Kinder- und Jugendfilmkorrespondenz 01 2015

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KINDER JUGEND

FILM Korrespondenz

DEBATTE „Nur“ ein Kinderfilm? Kinderfilme haben es verdient, genauso ernst genommen zu werden wie Filme anderer Gattungen oder für andere Altersgruppen.

AUF DER FLUCHT Verfolgung und Vertreibung, Asyl und Abschiebung: Kinderfilme erzählen über die Schicksale junger Menschen, die ihr Heimatland verlassen müssen.

„BERLINALE“ „Süß und seicht ist nicht unsere Stärke!“, sagt Maryanne Redpath, Leiterin der „Berlinale“-Sektion „Generation“ für Kinder und Jugendliche.

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Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz_01/2015

Inhalt

DEBATTE 6 Nur ein Kinderfilm? Von Stefan Stiletto IN KÜRZE 8 Aktuelle Infos & Meldungen EIN FILM, AUF DEN WIR UNS FREUEN 24 „Rico, Oskar und das Herzgebreche“

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IM FOKUS 26 Auf der Flucht: Verfolgung und Asyl. Von Holger Twele 30 Mäh! Shaun, das Schaf, und das Aardman-Studio. Von Stefan Stiletto 32 Reihe: Den kenn‘ ich doch (1). Von Christian Exner 34 Im KIno: Der „Lichtburg Filmpalast“ in Oberhausen. Von Reinhard Kleber 37 Drei Entdeckungen. Von Barbara Felsmann, Holger Twele & Katrin Hoffmann 38 Festival „Ale Kino!“, Poznań/Polen. Von Volker Petzold 38 Jugendliche Lebenswelten, Hofer Filmtage. Von Holger Twele 50 Erste „doku.klasse“ beim 13. Festival doxs!. Von Christel Strobel 50 Kreativer Brückenschlag. Kongress VISION KINO. Von Horst Peter Koll 63 „Die dunkle Seite des Fernsehens“. IZI-Tagung. Von Katrin Hoffmann 33 STIFTUNG LESEN AKTEURE 40 „Süß und seicht ist nicht unsere Stärke“.

„Berlinale/Generation“-Gespräch mit Maryanne Redpath. Von Stefan Stiletto

44 „Ein gutes Ensemble ist das Herz eines Films“.

Gespräch mit André Erkau zu „Winnetous Sohn“. Von Uta Beth

45 Reihe: Der persönliche Klassiker (1) Rolan Bykows „Die Vogelscheuche“. Von Klaus-Dieter Felsmann

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BREVIER 46 Förderverein Deutscher Kinderfilm e.V. 48 Akademie für Kindermedien KURATORIUM JUNGER DEUTSCHER FILM INFORMATIONEN NO. 69 52 Plädoyer für Qualität im Kinderfilm. Von Astrid Plenk 55 Fünf Filme von ... Marcus H. Rosenmüller 56 Erfahrungsreise Kino. Von Phillipp Hartmann 58 60 Jahre DEFA-Trickfilm. Von Ralf Schenk 61 „Der rote Berg Komplex“. Von Timo Müller 62 News & Meldungen

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Kinder- und Jugendfilm Korrespondenz_01/2015

Inhalt

KRITIKEN (KINO & DVD) 6+ 13 Asterix im Land der Götter Von Thomas Lassonczyk 11 Ella und der Superstar Von Horst Peter Koll 10 Johan und der Federkönig (DVD) Von Natália Wiedmann 12 Shaun das Schaf – Der Film Von Rolf Giesen 14 Winnetous Sohn Von Barbara Felsmann 14 In Kürze 6+ 10+ 17 16 15 17

Fünf Freunde 4 Von Thomas Lassonczyk Giovannis Insel (DVD) Von Natália Wiedmann Manolo und das Buch des Lebens Von Katharina Zeckau In Kürze 10+

14+ 20 Bande de filles Von Rüdiger Suchsland 22 Dessau Dancers – Wie der Breakdance fast sozialistisch wurde Von Gudrun Lukasz-Aden 18 Feriado: Erste Liebe Von Heidi Strobel 21 Guten Tag, Ramón Von Alexandra Wach 19 In meinem Kopf ein Universum Von Heidi Strobel 23 Los Ángeles Von Wolfgang Hamdorf 23 In Kürze 14+

