Filmdienst 7 2016

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FILM Dienst Das Magazin für Kino und Filmkultur

07 2016

Es brodeLt!

Ob Katastrophenfilm oder Liebesdrama: Wenn Vulkane im Kino auftauchen, dann liegt etwas in der Luft: Bedrohung oder Verheißung …

ZACK SNYDER

Mit ästhetisierten Gewaltspektakeln wurde der US-amerikanische Regisseur zu einem der umstrittensten Filmemacher. Eine Nahaufnahme.

NSU-Filmtrilogie

Drei Filme nähern sich dem Skandal um die NSU-Morde aus unterschiedlichen Perspektiven. Ein brisantes Unterfangen.

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Alle Katzen sind grau

31. März 2016 € 5,50 69. Jahrgang

Ein Mädchen engagiert einen Detektiv, der vielleicht sein Vater ist. Das wird zum Auslöser für ein subtiles Drama um Schein und Sein. Ein Gespräch mit der belgischen Filmemacherin für Savina Dellicour über ihren Film »Alle Katzen sind grau«.


filmdienst 07 | 2016 DIE NEUEN KINOFILME Neu im Kino Alle Starttermine

39 Alle Katzen sind grau 31.3. 47 Anhedonia – Narzissmus als Narkose 31.3. 47 Annemin Yarasi – My Mother’s Wound 17.3. 51 Die Baumhauskönige 7.4. 46 Café Waldluft 31.3. 40 Criminal Activities 31.3. 48 Eddie the Eagle 31.3. 45 Familie zu vermieten 31.3. 50 Freeheld – Jede Liebe ist gleich 7.4. 51 Gestrandet 7.4. 44 Im Himmel trägt man hohe Schuhe 31.3. 49 Im Spinnwebhaus 31.3. 47 Ip Man 3 7.4. 38 Ixcanul – Träume am Fuße des Vulkans 31.3. 51 Jesus Cries 7.4. 47 Kolpaçino 3 10.3. 47 Ein letzter Tango 7.4. 36 Ein Mann namens Ove 7.4. 37 Memories on Stone 9.4. 47 My Big Fat Greek Wedding 2 24.3. 43 Pelo Malo 31.3. 51 Sommer in Wien 31.3. 49 The Finest Hours 31.3. 42 The Forbidden Room 7.4. 41 Unter dem Sand 7.4.

39 Alle Katzen sind grau

49 Im Spinnwebhaus

Kinotipp  der katholischen Filmkritik

38 ixcanul - träume am fuSSe des vulkans

47 Ein letzter Tango

Stimmungsvolles Gesellschaftsdrama aus Guatemala mit vielschichtigen Figuren

fernseh-Tipps 56 Ein Themenschwerpunkt auf arte widmet sich dem neuen Rechtsruck in Europa. Außerdem nehmen sich auf arte Spiel- und Dokumentarfilme dem Wunsch nach Unsterblichkeit an. Disney Channel stimmt mit dem Klassiker »Das Dschungelbuch« auf die kommende Realverfilmung ein.

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40 Criminal Activities

36 Ein Mann namens Ove

Fotos: TITEL: Film Kino Text S. 4/5: Kairos, Film Kino Text, missingfilms, Alpenrepublik, Concorde, Tiberius, Warner, Zorro, Deutsches Filmmuseum

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07 | 2016 DIE ARTIKEL Inhalt Kino

Akteure

FilmKunst

16 Zack Snyder

22 Joel Basman

32 Memorabilia

10 vulkane im kino

20 savina dellicour

Von Jennifer Borrmann, Jens Hinrichsen, Felicitas Kleiner, Ulrich Kriest und Michael Ranze

Von Marguerite Seidel

16 zack snyder

Der 26-jährige Schweizer scheut keine Herausforderung und zählt deshalb zu den meistumworbenen Nachwuchsschauspielern. Aktuell bewährt er sich in »Unter dem Sand« einmal mehr als »angry young man«. Ein »Spielwütig«-Porträt.

Wenn die feuerspeienden Berge auf der Leinwand erscheinen, geht es rund. Dabei tauchen Vulkane nicht nur in Katastrophenfilmen aus, sondern funktionieren auch gern als Metaphern für eruptive Gefühlslagen. Eine Passage durch die Filmhistorie.

Der US-Regisseur gehört zu den umstrittensten Filmemachern des aktuellen BlockbusterKinos. Mit »Batman v Superman« schickt er sich nun an, seine ästhetisierten Gewaltbilder einem geplanten Franchise aufzuladen. Überlegungen zu den Grenzen der Ideologiekritik im digitalen Zeitalter. Von Tim Slagman

Die belgische Regisseurin erzählt in ihrem vielschichtigen Spielfilmdebüt »Alle Katzen sind grau« von drei miteinander verwobenen Schicksalen. Ein Gespräch über die 15-jährige Entstehungszeit des Films und die Vorzüge emotionaler Erzählweisen.

