filme das Drehbuch schrieb und just die Regie seines vermeintlich «feministischsten» Films The Women nur aus Verlegenheit übernahm, schert die meisten nicht gross. Genauso ist es jedoch: Nicht Cukor verantwortet die frappierende feministische Konstante seines Werks – oder zumindest nicht er allein. Vielmehr «erahnte» das «System» instinktiv, dass die sorgsam verdrängte «Frauenfrage» bis 1968 ein gewaltiger gesellschaftlicher Missstand und damit ein dramatisch hochergiebiges Feld war. Dies ist die eigentliche Triebfeder der grandiosen Screwball-Comedies und Melodramen in Cukors Werk, von denen wir Ihnen mit dem vorliegenden Programm 25 besonders gelungene zur Wiederentdeckung empfehlen. Dass die treibende Kräfte der Hollywood-Studioära, die Produzenten und Produktionschefs vom Schlage eine Darryl F. Zanuck und David O. Selznick, fast durchs Band hemmungslose Machos und Frauenverschleisser waren, müssen wir bei anderer Gelegenheit erörtern. Einstweilen wünschen wir einfach viel Vergnügen bei 25 moralinfreien Lektionen über den Kampf der Geschlechter. Andreas Furler Titelbild: Katharine Hepburn als junger Mann in George Cukors Sylvia Scarlett


02 INHALT

George Cukor

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Ob komödiantisch oder melodramatisch, im Kleid des opulenten Kos­ tümfilms, des Musicals oder des ­psychologischen Dramas: Der Hollywood-Regisseur George Cukor traf von den frühen dreissiger bis in die frühen achtziger Jahre öfter als die meisten anderen Grossen seiner Zeit den richtigen Ton und hinterliess in jedem der genannten Genres unauslöschliche Spuren. Aufgrund der Gesamtwerkschau in Locarno haben wir eine Auswahl jener 25 Filme vorgenommen, die wir für die bleibenden in Cukors Werk halten: unbestrittene Glanzstücke wie die Screwball-Komödien Dinner at Eight, The Philadelphia Story und Born Yesterday, den Psychothriller Gaslight oder die Musicalmelos A Star Is Born und My Fair Lady, aber auch wieder gehobene Schätze wie Tarnished Lady und A Life of Her Own. Bild: A Star Is Born

Französische Filme der zwanziger Jahre

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Die Redewendung von der «produktiven Katastrophe», die ungeahnte kreative Kräfte freisetzt, mag in anderem Zusammenhang zynisch klingen. Doch genau so verhielt es sich mit dem französischen Kino, nachdem es im Ersten Weltkrieg von einer der ökonomischen Hauptschlagadern des globalen Kinos zu einer verkalkten Vene verkommen war. Im kriselnden Paris der zwanziger Jahre trafen gestandene Kräfte wie Abel Gance und Jacques Feyder auf Jungspunde wie Man Ray und Jean Epstein, Julien Duvivier und Jean Grémillon. Mit Filmen wie L’étoile de mer, La chute de la maison Usher, Maldone und Au bonheur des dames loteten sie die unerschöpflichen Möglichkeiten des Mediums Film aus. Unser Filmdozent Fred van der Kooij erkundet in seiner Herbstvorlesung dieses erste goldene Zeitalter des französischen Kinos. Bild: Au bonheur des dames


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Das erste Jahrhundert des Films: 1983

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Wie stets in unserer Filmgeschichtsreihe kommen auch 1983 ungeahnt verwandte und denkbar disparate Filme zusammen: Chris Markers selbstreflexiver Japan-Essay Sans soleil findet ein fernes Echo in Shohei Imamuras Die Ballade von Narayama, die es an Radikalität mit David Cronenbergs Videodrome und an Tiefgründigkeit mit Andrej Tarkowskijs Nostalghia aufnehmen kann. Als Gegengift zu so viel Tiefsinnigkeit empfehlen wir Monty Python’s The Meaning of Life. Bild: Sans soleil

Premiere: Leviathan

Filmpodium für Kinder: Mein Nachbar Totoro

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Am Filmfestival von Venedig hat der japanische Animationsfilm-Altmeister Hayao Miyazaki kürzlich bekannt gegeben, dass er mit 72 endgültig in Rente geht. Umso mehr freut es uns, dass wir den fixen neuen KinderfilmTermin des Filmpodiums (aufgepasst Kinder: immer samstags um 15 Uhr!) zum Auftakt mit Mein Nachbar ­Totoro, diesem wunderbar sanftmütigen, auch für kleinere Kinder gut verträglichen Miyazaki-Film von 1988 besetzen konnten, der in der Schweiz nie herauskam und bei Kennern längst den Ruf eines Klassikers geniesst.

38 Einzelvorstellungen

Mit einem Dutzend entfesselter Kameras fängt dieser Dokumentarfilm den Alltag eines Fischkutters ein: Eine radikale Neuauslegung des ethnografischen Films, die seit der Uraufführung am letztjährigen Filmfestival von Locarno international Furore macht.

Buchvernissage: Böse Häuser, unheimliche Räume Stadtentwicklung im Film: Das Packeis-Syndrom

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05 George Cukor

Der grosszügige Blick George Cukor (1899–1983) war einer der ganz Grossen unter den Regisseuren des klassischen Hollywood. Das Filmfestival von Locarno hat ihm kürzlich eine vollständige Retrospektive gewidmet, aus der wir die 25 schönsten Filme ausgewählt haben: Klassiker wie The Philadelphia Story oder My Fair Lady, doch auch Wieder- und Erstentdeckungen wie die erstaunlichen Frühwerke The Virtuous Sin und Tarnished Lady oder die Emanzipationsgeschichten A Life of Her Own und The Chapman Report. Anfang der 1940er Jahre, es muss kurz vor den Dreharbeiten zu The Philadelphia Story gewesen sein, setzte George Cukor ein lang gehegtes Vorhaben in die Tat um: Innerhalb weniger Monate nahm er über dreissig Kilo ab. Bis dahin war er ein Sportverächter gewesen. Nun liess er in seiner Villa einen Gymnastikraum einrichten und engagierte einen französischen Trainer. Endlich nutzte er auch den Swimmingpool, der sonst seinen Gästen vorbehalten war. Zugleich, und das fiel ihm weit schwerer, hielt er eine strenge Diät ein. Der Regisseur war als Leckermaul bekannt. Toningenieure wussten zu berichten, wie oft sie Filmaufnahmen abbrechen mussten, weil sein Magen während der Dreharbeiten zu laut knurrte. Besonders gern mochte er Spezialitäten aus Ungarn, der Heimat seiner Eltern: schwere Sahnetorten, kandierte Früchte und Salami. Cukor blieb ein grosszügiger Gastgeber, in seinem Haus wurde weiterhin lustvoll getafelt. Er selbst jedoch hielt sich zurück. Aus dem rundlichen, jungenhaft wirkenden Mann, den man noch auf Setfotos aus den dreissiger Jahren sehen kann, wurde so ein gepflegter, vornehmer Herr. Er war freilich keine asketische Erscheinung, sondern sah aus wie ein Genussmensch, der sich zu beherrschen weiss. Von Schauspielern weiss man ja, wie heftig sie bisweilen mit ihrer Figur ringen. Bette Davis wurde von Warner Bros. regelmässig auf Diät gesetzt; Aldo Ray musste gehörig abspecken, bevor er unter Cukors Regie seine Filmkarriere begann. Und Gladys Glover (Judy Holliday) entgeht in It Should Happen to You das Engagement für einen Werbefilm, weil ihr Hüftumfang zwei Zentimeter zu viel misst. Im Regiestuhl hingegen muss Leibesfülle kein

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1958 von Paramount an Universal verkauft, vergessen und jetzt wiederentdeckt: Die frühe Screwball-Comedy Tarnished Lady (1931) mit Tallulah Bankhead < 1954 von Warner Brothers verstümmelt, 1983 rekonstruiert und nun digitalisiert: A Star Is Born mit Judy Garland und James Mason

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1962 seiner Zeit voraus, vom Produzenten hochgepeitscht und von der Zensur entschärft: The Chapman Report, der fiktionalisierte Kinsey-Report


06 Handicap sein. Cukor hatte also persönliche Gründe für seine Entscheidung. Eitelkeit mag hierbei eine Rolle gespielt haben. Gewiss folgte der diskrete Homosexuelle Cukor einem eigenen Ideal von Schönheit und Eleganz. Vielleicht aber hatte er auch einfach Lust daran, sich neu zu erfinden. Immerhin ist die Verwandlung – gleichviel, ob eine äusserliche, moralische oder intellektuelle – ein zentrales Thema, das sich von Sylvia Scarlett bis My Fair Lady durch sein Werk zieht. Cukors Filme wurden fortan nicht schlanker. Gleichwohl legte er eine neue Gangart ein. Während er in den dreissiger Jahren vor allem durch prestige­ trächtige Literaturverfilmungen und raffinierte Gesellschaftskomödien bekannt geworden war, wendet er sich während des Zweiten Weltkriegs eher düsteren, melodramatischen Stoffen zu. Mit Adam’s Rib, der am Anfang einer ganzen Serie zeitgenössischer Komödien steht, hellt sich einige Jahre später der Erzählton wieder auf. Gleichzeitig nimmt er die Herausforderung an, an Originalschauplätzen zu drehen. Ab Mitte der 1950er Jahre schliesslich beginnt er, die Erzählmöglichkeiten von Farbe und Cinemascope auszuschöpfen. Im Verlauf seiner fünfzig Jahre andauernden Karriere wandelte sich das Antlitz seines Kinos so häufig, dass es den meisten Historikern schwerfällt, Cukor als «auteur» zu feiern. Daran war ihm auch gar nicht gelegen. Er war selbstbewusst genug, um eine eigene Handschrift in unterschiedlichen filmischen Idiomen zu hinterlassen. Er verstand sich nicht als Vormund seiner Leinwandfiguren, sondern sprach durch deren Darsteller. Dass er ein einzigartig begabter Schauspielerregisseur war, ist ein Klischee, dass sich mit dem Sehen jeder seiner Filme erneut bestätigt. Niemand verstand es wie er, unterschiedliche Temperamente und Techniken vor der Kamera zu Harmonie zu führen. Während die Studios vor allem Wert darauf legten, dass er die Attraktionen der Filme zur Geltung brachte – grosse Stars, brillante Dialoge, verschwenderisch drapierte Dekors –, blieb Cukors Stil doch unbeirrbar. Er geht mit einer unverwechselbaren visuellen Vorstellungskraft ans Werk. Sein Gespür für das Timbre eines Augenblicks ist nahezu unfehlbar. Die Grosszügigkeit seines Blicks offenbart sich zumal in Ensembleszenen, in denen er den Fokus der Aufmerksamkeit behände zu verschieben weiss, ohne die Übersicht zu verlieren. Wechsel in Erzählton und Atmosphäre bewältigt er mühelos. Dialogkomödien, die ihre Bühnenherkunft nicht verhehlen wollen, eröffnet und durchsetzt er oft mit pantomimischen Episoden. Tempo und Rhythmus der Szenen sind stets schon in seiner Inszenierung vorgegeben, müssen nicht erst im Schneideraum hergestellt werden. Agil folgt die Kamera in langen Plansequenzen den Darstellern. Aber auch eine starre Einstellung kann bei ihm ungeheure filmische Dynamik gewinnen. Eine der Sternstunden des Hollywoodkinos ist jene Sequenz aus Adam’s Rib, in der die Angeklagte (Judy Holliday) ihrer Anwältin (Katharine Hepburn) erzählt, weshalb sie auf ihren Ehemann geschossen hat. Holliday ist so übersprudelnd temperamentvoll und Hepburn


07 eine so engagierte Zuhörerin, dass kaum auffällt, dass diese achtminütige Szene ohne einen einzigen Schnitt auskommt. Eine solche Szene führt auch vor Augen, wie viel Cukors Kino seinen Lehrjahren als Bühnenregisseur zu verdanken hat. Das Theater ist auch eine thematische Konstante seines Werks: Oft spielen seine Filme in Theaterkreisen; Rollenspiel und Verstellung sind zentrale Motive. Niemand hat so bestechend wie er in A Star Is Born und Les Girls auf der Leinwand das Erlebnis eingefangen, wie einem Darsteller die Lichter der Bühne entgegenstrahlen. Auch mit anderen Künsten hält sein Kino jedoch Zwiesprache: Einige Einstellungen von Bhowani Junction sind von Gemälden Goyas inspiriert; in Les Girls zitiert er John Singer Sargents Bild «El Jaleo». Mehr Champagner! Tatsächlich sind die thematischen Überschneidungen in seinem Werk vielfältig. Born Yesterday und Wild Is the Wind erzählen in unterschiedlichen Genres davon, wie weibliche Protagonisten sich in einer fremden Umgebung bewähren. Das Musical Les Girls greift die Grundidee von Rashomon auf, auch das Indien-Epos Bhowani Junction wird aus drei unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Cukors Gesellschaftsporträts zielen auf eine Gleichstellung der Geschlechter und Klassen. Seine Sympathie gehört dabei den Unruhestiftern, die soziale Konventionen abstreifen. Der Blick dieses überaus kultivierten Regisseurs auf proletarische Figuren ist frei von Herablassung. Vielmehr bewundert er die vorgebliche Vulgarität der Charaktere, die Holliday oder Jean Harlow bei ihm spielen, als Ausdruck ihrer ungezwungenen Vitalität. Einen solch anarchischen Elan können die meisten seiner Figuren allerdings nur unter dem Einfluss von Alkohol entwickeln. Dessen möglichen tragischen Folgen sind Cukor zwar bewusst – man denke nur an James Masons Studie eines trunksüchtigen Filmstars in A Star Is Born –, aber als Chance zur Realitätsflucht und Veränderung der Selbstwahrnehmung sind Rauschzustände den Charakteren meist willkommen. In Holiday etwa wirkt ein heiterer Exzess als Befreiung aus einem eingehegten Gefühlsleben. Nach einigen Gläsern Champagner erlebt Tracy Lord in The Philadelphia Story einen heilsamen Kontrollverlust. Der Rausch ist bei Cukor ein grosser Gleichmacher, der die sozialen Hemmungen löst und Verdrängtes zu Tage fördert. «There’s nothing like champagne», sagt der routinierte Verführer in It Should Happen to You, worauf ihn die Angesprochene keck korrigiert: «Yes, more champagne!» Als freigebiger Gastgeber wird Cukor ausführlich Gelegenheit gehabt haben, die Wirkung des Alkoholgenusses zu studieren. Obwohl er selbst natürlich auf seine Linie achtete. Gerhard Midding Gerhard Midding ist freier Filmjournalist in Berlin und schreibt regelmässig fürs Filmpodium.


> What Price Hollywood?.

> The Virtuous Sin.

> Dinner at Eight.

> Holiday.

> Sylvia Scarlett.

> David Copperfield.


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George Cukor.

THE VIRTUOUS SIN USA 1930 Wenn Hollywood in den dreissiger Jahren das spätzaristische Russland des Ersten Weltkrieges herbeifantasiert, so hat das mit filmischem Realismus so viel zu tun wie Greta Garbo mit einer kommunistischen Politkommissarin (Ninotschka) oder Marlene Dietrich mit der historischen Katharina der Grossen (The Scarlet Empress). Entsprechend hanebüchen ist der Plot der zweiten von drei Co-Regiearbeiten bei Paramount, mit denen Cukors Karriere als Filmregisseur kurz nach Anbruch der Tonfilmzeit beginnt: Kay Francis, bekannt als die hinreissende Trickdiebin in ­ ­Lubitschs Trouble in Paradise, gibt die Frau eines russischen Wissenschaftlers, der zur Armee einberufen und alsbald wegen Insubordination zum Tode verurteilt wird. Walter Huston, Vater des ­Regisseurs John Huston und hier innert Jahresfrist schon zum zweiten Mal mit Kay Francis gepaart, ist der beinharte russische General, der den Verurteilten begnadigen könnte. Francis alias Marya Ivanova schmeisst sich kompromisslos an den Militär ran, um ihren Pflock von Gatten zu retten – und verliebt sich versehentlich in den kalkuliert Umgarnten. Von den melodramatischen Steilkurven über die Palastkulissen bis zu den Boudoir-Möbeln ist alles Pappe in diesem Film, doch die Emotionen sind echt, und nur darauf kommt es an. Die erste (und kuriosere) von zwei Locarneser Entdeckungen in Cukors Frühwerk. (afu) 80 Min / sw / 35 mm / E // REGIE George Cukor // DREHBUCH Martin Brown, Louise Long, nach dem Theaterstück «The General» von Lajos Zilahy // KAMERA David Abel // SCHNITT Otho Lovering // MIT Walter Huston (Gen. Gregori Platoff), Kay Francis (Marya Ivanova Sablin), Kenneth MacKenna (Lt. Victor Sablin), Jobyna Howland (Alexandra Stroganov), Paul Cavanagh (Capt. Orloff), Eric Kalkhurst (Lt. Glinka), Oscar ­Apfel (Maj. Ivanoff), Godron McLeod (Col. Nikitin), Youcca Troubetzkov (Capt. Sobakin).