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IMPRESSUM kinder- und jugendfilm korrespondenz (kjk)

dreipunktdrei mediengesellschaft mbH, Heinrich-Brüning-Straße 9, 53113 Bonn (0228) 26 000-163 (Redaktion), (0228) 26 000-257 (Anzeigen), (0228) 26 000-251 (Vertrieb) Die KJK erscheint viermal im Jahr als ständige Beilage des FILMDIENST Geschäftsführer: Theo Mönch-Tegeder Chefredakteur: Horst Peter Koll Redaktion: Stefan Stiletto Layout: Wolfgang Diemer, Köln Datenbank & Internet: Stefan Lux Anzeigenverkaufsleitung/Verantwortlich für den Inhalt der Anzeigen: Martin Werker (werker@dreipunktdrei.de) Vertriebs- und Marketingleitung: Urs Erdle (erdle@dreipunktdrei.de) Bestellungen und Anfragen: vertrieb@filmdienst.de E-Mail: redaktion@filmdienst.de, Internet: www.filmdienst.de Gefördert durch:

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Foto: Warner Bros.

„Was ist Film?“ hat der französische Filmkritiker André Bazin sein berühmtes Buch genannt, um sich dem Wesen dieser Kunstform anzunähern. Genauso offen soll diese Rubrik in der KJK von nun an eine öffentliche Debatte über das anstoßen, was Kinderfilm ist, was er nicht ist, was er sein kann und sein sollte. Für diesen interdisziplinären Diskurs wird die KJK Filmproduzenten, Festivalkuratoren, Filmverleiher, Filmwissenschaftler, Medienpädagogen und Soziologen einladen.

deBatte: Was ist kinderfilm?

Nur ein Kinderfilm? Warum Abstriche machen? Kinderfilme haben es verdient, genauso ernst genommen zu werden wie Filme anderer Gattungen oder für andere Altersgruppen. Von Stefan Stiletto


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Debatte: Was ist Kinderfilm?

Manchmal flüchte ich bei Pressevorführungen aus dem Kino, sobald der Abspann begonnen hat. Wenn ein Film für Kinder wieder einmal nur auf eine lieblose, formelhafte Geschichte gesetzt hat, wenn Pupswitze die Stimmung erhellen sollten, wenn erwachsene – und noch dazu oft renommierte – Schauspieler ihre Rollen wieder einmal als eindimensionale SlapstickNummern angelegt haben. Es gibt Kinderfilme, die sind zum Fürchten. „Aber das ist doch ein Kinderfilm“, heißt es dann verteidigend. Oder schlimmer noch: „Aber das ist doch ‚nur‘ ein Kinderfilm!“ Und das geht einfach gar nicht. Darf man von Kinderfilmen nicht ebenso viel erwarten wie von Filmen für andere Altersgruppen? Weil sich ein Film an Kinder richtet, muss er noch lange kein seelenloser, seichter und verlogener Blödsinn sein. Kinderfilme sind eben nicht gleichbedeutend mit Kinderkram. Aber genau diese Gleichsetzung ist eine Ursache dafür, dass vor allem im kommerziellen Kinderkino bisweilen so erschreckend uninspiriert und banal erzählt wird.

Das Problem ist das Bild, das manche erwachsene Filmschaffende von Kindern haben. Das Problem sind nicht die Kinder. Das Problem ist das Bild, das manche erwachsene Filmschaffende bewusst oder unbewusst von Kindern haben. Ein Bild, das geprägt ist von kleinen Wesen, denen man wenig zutraut, die nicht gefordert werden dürfen, die weder inhaltliche noch formale Ansprüche haben. Wer jemals gesehen hat, wie bereits Kleinkinder ihre Welt entdecken und glücklich sind, wenn man auf ihrer Augenhöhe mit ihnen spricht und ihnen Anregungen gibt, wie sie schon früh manche Bilder lieben und andere ablehnen, der weiß, wie falsch diese Einstellung ist. Den gegenwärtigen Entwicklungsstand der Kinder und ihre Erfahrungen in der Lebenswelt gilt es ernst zu nehmen, mit all den damit verbundenen Fähigkeiten und Kompetenzen. Gibt es bei anderen Filmgattungen oder altersgruppenspezifischen Fil-