22 joel Basman

Von Alexandra Wach

24 drei filme über den nsu

Das Ausmaß des NSU-Skandals sprengt den Rahmen gewöhnlicher Fernsehfilme. Das Erste hat drei Spielfilme produziert, die jeweils eine eigene Perspektive wählen. Ein gewagtes Unterfangen, das Beachtung verdient.

27 e-mail aus hollywood

Die US-Filmindustrie hat mit dem Vorwurf zu kämpfen, nicht die Bevölkerungsvielfalt der USA widerspiegeln. Dabei setzen die Studios bei ihren Blockbustern schon länger auf ethnisch vielfältige Besetzungen. Von Franz Everschor

28 jürgen jürges

Der vielseitige Kameramann hat in seiner langen Karriere u.a. mit Fassbinder, Haneke und Wenders gedreht. Gerade wurde er mit dem Marburger Kamerapreis ausgezeichnet. Hommage an einen neugierig forschenden Bildgestalter. Von Thomas Brandlmeier

32 memorabilia

Die Ausstellung »Zusammen sammeln« im Deutschen Filmmuseum zeigt private Erinnerungsstücke und lädt zum Mitmachen ein. Neben viel Banalem findet sich auch manche Kostbarkeit unter den Exponaten. Ein Streifzug durch die Ausstellung. Von Alexandra Wach

Von Rainer Gansera

26 in memoriam

Heinz Badewitz hat sich als Gründer und Leiter der Hofer Filmtage über fast 50 Jahre hohe Verdienste um die Förderung des deutschen Films erworben. Ein Nachruf. Von Margret Köhler

Rubriken 3 Editorial 4 Inhalt 6 Magazin 34 DVD-klassik 52 DVD/Blu-ray 56 TV-Tipps 66 P.S. 67 Vorschau / Impressum

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I Lava You!

kino Vulkane

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Vulkane kino

Von Von der der Liebe Liebe des des Kinos Kinos zu zu Vulkanen: Vulkanen: Eine Eine film­ film­hhistorische istorische Passage Passage

Wo die feuerspeienden Berge auf der Kinoleinwand auftauchen, sorgen sie automatisch für Spannung: Die Drohung – oder Verheißung – eines Ausbruchs liegt in der Luft. Wobei es nicht immer nur um ­L avaströme und Ascheregen geht: Vulkane sind nicht nur Steilvorlagen für Katas­t rophenfilme, sondern auch beliebte Bildmetaphern für ­e ruptive ­Gefühlslagen.  Von Felicitas Kleiner