TARNISHED LADY USA 1931 In den besten Screwball Comedies, die Hollywood zwischen 1930 und 1940 hervorgebracht hat, sind die Heldinnen und Helden jenseits aller bürgerlichen Vernunft und in Dingen des Herzens von unwiderstehlicher Kühnheit und Souveränität. Tarnished Lady, Cukors erste Arbeit als alleiniger Regisseur und von der Filmgeschichte bislang so gut wie vergessen, macht den Auftakt zu dieser Reihe grossartiger Lustspiele, in der Meisterstreiche wie Design for Living, It Happened One

Night und Bringing Up Baby folgen werden. Tallulah Bankhead, aufspielend und aussehend wie die ältere (und attraktivere) Schwester von Bette Davis, gibt eine New Yorker Tochter aus einst grossem Haus, die den Jungdramatiker ihrer Träume aus pekuniärer Verlegenheit einem weltgewandten Finanzhai opfert und spät erst feststellt, dass die von ihr verachtete und weggeworfene Vernunftsehe romantisch weit ergiebiger ist als erwartet. Für das Drehbuch dieses brillanten Dialogstücks zeichnete Donald Ogden Stewart, der 1938 bzw. 1940 auch die Vorlagen zu Cukors Screwball-Geniestreichen Holiday und The Philadelphia Story liefern sollte, und in der Umsetzung des brillanten Dialog-Pingpongs zeigt sich bereits die Meisterschaft des grossen SchauspielRegisseurs Cukor. (afu) 83 Min / sw / 35 mm / E // REGIE George Cukor // DREHBUCH Donald Ogden Stewart, nach seiner Story «New York Lady» // KAMERA Larry Williams // MUSIK Vernon Duke // SCHNITT Barney Rogan // MIT Tallulah Bankhead (Nancy Courtney), Clive Brook (Norman Cravath), Phoebe Foster (Germaine Prentiss), Alexander Kirkland (DeWitt Taylor), Elizabeth ­Patterson (Mrs. Courtney), Osgood Perkins (Ben Sterner).

WHAT PRICE HOLLYWOOD? USA 1932 Nach zwei Jahren in der kalifornischen Filmstadt hatte Cukor schon eine gesunde Dosis Insiderkenntnis und noch genügend Distanz zu Hollywood. So wirft er einerseits einen enthüllenden Blick auf das von den Fan-Magazinen verbreitete Image der Stars, auf den durch sie geschürten Nachahmungsdrang und Traum von der eigenen Filmkarriere, schildert aber auch die Kehrseite der Leute im Filmbusiness, die ihr Leben – nicht zuletzt wegen der sensationssüchtigen Fan-Magazine – nur zu oft als Albtraum empfinden. Cukor charakterisiert die weibliche, von der Kellnerin zum Star aufsteigende Heldin als unzimperliche, entschlossen-aktive Person, während der anfänglich charmant-angeheiterte, dann immer tiefer im Alkohol versinkende Regisseur, der ihre Karriere ermöglicht, eher als weicher und passiver Charakter gezeichnet ist. Heute kommt einem manches bekannt vor, weil Produzent Selznick die Story 1937 zur ersten Version von A Star Is Born weiterentwickelte und weil George Cukor selbst 1954 das berühmte Remake als Musical drehte. Die Geschichte mag von Version zu Version an Raffinement gewonnen haben, doch die erste Fassung hat eine unvergleichliche Frische. (meg) 88 Min / sw / Digital SD / E/f // REGIE George Cukor // DREHBUCH Jane Murfin, nach einer Kurzgeschichte von Adela ­Rogers St. Johns // KAMERA Charles Rosher // MUSIK Max


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George Cukor. Steiner // SCHNITT Del Andrews, Jack Kitchin // MIT Constance Bennett (Mary Evans), Lowell Sherman (Max Carey), Neil Hamilton (Lonny Borden), Gregory Ratoff (Julius Saxe), Brooks Benedict (Muto), Louise Beavers (Dienstmädchen).

DINNER AT EIGHT USA 1933 In Dinner at Eight ist die von Cukor ironisch-distanziert, aber nie lieblos denunziatorisch geschilderte Welt jene der «besseren» Gesellschaft. Die zum Dinner geladenen Grössen aus Wirtschaft, Politik und Kultur haben alle ihre Schwachstellen und versuchen, diese zu überspielen: der durch die Wirtschaftskrise in den Bankrott getriebene Reeder, der mit krummen Geschäften gross gewordene, nun in die Politik drängende ungehobelte Neureiche, der im Alkohol versinkende Starschauspieler ebenso wie der Arzt, der sich als Sex-Addict entpuppt. Überhaupt dreht sich der Film in einem Ausmass um aussereheliche Beziehungen (und deren Vertuschung), das wenig später mit der verschärften Durchsetzung von Hollywoods Production Code undenkbar gewesen wäre. Dass der Film auf einem erfolgreichen Bühnenstück beruht, ist unübersehbar, doch vergisst man es streckenweise angesichts der bissigen Brillanz, zu der Cukor sein Starensemble führt. (meg) 111 Min / sw / Digital SD / E/d // REGIE George Cukor // DREHBUCH Frances Marion, Herman J. Mankiewicz, nach dem Theaterstück von George S. Kaufman, Edna Ferber // KAMERA William Daniels // MUSIK William Axt // SCHNITT Ben Lewis // MIT Marie Dressler (Carlotta Vance), John ­Barrymore (Larry Renault), Wallace Beery (Dan Packard), Jean Harlow (Kitty Packard), Lionel Barrymore (Oliver ­Jordan), Billie Burke (Millicent Jordan), Madge Evans (Paula Jordan, ihre Tochter), Edmund Lowe (Dr. Wayne Talbot), Lee Tracy (Max Kane), Jean Hersholt (Jo Stengel).

DAVID COPPERFIELD

(The Personal History, Adventures, Experience & Observation by David Copperfield the Younger) USA 1935 «Das Waisenkind David Copperfield wird von seinem Stiefvater misshandelt und ausgebeutet. Der exzentrische Micawber gewährt ihm Unterschlupf, später kommt er bei seiner geliebten Tante unter. Als Erwachsener findet er, nach einer fehlgeschlagenen Ehe, mit seiner Freundin aus Kindertagen, deren Familie er einst half, das Glück.» (Heyne Filmlexikon) «Genau, was man von Cukor erwartet: Eine exemplarische Adaptation von Dickens' Klassiker,

die den breit aufgefächerten Roman mit sorgfältiger Klarheit verdichtet und mit vielen hervorragenden Auftritten eines grandiosen Schauspieler­ ensembles aufwarten kann. An vorderster Stelle glänzt natürlich W. C. Fields als Micawber. Er bemüht sich gar nicht erst, seinen amerikanischen Akzent zu verbergen, kostet die Sprachperlen voll aus und öffnet uns für einmal den Blick auf das mattgoldene Herz, das sich unter seinem krustigen Äussern verbirgt. Eines dieser seltenen Dinger: Ein Mix aus Kunst und Hollywood, der tatsächlich funktioniert.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) 130 Min / sw / Digital SD / E/e // REGIE George Cukor // DREHBUCH Hugh Walpole, Howard Estabrook, nach dem Roman von Charles Dickens // KAMERA Oliver T. Marsh // MUSIK Herbert Stothart // SCHNITT Robert Kern // MIT Freddie Bartholomew (David als Kind), Frank Lawton (David als Erwachsener), W. C. Fields (Micawber), Roland Young (Uriah Heep), Basil Rathbone (Mr. Murdstone), Lionel Barrymore (Dan Pegotty), Maureen O'Sullivan (Dora), Madge Evans (Agnes), Edna May Oliver ­(Betsey Trotwood), Lewis Stone (Mr. Wickfield), Elsa Lanchester (Clickett), Jessie Ralph (Nurse Pegotty).

SYLVIA SCARLETT USA 1935 Ein glückloser Gauner flieht gemeinsam mit seiner als Mann verkleideten Tochter aus Frankreich. Während der Schiffsreise nach England begegnen sie einem attraktiven jungen Spieler, der die beiden überzeugt, dass sie zusammen schneller zu Geld kommen. «Sylvia Scarlett, seinerzeit ein schwerer Flop bei der Kritik und an der Kasse, erscheint uns heute von Cukors Filmen aus den dreissiger Jahren (...) als der anziehendste, originellste und – im Hinblick auf das Gesamtwerk – für Cukor typischste. Diese Shakespearsche Komödie, sie erinnert an ‹Was ihr wollt› und ‹Wie es euch gefällt›, überschreitet die Grenzen der Genres, indem sie diese vermischt, und beruht auf dem fliessenden Wechsel von einer Stimmung in die andere. Die Geschichte von Wanderschauspielern (eigentlich von kleinen Gaunern, die das Vertrauen des Publikums ausnützen) spielt mit der Ambiguität der Rollen und der Ungewissheit der Gefühle in einer fast perversen Subtilität, zu der es im Kino jener Zeit nichts Entsprechendes gibt.» (Bertrand Tavernier/Jean-Pierre Coursodon: 50 ans de cinéma américain) 97 Min / sw / 35 mm / E/d // REGIE George Cukor // DREHBUCH Gladys Unger, John Collier, Mortimer Offner, nach ­einem Roman von Compton MacKenzie // KAMERA Joseph August // MUSIK Roy Webb // SCHNITT Jane Loring // MIT


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George Cukor. Katharine Hepburn (Sylvia Scarlett), Cary Grant (Jimmy Monkley), Brian Aherne (Michael Fane), Edmund Gwenn (Henry Scarlett), Natalie Paley (Lily), Dennie Moore (Maudie Tilt).

CAMILLE USA 1936 Die «Dame aux camélias» im pathetischen Gesellschaftsdrama von Alexandre Dumas fils (und in Verdis Opernversion «La Traviata»), die edle, sich aus echter Liebe aufopfernde Kurtisane, ist auf der Bühne zur Diven-Paraderolle geworden. So lag es für MGM nahe, diese Figur für ihren Topstar Greta Garbo zu wählen. Die Rechnung ging auf: bis heute gilt die Maguerite Gautier als eine von Garbos Spitzenleistungen. Für Cukor, der mit seinen Firmenchefs die Vorliebe für 19. Jahrhundert-Stoffe und literarisches Prestige teilte, war es die erste Zusammenarbeit mit Garbo. Cukor hat nicht nur seinen Star zur Höchstform geführt, er hat spürbar eine über das Melodramatische hinausgehende Seite der Story herausgearbeitet: Maliziös lässt er erkennen, wie hinter den ungeschminkten Wahrheiten und den unverblümt materialistischen Motiven dieser sich hochstilisierenden Gesellschaft nicht Ehrlichkeit, sondern Zynismus steckt, und stellt die liebevollen oder barmherzigen Lügen als Ausdruck wahrhaftigerer Menschen dagegen. (meg) 109 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE George Cukor // DREHBUCH Zoe Akins, Frances Marion, James Hilton, nach dem Roman und Theaterstück von Alexandre Dumas fils // ­KAMERA Karl Freund, William Daniels // MUSIK Herbert Stothart // SCHNITT Margaret Booth // MIT Greta Garbo (Marguerite Gautier), Robert Taylor (Armand Duval), Lionel Barrymore (M. Duval), Elizabeth Allan (Nichette), Jessie Ralph (Nanine), Henry Daniell (Baron de Varville), Lenore ­Ulric (Olympe), Laure Hope Crews (Prudence), Rex O'Malley (Gaston).

HOLIDAY USA 1938 Durch den Dienstboteneingang betritt Johnny Case die pompöse Villa der Setons, weil er nicht glauben kann, dass seine Ferienbekanntschaft und nunmehr Verlobte zu den Herrschaften gehört. Skeptisch gegenüber der Gesellschaft des «there is no such thrill in the world as making money» bleibt er auch später: eine Haltung, die den Setons als «un-American» erscheinen muss. Subtil komisch wird der soziale Clash durch Cukors Kunst, die Rollenklischees – hier die sozi-

alen – aufzubrechen. Die Setons erscheinen als Gefangene der von ihnen errichteten und verinnerlichten Welt, gehen entweder, wie der Vater, darin auf und werden Teil des bombastischen Dekors oder leiden darunter wie der Sohn, ein verhinderter Musiker. Nur eine schafft, zusammen mit Johnny, im letzten Moment den Absprung: die eigenwillige Schwester der Verlobten. Bis es dazu kommt, lässt Katharine Hepburn in dieser Rolle das Schwanken zwischen resigniertem Leiden und komisch-deplaziertem Aufbegehren zum filmtragenden Ereignis werden. (meg) 95 Min / sw / 35 mm / E/f // REGIE George Cukor // DREHBUCH Donald Ogden Stewart, Sidney Buchman, nach einem Theaterstück von Philip Barry // KAMERA Franz Planer // MUSIK Sidney Cutner // SCHNITT Al Clark, Otto Meyer // MIT Katharine Hepburn (Linda Seton), Cary Grant (Johnny Case), Doris Nolan (Julia Seton), Lew Ayres (Ned Seton), Edward Everett Horton (Prof. Nick Potter), Henry Kolker (Edward ­Seton), Binnie Barnes (Mrs. Laura Cram), Jean Dixon (Mrs. Susan Elliott Potter), Henry Daniell (Seton Cram).

THE WOMEN USA 1939 Als Cukor, der rund ein Jahr mit der Vorbereitung und den ersten Drehs von Gone With the Wind beschäftigt gewesen war, von Produzent Selznick gefeuert wurde, wollte er möglichst rasch wieder arbeiten und akzeptierte bei seinem Studio MGM dieses praktisch drehfertige Projekt. «I tried to remove some of the harsher things», meinte er später bescheiden. Mary Haines, Dame aus bester New Yorker Gesellschaft, erfährt von ihren lieben «Freundinnen», dass ihr Gatte sie mit einer Parfümverkäuferin hintergeht. Mit der Liebe ihres Ehemannes verliert Mary ihre gesellschaftliche Position, die Konkurrentin hingegen steigt kometenhaft auf. Unter reger Mitwirkung ihrer illustren Freundinnen beginnt Mary um ihren Mann zu kämpfen. The Women basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Clare Boothe Luce, «das der frauenfeindlichen Annahme gewidmet ist, der ärgste Feind einer Frau sei entweder sie selbst oder eine andere Frau. (…) Genau wie im Stück ist kein einziger Mann zu sehen oder zu hören, doch etabliert diese kuriose Absenz hier eine gewollte Künstlichkeit, die Cukor durch zahllose kurze Szenen hindurch mit wunderbarem Tempo aufrechterhält. Anders als Boothe, die allen Figuren gegenüber boshaft ist, ihre sexuell gerissenen Aufsteigerinnen aber im Kontrast zu einer faulenzenden, unnützen Oberklasse skizziert, beobachtet Cukor beide Schichten mit amüsierter Anteilnahme.» (Carlos Clarens: Cukor, London, 1976)


> Two-Faced Woman.

> Adam's Rib.

> Gaslight.

> The Women.

> Born Yesterday.

> The Philadelphia Story.


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George Cukor. 132 Min / Farbe und sw / 35 mm / E/d // REGIE George Cukor // DREHBUCH Anita Loos, Jane Murfin, F. Scott Fitzgerald, nach dem Theaterstück von Clare Boothe Luce // KAMERA Oliver T. Marsh, Joseph Ruttenberg // MUSIK David Snell, Edward Ward // SCHNITT Robert Kern // MIT Norma Shearer (Mary, Mrs. Stephen Haines), Joan Crawford (Crystal Allen), Rosalind Russell (Sylvia, Mrs. Howard Fowler), Mary Boland (Flora, The Countess DeLave), Paulette Goddard (Miriam ­Aarons), Joan Fontaine (Peggy, Mrs. John Day), Phyllis P ­ ovah (Edith, Mrs. Phelps Potter), Lucile Watson (Mrs. ­Morehead), Virginia Weidler (Little Mary), Hedda Hopper (Dolly Dupuyster), Florence Nash (Nancy Blake), Cora Witherspoon (Mrs. Van Adams).

THE PHILADELPHIA STORY USA 1940 Der schlawinerische Exmann einer Millionärstochter voller hochtrabender Ideale torpediert deren unmittelbar bevorstehende Wiederverheiratung mit einem reichen Langweiler, indem er dem Brautpaar einen Skandalreporter auf den Hals hetzt. Im Lauf einer Nacht voller aberwitziger Verwicklungen verliebt sich der Reporter selbst in die Braut. Nach einigen Flops von Branchenblättern bereits als Kassengift abgeschrieben, zog sich Katharine Hepburn mit der Hauptrolle in Philip Barrys Broadwayhit und anschliessend in dessen Filmversion an den eigenen Haaren aus dem Hollywood-Sumpf. Sie sicherte sich frühzeitig die Filmrechte und setzte bei MGM-Mogul Louis B. Mayer die Wahl ihres bevorzugten Regisseurs, George Cukor, sowie Cary Grant und James Stewart in den Rollen des Exmannes und des Reporters durch. Was resultierte, war seinerzeit ein sechsfach oscarnominierter Kassenschlager und ist bis heute einer der grössten Screwball-Klassiker überhaupt. Cukor hat es gar nicht nötig, den Bühnenursprung zu kaschieren, denn Charakterporträts, Gesellschaftskritik und Situationskomik sind so perfekt ausbalanciert, die Dialogpointen perlen so mühelos und das Protagonisten-Trio spielt so lustvoll auf, dass das Studiosetting funkelt vor filmischer Magie. (afu) 112 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE George Cukor //

TWO-FACED WOMAN USA 1941 Cukors zweiter Film mit Greta Garbo ist ein vergnügliches Spiel mit Leuten, die nicht sein wollen, was sie sind, und nicht sind, was sie scheinen. Der Magazin-Editor Larry Blake, ein mondäner Stadtmensch, heiratet im Erholungsurlaub die Skilehrerin Karin Borg. Der zur Natur «Bekehrte» wird im Kontakt mit seiner gewohnten Umwelt gleich wieder der alte Larry. Um ihren Mann, der auch seine Liaison mit einer Bühnenautorin wieder aufgenommen hat, zurückzugewinnen, stürzt sich das nichtrauchende, alkoholabstinente, unmodische Naturgirl Karin in das Stadtleben. Sie gibt sich als ihre eigene, «verruchte» Zwillingsschwester Katherine aus – und dies so erfolgreich, dass man sich fragt, ob dies nur perfekte Anpassung sei oder die verdrängte andere Hälfte ihres Wesens. Cukors genüsslich inszenierte Verunsicherung über das wahre Gesicht seiner Hauptfiguren musste provozieren. Liess sich noch das Production Code Office damit täuschen, dass Larrys Liebeswerben um Katherine de facto nicht ehebrecherisch ist, weil es sich ja um seine eigene Frau handelt, riefen die katholische League of Decency und der New Yorker Erzbischof Spellman zum Boykott des «unmoralischen» Films auf. Worauf die Produzenten den Film nicht nur durch Schnitte säuberten, sondern auch eine Szene hinzufügten, die uns weismachen will, dass Larry das Täuschungsmanöver durchschaut habe. Der so um einen Teil seiner Doppelbödigkeit gebrachte Film wurde zum Flop und beendete jäh die Starkarriere Greta Garbos, die sich hier als brillante Komödiantin verabschiedet. (meg) 94 Min / sw / Digital SD / E/e // REGIE George Cukor, Andrew Marton, Charles Dorian // DREHBUCH S. N. Behrman, Salka Viertel, George Oppenheimer, nach einem Theaterstück von Ludwig Fulda // KAMERA Joseph Ruttenberg // MUSIK ­Bronislau Kaper // SCHNITT George Boemler // MIT Greta Garbo (Karin Borg), Melvyn Douglas (Lawrence «Larry» Blake), Constance Bennett (Griselda Vaughn), Roland Young (Oscar «O. O.» Miller), Robert Sterling (Dickie Williams), Ruth ­Gordon (Miss Ruth Ellis, Larrys Sekretärin), Frances Carson (Miss Dunbar), George Cleveland (Sheriff).