men eine ähnliche Argumentation? Aussagen wie „Das ist doch nur ein Dokumentarfilm“ oder „Das ist doch nur ein Erwachsenenfilm“? Nein. Nur im Bereich des Kinderfilms scheint man Abstriche machen zu dürfen oder gar zu müssen. Einen Film im Modus des „Nur-ein-Kinderfilm“ zu schreiben, zu produzieren, zu drehen – und ihn schließlich auch so zu sehen, bedeutet, nur halbherzig bei der Sache zu sein. Und im schlimmsten Fall ein klischeehaftes, altmodisches Bild von Kinderfilmen zu bedienen, das sich auf die Formel „bunt, komisch und schnell“ reduzieren lässt. Was nicht heißt, dass Kinderfilme nicht auch bunt sein dürften. Und selbstverständlich ist dies auch kein Plädoyer dafür, dass das Kinderkino zu einer humorfreien Bildungsveranstaltung werden muss. „Trommelbauch“ von Arne Toonen ist ein wunderbares Beispiel, wie sich eine bonbonfarbene Welt mit einer guten Geschichte verbinden lässt. Es geht vielmehr darum, Kinderfilme als vollwertige Filme wahrzunehmen, an die man auch gewisse Ansprüche stellen darf. Filme, Fernsehsendungen und Serien für Kinder prägen deren Medienbiografien. Diese Bedeutung spielt ein „nur“ herunter.

Auch Filme für Kinder dürfen eine gewisse Fallhöhe haben. Im Kinderfilm ist vieles möglich. Schon deshalb, weil die Zielgruppe eben nicht einheitlich ist und man je nach Alter und Entwicklung anders für sie erzählen muss und auch erzählen kann – wir reden hier schließlich grob über die Altersgruppe der Vier- bis etwa Zwölfjährigen. Geschichten über den Tod, über Trauer und Sterben sind prinzipiell ebenso wenig tabu wie über belastende Erfahrungen und Lebenswelten, die nicht dem Heile-Welt-Klischee entsprechen. Sicherlich: Diese erfüllen nicht das Klischee vom stets lustigen Kinderfilm und sind keine „FeelgoodMovies“. Aber sie greifen Erfahrungen auf, mit denen auch Kinder schon konfrontiert werden. Kinder haben das Recht, dass man diese auch in Geschichten für sie ernsthaft und altersangemessen vielschichtig spie-

gelt. Sich auf die Augenhöhe von Kindern zu begeben, heißt nicht, dass man manche Dinge verschweigen muss. Man muss sie nur anders erzählen. Vielleicht offenbaren manche der bemerkenswertesten Filme für Kinder der vergangenen Jahre deshalb auch eine tiefere Wahrheit, die zwar erst Erwachsene rational reflektieren können, die aber für Kinder emotional verständlich ist. „Wo die wilden Kerle wohnen“ von Spike Jonze ist so ein Fall. Ein Film, der dem Geist des gleichnamigen Bilderbuchs von Maurice Sendak über ein Kleinkind, das lernen muss, mit seiner Wut umzugehen und sich dennoch auf die Liebe seiner Mutter verlassen kann, vollkommen gerecht wird und Grenzen auslotet. Schon Sendak wurde 1963 harsch kritisiert, weil seine Spiegelung unkontrollierbarer, negativ besetzter kindlicher Gefühle als so unpassend angesehen wurde. Auch Filme für Kinder dürfen eine gewisse Fallhöhe haben. Im besten Falle können Filme zu Entwicklungsbegleitern von Kindern werden, wenn sie ihnen Geschichten erzählen, die sie betreffen und die mit ihren Erfahrungen in Verbindung stehen. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Geschichten nun humorvollleicht oder tragisch-ernst angelegt, in Fantasiewelten oder im authentischen Nahbereich angesiedelt sind: die künstliche Welt in „Pettersson und Findus“ von Ali Samadi Ahadi, das ironisch überzeichnete Berlin in „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Neele Leana Vollmar oder das sozialrealistische Umfeld in „Kopfüber“ von Bernd Sahling. Es ist spürbar, dass all diese höchst unterschiedlichen Filme mit einem guten Blick für ihr junges Publikum gedreht wurden. Es ist höchste Zeit, die Bezeichnung Kinderfilm von ihrer negativen Konnotierung zu befreien. „Das ist ein Kinderfilm“, sollten Kinobetreiber, Verleiher, Marketingabteilungen und Produzenten voller Stolz sagen können. Ein Film, der Kinder in ihrer Entwicklung ernst nimmt. Ehrliches, vollwertiges Kino für junge Zuschauer, ganz ohne „Nur“-Einschränkungen. Dafür muss man sich weder schämen noch rechtfertigen. •