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kino Vulkane »Ixcanul« heißt in der Maya-Sprache »Vulkan«. Genauer: so viel wie »Kraft, die im Inneren des Berges brodelt und hinaus will«. Jayro Bustamentes gleichnamiger Debütspielfilm (Start: 31.3., Kritik in dieser Ausgabe) spielt im guatemaltekischen Hochland, am Fuß eines aktiven Vulkans. Mit einem Katastrophenfilm hat man es hier nicht zu tun: »Ixcanul« handelt nicht von einem Vulkanausbruch, sondern von den Ausbruchsversuchen eines Mädchens, das sich nicht mit einer arrangierten Heirat abfinden will. Trotzdem prägt der Vulkan die Atmosphäre: Drohend ragt er im Hintergrund auf, wie eine beklemmende Mauer oder eine steinerne Verkörperung der sozialen Zwänge, denen sich das Mädchen ausgesetzt sieht. Und ist doch gleichzeitig eine metaphorische Verheißung, dass auch die härtesten Verkrustungen aufgebrochen werden können, wenn der Druck im Inneren nur groß genug ist. Vulkane haben die Menschen seit jeher fasziniert. Fürs Kino waren und sind sie nicht zuletzt ästhetische Phänomene. Ein schönes Zeugnis dafür ist ein zwischen 1918 und 1924 entstandener Dokumentar-Stummfilm über den Vulkan Kilauea auf Hawaii (»The Volcano Kilauea«, produziert von Ray J. Baker): Die Kamera kann sich nicht sattsehen am Blick in den gewaltigen Krater, in dem sich träge die Lavamasse bewegt, und an den »Brunnen«, in denen das Magma fast weiß glühend an die Oberfläche dringt. Der Film setzt auf zwei Schlüsselreize des Motivs: aufs schiere Spektakel, hier wirkungsvoll in Szene gesetzt mit Hilfe von »Prizma Color«, einem frühen Farbfilmverfahren, verbunden mit dem Kitzel der Gefahr, der von ihm ausgeht: »Der Kameramann sagte: das ist mir nahe genug!«, informiert eine Texttafel zu Bildern der brodelnden Gesteinsmasse. Man meint fast, die Hitze zu spüren. Näher ran und tiefer hinein in die Vulkane ging es in den folgenden Jahrzehnten der Kinogeschichte freilich sehr wohl: Bis hin zu Paul W.S. Andersons 3D-Spektakel »Pompeii« (2013) und J.J. Abrams’ »Star Trek: Into Darkness« (2013), in dessen Exposition Mr. Spock sich mitten in den Krater eines Vulkans kurz vor der Eruption wagt, waren Vulkane fürs Kino stets eine Steilvorlage für im wahren Wortsinn feurige Kino-Action. Lava, Gesteinsbrocken und Asche so eindrucksvoll wie möglich aus dem Krater speien und auf rennende, schreiende Menschen herabregnen zu lassen, bleibt eine dankbare Aufgabe für Spezialeffekte-Teams – und eine Achillesferse des Vulkan-Subgenres: Wenn sich ein Film allzu sehr auf den Schauwert verlässt und zu wenig auf eine tragfähige Story setzt, verliert er sofort an Reiz, wenn die Tricktechnik wieder einen Schritt weiter ist. Weshalb Vulkan-Katastrophenspektakel wie James Goldstones »Der Tag, an dem die Welt unterging« (1979), Roger Donaldsons »Dante’s Peak« (1996) oder Mick Jacksons »Volcano« (1997) vergleichsweise schlecht altern. Umso besser, dass die brennenden Berge nicht nur eine Spielwiese für pyrotechnischen Budenzauber liefern. Es brauchte nicht erst »Ixcanul« – oder den Pixar-Kurzfilm »Lava«, der von der Sehnsucht eines einsamen Vulkans nach einer Gespielin erzählt –, um auf die Idee zu kommen, dass Vulkane mit ihren steinernen Oberflächen, in deren Inneren es heiß brodelt, ein sinniges Bildmotiv abliefern, wenn man von unterdrückten Leidenschaften erzählen will. »I lava you«, wie es im Song des Pixar-Films heißt! So harmonisch, wie diese kleine animierte Love Story endet, geht es freilich selten zu. Eher passen Vulkane zu melodramatischen Stoffen. Effektive Mischungen aus Exotismus, Vulkanismus und Liebesleid kredenzten 1932 King Vidors »Bird of Paradise« sowie 1951 das gleichnamige Remake von

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Film-Vulkane: Ein Best-of Delmer Daves. Inklusive spektakulärer Filmtode: Ihre Heldinnen, Dolores del Rio und Debra Paget, stürzen sich am Ende jeweils als Sühneopfer freiwillig in die Vulkane. Ob es der freudsche Todestrieb ist, der da durchschlägt? Zu dessen »Entdecker« erklärte der Wiener Psychoanalytiker in einem Aufsatz jedenfalls den griechischen Philosophen Empedokles, der sich der Legende nach in einen Vulkan gestürzt haben soll. Wenn dagegen in »Ich – einfach unverbesserlich 2« (2013) der Superschurke »El Macho«, an einen mit Raketen gespickten Riesen­hai gekettet, mitten in einen aktiven Vulkan hineinfliegt, dann hat das wohl eher wenig mit Freuds Todestrieb zu tun. Dafür aber sehr viel mit der Vitalität des Kinos, das immer bestrebt ist, noch einen draufzusetzen. Es noch bunter zu treiben. Um uns die kleinen und großen Gefühlseruptionen zu entlocken, für das wir es so lieben.

Der Pixar-Kurzfilm »Lava« zeigt das Werben um einen weiblichen Vulkan …

… durch den einsamen männlichen Nachbar-Vulkan.