DREHBUCH Donald Ogden Stewart, Waldo Salt, nach dem Theaterstück von Philip Barry // KAMERA Joseph Ruttenberg // MUSIK Franz Waxman // SCHNITT Frank Sullivan //

KEEPER OF THE FLAME

MIT Cary Grant (C. K. Dexter Haven), Katharine Hepburn

USA 1942

(Tracy Lord), James Stewart (Macauley Connor), Ruth ­Hussey (Elizabeth Imbrie), John Howard (George ­Kittredge), Roland Young (Onkel Willie), John Halliday (Seth Lord), Mary Nash (Margaret Lord), Virginia Weidler (Dinah Lord), Henry Daniell (Sidney Kidd), Lionel Pape (Edward), Rex Evans (Thomas).

In Stoff und Stimmungslage ein eher untypischer Cukor-Film, doch findet sich darin unübersehbar seine Lust, scheinbar Eindeutiges fragwürdig erscheinen zu lassen. Donald Ogden Stewart, der die Drehbücher zu den Komödien Holiday und The


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George Cukor. Philadelphia Story geliefert hatte, schrieb diesmal eine Art Politkrimi: Nach dem Unfalltod eines prominenten Politikers, eines Pfeilers amerikanischer Demokratie und Freiheit, sucht ein renommierter Journalist Material für eine Biografie. Die offizielle Version seines Todes erscheint mit jeder neuen Information fragwürdiger, seine Witwe und seine ergebenen Mitarbeiter wirken immer suspekter. Die Legende des grossen Mannes bröckelt; hinter dem vom Verstorbenen lautstark propagierten Amerikanismus werden Pläne für eine faschistische Machtübernahme sichtbar. Diese Warnung vor dem kaschierten Faschismus im eigenen Land trug dazu bei, dass Stewart, einer der führenden Köpfe von Hollywoods AntiNazi League, nach dem Krieg «unamerikanischer» Aktivitäten verdächtigt und von den Kommunistenjägern ins britische Exil getrieben wurde. (meg) 100 Min / sw / DCP / E/f // REGIE George Cukor // DREHBUCH Donald Ogden Stewart, nach einem Roman von I. A. R. Wylie // KAMERA William Daniels // MUSIK Bronislau Kaper // SCHNITT James E. Newcom // MIT Spencer Tracy (Stevie O'Malley), Katharine Hepburn (Mrs. Christine Forrest), Richard Whorf (Clive Kerndon), Margaret Wycherly (Mrs. ­ ­Forrest), Forrest Tucker (Geoffrey Midford), Frank Craven (Dr. Fielding), Donald Meek (Mr. Arbuthnot), Howard Da Silva (­Jason Rickards), Stephen McNally (Freddie Ridges), Audrey Christie (Jane Harding), Percy Kilbride (Orion Peabody), ­Darryl Hickman (Jeb Rickards).

GASLIGHT USA 1944 Ein Thriller um eine frisch verheiratete junge Frau, deren Mann versucht, sie mit psychischer Einschüchterung und hypnotischem Blick in den Wahnsinn zu treiben – das ist nicht unbedingt, was man von Cukor erwartet. Doch mit drohenden Schatten, verheissendem Glitzern, flackernden Lichtern und Aussenszenen im Nebel bleibt er dem Genre nichts schuldig. Was Gaslight über den Genrestandard hinaushebt, ist Cukors Schauspielerführung, die die scheinbare Fehlbesetzung der Hauptrollen nutzt, um uns spannend differenzierte Figuren zu präsentieren. Charles Boyer, sonst der Charmeur vom Dienst, ist kein Bilderbuch-Bösewicht, sondern wirkt, von einigen kleinen Ausbrüchen abgesehen, unheimlich sanft, bedrohlich erst in seiner Unberechenbarkeit. Ingrid Bergman erscheint umgekehrt fast zu robust für die unsichere junge Frau, die sich mehr und mehr terrorisieren lässt. Erst in der letzten Konfrontation mit dem Ehemann erweist sich die Stringenz des Konzepts: Das Happy End besteht nicht primär in der Intervention des Inspektors

von Scotland Yard, sondern in der Kraft der weiblichen Hauptfigur, dem hypnotischen Einfluss ihres Mannes zu widerstehen. (meg) 114 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE George Cukor // DREHBUCH John Van Druten, Walter Reisch, John L. Balderston, nach dem Theaterstück «Angel Street» von Patrick Hamilton // KAMERA Joseph Ruttenberg // MUSIK Bronislau Kaper // SCHNITT Ralph E. Winters // MIT Charles Boyer (Gregory ­Anton), Ingrid Bergman (Paula Alquist), Joseph Cotten (Brian Cameron), Dame May Whitty (Miss Bessie Thwaites), Angela Lansbury (Nancy Oliver), Barbara Everest (Elizabeth T ­ ompkins), Emil Rameau (Maestro Mario Guardi), Edmund Breon (Gen. Huddleston), Halliwell Hobbes (Mr. Muffin), Tom ­Stevenson (Williams), Heather Thatcher (Lady Dalroy), L ­ awrence Grossmith (Lord Dalroy).

A DOUBLE LIFE USA 1947 Die Geschichte eines Broadway-Stars, der sich nach Hunderten von Aufführungen so in die Rolle des Othello hineinsteigert, dass er dessen Eifersucht auf seine Bühnenpartnerin und Exfrau überträgt, diese als Desdemona eines Abends um ein Haar wirklich erwürgt und schliesslich im Wahn eine Zufallsbekanntschaft umbringt. Die Eifersucht von Shakespeares Figur wird parallelisiert durch eine nicht minder extreme Psychopathologie, die aus dem permanenten Sich-verstellen-Müssen ­resultiert. «Dies war mein erster Film mit den Kanins, der Anfang einer äusserst fruchtbaren Zusammenarbeit. (…) Interessant war der authentische Hintergrund der New Yorker Theaterwelt. Und ich glaube, Ronald Colmans Leistung sollte alle Diskussionen darüber beenden, dass es keine Männer in meinen Filmen gäbe.» (George Cukor, in: Carlos Clarens: Cukor, Secker & Warburg 1976) Um Bühne und «Leben» deutlich voneinander abzusetzen, wählt Cukor klar unterschiedliche Bildmittel (kontrastreiches Helldunkel für die Bühne, grau in grau für den Alltag). Entsprechend lässt er, in deutlichem Kontrast zum naturalistischen Darstellungsstil der «realen Welt», auf der Bühne in gestenreicher traditioneller Theaterspielweise agieren. So wird in den Alltagsszenen schon am umkippenden Spiel der Hauptfigur deutlich, dass sie in die Bühnenrolle fällt. (meg) 104 Min / sw / Digital HD / E // REGIE George Cukor // DREHBUCH Ruth Gordon, Garson Kanin, frei nach dem Theaterstück «Othello» von William Shakespeare // KAMERA Milton Krasner // MUSIK Miklós Rózsa // SCHNITT Robert Parrish // MIT Ronald Colman (Anthony John), Signe Hasso (Brita), ­Edmond O'Brien (Bill Friend), Shelley Winters (Pat Kroll), Ray Collins (Victor Donlan), Phillip Loeb (Max Lasker), Millard


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George Cukor. Mitchell (Al Cooley), Joe Sawyer (Ray Bonner), Charles ­LaTorre (Stellini), Whit Bissell (Dr. Stauffer), John Drew Colt (Manager), Elizabeth Dunne (Gladys).

ADAM'S RIB USA 1949 Man spürt das drehbuchschreibende Ehepaar Ruth Gordon/Garson Kanin hinter der Darstellung eines Juristenpaars, dessen durchaus ausgewogen wirkende Ehe am feministischen En­gagement der Frau zu scheitern droht, sobald dieses sie professionell zum Widerpart ihres Mannes werden lässt: als Verteidigerin einer Frau, die auf ihren treulosen Ehemann ge­schossen hat. Dem Pochen des Mannes/Staatsanwalts auf rechtsstaatliche Sicherheit setzt sie ihr Beharren auf der Forderung entgegen, dass der in Stein gemeisselte Wahlspruch «equal and exact justice for all men» auch für Frauen gelten muss. Was diese pointierte Komödie mit brillanten Dialogen über einen sympathischen, im Kern noch immer aktuellen Thesenfilm hinauswachsen lässt, ist Cukors Regie, die immer wieder den Showcharakter betont, jenen der rituellen verbalen Fights im Gerichtssaal nicht weniger als die theatralischen Momente in den ehelichen Auseinandersetzungen. In konsequenter Zuspitzung setzt am Ende der Mann die «Waffen einer Frau» ein, indem er geschickt im entscheidenden Augenblick ein paar Tränen hervordrückt. Da kann man nur in die Konklusion des Films einstimmen: «Vive la différence!» (meg) 101 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE George Cukor // DREHBUCH Ruth Gordon, Garson Kanin // KAMERA George J. ­Folsey // MUSIK Miklós Rósza // SCHNITT George Boemler // MIT Spencer Tracy (Adam Bonner), Katharine Hepburn (Amanda Bonner), Judy Holliday (Doris Attinger), Tom Ewell (Warren Francis Attinger), David Wayne (Kip Lurie), Jean ­Hagen (Beryl Caighn), Hope Emerson (Olympia La Pere), Eve March (Grace), Clarence Kolb (Richter Reiser), Emerson

dass Männer durchaus dümmer sein können als Frauen, dann ist es die Richtigkeit der Behauptung, dass eine intelligente Komödie unter Umständen mehr an Aufklärungsarbeit leisten kann als jede Menge Pamphlete und Flugblätter.» (Pia Horlacher, Filmpodium-Programmheft, Aug. 2003) 103 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE George Cukor // DREHBUCH Albert Mannheimer, Garson Kanin (ungenannt), nach dem Theaterstück von Garson Kanin // KAMERA Joseph ­Walker // MUSIK Frederick Hollander (= Friedrich Hollaender) // SCHNITT Charles Nelson // MIT Judy Holliday (Emma «Billie» Dawn), Broderick Crawford (Harry Brock), William Holden (Paul Verrall), Howard St. John (Jim Devery), Frank Otto (Eddie), Larry Oliver (Norval Hedges), Barbara Brown (Mrs. Hedges), Grandon Rhodes (Sanborn), Claire Carleton (Helen).

A LIFE OF HER OWN USA 1950 Eine der grössten Überraschungen der Cukor-Retrospektive in Locarno. Dieser Film galt lange als missglückt, und der Regisseur Mark Rappaport, der den Film mit Überzeugung präsentierte, räumte ein: «Cukor thought it was his worst film». Er erzählt eine konventionelle Dreiecksgeschichte: Ein erfolgreiches Fotomodell verliebt sich in einen Mann; dieser zögert, seinerseits seinen Gefühlen für sie freien Lauf zu lassen. Er ist verheiratet, seit einem von ihm verschuldeten Autounfall ist seine Frau an den Rollstuhl gefesselt: Wie könnte er sie da verlassen? Das Modell will für seine Liebe kämpfen und der Rivalin fordernd gegenübertreten – bringt es dann angesichts der liebenden Gattin aber nicht fertig. Eine Selbstmordszene am Anfang des Films suggeriert bereits, wie die Geschichte hätte enden müssen, hätte die Produktion sich nicht umbesonnen. Ein intensives Melodram, doch nicht von der trashigen Sorte, denn Cukor nimmt seine Figuren und ihren Konflikt so ernst, dass sie uns berühren. (meg)

Treacy (Jules Frikke), Polly Moran (Mrs. McGrath), Will ­ Wright (Richter Marcasson).

108 Min / sw / 35 mm / E // REGIE George Cukor // DREHBUCH Isobel Lennart // KAMERA George J. Folsey // MIT Lana Tur-

BORN YESTERDAY USA 1950

ner (Lily Brannel James), Ray Milland (Steve Harleigh), Tom Ewell (Tom Caraway), Louis Calhern (Jim Leversoe), Ann Dvorak (Mary Ashlon), Barry Sullivan (Lee Gorrance), Jean Hagen (Maggie Collins), Phyllis Kirk (Jerry).

Judy Holliday verkörpert in dieser legendären Emanzipations-Komödie ihre wohl beste Rolle überhaupt: Als blondes Dummchen und Geliebte eines mafiösen Grobians wird sie zwecks gesellschaftlicher Schulung in die Hände eines intellektuellen Softies übergeben und erweist sich schliesslich als die Gescheiteste von allen. «Wenn dieses kleine Meisterwerk noch etwas mehr beweist als die lang umstrittene Tatsache,

Kopie aus der Sammlung des George Eastman House, Rochester, NY

IT SHOULD HAPPEN TO YOU USA 1954 «Eine hervorragende Satire auf die Werbung, in der eine Unbekannte zur Berühmtheit wird, in-


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George Cukor. dem sie ihren Namen im Herzen New Yorks plakatieren lässt. Zur Freude an diesem Film trägt das hervorragende Zusammenspiel von Judy Holliday mit Jack Lemmon – in seiner ersten Filmrolle – bei, das zweifellos weitgehend der Führung durch Cukor zu verdanken ist. ‹Seine Ratschläge haben mich meinen Beruf gelehrt›, sagte Jack Lemmon später.» (Bertrand Tavernier/J.-P. Coursodon)

­Folmar Blangsted // MIT Judy Garland (Vicki Lester/Esther

86 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE George Cukor // DREH-

USA/GB 1956

BUCH Garson Kanin // KAMERA Charles Lang // MUSIK ­Frederick Hollander ( = Friedrich Hollaender) // SCHNITT Charles Nelson // MIT Judy Holliday (Gladys Glover), Peter Lawford (Evan Adams III), Jack Lemmon (Pete Sheppard), Michael O'Shea (Brod Clinton), Vaughn Taylor (Entrikin), ­ ­Connie Gilchrist (Mrs. Riker), Walter Klavun (Bert Piazza), Whit ­Bissell (Robert Grau).

A STAR IS BORN USA 1954 Der Aufstieg eines Revuegirls zur gefeierten Sängerin. Ihr geliebter Mann, der Schauspieler Norman Maine, macht analog den Abstieg vom Filmstar zum Nobody und zum selbstzerstörerischen Alkoholiker durch. «Hollywood über Hollywood: Die Faszination dieser Filme beruht zunächst einmal auf dem Blick hinter die Kulissen der Traumfabrik. Den bietet A Star Is Born, satirisch pointiert, etwa in der Szene, in der das Make-up-Department des Studios versucht, Esther gängigen Schönheitsidealen anzupassen, blind für ihre eigene Schönheit. (…) Judy Garland, der 1950 wegen Unzuverlässigkeit von MGM gekündigt wurde, versuchte mit A Star Is Born (den ihr Ehemann und Agent produzierte) ein Comeback – wobei die Rolle ihren Fähigkeiten als Entertainerin und Sängerin angepasst wurde. Ihre privaten Probleme waren seinerzeit für die Öffentlichkeit kein Geheimnis, so erscheint Norman Maine als Spiegelbild der Garland.» (Reclams Filmklassiker)

Vorstellung vorbehalten Bei Drucklegung des vorliegenden Programmhefts stand noch nicht fest, ob uns Warner Brothers die Genehmigung für eine Einzelvorführung dieses Films erteilt, zu dem ein weiteres Remake in Produktion ist. Bitte konsultieren Sie die Tagespresse oder www.filmpodium.ch 181 Min / Farbe / Digital HD / E/e // REGIE George Cukor // DREHBUCH Moss Hart, basierend auf dem Drehbuch von ­Dorothy Parker, Alan Campbell, Robert Carson, nach einer Story von William A. Wellman, Robert Carson, basierend auf What Price Hollywood von George Cukor // KAMERA Sam ­Leavitt // MUSIK Harold Arlen, Ray Heindorf // SCHNITT

Blodgett), James Mason (Norman Maine), Jack Carson (Matt Libby), Charles Bickford (Oliver Niles), Tommy Noonan (Danny McGuire), Lucy Marlow (Lola Lavery), Amanda Blake (Susan Ettinger), Irving Bacon (Graves), Hazel Shermet ­(Libbys Sekretärin), James Brown (Glenn Williams), Lotus Robb (Miss Markham).