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Kritiken 14+

Bande de filles Ein American-FootballMatch. Die Spieler fighten, die Härte des Geschehens wird durch eine Zeitlupe hervorgehoben. Dann wird erkennbar: Es sind zwei Frauenteams, die hier gegeneinander spielen. Die Szene gibt den Takt vor für einen politisch wie sozial überaus wachen Film, der ohne Scheu Stereotypen aufnimmt, um sie zu brechen, etwa Football, den Männlichkeitssport par excellance. Es geht um vier starke, schwarze Girls aus der Pariser Vorstadt. Sie haben nichts, also nehmen sie sich alles: Style, Stolz, Freiheit. Im Zentrum steht Marieme, die es im Alltag nicht leicht hat, etwa mit ihrem kaputten Bruder. Eines Tages wird sie Mitglied einer FrauenGang. Diese Mädchen sind unkonventionell und witzig, klauen ab und an, nehmen Schüler aus, prügeln sich, wenn es sein muss, und zeigen sich selbst und dem Publikum, was Feminismus wirklich heißt: Selbst-bewusstsein. Es geht um das Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdbild. Darum schauen sich diese Mädchen fortwährend im Spiegel an, filmen und beurteilen sich gegenseitig. „Bande de filles“ zeigt in einem solchen Spiegelbild, was das eigentliche Problem vieler ihrer Geschlechtsgenossinnen ist: fehlende Härte, fehlender Mut. Und er zeigt, dass das nicht etwa „männliche“, sondern universelle Werte sind. Marieme, großartig gespielt von ab 14

Karidja Touré, ist eine Kämpferin. Ihr Gegner sind die Umstände: mit 16 Jahren geht sie noch zur Schule, zuhause muss sie ihren drei Geschwistern eine Ersatzmutter sein, weil die richtige, alleinerziehende tagsüber arbeitet. Was in anderen Filmen zum Sozialdrama oder zur moralischen Lektion gerinnen würde, nutzt Céline Sciamma in ihrem nach „Water Lilies“ und „Tomboy“ dritten Spielfilm zu einem ästhetischen und antikonventionellen Statement. Indem die Bedeutung der Form schon über das Handwerk unterstrichen wird, durch ausufernde Kamerabewegungen und forcierten Musikeinsatz, indem Musik und Klamotten aber auch für die Figuren die Welt bedeuten, erklärt Sciamma, dass Selbstfindung zwar mit Stilbewusstsein zu tun hat, aber das Gegenteil von Anpassung ist, und dass der Wunsch der Umwelt, man solle „erwachsen“ und „reif“ werden, oft nur eine Maske der Repression ist. Auch Céline Sciamma geht ihren eigenen Weg, erarbeitet sich ihre eigene Stimme, unangepasst, ohne erhobenen Zeigefinger. Positiv besetzte Figuren tun auch schlechte Dinge, und wer Schlechtes tut, wird nicht zwangsläufig bestraft. Der Filmtitel ist eine Anspielung auf Jean-Luc Godards „Die Außenseiterbande“. Wie dieser ist „Bande de filles“ ein Film, der vorführt, nicht erklärt, warum Freiheit womöglich mehr mit Ästhetik zu tun hat als mit Moral, mehr mit Pop als