BHOWANI JUNCTION «Cukors vertieftes Interesse für die Situation der Frauen in einer männlich dominierten Gesellschaft und die Problematik des Rollenspiels drücken sich in diesem wunderbaren Melodram in betont politischem Kontext aus. Es spielt in Indien während seiner letzten Zeit als britische Kolonie. Eine junge Anglo-Inderin steht zwischen drei Männern: einem englischen Soldaten, einem Inder und einem Anglo-Inder. Dies ist einer der wenigen Filme, die intelligent und erfolgreich persönliche und politische Themen verflechten. Der Status der Hauptperson als Frau ohne klare nationale und ethnische Identität verkörpert kulturelle und politische Haltungen, die in Konflikt geraten. Dadurch wird der Film zu einem intimen Epos, das ebenso ein Porträt einer Gesellschaft im Umbruch wie eine lebendige, berührende Erzählung des tragischen Konflikts der Heldin ist.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) 110 Min / Farbe / 35 mm / E/f // REGIE George Cukor // DREHBUCH Sonya Levien, Ivan Moffat, nach dem Roman von John Masters // KAMERA Freddie Young // MUSIK Miklós Rózsa // SCHNITT George Boemler, Frank Clarke // MIT Ava Gardner (Victoria Jones), Stewart Granger (Col. Rodney Savage), Bill Travers (Patrick Taylor), Abraham Sofaer (Surabhai), Francis Matthews (Ranjit Kasel), Marne Maitland (Govindaswami), Peter Illing (Ghanshyam), Edward Chapman (Thomas Jones, Victorias Vater), Freda Jackson (Ranjits Mutter), Lionel ­Jeffries (Lt. Graham McDaniel), Alan Tilvern (Ted Dunphy), George Cukor (Mann im Zug, ungenannt).

LES GIRLS USA 1957 Die Grundidee und Struktur von Kurosawas ­Rashomon wird hier übertragen auf ein Backstage-Musical über den Choreografen und Startänzer Barry (Gene Kelly) und seine drei Leading Ladies. Ex-Girl Sybil hat Jahre später ein Erinnerungsbuch publiziert, für das sie von Ex-Girl Angèle wegen Verleumdung eingeklagt wird. Vor Gericht darf erst Sybil ihre Version erzählen, in der Angèle ein Verhältnis mit Barry hat, am folgenden Prozesstag gibt Angèle die Gegenversion, in der Sybil eine Liaison mit Barry eingeht. Am


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George Cukor.

> Bhowani Junction.

> Les Girls.

dritten Tag wird Barry befragt, der versucht, beide Frauen vor einer Meineidsklage zu bewahren, indem er unterstellt, sie hätten sich das alles so vorgestellt, aber in Wirklichkeit sei er nur in das dritte der Girls, Joy, verliebt gewesen. Womit sich das Gericht zufriedengibt, nicht aber Joy, die inzwischen Barrys Frau geworden ist … Ist die Künstlichkeit der ersten grossen «production number» noch als Bühnenszene «motiviert», greifen Gesang und später auch Tanz in den Liebesszenen auf die «Realität» über. Cukor fokussiert auf die Täuschungsmanöver der Figuren und deren Illusionen; die Grenzen zwischen Theater, Privatleben und der ultimativen Bühne Gericht verschwimmen zusehends. (meg)

dengeben will und darauf besteht, eine Person mit ihren eigenen Wünschen zu sein. Gioia wird von einem Rancher als Ersatz für ihre Schwester, seine verstorbene erste Frau, aus Italien importiert. Doch Gioia möchte lieber als sie selbst ­gehasst, denn als eine andere geliebt werden – konsequent bis hin zum Ehebruch mit dem Beinahe-Adoptivsohn ihres Mannes und der trotzigen These, Liebe sei nichts Schlechtes. Cukor zeigt spürbar Sympathie für die Unzähmbare – über ein dressiertes Pferd sagt Gioia: «It was a horse before, it's a sheep now». Heute mag der Film eher offene Türen einrennen und das Ende gar beschwichtigend wirken, doch Magnanis Temperament und Cukors gelegentlich fast dokumentarisches Eingehen auf das Leben der Viehzüchter bleiben packend. (meg)

114 Min / Farbe / 35 mm / E // REGIE George Cukor // DREHBUCH John Patrick, nach einer Erzählung von Vera Caspary // KAMERA Robert Surtees // MUSIK Saul Chaplin // SCHNITT Ferris Webster // MIT Gene Kelly (Barry Nichols), Mitzi ­Gaynor (Joy Henderson), Kay Kendall (Lady Wren), Taina Elg (Angèle Ducros), Jacques Bergerac (Pierre Ducros), Leslie Phillips (Sir Gerald Wren), Henry Daniell (Richter), Patrick Macnee (Sir Percy), Stephen Vercoe (Mr. Outward).

114 Min / sw / 35 mm / E/d/f // REGIE George Cukor // DREHBUCH Arnold Schulman, nach dem Roman «Furia» von ­Vittorio Nino Novarese // KAMERA Charles Lang // MUSIK ­Dimitri Tiomkin // SCHNITT Warren Low // MIT Anna Magnani (Gioia), Anthony Quinn (Gino), Anthony Franciosa (Bene), ­Dolores Hart (Angie), Joseph Calleia (Alberto), Lili Valenty (Teresa), Dick Ryan (Priester).

WILD IS THE WIND USA 1957

THE CHAPMAN REPORT USA 1962

Anna Magnanis zweiter amerikanischer Film ist die Geschichte einer Frau, die sich nicht mit der Rolle als Objekt in der Männergesellschaft zufrie-

Die Kinsey-Reports haben offensichtlich diesen Film (und den zugrunde liegenden Roman) über


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George Cukor.

OKTOBER 2013

WINTE R

BOTTO

M'S W ONDE RLAND Bus 32 & Tram 8 bis Helvetiaplatz, Tram 2 & 3 bis Bezirksgebäude Telefonische Reservation: 044 242 04 11 Reservation per SMS und Internet siehe www.xenix.ch

einen Forscher angeregt, der mit statistischen Methoden das Sexualverhalten der Amerikanerinnen ergründen möchte. Vier der ihm antwortenden Frauen werden uns näher vorgestellt: eine junge frigide Witwe, eine Nymphomanin und zwei verheiratete Frauen mit ausserehelichen Beziehungen. Sexualität, die Versteckspiele darum herum, vor allem die Angst, verletzbar zu werden – ein Stoff, der Cukor liegen musste, für den die Zeit aber noch nicht wirklich reif war. Nach Cukors eigenen Aussagen habe Produzent Zanuck alles rausgeschnitten, was ihm nicht scharf genug erschien, und anschliessend sei die Zensur über alles hergefallen, was ihr zu scharf war. Der Rest enthält einige starke Szenen, wirkt aber eher inkongruent. Offen bleibt, wie die im Film vorgetragene Kritik an Chapmans Methoden zu verstehen ist: «not statistics – love!», postuliert Dr. Jonas, gespielt vom in Cukor-Filmen auf unsympathische Rollen abonnierten Henry Daniell. Ist er die Verkörperung einer retrograden Auffassung oder die Stimme der psychiatrischen Vernunft, die warnt, dass die Chapman-Interviews Verdrängtes in den Frauen aufwühlen, ohne ihnen anschliessend bei dessen Bewältigung beizustehen? (meg)

125 Min / Farbe / Digital SD / E // REGIE George Cukor // DREHBUCH Wyatt Cooper, Don M. Mankiewicz, nach dem Roman von Irving Wallace // KAMERA Harold Lipstein // MUSIK Leonard Rosenman // SCHNITT Robert Simpson // MIT Efrem Zimbalist jr. (Paul Redford), Jane Fonda (Kathleen Barclay), Claire Bloom (Naomi Shields), Shelley Winters (Sarah ­Garnell), Glynis Johns (Teresa Harnish), Ray Danton (Fred ­Linden), Ty Hardin (Ed Kraski), Andrew Duggan (Dr. George C. Chapman), John Dehner (Geoffrey Harnish), Harold J. Stone (Frank Garnell), Corey Allen (Wash Dillon).

Filmeinführung und Sélection Lumière DO, 7. NOV. | 18.15 UHR 1948 bzw. 1953 erschienen in den USA die beiden Studien «Sexual Behavior in the Human Male/ Female» des Zoologen und Sexualforschers Alfred C. Kinsey, die für enormes Aufsehen sorgten. Andeas Furler erläutert in seiner Einführung zu The Chapman Report, wie es zur Fiktionalisierung des zweiten Kinsey-Reports in George Cukors Film kam – und welche Kompromisse Cukor auf dem Weg zum fertigen Film eingehen musste. Der Film läuft im Rahmen der «Sélection Lumière», in der Wunschfilme von Mitgliedern des Filmpodium-Fördervereins zu sehen sind.


George Cukor.

MY FAIR LADY USA 1964 Nachdem G. B. Shaws Theater-Evergreen «Pygmalion» als «My Fair Lady» auf der Musicalbühne Triumphe feierte, bot sich Cukor, der immer wieder Abwandlungen des «Pygmalion»-Motivs gedreht hatte, die Gelegenheit, dem Original etwas näherzukommen. Einmal mehr geht es um die ungehobelte junge Frau, die von einem älteren Lehrmeister «kultiviert» wird, und darum, dass dieser mindestens so viel von ihr zu lernen hat wie umgekehrt. Wissend, dass ein Musical Stilisierung braucht, widerstand Cukor der Versuchung, das Bühnenmusical für den Film um Aussenaufnahmen zu erweitern. Gerade aus der Szene beim Pferderennen in Ascot, die sich dafür besonders angeboten hätte, macht er eine durchchoreografierte Bühnenszene. Auch den regiemässig geregelten Ablauf eines Empfangs in der Botschaft arbeitet er so betont heraus, dass das Theaterhafte der zugrunde liegenden Realität sichtbar wird. Umgekehrt führt er «realistische» Elemente in gesungene und getanzte Szenen ein, wie jene auf dem Blumenmarkt. Auch filmische Mittel setzt Cukor für einmal sichtbar ein, um das Artifizielle des Ganzen zu betonen: nicht nur den berühmten Freeze-Motion-Effekt. So enthält My Fair Lady, der in mancher Hinsicht als letzte grosse Studioproduktion des alten Hollywood betrachtet wird, zugleich deutliche Elemente eines moderneren Filmverständnisses. (meg)

soll eine ehemalige Schauspielerin vor Gericht gegen die Klage eines Jahrzehnte jüngeren Mannes wegen gebrochenen Eheversprechens verteidigen, doch vor allem beschäftigen ihn die Erinnerungen an die rund ein halbes Jahrhundert zurückliegende Liebesbeziehung zu genau dieser Schauspielerin – und daran, wie sie ihn damals verlassen hat. Er und sie sind professionelle Verstellungskünstler. Kaum je wissen wir, was jetzt für die Öffentlichkeit oder für den anderen gespielt ist und was wirklich in diesen beiden älteren Menschen vorgeht – und wahrscheinlich wissen sie es oft selbst nicht genau. Noch einmal hält Cukor perfekt das Spiel mit den Rollen, den gesellschaftlichen wie den Geschlechterrollen, in jener Balance, die uns vorschnelle Klarheiten verweigert und uns so in unterhaltendem Spiel nachdenklich stimmt. (meg) 100 Min / Farbe / 16 mm / E // REGIE George Cukor // DREHBUCH James Costigan, nach einem Roman von Angela T ­ hirkell // KAMERA Douglas Slocombe // MUSIK John Barry // SCHNITT John F. Burnett // MIT Katharine Hepburn ­(Jessica Medlicott), Laurence Olivier (Sir Arthur Glanville-Jones), ­Colin Blakely (J. F. Devine), Richard Pearson (Druce), Joan Sims (Fanny Pratt), Leigh Lawson (Alfred Pratt), Gwen Nelson ­(Hermione Davis), Robert Harris (Richter).

170 Min / Farbe / Digital HD / E/d // REGIE George Cukor // DREHBUCH Alan Jay Lerner, nach dem Musical von Alan Jay Lerner, Frederick Loewe, nach «Pygmalion» von George Bernard Shaw // KAMERA Harry Stradling // MUSIK André Previn, Alan Jay Lerner, Frederick Loewe // SCHNITT ­William Ziegler // MIT Audrey Hepburn (Eliza Doolittle), Rex Harrison (Prof. Henry Higgins), Stanley Holloway (Alfred P. Doolittle), Wilfrid Hyde-White (Col. Hugh Pickering), Gladys Cooper (Mrs. Higgins), Jeremy Brett (Freddie Eynsford-Hill), Theodore Bikel (Zoltan Karpathy), Mona Washbourne (Mrs. Pearce), Isobel Elsom (Mrs. Eynsford-Hill), John Holland (Butler), John Alderson (Jamie).

LOVE AMONG THE RUINS USA 1975 1975, zu einem Zeitpunkt, als Cukor einer der letzten aktiven Veteranen des alten Hollywoodkinos war, drehte er seinen ersten Fernsehfilm; dieser brachte nicht nur nach Jahren wieder eine Zusammenarbeit mit Katharine Hepburn, es wurde auch sein letzter runder und persönlicher Film. Die männliche Hauptfigur, ein Barrister,

> My Fair Lady.

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21 Französische Filme der zwanziger Jahre

Das erste goldene Zeitalter Im Paris der zwanziger Jahre glühten die Filmemacher vor Begeisterung über die Möglichkeiten ihres jungen Mediums. Unser Filmdozent Fred van der Kooij widmet diesen «années folles» seine traditionelle Herbstvorlesung, und wir zeigen 17 Beispiele für den Formenreichtum, der sich zwischen Leuten wie Man Ray und Germaine Dulac, Jacques Feyder, Julien Duvivier und Abel Gance offenbart. In seinem Traktat über die Malerei stellt Leonardo da Vinci fest, dass es für das Bildermachen bloss zwei Themen gibt: den Menschen und das, was er im Kopf hat («il concetto della mente sua»). Das erste, fügte er lakonisch hinzu, sei einfach, das zweite schwierig. Als sich zu Anfang des vorigen Jahrhunderts auch in Frankreich einige aufmachten, das noch piepjunge Kino als Kunst zu entdecken, wählten sie Letzteres: das Vertrackte, die Leinwand als Projektionsfläche der concetti della mente. «Dieses Unsichtbare, das dennoch real da ist», so die grosse Filmpionierin Germaine Dulac, «fängt der Film ein!» So begann das erste goldene Zeitalter des französischen Films, wie immer gewürzt mit jener feinen Prise gallischen Nationalstolzes, der sich etwa im Jahr 1921 zeigte, als Das Cabinet des Dr. Caligari in Paris Premiere hatte und ein Kritiker (nicht ganz grundlos übrigens) bemerkte, dass die Wirkungen dieses deutschen Films ausschliesslich im Dekor lägen, während bei einem französischen Film wie El Dorado von Marcel L’Herbier alle Wirkungen von der Kamera erzeugt würden – und das sei, mit Verlaub, nun mal filmischer. Und tatsächlich, über die Leinwände seiner Heimat huschten die Bilder mitunter in delirierender Unschärfe; mal traumhaft verzögert, mal wie ein Sperrfeuer in Einzelbildchen zerlegt. Weg vom Stativ flog die Kamera durch die Lüfte oder liess die Personen und Gegenstände zerfliessen, als sei das Objektiv eine Kochplatte, auf der die Welt voller Entzücken dahinschmelzen dürfe. «Die Kraft dieser neuen Kunst ist enorm, denn sie stellt alle Naturgesetze auf den Kopf», rief der Dichter ­Philippe Soupault aus, noch torkelnd beim Verlassen des Kinosaals. Und dennoch: Abstraktheit war dabei keineswegs das Ziel, galt es doch, wie ein Filmtheoretiker der ersten Stunde etwas blumig formulierte, «die Musik der Seele zu fotografieren». Nur dazu traten Personen vor die Kamera, wie vor ein Röntgengerät, verwandelt – so Jean Cocteau – in «eine albasterne Rasse von Wesen, die von innen her glühten».

< Im Fest- und Bildertaumel: Jean Grémillons Filmgedicht Maldone von 1928


22 Atlantis, gebaut aus Nitrat Noch heute schlägt einem in den Filmen eines Jean Epstein, Man Ray, Jean Grémillon oder Dimitri Kirsanoff die schier tropische Glut eines gerade erst entdeckten Kontinents entgegen. Die Erregung über dieses bloss aus Nitrat gebaute Atlantis lässt sowohl die Hand an der Kurbel der Stummfilmkamera wie die Schere über dem Montagetisch erzittern. Und man hat das Gefühl, als ob alles, was der Film kann oder einst können wird, in einem einzigen intuitiven Rausch erfasst oder zumindest erahnt wurde. Sogar die künftigen Sackgassen sind hier bereits mit Warnschildern versehen. Wenn ich etwa heute in einem Anfall von unentschuldbarer Naivität Kollegen und Filmstudenten frage, was sie denn zum Film geführt hat, kommt immer die gleiche Antwort: «Geschichten erzählen.» Es ist zum Weinen. Erkannte doch bereits Jean ­Epstein in den frühen zwanziger Jahren, dass «das Kino nicht besonders für Stories taugt. So lässt sich das Leben dort nicht einfangen. Im Kino gibt es darum keine Geschichten, es gibt nur Situationen, die von allen Seiten betrachtet werden.» Also, macht endlich! Faites vos jeux, mesdames, messieurs. Wie war es aber möglich, dass gute zehn Jahre lang eine Filmkultur existierte, die ungehemmt auf Entdeckungsreise gehen durfte? Schliesslich ist das Kino Orson Welles zufolge und wie er selbst leidvoll erfahren musste, «die teuerste Modelleisenbahn der Welt», weshalb bei diesem Spiel höchst ungern Checks für schwer kalkulierbare Kühnheiten ausgestellt werden. Hier die Lösung dieses Rätsels: Zu Beginn der zehner Jahre hatte Frankreich in Sachen Film so etwas wie ein Monopol. Laut dem Filmhistoriker ­Richard Abel (French Cinema. The First Wave, Princeton 1984) kamen damals neunzig Prozent aller weltweit vorgeführten Filme von dort. Doch die Konkurrenz schlief nicht, und noch bevor der Erste Weltkrieg ausbrach, schrumpfte der Anteil auf ein Drittel, und man brauchte keinen ausgeprägten Hang zum Pessimismus, um zu erahnen, dass ein Zusammenbruch bevorstand. Und tatsächlich: Schon 1914 waren von den 20 000 Metern, die in Paris an einem beliebigen Stichtag des Jahres 1914 durch die Projektoren liefen, 17 000 Meter ausländischer Herkunft. Frankreich hatte sich in wenigen Jahren von einer kinematografischen Weltmacht zur Kinoprovinz heruntergewirtschaftet. Eine befreiende Katastrophe Aber gerade diese ökonomische Katastrophe stellte sich nun als Glücksfall für den künstlerischen Film heraus. Ob man’s glaubt oder nicht, das erste grosse Zeitalter des französischen Films wurde auf einem heillos bankrotten Fundament errichtet. Pathé musste Abel Gance feuern und Gaumont Jacques Feyder; die einstigen Geschäftsgiganten setzten ihre besten Leute auf die Strasse, aber, wie sich herausstellte, damit auch in die Freiheit. Feyder lieh sich umgehend von einem Bankier, den er genetisch bedingt Onkel nennen durfte,


23 600 000 Francs, einen Betrag, den er dann während einer zweijährigen Drehzeit um weitere anderthalb Millionen Schulden aufstockte, um damit L’Atlantide (1921) zu erschaffen, einen der bildschönsten Filme seiner Zeit – der sich als ein enormer Kassenschlager herausstellte. Damit war der Damm gebrochen, brauchte es doch überhaupt keine weiteren Beweise mehr: Ein ans Kriminelle grenzendes Finanzgebaren ermöglicht grosse Kunst! Denn seien wir ehrlich, welcher Regisseur lässt sich schon von der Arbeit abhalten, nur weil sein Produzent zwischendurch ins Schuldgefängnis verschwindet oder – dies aber bitte erst nach Abschluss der Dreharbeiten – gar nicht mehr auffindbar ist? Spekulationsgelder von überall her halfen zwar der einstigen Industrie nicht wieder auf die Beine, aber ein Klima für ästhetische Abenteuer schufen sie allemal. Neben deutschem war es vor allem russisches Kapital, das den ersten Grossmeistern des französischen Films ihre Höhenflüge ermöglichte. Denn Paris war zum bevorzugten Exil steinreicher Russen geworden, die vor Lenins Revolution geflüchtet waren und mit ihren Moneten nichts anzufangen wussten. Und das ist in jener höheren Gesellschaft immer der Moment, wo die Lockrufe der Kunst am süssesten klingen. Einer der grössten Filme aller Zeiten, Abel Gances Napoléon (1927), dieses in jeder Hinsicht gigantische Werk, dessen Herstellung Abermillionen verschlang, konnte nur so finanziert werden. Da ausnahmslos alle französischen Filme jener Jahre auf diesem produktiven Treibsand gebaut wurden, warten auch jene, die sich hemmungslos dem Publikumsgeschmack verschrieben, mit stilistischen Überraschungen auf – wie etwa das Werk Julien Duviviers aus jener Zeit zeigt. Kurz, die meine Vorlesungen begleitende Retrospektive kann aus einer wahren Fundgrube schöpfen, auf dass erfüllt werde, was Blaise Cendrars bereits im Jahr 1919 erahnte: «Über den Köpfen der Zuschauer wird sich ein leuchtender Lichtkegel räkeln wie ein Delfin.» Fred van der Kooij


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> La petite marchande d'allumettes.

> MĂŠnilmontant.


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Französische Filme der zwanziger Jahre. Jacques Willemetz // MIT Maguy Deliac (Marthe), Pierre

L'HIRONDELLE ET LA MÉSANGE Frankreich 1920 «Eine einfache Geschichte: Ein Frachtkahn, ein Schiffer, der nebenbei Diamanten schmuggelt, ein junger Strolch, der sich, um das Versteck des Schatzes herauszufinden, als Matrose anheuern lässt und die Tochter des Chefs verführt. (…) ­Selten geht ein Film so bis zum Ende auf die Gefühle seiner Personen ein, ohne ihnen etwas zu schenken, ihnen so wenig wie den Zuschauern. L’hirondelle et la mésange verzichtet auf alle Theatereffekte, auf billige Dramatisierung, die Entwicklung der Geschichte scheint mit jeder Einstellung neu aus den Gefühlsregungen der Figuren zu entstehen.» (Bertrand Tavernier, Positif, Mai 1984) «André Antoine, der glühende Verfechter des Naturalismus im französischen Theater und recht eigentlich Begründer des modernen Regietheaters in Frankreich (…) fand im Film ein ihm gemässes Medium. Entsprechend stark nutzte er die dokumentarischen Möglichkeiten der Kamera, um seine Geschichten in einem sie prägenden Milieu zu verankern: (…) In L'hirondelle et la mésange versetzt er uns mitten in den Alltag von Kanalschiffern. (…) Der einzige Film Antoines, den er nach einem Originaldrehbuch drehen konnte, ist das am radikalsten realistische unter seinen Werken – zu radikal allerdings für den Produzenten, der das gedrehte Filmmaterial unmontiert ins Archiv abschob, wo es glücklicherweise erhalten blieb, so dass dieses Meisterwerk mehr als sechzig Jahre später von Henri Colpi fertig gestellt werden konnte.» (Martin Girod, NZZ, 28.10.2005) ca. 80 Min / Farbe (tinted) und sw / 35 mm / Stummfilm, f. Zw'titel // REGIE André Antoine // DREHBUCH Gustave ­Grillet // KAMERA René Guychard, Léonce-Henri Burel // SCHNITT

­Alcover (Michel), Louis Ravet (Pierre Van Groot), Jane Maylianes (Griet Van Groot). Restaurierung und Kopie: Cinémathèque française

Filmeinführung und Buchvernissage DO, 31. OKT. | 20.45 UHR Der Zürcher Filmwissenschaftler Guido Kirsten wird sein soeben erschienenes Buch «Filmischer Realismus» vorstellen und dabei insbesondere auf Antoines L'hirondelle et la mésange eingehen. Dauer: ca. 20 Min.

LA SOURIANTE MADAME BEUDET Frankreich 1923 La souriante Madame Beudet ist vielleicht Germaine Dulacs bekanntester Film. «Von Feministinnen begeistert aufgenommen, widmet er sich einer modernen Madame Bovary, einer Hausfrau in der Provinz, die den Quälereien durch ihren ungehobelten Mann mit imaginierten Ausflügen in eine ausserordentlich reiche Fantasiewelt entflieht.» (Sandy Flitterman-Lewis: To Desire Differently, Columbia 1990) «Mit La souriante Madame Beudet ist es Germaine Dulac gelungen, ihrem filmischen Ideal von der ‹visuellen Symphonie› sehr nahe zu kommen. (…) Ohne pädagogische Absicht und ohne moralische Schuldzuweisung hat Dulac die bürgerliche Ehe aus der Sicht der unterdrückten Ehefrau geschildert, nicht ohne Witz und Ironie. Der Film bleibt eines der wenigen avantgardistischen Werke der zwanziger Jahre, in denen die Frau nicht verzerrt, idealisiert oder zum Lustobjekt stilisiert dargestellt wird. Aber Germaine Dulac will keine explizit feministischen Filme machen, sondern das Kino befreien.» (Catherine Silberschmidt, in: Germaine Dulac, Kinemathek Nr. 93, Berlin 2002)

VAN DER KOOIJ ÜBER DULAC, DUVIVIER & CO.

VORLESUNGSREIHE AB MI, 9. OKT. | 18.30 UHR

Ins siebte Jahr geht diesen Herbst die Liaison des Filmpodiums mit dem holländisch-­ zürcherischen Filmdozenten Fred van der Kooij, der diesmal anhand von reichem Anschauungsmaterial die «treize années de cinéma pur» von 1920 bis 1933 analysiert, in ­denen französische Filmemacher unbekümmert am wirtschaftlichen Abgrund tanzten und das ganze berauschende Spektrum des noch jungen Mediums Films ausloteten. Auf die 90-minütige Vorlesung folgt nach einer Verpflegungspause, wie stets, ein Filmprogramm mit speziellem Bezug zum vorher Erläuterten. Tickets für Vorlesung und Film sind separat erhältlich.


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Französische Filme der zwanziger Jahre. ca. 37 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, dt. + f. Zw'titel // REGIE Germaine Dulac // DREHBUCH André Obey, nach dem Theaterstück von Denys Amiel, André Obey // KAMERA Maurice Forster, Paul Parguel // MIT Germaine Dermoz (Mme ­Beudet), Alex Arquillière (M. Beudet), Jean d'Yd (M. Labas), ­Madeleine Guitty (Mme Labas), Yvette Grisier (das Dienstmädchen), Raoul Paoli (der Tennismeister).

LE RETOUR À LA RAISON Frankreich 1923 «Man Rays erster wichtiger Experimentalfilm war ein anfänglicher Versuch, Serien von gegenständlichen Darstellungen gegen Abstraktionen zu setzen – wobei diese Abstraktionen Weiterführungen seiner Rayographien waren, die er jetzt filmisch umsetzte, indem er Reisszwecken, Nadeln, Salz und andere Gegenstände auf den Filmstreifen legte, belichtete und dann entwickelte. Wie in den frühen Rayographien betonte er die Materialität des Films dadurch, dass er teils direkt auf diesem schrieb – wobei das Geschriebene nicht mehr zu lesen ist, wenn der Film im Anschluss projiziert wird.» (medienkunstnetz.de) ca. 3 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, f. Zw'titel // REGIE Man

der Ansicht, dass nur Filme mit einer nationalen Prägung wirklich international erfolgreich sein könnten. Dass nur das künstlerisch Singuläre das Interesse der Menschen auf den fünf Kontinenten wecken könnte. Dies war in der Zeit der kosmopolitischen Ansätze höchst revolutionär.» (arte.tv, 26.8.2011) Die vorliegende digitale Restauration durch die Cinémathèque française von 2009 zeigt den Film erstmals seit vielen Jahren mit nach den originalen Angaben eingefärbten Szenen. Bis anhin kannte man nur eine restaurierte Version in Schwarzweiss. Feyder selbst bevorzugte die eingefärbte Fassung. (Quelle: Cinémathèque française, www.bifi.fr) 130 Min / viragiert / DCP / Stummfilm, f./dt. Zw'titel // REGIE Jacques Feyder // DREHBUCH Jacques Feyder, nach dem ­Roman von Frédéric Boutet // KAMERA Maurice Desfassiaux, Maurice Forster // MIT Jean Forest (Antoine Belot, «Gribiche»), Rolla Norman (Phillippe Gavary), Françoise ­ ­Rosay (Edith Maranet), Cécile Guyon (Anna Belot), Charles Barrois (Marcelin), Alice Tissot (Englischlehrerin), Andrée Canti (Gouvernante), Hubert Daix (M. Veudrot).

MÉNILMONTANT Frankreich 1926

Ray // SCHNITT Man Ray // MIT Kiki de Montparnasse.

CINQ MINUTES DE CINÉMA PUR Frankreich 1926 «Henri Chomette, der Bruder von René Clair war eine führende Figur der französischen Avantgardefilmbewegung, die ein ‹reines Kino› (cinéma pur) forderte. Dies sollte sich von narrativen Elementen lösen und allein von Formen, Licht, Bewegung und Rhythmus geleitet sein. Cinq minutes de cinéma pur war ursprünglich Teil eines Projekts A quoi rêvent les jeunes films?, an dem Chomette zusammen mit Man Ray arbeitete.» (Internationale Stummfilmtage Bonn, 2013) 5 Min / sw / 35mm / Stummfilm, f. Zw'titel // REGIE Henri

«Die Geschichte zweier Schwestern, die in einem Pariser Arbeiterviertel wohnen. Kirsanow gibt die Stimmung der Pariser Strassen, der kleinen Häuser, der armseligen kleinen Hotels und Mietwohnungen treffend wieder. Ähnlich wie Germaine Dulac verglich er den Film mit einem Musikstück, wobei nach seiner Meinung die einzelnen Bilder den Akkorden entsprechen.» (Jerzy Toeplitz: Geschichte des Films, 1975) ca. 30 Min / sw / 16 mm / Stummfilm, f. Zw'titel // DREHBUCH UND REGIE Dimitri Kirsanoff // KAMERA Dimitri Kirsanoff, Léonce Crouan // SCHNITT Dimitri Kirsanoff // MIT Nadia ­Sibirskaïa (die junge Frau), Yolande Beaulieu (ihre ältere Schwester), Guy Belmont (der Verführer), Jean Pasquier, Maurice Ronsard.

­Chomette.

GRIBICHE Frankreich 1926 Restaurierte Fassung «Ein kleiner Arbeiterjunge wird von einer reichen amerikanischen Familie adoptiert. Trotz des Wohlstands, der ihn umgibt, vermisst der Junge sehr schnell seine ursprüngliche Umgebung und flieht zurück zu seiner richtigen Mutter. (…) Feyder verstand es, Avantgarde und kommerzielles Kino in seinem Werk zu versöhnen. Er war

LA CHUTE DE LA MAISON USHER Frankreich/USA 1928 «Die Geschichte von Roderick Usher und seiner Zwillingsschwester Magdalena, die in einer Gruft des Schlosses scheintot begraben wird und sich erst nach unendlichen Qualen befreien kann. Sie und ihr übersensibler Bruder sterben in einer verzweifelten Umarmung an den Folgen des schockierenden Erlebnisses. Das Stammschloss der Usher birst und versinkt im Schlossgraben. Die Handlung ist Poe Anlass für ein makabres Ge-


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Französische Filme der zwanziger Jahre. mälde, in dem das schaurige Detail ebenso seinen Stellenwert hat wie bedrängende Träume und verzweifelte Gedanken. Epstein hat diese Atmosphäre in suggestiven Bildern beschworen.» (Reclams Filmführer) Die neuen französischen Regisseure der zwanziger Jahre – Delluc, Dulac, L'Herbier, Gance, Epstein – «forderten eine streng visuelle Ästhetik als Grundlage der Filmkunst. Man entdeckte die besonderen Möglichkeiten der Filmsprache, und der Begriff vom ‹spezifisch Filmischen› erlangte Bedeutung. Aus dem Spiel von Licht und Schatten, aus der Bewegung und dem Rhythmus, aus der Stilisierung der Objekte sollte die Suggestivkraft des Filmbildes erwachsen – aus lauter visuellen Werten also; den Fluss der Bilder in ihrem Rhythmus empfand man als eine eigene Art von ‹Musik›. Nicht jedoch die rhythmische Anordnung des Materials allein galt vorläufig als Hauptziel, sondern das Andeuten des Unsagbaren, die Evokation von Stimmungen, Gedanken und Gefühlen jenseits des Erzählbaren. Die Ambitionen der neuen Künstlergruppe, die man auch als erste französische Avantgarde (im Gegensatz zu den späteren Richtungen des cinéma pur und des Surrealismus) zu bezeichnen pflegt, zielten auf einen subtilen Impressionismus des Schnitts und der Fotografie.» (Ulrich Gre-

zff.com / starticket.ch

gor/Enno Patalas: Geschichte des Films) ca. 63 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, f. Zw'titel // REGIE Jean Epstein, Regieassistenz: Luis Buñuel // DREHBUCH Jean Epstein, nach Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe // KAMERA Georges Lucas, Jean Lucas // MIT Marguerite Gance (Lady Madeleine Usher), Jean Debucourt (Sir Roderick Usher), Charles Lamy (Allan), Fournez-Goffard (Arzt), Luc Dartagnan (Diener), Pierre Hot, Pierre Kéfer.

LA PETITE MARCHANDE D'ALLUMETTES Frankreich 1928 «Allzu oft ist Jean Renoir simplifizierend als Realist oder Poet beschrieben worden. Dieses kleine Stummfilm-Juwel nach Hans Christian Andersen straft beide Einordnungen Lügen – ebenso wie die viel zitierte Versicherung des Regisseurs, dass er eigentlich bloss den gleichen Film wieder und wieder gemacht habe. Denn als das kleine Streichholzmädchen (Renoirs damalige Frau Catherine Hessling) träumend im Schnee liegt und sich ihre Möchtegern-Kunden in Spielzeugsoldaten, ein Polizist in ein Springfeder-Teufelchen verwandeln, schwelgt Renoir einerseits in diversen opti-

Filmpodium Kino corso

Main Partner Co-Partner

Arthouse Le Paris Arena Cinemas


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> Quatorze Juillet.

> Au bonheur des dames.

> L'argent.