mit „political correctness“, mit Musik und Mut, aber nichts mit Quoten. Auch der internationale Titel „Girlhood“ enthält einen Verweis, wie der Film zu verstehen sein könnte: nämlich als Antithese zu Richard Linklaters „Boyhood“. Während dieser im Kern eine Geschichte vom Erwachsenwerden eines jungen Weißen erzählt, darin aber dem Vater und seinem Verhältnis zum Sohn breiten Raum gibt, ist „Bande de filles“ das exakte Gegenteil: nicht ausufernd, sondern intim, die Geschichte eines schwarzen Mädchens, in dessen Leben die familiäre Blutsverwandtschaft eine marginale Rolle spielt und durch die Wahlverwandtschaft einer Gruppe ersetzt wird. Hier findet Initiation statt, es geht um Selbstbefreiung und Selbstbestimmung, den Bruch mit dem Herkommen, nicht um dessen Kontinuität. „Emanzipation“ ist für all dies ein aus der Mode gekommener Ausdruck. 20 Jahre nach „Hass“ kehrt das französische Kino in die Banlieus zurück und entlarvt die Ideologie hinter den Geschichten um ziemlich beste Freunde. Sciamma zeigt ganz selbstverständlich, wie Gesellschaft und Familie die Entwicklung junger Frauen behindern. Alles in allem ein überaus genau komponierter, einfallsreicher, bestechender Film. Rüdiger Suchsland

im kino BAnde de Filles/girlhood Frankreich 2014. Produktion: Hold Up Films/Lilies Films/ ARTE France Cinéma. Regie und Buch: Céline Sciamma. Kamera: Crystel Fournier. Musik: Para One. Schnitt: Julien Lacheray. Darsteller: Karidja Touré (Marieme/Vic), Assa Sylla (Lady), Lindsay Karamoh (diatou), Marietou Touré (Fily), Idrissa Diabate (Ismaël). Länge: 112 Min. FSK: -. Kinostart: 26.2.2015. Verleih: Peripher. Empfohlen ab 14.


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Kritiken 14+

Guten Tag, Ramón Der junge Ramón lebt ohne Aussicht auf Arbeit mit seiner Mutter und seiner Oma in einer Hütte in der mexikanischen Provinz. Immer wieder versucht er, illegal über die Grenze in die USA zu gelangen. Als er hört, dass es die Tante eines Freundes nach Deutschland geschafft hat, steigt er in einen Bus nach Mexiko-City, checkt als Tourist auf ein Flugzeug nach Frankfurt ein und schlägt sich nach Wiesbaden ins Haus der Tante durch. Allerdings ist diese unter der Adresse nicht mehr anzutreffen, und der mexikanische Freund wird am Telefon plötzlich ungewohnt mundfaul. Ramón ist in seinen Sommersachen mitten im deutschen Winter auf sich selbst angewiesen; der Traum von einer besseren Zukunft rückt in weite Ferne, zumal ihm auf der Straße trotz seiner staunenden Rehaugen niemand helfen will. ab 14

Als ihn ein Bettler aus Angst um sein Revier anschreit, eilt ihm dann doch eine Rentnerin zu Hilfe. Dass er weder deutsch noch englisch spricht, scheint sie nicht zu stören. Dank seines fröhlichnaiven Wesens weckt er Muttergefühle und darf ihre Einkaufstaschen nach Hause tragen. Dort bietet sie ihm einen Schlafplatz im Keller an, ebenso eine Bezahlung für gelegentliche Dienste. Als Schutzengel macht sie Dienst nach Vorschrift, wozu auch gehört, die Deutschkenntnisse ihres Schützlings zu verbessern. Eigentlich eine Zeitverschwendung, denn Ramón knüpft dank seiner expressiven Mimik schnell Kontakt mit der ganzen Hausgemeinschaft, die sich prompt kollektiv im Merengue-Tanz unterrichten lässt. Ramón scheint am Ziel angelangt zu sein. Wäree da bloß nicht sein Status als illegaler Immigrant. Regisseur Jorge Ramirez-Suárez lebt selbst seit einiger Zeit in Deutschland, was eigentlich eine gute Voraussetzung wäre, den Nerv der Zeit zu treffen. Doch was Titel und Handlung versprechen, vermag die Inszenierung nicht zu halten. Wenn man dem Einwander-Märchen glauben würde, müsste Deutschland eine der besten aller Welten sein. Die Menschen sind gastfreundlich und zuvorkommend, interessieren sich für Ramóns angenehm exotische Kultur, und auch seine Kochgewohnheiten stören niemand. Selbst die studentische Übersetzerin