Französische Filme der zwanziger Jahre. schen Effekten und macht zugleich das Delirium des sterbenden Mädchens zum Thema. Die Bildsprache, eine ausserordentlich wirkungsvolle Mischung von Impressionismus und Expressionismus, schafft einen ungemein anrührenden Zauber, der Renoirs Verwurzelung in der Avantgarde hervorkehrt.» (Geoff Andrew, Time Out Film Guide) ca. 30 Min / sw / 35 mm / Stummfilm // REGIE Jean Renoir, Jean Tedesco // DREHBUCH Jean Renoir, nach dem Märchen von Hans Christian Andersen // KAMERA Jean Bachelet // SCHNITT Jean Renoir // MIT Catherine Hessling (Karen, das

Wie üblich arbeitete L’Herbier mit begabten Künstlern zusammen, in diesem Fall mit Lazare Meerson und André Barsacq, die für die visuelle Gestaltung verantwortlich zeichnen. (…) Geschmeidig schlängelt sich Brigitte Helm durch züngelnd, emporragende Apartments, eingehüllt in silbrige Zickzacks, jedes einzelne ihrer Kostüme ein aufsehenerregendes Statement. (…) Dies war das Zeitalter, in dem Filmkostüme nicht bloss etwas über die Figuren aussagten, sondern opulente Kunst waren, frei von Realismus.» (David Cairns, Sight & Sound, Juni 2013)

Mädchen mit den Schwefelhölzern), Jean Storm (Axel Ott, der Soldat), Amy Wells (die mechanische Puppe), Comtesse

ca. 195 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, f. Zw'titel // REGIE Mar-

Tolstoï (die Dame mit dem Hund), Madame Heuschling (eine

cel L'Herbier // DREHBUCH Arthur Bernède, Marcel L'Herbier,

Passantin), Guy Ferrant, Kira Makaroff.

nach dem Roman von Emile Zola // KAMERA Jules Kruger // MIT Brigitte Helm (Baronin Sandorf), Marie Glory (Line Hamelin), Pierre Alcover (Nicolas Saccard), Yvette Guilbert (La Mé-

L'ÉTOILE DE MER Frankreich 1928

chain), Alfred Abel (Alphonse Gundermann), Henry Victor (Jacques Hamelin), Pierre Juvenet (Baron Defrance), Marcelle Pradot (Gräfin Aline de Beauvilliers), Antonin Artaud (Mazaud), Jules Berry (Huret), Raymond Rouleau (Jantrou).

«Man Rays L’étoile de mer geht auf ein poetisches Skript des befreundeten französischen Dichters Robert Desnos zurück, der sich in seinen ‹Traumprotokollen› mit der Erforschung des Unterbewussten auseinandersetzte. Mit L’étoile de mer vollzog Man Ray die Wendung zum Surrealismus. Der Film kreist um einen Seestern, dichterisches Symbol der Träume und Wünsche des Protagonisten. Der Seestern wird für ihn zur Obsession und verhindert die Erfüllung seiner Liebessehnsucht.» (Stummfilmfestival Schaubühne Lindenfels 2012) ca. 20 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, f. Zw'titel // REGIE Man Ray // DREHBUCH Robert Desnos, nach seinem Gedicht // KAMERA Man Ray // MIT Kiki de Montparnasse (eine Frau), André de la Rivière (ein Mann), Robert Desnos (ein anderer Mann).

L'ARGENT Frankreich 1928 Restaurierte Fassung

MALDONE Frankreich 1928 Restaurierte Fassung «Der Misanthrop Maldone arbeitet in den Kanälen, verliebt sich in eine Zigeunerin, kommt aber dann zu einer Erbschaft. Aus dieser dürftigen Geschichte macht Grémillon eine einzigartige visuelle Erfahrung von einer halluzinatorischen Intensität. Mit jedem Schauplatz wechselt der Stil, und der Film bietet unvergessliche Bilder: die fiebrige Sommerhelligkeit der Kanalszenen, das matte Art-déco-Kasino, die wildwirbelnde Exstase auf dem Tanzboden. Das Ergebnis ist ein klassisches Leinwandgedicht.» (Katalog Edinburgh International Film Festival 2013) 90 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, f. Zw'titel // REGIE Jean Grémillon // DREHBUCH Alexandre Arnoux // KAMERA Christian Matras, Georges Périnal // MUSIK Jacques Brillouin, Marcel Delannoy // SCHNITT Emmanuel Nicolas, Hen-

«Nach hohen Aktienverlusten seiner Bank, herbeigeführt durch den Rivalen Alphonse Gunderman, ist der zwielichtige Spekulant Nicolas Saccard am Rande des Ruins. Seine Aktien steigen wieder, als er Falschmeldungen über den von ihm finanzierten Abenteuerflieger Jacques Hamelin verbreitet. Doch dessen Frau Line kommt Saccard auf die Spur und verklagt ihn wegen Aktienschwindels.» (arte.tv, 23.6.2009) «Für seinen letzten Stummfilm zog L’Herbier alle Register. Er gestaltete ein Epos der Hochfinanz mit einer entfesselten Kamera, die über den Köpfen pendelt, Wände überfliegt oder an einem Seil wirbelnd mitten in die Börse herabfällt. (…)

riette Pinson // MIT Charles Dullin (Olivier Maldone), Marcelle Charles-Dullin (Missia), Geymond Vital (Marcellin Maldone), André Bacqué (Juste Maldone, der Onkel), Georges Séroff (Léonard), Annabella (Flora Lévigné), Roger Karl (Vater Lévigné), Genica Athanasiou (Zita).

MONTPARNASSE Frankreich 1929 «Eugène Deslaw zählte, wie Germaine Dulac, Jean Epstein oder René Clair, zur Avantgarde, deren erste Kapitale zweifellos Paris war. Montparnasse,

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Französische Filme der zwanziger Jahre. seine Bilddichtung von 1930, ist ein Werk des visuellen Somnambulismus: reportageartiges, ‹rhythmisch geformtes Abbild des sichtbaren bewegten Seins› (Fritz Rosenfeld).» (Viennale 2007)

Maddie (Clara), Mireille Barsac (Madame Aurélie),Nadia Sibirskaïa (Geneviève Baudu), Germaine Rouer (Madame ­ Desforges), Pierre de Guingand (Octave Mouret), Armand ­ Bour (Baudu), Andrée Brabant (Pauline), Adolphe Candé ­(Baron Hartmann), Albert Bras (Bourdoncle), Fabien Haziza

10 Min / sw / 35 mm / Stummfilm, f. Zw'titel // REGIE Eugène

(Colomban).

Deslaw.

THÈMES ET VARIATIONS Frankreich 1929 «Dulacs Konzept des ‹cinéma pur› bezieht sich sehr stark auf die rhythmischen Gesetze der Musik. Anstelle einer Narration tritt der Rhythmus als sinnstiftendes Element. In Thèmes et variations kehrt sie den Schwerpunkt von Légers Vergleich zwischen Mensch und Maschine um. Balletttänzerinnen und Maschinen werden metrisch ineinander geschnitten, ihre Bewegungsmuster werden von einer Einstellung zur nächsten getragen.» (Catherine Silberschmidt, FilmpodiumProgrammheft, Nov./Dez. 2005) ca. 10 Min / sw / 16 mm / Stummfilm, f. Zw'titel // REGIE ­Germaine Dulac.

AU BONHEUR DES DAMES Frankreich 1930 Restaurierte Fassung «Die junge Waise Denise folgt der Einladung ihres Onkels nach Paris in der Hoffnung auf eine Anstellung in seinem Stoffgeschäft. Doch der Onkel ist fast bankrott, denn genau gegenüber hat ein neuartiges Kaufhaus eröffnet: ‹Das Paradies der Damen› [so der deutsche Titel des Films], das dem alten Mann reihenweise die Kundinnen abwirbt. Denise entschliesst sich, im Kaufhaus eine Anstellung zu suchen und verliebt sich prompt in den Besitzer. (…) Julien Duvivier drehte Au bonheur des dames in den Galeries Lafayette in Paris. Der Film ist eine Momentaufnahme der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die geprägt war durch die Spätindustrialisierung und die damit einhergehenden gesellschaftlichen Umwälzungen. Der Massenkonsum hält Einzug, die Menschen wollen Wohlstand und entdecken neue materielle Bedürfnisse. Diese Veränderungen, so zeigt Duvivier in seinem Film, können in Konflikt stehen zu konservativen Werten wie Ehrlichkeit, Familie und Höflichkeit.» (arte.tv, 24.5.2012) 85 Min / sw / DCP / Stummfilm, f. Zw'titel // REGIE Julien Duvivier // DREHBUCH Noël Renard, nach dem Roman von Emile Zola // KAMERA André Dantan, René Guychard, Emile Pierre, ­Armand Thirard // MIT Dita Parlo (Denise Baudu), Ginette

QUATORZE JUILLET Frankreich 1932 «Auf einem Fest zum Nationalfeiertag gesteht der Taxifahrer Jean der Nachbarstochter Anna seine Liebe. Doch seine frühere Geliebte, die in Ganovenkreisen verkehrt, gewinnt ihn wieder zurück. Er beteiligt sich an einem Einbruch ins Café, in dem Anna nach dem Tod ihrer Mutter Spülhilfe geworden ist. Ein Jahr später, abermals am 14. Juli, begegnen sich Jean und Anna erneut, und jetzt besiegeln sie ihr Glück. René Clair verzaubert mit einer poesievollen Beschreibung vom Paris der kleinen Leute und des Ganovenmilieus. Ein sentimental-ironisches Meisterstück.» (Lexikon des int. Films) «Der 14. Juli ist in Frankreich der wichtigste Nationalfeiertag und war zu Zeiten der Front Populaire ein wirkliches Volksfest, mit dem sich die Anhänger des linken Parteienbündnisses – wenn man den Dokumentarfilmen Glauben schenken darf, fast ganz Paris – selber feierten. Von dieser positiven Grundstimmung ist schon Clairs Film erfüllt, in dem die Bewohner der Stadt fast wie in einer Collage, die nur durch eine kleine Liebesgeschichte zwischen einem Blumenmädchen und einem Chauffeur zusammengehalten wird, beobachtet werden. Wie ein Flaneur mischt sich Clair unter die Menschenmenge und sammelt Szenen ein, die das Leben unter den Dächern von Paris voller Einfallsreichtum wiedergeben.» (Zeughauskino Berlin, April 2005) 86 Min / sw / 35 mm / F // DREHBUCH UND REGIE René Clair // KAMERA Georges Périnal // MUSIK Maurice Jaubert // SCHNITT René Le Hénaff, René Clair // MIT Annabella (Anna), Georges Rigaud (Jean), Pola Illery (Pola), Raymond Cordy (Raymond), Raymond Aimos (Charles), Paul Ollivier (M. Imaque), Thomy Bourdelle (Fernand), Anne Lefeuvrier (Annas Mutter).

LA TÊTE D'UN HOMME Frankreich 1933 «Kommissar Maigret ermöglicht dem wegen Mordes zum Tode verurteilten Joseph Heurtin die Flucht aus dem Gefängnis, da er von dessen Unschuld überzeugt ist und hofft, auf diese Weise den wahren Täter zu fassen. Als der wahre Charakter dieser Befreiung in einem Zeitungsartikel entlarvt wird, stösst Maigret auf den mysteriösen


Französische Filme der zwanziger Jahre. Radek, der mehr über Heurtin zu wissen scheint, als er sollte.» (Filmtage Tübingen 2003) «Eine der ersten grossen Leinwandinkarnationen von Georges Simenons berühmter Spürnase, Inspektor Maigret. Nur Monate nachdem Jean Renoir La nuit de carrefour mit seinem Bruder Pierre drehte, reichte Duvivier die Pfeife an Harry Baur weiter. Das Resultat war genauso grüblerisch elektrisierend. Maigret durchforscht überfüllte Montparnasse-Cafés und schäbige Mietshäuser, während er mit einem nihilistischen, Dostojewskischen Mörder Katz-und-Maus spielt (packende Darstellung des russischen Emigranten Inkijinoff). Sowohl ein klassischer Film noir als auch ein wegweisendes Polizeiverfahren.» (Lenny Borger, MoMA, Mai 2009)

«In Ludwig van Beethovens Wirken zwischen unerfüllter Liebe, Taubheit, Schwermut und Tod entdeckte der Napoléon-Regisseur Abel Gance 1936 jene heroische, ja tragisch-titanische Grösse, die sich für seinen genial-masslosen Stil am besten eignete. Ein pathetisches Werk mit subtilen Einfällen, grandios selbst im Kitsch und mit einem fabelhaften Harry Baur in der Titelrolle.» (Bruno Jaeggi, BaZ, 12.12.1986) Die zeitgenössische Kritik warf Gance biografische Ungenauigkeit vor, doch ihm ging es ­primär «um das Geniale der Musik, das aus dem L ­ eiden erwächst, um die Transformation des menschlichen Schmerzes.» (Abel Gance, 1955) 116 Min / sw / 35 mm / F/d // REGIE Abel Gance // DREHBUCH Abel Gance, Steve Passeur, nach den Biografien von Romain

100 Min / sw / 35 mm / F // REGIE Julien Duvivier // DREH-

Rolland, Edouard Herriot // KAMERA Marc Fossard, Robert

BUCH Pierre Calmann, Louis Delaprée, Julien Duvivier, nach

Lefebvre // MUSIK Ludwig van Beethoven, Louis Masson //

dem Roman von Georges Simenon // KAMERA Armand

SCHNITT Marguerite Beaugé // MIT Harry Baur (Ludwig van

Thirard // MUSIK Jacques Belasco // SCHNITT Marthe Pon-

Beethoven), Annie Ducaux (Therese von Brunswick), Jany

cin // MIT Harry Baur (Kommissar Jules Maigret), Alexandre

Holt (Giulietta Guicciardi), Jane Marken (Esther), Jean-Louis

Rignault (Joseph Heurtin), Valéry Inkijinoff (Radek), Gaston

Barrault (Karl van Beethoven), Jean Debucourt (Graf von Gal-

Jacquet (Willy Ferrière), Louis Gauthier (Richter), Henri

lenberg), Pauley (Ignaz Schuppanzigh), Lucas Gridoux

Echourin (Insp. Ménard), Marcel Bourdel (Insp. Janvier).

(Smeskall), André Nox (Humpholz), Marcel Dalio (Stiner), ­André Bertic (Johann van Beethoven).

UN GRAND AMOUR DE BEETHOVEN Frankreich 1936 Wien 1801. Beethoven steht mit 31 Jahren auf dem Höhepunkt seines Ruhms, doch seine Liebe zu Therese von Brunswick bleibt unerfüllt.

> La tête d'un homme.

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32 Das erste Jahrhundert des Films: 1983

Überraschende Aktualitäten Aus dem kommerziellen Kino der frühen achtziger Jahre ist Videodrome gewuchert: In einer faszinierenden Mischung aus Kunst und Trash, ­Körperhorror- und Medientheorien zeigt David Cronenberg einen Alptraum, in dem filmische Fiktionen und Realität untrennbar ineinander verschmelzen. Nicht nur ein emblematischer Film des VHS-Zeitalters, sondern ein prophetischer Kultklassiker, den man heute mit ganz ­anderen Augen sieht als noch vor dreissig Jahren, als er an den ­Kinokassen gnadenlos floppte. Weitere Auswüchse der Moderne werden in Monty Python's The Meaning of Life ins Visier genommen: für die einen der Film mit den ekligsten, für die anderen mit den lustigsten ­Episoden der Filmgeschichte – wer allerdings jemals die urkomische Szene mit dem Pfefferminzbonbon gesehen hat, wird sie nie wieder ­vergessen. Unbestreitbar ist dagegen die bewegende Intensität von ­Shohei Imamuras Die Ballade von Narayama, an dessen Ende eine alte Frau im Weiss des Schnees verschwindet – auch dies ein Bild, das sich in unserem Gedächtnis einbrennt; oder die Schönheit der Bilder von Andrej Tarkowskis Nostalghia, die man wie einen Traum im Kopf behält; oder die erschreckende Aktualität von Gregory Navas El norte, ­­ dem Film über das Schicksal guatemaltekischer Einwanderer in die USA, das sich so auch heute noch jeden Tag wiederholt. (th)

> Nostalghia.

«Das erste Jahrhundert des Films» In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahrgängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d.h. im Jahr 2013 sind Filme von 1913, 1923, 1933 usw. zu sehen, im Jahr 2014 dann Filme von 1914, 1924, 1934 usw.


Das erste Jahrhundert des Films: 1983.

VIDEODROME Kanada 1983 Fernsehproduzent Max Renn hat sich mit seinem Sender «Civic-TV» auf Softcore-Pornos und Hardcore-Gewaltfilme spezialisiert. Auf der Suche nach immer härteren Bildern nimmt einer seiner Techniker Signale eines Untergrundkanals auf Video auf. Das Band zeigt «Videodrome», eine Show, in der eine Frau von maskierten Männern gefoltert wird. Max sieht in dieser Show die Zukunft des Fernsehens – doch löst sie bei ihm bizarre Halluzinationen aus. Reales und Imaginiertes verschmelzen in diesem Kultklassiker untrennbar ineinander, denn erzählt wird konsequent aus der Perspektive von Max. Mit dieser Figur etablierte David Cronenberg seinen Protagonisten-Prototyp, der uns auf der Reise in sein Inneres in seine fiebrigen Fantasien mitnimmt. Videodrome ist ein Hybrid aus Science Fiction, Horrorfilm und Verschwörungsthriller, in dem Cronenberg sein Lieblingsthema der komplexen Koppelung von Körper und Bild, Gewalt und Lust auslebt. Pulsierende Videokassetten, vaginaler Schlitz im Bauch als Videokassettenschacht, fleischig-gallertartige Schusswaffen: ­Videodrome war einer der provozierendsten und umstrittensten Filme des Körperkino-Pioniers;

niemand wusste, wie man ihn vermarkten sollte, und so verschwand der Film nach kurzer Zeit ­wieder aus den Kino. Erst auf Video sollte er zu ­einem Geheimtipp und später zum Opus Magnum Cronenbergs werden. Cronenberg bewies mit diesem Film um paranoide Fantasien über Medien und ihre Wirkung nicht nur seine Sensibilität für den Zeitgeist, sondern er nahm darin bereits alles vorweg, was uns heute umgibt: vom Internet über virtuelle Realität bis hin zu interaktivem Fernsehen. (th) 87 Min / Farbe / Digital SD / E/d // DREHBUCH UND REGIE ­David Cronenberg // KAMERA Mark Irwin // MUSIK Howard Shore // SCHNITT Ronald Sanders // MIT James Woods (Max Renn), Sonja Smits (Bianca O'Blivion), Deborah Harry (Nicki Brand), Peter Dvorsky (Harlan), Leslie Carlson (Barry Convex), Jack Creley (Brian O'Blivion), Lynne Gorman (Masha), Julie Khaner (Bridey), Reiner Schwartz (Moses), David Bolt (Raphael), Lally Cadeau (Rena King).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1983.

SANS SOLEIL Frankreich 1983

MONTY PYTHON'S THE MEANING OF LIFE GB 1983

«In einer Kaskade von Bildern, selbstgedrehten und vorgefundenen, auf einem Trip durch das moderne Japan, aber auch mit Exkursionen nach Guinea-Bissau oder Island, San Francisco oder Paris, misst Sans soleil das Terrain des menschlichen Gehirns aus, seine Denk- und Erinnerungskapazitäten, die Produktivkraft der Imagination. Dabei werden die Elemente der politischen Ordnung neu verhandelt: Gesellschaft und Anarchie, Faschismus und Sozialismus, Krankheit und Gesundheit, Rationalität und Fantasie, Dokument und Fiktion – in einer Ursprünglichkeit, der kein Tabu zu sakrosankt, keine Utopie zu kühn ist. Kreatives Fieber. Kreativer Wahnsinn. Sans soleil ist ein Wendepunkt im modernen Kino.» (Fritz Göttler, SZ, 31.7.2012) «Das Werk, das den Begriff ‹Filmessay› mehr als jedes andere mit Sinn erfüllt hat: Markers in Briefform gehaltene Reflexionen sind weniger klassischer Reisefilm denn ein kühner Versuch über das Funktionieren von Erinnerung in kinematografischer Form. Mit vergleichsweise simplen Mitteln hergestellt (auf 30-Meter-Filmrollen gedreht, ohne Synchronton, ohne Team) verblüfft Sans soleil bis heute durch seine virtuosen Perspektivenwechsel und Zeit-Schichtungen – es ist ein Film, der sich zuletzt ‹selbst erinnert›. Abgesehen von der Filmkritik hat Sans soleil unzählige andere Disziplinen herausgefordert, von der Medientheorie bis zur Gedächtnisforschung. Entstanden an der Schnittstelle von analoger zu digitaler Arbeitsweise, ist der Film im Schaffen Markers ein Wendepunkt, hin zu multimedialen Formen, und eine letzte Hommage an die Bedeutung, die Textur und die Schönheit des Film-Bildes. Ein Meisterwerk.» (Constantin Wulff, Österreich. Filmmuseum Wien, 5/2007)

«Zwischen Kreissaal und Himmel gibt es nichts, was der Komikertruppe Monty Python heilig wäre. In einer Folge von rabiaten und grotesken Sketches ziehen sie Tabus, Klischees und Autoritäten durch den Kakao, und wenn sie in The Meaning of Life vielleicht nicht den ganzen Sinn des menschlichen Daseins zutage fördern, so doch ein ansehnliches Mass an Unsinn. Anders als in ihrer Fernsehserie, wo sie mehr dem zeit- und ziellosen Blödeln frönten, widmeten sich Monty Python in ihrem letzten Spielfilm, der 1983 an den Filmfestspielen von Cannes mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, fast ausschliesslich der Satire. Von unmenschlichen Ärzten bis zu bigotten Katholiken, von der sexuellen Revolution bis zur Masslosigkeit der Konsumgesellschaft, von stumpfsinniger Militärmentalität bis zum pietätlosen Materialismus wurden allerhand Auswüchse der Moderne ins Visier genommen.» (SRF-Spielfilmredaktion, 16.6.2011) «Die Eröffnungssequenz ist eine der besten des Films: Sie zeigt Buchhalter einer Lebensversicherung, die eine Meuterei inszenieren. Nachdem sie die Kontrolle über das schäbige alte Steingebäude erlangt haben: das Gebäude wird zum Schiff, die Angestellten lichten den Anker und segeln gegen die Flotten der modernen Hochhäuser.» (www.rogerebert.com) 103 Min / Farbe / 35 mm / E/d/f // REGIE Terry Jones, Terry Gilliam // DREHBUCH Graham Chapman, John Cleese, Terry Gilliam, Eric Idle, Terry Jones, Michael Palin // KAMERA Peter Hannan ­// MUSIK John Du Prez, Graham Chapman, John Cleese, Terry Gilliam, Eric Idle, Terry Jones, Michael Palin // SCHNITT Julian Doyle // MIT Graham Chapman (Chairman / Fish #1 / Doktor / Harry Blackitt u. a.), John Cleese (Fish #2 / Dr. Spencer / Humphrey Williams u. a.), Terry Gilliam (Window Washer / Fish #4 / Walters u. a.), Eric

100 Min / Farbe / 35 mm / D // DREHBUCH UND REGIE Chris

Idle (Gunther / Fish #3 / Gaston u. a.), Terry Jones (Bert / Fish #6 /

Marker // KAMERA Sandor Krasna, Chris Marker // MUSIK

Mum / Priest / Biggs u. a.), Michael Palin (Window Washer / Harry

Modest Mussorgski, Jean Sibelius // SCHNITT Chris Marker

/ Fish #5 / Pycroft u. a.), Carol Cleveland (Beefeater Waitress / Wife

// MIT Charlotte Kerr (Sprecherin der deutschen Fassung),

of Guest #1 u. a.), Simon Jones (Chadwick/Jeremy Portland-

Arielle Dombasle (Gesangsstimme).

Smyth), Patricia Quinn (Mrs. Williams), Judy Loe (Nurse #1).

Weitere wichtige Filme von 1983

Mortelle randonnée Claude Miller, F

À nos amours Maurice Pialat, F

Pauline à la plage Eric Rohmer, F

Breathless Jim McBride, USA

Return of the Jedi Richard Marquand, USA

Carmen Carlos Saura, Spanien

Rumble Fish Francis Ford Coppola, USA

Crime and Punishment Aki Kaurismäki, Finnland

L'argent Robert Bresson, F

Danton Andrzej Wajda, F/Polen

Le bal Ettore Scola, I

E la nave va Federico Fellini, I

Péril en la demeure Michel Deville, F

El Sur Victor Erice, Spanien

Scarface Brian De Palma, USA

Makioka Sisters Kon Ichikawa, Jap

The King of Comedy Martin Scorsese, USA

Merry Christmas, Mr. Lawrence Nagisa Oshima, Jap/GB

Zelig Woody Allen, USA


Das erste Jahrhundert des Films: 1983.

DIE BALLADE VON NARAYAMA (Narayama-bushi ko) Japan 1983

Japan, Ende des 19. Jahrhunderts, in einem abgelegenen Bergdorf: Nach alter Sitte müssen sich hier die Einwohner mit siebzig Jahren zum Sterben auf den Berg Narayama zurückziehen, um den Jungen nicht länger das Essen streitig zu machen. Tatsuhei, Witwer und Vater zweier Kinder, wird klar, dass er als ältester Sohn in diesem Jahr seine Mutter Orin dorthin begleiten muss. Doch Orin will nicht gehen, bevor sie eine neue Frau für Tatsuhei gefunden hat. «So wie Akira Kurosawa mit Dersu Uzala sein Comeback geschafft hat, gelingt es auch Shohei Imamura mit seinem Die Ballade von Narayama, der 1983 mit der Goldenen Palme in Cannes ausgezeichnet wurde, erneut ins Rampenlicht zu treten. In den siebziger Jahren hatte er eine Reihe kommerzieller Misserfolge erlitten, infolge derer er das Filmemachen praktisch einstellen musste. Die früheren Filme Imamuras mit ihrer vehementen sarkastischen Tonalität und einer sich ständig im Grenzbereich bewegenden emotionalen Intensität scheinen zunächst recht weit entfernt von Die Ballade von Narayama. Und dennoch erkennt man in diesem Werk die ganze Energie und ungezähmte Entschlossenheit des Bilderstürmers, für die der Regisseur bekannt ist.» (Julien Welter, Arte, 7.5.2004)

«Das Animalische, Sexuelle, der ständige Verkehr zwischen Menschen, Tieren sowie Menschen und Tieren, wird humoristisch ausgebreitet, was in krassem Widerspruch zu seinen Folgen steht. Der Sexualtrieb wird gegen sich selbst gewendet in einer Gemeinschaft, in der es keine Ressourcen für den Nachwuchs gibt. Ein transzendenter, charakteristisch ambivalenter Schluss: Orin sichert das Überleben ihres Geschlechts, indem sie im Weiss des Schnees verschwindet.» (Christoph Huber, Österreich. Filmmuseum Wien, 12/2002) 130 Min / Farbe / 35 mm / Jap/d/f // REGIE Shohei Imamura // DREHBUCH Shohei Imamura, nach einem Roman von Shichiro Fukuzawa // KAMERA Masao Tochizawa // MUSIK Shinichiro Ikebe // SCHNITT Hajime Okayasu // MIT Ken Ogata (Tatsuhei), Sumiko Sakamoto (Orin, seine Mutter), Ronpei Hidari (Risuke), Aki Takejo (Tamayan), Shoichi Ozawa (Katsuzo), Seiji Kurasaki (Kesakichi), Mitsuko Baisho (Oei, junge Witwe), Nijiko Kiyokawa (Okane), Akio Yokoyama (Amaya).

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Das erste Jahrhundert des Films: 1983.

NOSTALGHIA Italien 1983 Andrej Gortschakow reist nach Italien, um über einen russischen Komponisten eine Biografie zu schreiben, der dort lebte und sich nach seiner Rückkehr nach Russland das Leben nahm. In Italien überkommt ihn jedoch eine übermächtige Sehnsucht nach der geografischen wie spirituellen Heimat. «‹Nun liegt also mein erster Film hinter mir, den ich nicht in der Heimat drehte›, schrieb Tarkowskij. Mit sowjetischer Genehmigung, allerdings unter erheblichen finanziellen Schwierigkeiten, hatte er seinen sechsten langen Film in Italien produziert. (…) Tarkowskij starb vier Jahre nach Beendigung von Nostalghia als Exilant in Paris; zuvor hatte er notiert, ‹der Zustand niederdrückend-auswegloser Trauer, der diesen Film durchzieht›, sei zum Stigma seines eigenen Lebens geworden. Als er zum ersten Mal das Material des abgedrehten Films gesehen habe, sei er von der Dunkelheit der Bilder überrascht gewesen. Es sei symptomatisch, ‹dass die Kamera vor allem auf meinen inneren Zustand während der Dreharbeiten reagierte›. Traumwandlerisch also, so ist daraus zu schliessen, hat er dem Film die Ahnung des eigenen Schicksals eingraviert. Schon die Umstände, unter denen Nostalghia entstand, enthalten jene Merkmale, die aus diesem Film einen Kultfilm der achtziger Jahre gemacht und ihm zu einer ziemlich beispiellosen Aura ver-

holfen haben.» (Klaus Kreimeier, in: Andrej Tarkowskij, Hanser 1987) «Tarkowskijs Filme gewähren das Glück des reinen Scheins: mit den Augen zu denken. Am Anfang von Nostalghia wird das Gewand einer Marienstatue geöffnet; Hunderte kleiner Vögel schwirren heraus, ihre Federn wirbeln durch die Luft und fallen zwischen den langen Reihen der Kerzen nieder, die das ganze Bild füllen; kleine, helle Federn im lichten Widerspiel der Flammen. Tarkowskij war der Herrscher dieses Lichts.» (Andreas Kilb, Zeit Online, 9.1.1987) 130 Min / Farbe und sw / 35 mm / I/d/f // REGIE Andrej Tarkowskij // DREHBUCH Andrej Tarkowskij, Tonino Guerra // KAMERA Giuseppe Lanci // MUSIK Debussy, Verdi, Wagner, Beethoven // SCHNITT Amedeo Salfa, Erminia Marani // MIT Oleg Jankowskij (Andrej Gortschakow), Domiziana Giordano (Eugenia), Erland Josephson (Domenico), Patrizia Terreno (Andrejs Frau), Laura de Marchi (Frau mit Aktentasche), Delia Boccardo (Domenicos Frau), Milena Vukotic (Gemeindeangestellte).


Das erste Jahrhundert des Films: 1983.

EL NORTE USA/GB 1983 Nachdem der Vater ermordet wurde und die Mutter spurlos verschwunden ist, müssen die Geschwister Enrique und Rosa aus Guatemala fliehen. Nachdem sie es geschafft haben, Mexiko zu durchqueren und in die USA einzureisen, finden sie sich in einem winzigen Apartment in Los Angeles wieder – doch das Leben ist für sie alles andere als rosig. «In den achtziger Jahren, als die Wunden des Vietnamkriegs im kollektiven amerikanischen Gedächtnis noch nicht verheilt waren, wandte sich Hollywood den Themen der Demokratie und des Krieges zu. Eine Serie von Filmen transportierte die Amerikaner in ferne Länder, wo blutige Konflikte des Kalten Krieges ausgetragen wurden. Filmemacher Gregory Nava brachte mit El norte ebenfalls eine Geschichte über einen Kalten-Krieg-Schauplatz auf die Leinwand. Im Gegensatz zu den amerikanischen Filmen war bei ihm die Politik dem universellen menschlichen Drama untergeordnet. Mehr noch: Nava erzählte seine Geschichte aus den Augen der kolonialisierten ‹Ureinwohner› und mied so englisch sprechende Protagonisten. (…) In den achtziger Jahren betrieb die guatemaltekische Armee eine Politik der verbrannten Erde als Antwort auf die zunehmende Militanz zwischen den Mayas. Ganze Dörfer verschwanden von der Landkarte. Diese Ereignisse bilden den Hintergrund der Geschichte

des Familiendramas von Enrique und Rosa, deren Flucht vor den guatemaltekischen Militärs zu einem eindrucksvollen, grenzüberschreitenden Epos wird.» (Héctor Tobar, www.criterion.com, 14.1.2009) «Schon ab den allerersten Momenten von El norte wissen wir, dass wir uns in einem grossartigen Film befinden. Die einfache Geschichte wird auf so romantische und poetische Art erzählt, dass sie uns zutiefst berührt; (…) sie ist von erstaunlicher visueller Schönheit – und voller Wut. El norte ist ein Grapes of Wrath von heute. (…) Nava taucht seine Geschichte nicht in die düsteren Grautöne des Realismus, sondern färbt sie mit den Farben Mexikos. Diese Geschichte ist heute noch genauso aktuell wie damals – sie wiederholt sich jeden Tag.» (Roger Ebert, Chicago SunTimes, 1.8.2004) 141 Min / Farbe / 35 mm / OV/d/f // REGIE Gregory Nava // DREHBUCH Gregory Nava, Anna Thomas // KAMERA James Glennon // MUSIK The Folkloristas, Malecio Martinez, Linda O'Brien, Emil Richards // SCHNITT Betsy Blankett // MIT Zaide Silvia Gutiérrez (Rosa Xunxas), David Villalpando (Enrique Xunxas), Ernesto Gómez Cruz (Arturo, der Vater), Alicia del Lago (Lupe, die Mutter), Mike Gomez (Jaime, der Informant), Jose Martin Ruano (Vorarbeiter), Stella Quan (Josefita, die Patin), Eraclio Zepeda (Pedro), Rodrigo Puebla (El Puma, der Soldat), Palemo Garcia (Schlepper), Lupe Ontiveros (Nacha), Trinidad Silva (Monty, der Hotelmanager).

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38 Premiere: Leviathan

In des Teufels Hochseeküche Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel war einer der ungewöhnlichsten Filme des letztjährigen Locarno-Wettbewerbs, und seine Kinoaufführung wird seither sehnlichst erwartet, nicht zuletzt, weil man den Film nur dort übersteht: körperliches, sinnliches Kino, das überwältigt und dabei das Kunststück schafft, viel Raum für eigene Bilder, Gedanken und Gefühle zu lassen. Leviathan ist ungeheuer. Was für ein Hammer, dieser Dokumentarfilm! Als Hardcore-Fisch-Holocaust könnte man ihn bezeichnen, aber damit käme man unter Umständen in Teufels Küche – wo sich der Film irgendwie schon befindet. Und von dokumentarischem Splatter-Kino zu reden, bietet sich zwar an, wäre aber irreführend, denn der Unterhaltung dient dieser Film zuallerletzt. Exakt in jenen Gewässern, in denen Melvilles Schiff Pequod nach Moby Dick jagte, hält Leviathan das Aufeinandertreffen von Mensch, Natur und Maschine fest. Mit rund einem Dutzend Kameras – die geworfen, angebunden oder zwischen Fischern und Filmemachern hin und hergereicht werden: Leviathan ist nominell ein Dokumentarfilm über den Alltag auf einem Fischkutter.

LEVIATHAN / Frankreich/GB/USA 2012 87 Min / DCP / ohne Dialog // DREHBUCH UND REGIE Lucien Castaing-Taylor, Véréna Paravel // KAMERA Lucien CastaingTaylor, Véréna Paravel // TON Lucien Castaing-Taylor, Véréna Paravel // SCHNITT Lucien Castaing-Taylor, Véréna P ­ aravel // MIT Declan Conneely, Johnny Gatbombe, Adrian Guillette, Brian Jannelle, Clyde Lee, Arthur Smith, Christopher Swampstead (sie selbst).