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ist irgendwann überflüssig. Die ehrlichen Augen erzählen viel mehr als die fremden Worte. Nur der Staat funkt als dramaturgisch wertvoller Spielverderber irgendwann dazwischen. Mit Spannung ist es trotzdem nicht weit her. Die deutschen Humanisten mit der politisch-korrekten Vergangenheit als traumatisierte Kriegskinder und Judenretter überbrücken alle Hindernisse, um dem Fremden mit ihrer Nächstenliebe keine Chance auf Abnabelung zu lassen. Als verklärende „Feelgood-Dramödie“ mag das noch angehen; als realistische Bestandsaufnahme der Nöte von Wirtschaftsflüchtlingen, die auch unerfreuliche Missstände mit in den Blick nimmt, erweist sich der Film aber als Enttäuschung. Ein Rührstück, das die harmlosen Bilder vorhersehbar im Takt hält und doch stets den falschen Ton trifft. In Mexiko war die deutsch-mexikanische Produktion trotzdem ein Erfolg. Alexandra Wach

im kino Buen dÍA rAmÓn Scope. Mexiko/Deutschland 2013. Produktion: Beanca Films/MPN Cologne Film 3/Fondo de Inversión y Estímulos al Cine (FIDECINE)/ Fox International Productions (FIP). Regie, Buch und Schnitt: Jorge Ramirez-Suárez. Kamera: Carlos Hidalgo. Musik: Rodrigo Flores López. Darsteller: Kristyan Ferrer (Ramón), Ingeborg Schöner (Ruth), Adriana Barraza (Esperanza), Andreas Berg (Neumann), Rüdiger Evers (Karl). Länge: 121 Min. FSK: ab 6; f. Start: 5.2.2015. Verleih: Twentieth Century Fox (teils O.m.d.U.). Empfohlen ab 14.

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Im Fokus: Aktuell im Kino

Foto: Studiocanal

eine Nebenfigur im „Oscar“-prämierten Kurzfilm „Wallace & Gromit – Unter Schafen“ von Nick Park und Steve Box, wurde es 2007 zur Titelfigur einer eigenen Serie, die zunächst im KiKA und schließlich auch (teilweise leicht gekürzt)- in der „Sendung mit der Maus“ ausgestrahlt wurde.

unsere kleine mossy Bottom farm

Mäh! Vom Fernsehen auf die Kinoleinwand: Nach einer Nebenrolle in „Wallace & Gromit – Unter Schafen“ gelingt dem pfiffigen Schaf Shaun erneut der Sprung ins Kino. Bei Kindern erfreut sich die Figur ungebrochener Beliebtheit. Und man kann an ihr sehr schön den typischen Aardman-Stil erkennen. Von Stefan Stiletto

Aardman ist das bedeutendste Animationsstudio Großbritanniens, dessen Figuren längst Teil der nationalen Kultur geworden sind. Es gibt den „Wrong Trousers Day“, eine jährliche Wohltätigkeitsveranstaltung, die nach dem zweiten „Wallace & Gromit“Kurzfilm benannt wurde, und zu Weihnachten zierten schon Royal-Mail-Marken mit Wallace & Gromit-Motiven die Briefe. Shaun das Schaf wiederum wurde 2014 zur beliebtesten Figur des BBC-Kinderprogramms der vergange-

nen 70 Jahre gewählt und erst kürzlich zum Aushängeschild einer TourismusWerbekampagne für „VisitEngland“ auserkoren. Die Aardman-Figuren – vor allem jene, die von Nick Park erdacht wurden – gehören zum Bild von England wie die Queen. Auch in Deutschland sind Wallace und Gromit beliebt, wenn auch weit nicht so bekannt wie in Großbritannien. Shaun das Schaf hingegen hat auch hierzulande Kinder- und Erwachsenenherzen erobert: Ursprünglich nur

Eine wollige Identifikationsfigur Was den wolligen Helden bei Kindern so beliebt macht, sind seine charmante Frechheit, sein Ideenreichtum und sein Sinn für Schabernack. Und dafür lässt ihm sein Umfeld auf der nordenglischen Mossy Bottom Farm reichlich Raum. Auch Shauns schier grenzenlose Neugier spricht Kinder an. Immer wieder ziehen neue, fremde Gegenstände Shauns Aufmerksamkeit an und sorgen für großen Trubel. Diese Entdeckungsfreude können junge Zuschauer teilen. Nur darf der liebenswert tumbe Bauer, gewissermaßen der erwachsene „Aufpasser“, nie erfahren, was eigentlich auf seinem Bauernhof los ist. Auch dies trägt zur Identifikation mit dem cleveren Schaf bei, das aus der Reihe tanzt und doch beliebt ist. Und dem es stets gelingt, zum Ende alles wieder in Ordnung zu bringen. Der Bauer, der Hütehund Bitzer und die Schafherde um Shaun werden so zum Inbegriff einer Familie, in der man sich beisteht, Geheimnisse hat, in der jemand für Unruhe sorgt und doch nicht ausgeschlossen wird. Und dieser Zusammenhalt ist nicht unwichtig für die harmonische Botschaft der Serie. Formal folgen die siebenminütigen Episoden dem Prinzip der Wiederholung. Ein „Problem“ auf dem Bauernhof taucht auf, mit Unterstützung des gestressten Hofhunds Bitzer, der als Bindeglied zwischen Schafherde und Bauer fungiert, macht sich Shaun an die Lösung. Wiederkehrende Antagonisten wie ein wilder Stier oder drei fiese Schweine legen Steine in den Weg. Am Ende ist alles beim Alten. Der scheinbar eintönige Aufbau gibt Sicherheit – und setzt, begleitet von den stets gleichen Melodien und musikalischen Cues, zugleich den Rahmen für die Gags. Die große Besonderheit


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Im Fokus: Aktuell im Kino

der Serie: Sie verzichtet vollständig auf Sprache. „Shaun das Schaf“ steht in der Tradition des Slapstick-Stummfilms und lebt von seiner Physical Comedy, der Freude an Bewegung und Chaos, die mit dem für Aardman typischen Bildwitz und dem Charme des Handgemachten verbunden wird. Dass hier reale Puppen zum Leben erweckt werden, hat eine ganz andere Wirkung als jede noch so perfekte Computeranimation.

Von Morph zu Shaun Mit solcherlei Versuchsanordnungen hat Aardman Erfahrung. Schon mit der braunen, extrem wandlungsfähigen Plastilinfigur Morph, die sich nur durch Piepslaute verständigt, haben die Aardman-Gründer Peter Lord und David Sproxton in den späten 1970erJahren für die BBC-Sendung „Take Hart“ eine der ikonischen Figuren des britischen Kinderfernsehens geschaffen – bevor sie begannen, im Rahmen der Reihen „Animated Conversations“ und „Conversation Pieces“ mit dialoglastigen Plastilin-Animationsfilmen für ein erwachsenes Publikum zu experimentieren. Diese Kurzfilme prägten den Umgang mit Sprache und die Kombination von Bild- und Tonebene in späteren Produktionen maßgeblich. Doch der erzählerische und gestalterische Einfluss von Nick Park, der 1985 zu Aardman stößt und mit seinen Arbeiten ein altersgruppenübergreifendes Publikum anspricht, ist kaum zu unterschätzen. Parks Stil bestimmt die Wahrnehmung des Studios bis heute. Zeichnen sich die Arbeiten von Peter Lord vor allem durch ihren schwarzen Humor und die doppeldeutigen Dialoge aus und schlagen damit spielerisch die Brücke zwischen kindlich erscheinender und doch tiefsinniger Plastilin-Animation, steht Park eher für durch und durch liebenswerte Miniaturwelten, in denen sich der britische Alltag spiegelt. Die feinen Charakterzeichnungen machen seine Filme so besonders und hauchen den Figuren über die perfekte technische Animation hinaus Leben ein. Zudem hat Park ein Faible für kuriose, fantasievolle Maschinen, die zu allerlei slapstick-