39 Die ersten 15 Minuten lässt einen das fast abstrakte Bild- und Tonchaos auf der Leinwand einigermassen im Dunkeln, ganz wörtlich. Wir sind unter Wasser, über Wasser, an der Winde für irgendetwas Nasses, Tropfendes, das sich mit der Zeit als Einholmaschine für das riesige Fischnetz eines mittelgrossen Fischerbootes entpuppt. Die Kamera bleibt stets viel zu dicht auf allem drauf, die Hilflosigkeit der gefangenen Fische überträgt sich sehr schnell auf mich im Kinosaal: Ich kann mich nicht bewegen, meinen Blick nicht schweifen lassen, ich habe keine Ahnung, was ich da sehe und vor allem infernalisch höre. Und es geht weiter so. Irgendwann liege ich zwischen Hunderten von toten und halbtoten Fischleibern, werde auf Deck hin- und hergespült und fühle eine leichte Übelkeit aufsteigen. Das liegt daran, dass wir diese Filmbilder nicht zum Nennwert nehmen können. Nicht, wenn sie so daherkommen. Ein Haufen glitschiger, toter Fischleiber, Köpfe, offene Mäuler, glasige Augen: Wer wollte der sofortigen Allegorisierung des Bildes entgehen? Die Aufladung im Kopf erfolgt fast wie beim Haarebürsten, induktiv, unvermeidbar. Wir liegen in nassen Leichenbergen. Dabei hat der Film keineswegs den Anspruch, uns die industrielle Fischverwertung oder die moderne Berufsfischerei zu vermiesen. Anders als viele Dokumentarfilme der letzten Jahre befindet sich dieser nicht auf einem Anklagefeldzug gegen die industrialisierte Perversion der Menschheit gegenüber der Natur. Das macht er zu Beginn mit einem Bibelzitat zum mythischen Meeresungeheuer Leviathan klar. Ist Leviathan traditionell eine Gefahr für Menschen und Schiffe, kommt es hier zu einer Umkehrung, das Fischerboot selber wird zum Meeresungeheuer. Damit stehen aber die Geschehnisse der rund 36 Stunden auf See über jeder moralisch-ethischen Beurteilung. Selbst unerträgliche Bilder, wie die einer verletzten Möwe, die nicht mehr hochkommt und sich schliesslich ins Meer stürzt, wirken wie der Ausdruck eines unerbittlichen Schicksals, das nichts mit den Menschen zu tun hat, welche an Bord ihrer Arbeit nachgehen. Das ist ein Film, den man sich antun muss. Es gibt dafür keine moralische Verpflichtung und auch keinen vernünftigen Grund jenseits der schieren Neugier auf das, was mit Bildern beschworen werden kann; mit Bildern, die einzig durch ihren Standpunkt und ihren eigenwilligen Duktus einen winzigen Teil unserer Welt mit uns selber und unseren Urängsten aufladen. Leviathan ist ungeheuer. Michael Sennhauser Michael Sennhauser, Filmredaktor von SRF2 Kultur, gehört zu jenen, die sich am letztjährigen Festival von Locarno für Leviathan begeisterten und darin einen der heissesten ­ Anwärter für einen Goldenen Leoparden sahen. Er hat für uns seinen damaligen Blog-Text (sennhausersfilmblog.ch) bearbeitet.


40 Filmpodium für Kinder: «Mein Nachbar Totoro»

Ihr Kinderlein kommet Immer samstags um 15 Uhr gehört das Filmpodium künftig den Kindern – und ihren allfälligen Begleitern. Zum Auftakt der neuen Dauerreihe ­zeigen wir vom 12. Oktober bis 9. November als Schweizer Kinopremiere Hayao Miyazakis sanftes Meisterwerk Mein Nachbar Totoro, das 5-Jährige nach unserer Einschätzung ebenso verzücken wird wie ihre 50-jährigen Eltern und 100-jährigen Grosseltern. Von Toy Story 1–3 über Monsters, Inc., Bolt und Madagascar 1–3 bis zu Ice Age 1–4 hat Hollywood in den letzten zwanzig Jahren ein Reihe grossartiger Kinderfilme geschaffen. Das Leidige an diesen Welterfolgen ist bloss, dass sie im Wesentlichen immer nach dem gleichen Muster gestrickt sind. Wirft man als Vater einer neunjährigen Tochter und eines elfjährigen Sohnes etwa einen Blick ins Zürcher Herbstkinoprogramm, weil einem die unterhaltungssüchtige Brut seit Tagen schon wieder in den Ohren liegt («Du guckst einen Film pro Tag, wir bloss einen pro Woche, wo bleibt da die Gerechtigkeit?!»), so stellt man fest, dass das letzte lukrative Segment dieses downloadgeschädigten Gewerbes wieder einmal so aussieht, als bestehe das weltweite Kinderfilmschaffen aus einer Handvoll amerikanischer 3D-Computeranimationsfilme: Despicable Me 2? – Läuft in fünfzehn Kinos und wurde von den Junioren schon am Premieren-Wochenende abgehakt. Percy Jackson 2? – Löst auf dem Gesicht der Tochter nur ein mitleidiges Lächeln aus. Die Schlümpfe 2? – Für sowas läuft mein Sohn nicht mal vom Onlinespiel «Minecraft» zum Fernseher rüber, geschweige denn bis ins Kino. Die Krake, die den Ozean trübt Dabei ist es in Wahrheit so: Es kommen jedes Jahr exzellente Kinderfilme im Dutzend heraus (manche darunter sogar mit Menschen aus Fleisch und Blut), bloss kennt sie kaum jemand, weil die Hollywoodkrake ihre Tentakel wie das Seeungeheuer bei Jules Verne über die Weltflotte der Kinderfilmdampfer gelegt hat und das Wasser mit ihrer PR-Tinte trübt, damit niemand merkt, dass ausser ihr noch ganz andere putzige Geschöpfe in diesem kreativen Ozean hausen. Aus diesem Grunde haben wir uns – frei nach Friedrich Schiller – gesagt: Dem Markt kann geholfen werden! Ab sofort zeigen wir jeden Samstag um 15 Uhr einen Kinderfilm, von dem wir glauben, dass er ungleich sehenswerter sei als, sagen wir, die 3D-Version von The Wizard of Oz, mit der uns das Disney-Studio kürzlich beglückt hat. Kurzum: Das «Filmpodium für Kinder» zeigt Filme, die wir beispielsweise auf dem jährlichen Kinderfilmfest der Berlinale oder in der verdienst-


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MEIN NACHBAR TOTORO (Tonari no Totoro) / Japan 1988 86 Min / Farbe / Digital HD / D // DREHBUCH UND REGIE Hayao Miyazaki // KAMERA Takeshi Seyama // MUSIK Joe Hisaishi // SCHNITT Takeshi Seyama.

vollen Postille «Kinder- und Jugendfilmkorrespondenz» entdeckt haben. Oder einfach Trouvaillen, auf die wir en passant, als Cinephile und Eltern gestossen sind. Damit uns bei der Programmierung dieser neuen Dauerreihe möglichst kein verborgenes Kleinod entgeht, haben wir zudem die beste Beraterin, die man sich auf diesem Gebiet nur wünschen kann, um Hilfe gebeten: Christine Lötscher, verantwortlich für die monatliche Kinderbuchseite des Tages-Anzeigers und Redaktorin der Zeitschrift «Buch und Maus», flüstert uns von Zeit zu Zeit ihre Entdeckungen zu und übernimmt auch gleich die Einführung zum Auftaktfilm unserer Reihe im Filmpodium. Als da wäre: Mein Nachbar Totoro von Hayao Miyazaki, dem mittlerweile 72-jährigen Übervater des japanischen Animationsfilms. Im Westen erlebte Miyazaki mit Prinzessin Mononoke 1997 den Durchbruch, und auch spätere Filme wie Chihiros Reise ins Zauberland (2001) und Das wandelnde Schloss (2004) wurden von westlichen Firmen weltweit vermarktet. In Japan allerdings war Miyazaki bis zu jenem Zeitpunkt bereits ein Vierteljahrhundert lang mit Fernsehserien und langen Kinofilmen im Geschäft, und zu den schönsten Werken aus jener Zeit gehört Mein Nachbar Totoro von 1988. Er-


42 zählt wird von Erfahrungen, die ein vierjähriges Mädchen und seine grössere Schwester nach dem Umzug aufs Land mit den winzig-kleinen Russtierchen im neuen Haus und mit den unglaublich gelassenen Pelzgeschöpfen im benachbarten Wunderwald machen. Praktischer Pazifismus Anders als die späteren Filme Miyazakis ist Mein Nachbar Totoro bei aller Geheimnishaftigkeit von vollkommener Sanftmut und somit schon für Kinder ab ca. fünf Jahren problemlos verkraftbar. Die Poesie des Films verzückt mich 52-Jährigen aber genau so, und Miyazakis Zauberformel ist in nuce schon spürbar: Die Welt zerfällt bei ihm nicht in Gut und Böse wie bei den meisten der eingangs erwähnten Filme, sondern in Parallel-Biotope, die voneinander anfänglich nichts wissen und sich deshalb gegenseitig bedrohlich vorkommen mögen. Doch dann erkundet Miyazaki die Sphären der anfänglichen Antagonisten, und wir merken: Jeder hat seine Gründe für das, was er tut. Ginge es nach mir (und wäre Miyazaki für ein derartiges Anliegen nicht viel zu bescheiden), so müsste man ihm nach allen schon gewonnenen Filmauszeichnungen einfach noch den Friedensnobelpreis verleihen. Andreas Furler


43 BUCHVERNISSAGE

BÖSE HÄUSER, UNHEIMLICHE RÄUME

ILLUSTRIERTER VORTRAG DO, 24. OKT. | 18.30 UHR

Der Kulturwissenschaftler und Filmpubli-

Die bildende Kunst, die Literatur, vor allem

zist Johannes Binotto präsentiert sein Buch

aber das Kino waren schon immer beson-

«TAT/ORT», das sich den unheimlichen

ders virtuos im Erschaffen solch unheim­

Räumen in der Kultur widmet. Das Publi-

licher Tat/Orte, seien es die modrigen

kum ist eingeladen zu einem wohlig-schau-

Schlösser bei Edgar Allan Poe oder das

rigen Streifzug durch schlimme Bild-Kam-

mörderische Motel aus Hitchcocks Psycho,

mern und gefährliche Film-Architekturen.

die düsteren Kammern in Fritz Langs Mabuse-Filmen oder die labyrinthischen ­

Ein vertrautes Zimmer, das einem plötzlich

Architekturen beim italienischen Horrorre-

fremd erscheint; Fenster, durch die man

gisseur Dario Argento. Diesen und anderen

nur sich selber blicken sieht und ausweg-

Schauplätzen des Unheimlichen will der

lose Gassen, an deren Ende man unverse-

­Autor in einem üppig illustrierten Filmvor-

hens wieder am Anfang steht: So hat bereits

trag einen Besuch abstatten und überall

Sigmund Freud das Unheimliche beschrie-

gilt: Betreten auf eigene Gefahr!

ben. Der unheimliche Raum ist kein neutraler Ort, sondern von beängstigender Eigen-

Eintritt frei. Nach dem Vortrag Apéro und

macht und gespenstisch aktiv. Der Raum

Büchertisch.

verwirrt seine Bewohner und vergreift sich gar an ihnen – der Ort wird tätlich, er wird zum Tat/Ort.

> Psycho.


44 VORTRAG UND FILMVORFÜHRUNG DI, 29. OKT. | 18.15 UHR

STADTENTWICKLUNG IM FILM

ZUREICH: BEWEGTE FILME Bis Ende November läuft in Zürich eine Ver-

Der Vortrag (bis ca. 19.45 Uhr) und die an-

anstaltungsreihe über gesellschaftliche

schliessende Filmvorführung sind Teil der

Herausforderungen der Stadtentwicklung.

öffentlichen Veranstaltungsreihe «Wachs-

In diesem Rahmen ist im Filmpodium das

tumsschmerzen: Gesellschaftliche Heraus-

Referat «ZUREICH: Stadtkritik und Erinne-

forderungen der Stadtentwicklung und ihre

rungspolitik in filmischen Darstellungen

Bedeutung für Zürich», die von der Univer-

sozialer Bewegungen seit '68» zu hören.

sität Zürich und der Stadtentwicklung Zürich zwischen dem 17. September und dem

Im Zentrum des Vortrags der beiden

26. November 2013 jeweils am Dienstag-

­Zürcher Filmwissenschaftlerinnen Margrit

abend an verschiedenen Orten in der Stadt

Tröhler und Julia Zutavern steht die Frage,

durchgeführt wird. Der Eintritt ist frei.

wie Filme auf die Entwicklung der Stadt und ihre sozialen Bewegungen einwirken. Filme

www.wachstumsschmerzen.uzh.ch

sind oft weder Repräsentationen von gesellschaftlicher Veränderung noch Instru-

Wichtig: Es gibt keine separaten Tickets für

mente im Dienst einer Idee. Vielmehr sind

den Film!

sie Teil der Veränderungsprozesse: Sie lösen soziale Bewegungen aus oder sind ihr direkter Ausdruck und gehören selbst zur Bewegung. Anhand von Beispielen, die bis in die 1920er Jahre zurückreichen und auch über den lokalen Kontext von Zürich hinausweisen, thematisiert der Vortrag die «politische» Funktion von Filmen und zeigt, wie Filme das Alltagsleben einer Stadt prägen und die öffentlichen Debatten beeinflussen. Im Anschluss an den Vortrag zeigen wir Das Packeis-Syndrom (BRD 1982) von Peter Krieg, in dem Zürich von einer Kältewelle erfasst wird, die sich nicht nur als Naturereignis äussert, sondern auch als eine allmähliche gesellschaftliche Erstarrung. Der deutsche Filmemacher setzte sich in dieser polemisch-satirischen Pseudo-Dokumentation ironisch mit den Ursachen der Zürcher Jugendkrawalle von 1981 auseinander und zeigte Zürich als eisiges Symbol kapitalistischer Geldherrschaft.

DAS PACKEIS-SYNDROM / BRD 1982 60 Min / Farbe / 16 mm / D // DREHBUCH UND REGIE Peter Krieg // KAMERA Otmar Schmid // MUSIK Heiner Goebbels // MIT Achmed von Wartburg, Hans A. Pestalozzi, Urs Haymoz, Arno von Blarer.


45 IMPRESSUM

DAS FILMPODIUM IST EIN ANGEBOT DES PRÄSIDIALDEPARTEMENTS

in Zusammenarbeit mit der Cinémathèque suisse, Lausanne/Zürich LEITUNG Andreas Furler (afu), Corinne Siegrist-Oboussier (cs) ASSISTENZ Tanja Hanhart (th), Primo Mazzoni (pm) // SEKRETARIAT Claudia Brändle REDAKTIONELLE MITARBEIT Martin Girod (meg) BÜRO Postfach, 8022 Zürich, Telefon 044 412 31 28, Fax 044 212 13 77 WWW.FILMPODIUM.CH // E-MAIL info@filmpodium.ch // KINO Nüschelerstr. 11, 8001 Zürich, Tel. 044 211 66 66 UNSER DANK FÜR DAS ZUSTANDEKOMMEN DIESES PROGRAMMS GILT: Archives françaises du film du CNC, Bois d'Arcy; Cinédoc, Paris; La Cinémathèque française – Musée du cinéma, Paris; Deutsches Filminstitut – DIF, Wiesbaden; Disney-ABC Los Angeles; George Eastman House, Rochester; Europe's Finest, Köln; Filmcoopi, Zürich; Frenetic Films, Zürich; Hollywood Classics, London; Independencia Distribution, Paris; Kinemathek Le Bon Film, Basel; Marie-Ange L’Herbier, Neuilly; Peter Langs/Universal Studios Film Archive, Los Angeles; Light Cone, Paris; Lobster Film, Paris; NBC Universal Archives, New York; Park Circus, Glasgow; Tamasa Distribution, Paris; Trigon-Film, Ennetbaden; Universal Pictures International, Zürich; Warner Bros. (Transatlantic) Inc., Zürich; Xenix Filmdistribution, Zürich; ZZ Productions, Paris DATABASE PUBLISHING BitBee Solutions GmbH, Zürich // KONZEPTIONELLE BERATUNG Esther Schmid, Zürich GESTALTUNG TBS & Partner AG, Zürich // KORREKTORAT N. Haueter, D.Kohn // DRUCK Ropress, Zürich // AUFLAGE 7000 ABONNEMENTE Filmpodium-Generalabonnement : SFr. 400.– (freier Eintritt zu allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Filmpodium-Halbtaxabonnement: SFr. 80.– / U25: SFr. 40.– (halber Eintrittspreis bei allen Vorstellungen; inkl. Abo Programmheft) // Abonnement Programmheft: SFr. 20.– // Anmeldung an der Kinokasse, über www.filmpodium.ch oder Tel. 044 412 31 28

VORSCHAU Lateinamerika-Wochenende

Neue Autorenfilme aus Südkorea

Zum 25. Geburtstag von Trigon Film haben

Die Republik Korea gehört heute zu den

wir mit dem Afrika-Filmfest vom vergange-

produktivsten Filmländern und zu den er­

nen Frühjahr einen Schwerpunkt der vier-

folgreichsten. Über 100 Millionen verkaufte

dienstvollen Schweizer Verleih-Stiftung vor­-

Tickets im letzten Jahr für einheimische

gestellt, die seit 1988 Filme des Weltsüdens

Filme – bei 40 Millionen Einwohnern! Bereits

und -ostens in unsere Kinos bringt und mitt-

2010 haben wir unter dem Titel «Das bessere

lerweile über ein Repertoire von rund 400 Ti-

Hollywood» ein Programm mit herausragen-

teln verfügt. Das Lateinamerika-Wochen-

den südkoreanischen Genrefilmen gezeigt.

ende vom 16./17. November gilt einem

Anlässlich des fünfzigsten Jubiläums der di-

anderen Trigon-Schwerpunkt und versam-

plomatischen Beziehungen dieses Landes

melt sechs lateinamerikanische Highlights

mit der Schweiz folgt nun eine Auswahl der

älteren, jüngeren und jüngsten Datums. Zum

bemerkenswertesten neusten Autorenfilme

Auftakt gastiert am 16. November der argen-

aus Südkorea, mit den jüngsten Werken u. a.

tinische Altmeister (und engagierte Parla-

von Kim Ki-duk, Im Sang-soo, Lee Chang-

mentarier) Fernando Solanas bei uns.

dong und Hong Sang-soo.


FROM RICHARD CURTIS, WRITER OF LOVE ACTUALLY NOTTING HILL & FOUR WEDDINGS

A NEW FUNNY FILM ABOUT LOVE. WITH A BIT OF TIME TRAVEL.

OCTOBER 17 About-Time.ch


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