haften Situationen einladen. Und er entwickelt Gromit, den intelligenten und treuen Hund des schusseligen Erfinders Wallace, der kein Wort spricht und eine unglaubliche Palette an Gefühlsregungen allein durch die Bewegung seiner Augen- und Stirnpartie vermittelt. Viel von Parks Stil findet sich in der Serie „Shaun das Schaf“, die auf einer Idee von Park beruht. Wie Gromit kommunizieren auch Shaun und Bitzer vor allem über ihre vielsagende Mimik und Gestik. Die mit viel Liebe zum Detail gestalteten Sets wiederum sind wie in den „Wallace & Gromit“-Filmen wahre Fundgruben für unaufdringlich platzierte Gags. Auch das Verhältnis zwischen intelligenten Tieren und einfältigen Menschen erinnert an Parks berühmte Filmreihe. Dass ausgerechnet Richard Goleszowski (der sich heute Richard Starzak nennt) als kreativer Kopf und „Series Director“ für den Erfolg der Serie verantwortlich ist, überrascht zunächst, hatte dieser doch zuvor für Aardman den expressionistischen Kurzfilm „Ident“ sowie die reichlich skurrile und sehr geschwätzige Plastilin-Sitcom „Rex the Runt“ geschrieben und inszeniert. Für „Shaun“ hat er jedoch einen schönen Humor gefunden und einen stimmigen, liebenswerten Mikrokosmos geschaffen. Nicht zuletzt hat er aus der Not, nicht auf Sprache zurückgreifen zu können, weil die lippensynchrone Animation für eine Fernsehsendung dieses Maßstabs viel zu aufwändig gewesen wäre, eine Tugend gemacht und damit das Aardman-Uni-

versum um wunderbare Situationskomik und einprägsame Charaktere bereichert. Mit derzeit 130 Episoden ist „Shaun das Schaf“ die umfangreichste Serie, die bislang bei Aardman entstand. Dass dabei bereits seit der dritten Staffel Ermüdungserscheinungen erkennbar sind, verwundert nicht. Zunehmend wird neues Figurenpersonal benötigt, um die Abenteuer in Gang zu setzen. So ist es nur konsequent, dass 2009 bereits ein weiteres Spin-off entwickelt wurde. Das jüngste Mitglied der Herde hat seine eigene, ebenfalls dialoglose Serie erhalten: „Timmy das Schäfchen“ (im Original: „Timmy Time“). Diese richtet sich vor allem an Fernsehanfänger, zeichnet sich durch ihre langsame Erzählweise, den behutsamen Schnittrhythmus und die farbenfrohen Kulissen aus. Auf hektischen Slapstick wurde zugunsten einer überschaubaren Handlung verzichtet, die der Wahrnehmung jüngerer Kinder entgegen kommt. Schon im Vorspann gibt Schäfchen Timmy seiner Mutter den Schnuller. Als Kindergartenschäfchen braucht er ihn nicht mehr. Und bei Aardman beweist man wieder, dass man ein sehr gutes Gespür für die Entwicklungsaufgaben kleiner Kinder hat und angemessen und auf hohem Niveau für sie erzählen kann. Wenn sie älter sind, werden auch sie Shaun lieben und sich über dessen turbulentere Abenteuer freuen. „Shaun das Schaf – Der Film“ startet am 19.3.2015 im Kino. Kritik auf Seite 12.

Wichtige Aardman-Produktionen auf DVD/Blu-ray „Aardman classics“ Die wichtigste Sammlung von Aardman-Kurzfilmen aus den Jahren 1978-1999. Leider nur sehr schlechte Bild- und Tonqualität. Auf DVD als UK-Import. (Anbieter: Momentum) „chicken run – hennen rennen“ Der erste Langfilm des Aardman-Studios. Auf Blu-ray (Anbieter: Tobis) oder DVD (Anbieter: Universum Film – hier allerdings mit sehr schlechter Bildqualität). „Wallace & gromit – the complete collection“ Enthält auf Blu-ray die Kurzfilme „Alles Käse“, „Die TechnoHose“, „Unter Schafen“, „Auf Leben und Brot“ sowie die zehnteilige „Großartige Gerätschaften“-Serie. (Anbieter: Concorde) „shaun das schaf“ – special edition 1 Die beste Staffel der Serie mit 40 Episoden. (Anbieter: Concorde)

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