Die Apokalypse, einstweilen vertagt: Werner Werner Herzogs Herzogs »La »La Soufrière« Soufrière« Bereits 1976 hatte es heftige Erdbeben in Friaul, in China und auf den Philippinen gegeben, als sich die Anzeichen für eine spektakuläre Explosion des Vulkans La Soufrière auf der Karibikinsel Guadeloupe mehrten. Teile der Insel waren schon evakuiert worden, als Werner Herzog sich entschloss, mit den Kameraleuten Jörg Schmidt-Reitwein und Ed Lachman nach Guadeloupe zu fliegen, um bei der Katastrophe live dabei zu sein. Das »Warten auf eine unausweichliche Katastrophe« (Untertitel) vertreiben sich Herzog und sein Team unter permanenter Lebensgefahr durch Ortsbegehungen und das Sammeln von Impressionen einer verlassenen Stadt, in der die Ampeln noch blinken und in den Häusern noch die Fernseher laufen. Tiere haben die Stadt erobert, Hunde, zu schwach, um noch zu bellen. Es ist Herzogs von ihm selbst gesprochener, pathetisch raunender Off-Kommentar, der die teilweise »leeren« Bilder im Zeichen einer ekstatischen Wahrheit in einen apokalyp­tischen Zusammenhang stellt: »gespenstisch wie ein Science-Fiction-Ort«. Während eines langen Kameraschwenks über die Hafenanlagen der menschenleeren Stadt Basse-Terre berichtet Herzog in biblischer Drastik, dass das Meer voller toter Schlangen sei, die in der Nacht aus dem Bergdschungel Richtung Meer geflohen seien, um dort den Tod zu finden. Gezeigt werden die Reptilien indes nicht. Danach wird die »Quelle der faszinierenden Stille« erkundet: der Krater, der toxische Gase verströmt. Herzog erinnert an eine historische Katastrophe auf der Nachbarinsel Martinique, deren einziger Überlebender ein Verbrecher in Einzelhaft war, der später im Zirkus als Attraktion ausgestellt wurde. Und er interviewt ein paar Männer, die sich fatalistisch der Evakuation entzogen haben, weil »wir alle sterblich sind«. Wer schließlich nicht mitspielt, ist der Vulkan selbst, der unerhörterweise nicht explodiert. Was aber auch schlicht sensationell ist, denn »noch nie in der Geschichte der Vulkanologie« (Herzog) sei eine Eruption bei so eindeutigen Signalen unterblieben. Zeitgenossen sahen in »La Soufrière« ein »merkwürdiges Selbstporträt des Regisseurs« (H.G. Pflaum), dessen titanischer Aufbruch ins ultimative Abenteuer buchstäblich implodiere. Heute, nach Filmen wie »Incident at Loch Ness« (2004) und Herzogs Imagewechsel hin zu einer Pop-Ikone, scheint der absurde Humor des gescheiterten Katastrophenfilms unüberhörbar.  Ulrich Kriest

Simulation und Stimulation: Robert Robert Siodmaks Siodmaks »Die Schlangen»Die Schlangenpriesterin« priesterin« »The Newest Pagan Sensation! Cobra Woman In Technicolor!« Damit warben die Universal Studios 1944 für Robert Siodmaks farbenfrohen Camp-Klassiker »Die Schlangenpriesterin«. Neueste heidnische Sensation ist nicht nur Maria Montez in einer Doppelrolle als gute und böse exotische Schönheit. Sondern das mythologische Moment: der eruptierende, von den Einwohnern als göttlich verehrte Inselvulkan, der regelmäßig menschliche Opfer verlangt, und der phallische Kobra-König. Die gutherzige Tollea wurde auf ebenjene Insel entführt. Sie soll die Schreckensregentschaft von Naja beenden. Wie sich herausstellt, ist die Hohepriesterin Naja Tolleas Zwillingsschwester. Deren frisch vermählter Ehemann ist bereits auf dem Weg, die Braut zu befreien. Höhepunkt des Films bildet ein besonderer Vulkanismus, und es braucht nicht viel Fantasie, um die sexuelle Metaebene zu erkennen: Najas legendärer Schlangentanz für die phallische Kobra, der untrennbar mit der Eruption des Vulkans verbunden ist. Der Schlangengott wird durch die archaisch-rituellen Wellenbewegungen der Frau beschworen, der Vulkan angeheizt. Als jedoch im Kampf ihr letzter Verbündeter stirbt, erlischt auch der Vulkan, die Inselbewohner sind frei. Tollea hingegen verzichtet nicht nur brav auf den obszönen Tanz, sondern auch auf Thron und Insel. Der Film ist kitschigste B-Movie-Südsee- (und Männer-)Fantasie vor gemalter Kulisse. Nur der Vulkan erscheint als tatsächlich gebaute Simulation. Aber auch der schönste Filmvulkan ist nur so gut, wie ihn seine ikonische Leinwandgöttin ausbrechen lässt. Maria Montez – Queen of Technicolor – und ihre Filme gehören spätestens seit Jack Smiths Manifest »The Perfect Filmic Appositeness of Maria Montez« zum Must-See in der Queer- und Experimentalfilm-Community. K ­ enneth Anger und John Waters können nicht falsch liegen.  Jennifer Borrmann

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filmkunst Memorabilia

Das Zeitalter des Web 2.0 hält Einzug ins Frankfurter Filmmuseum mit einer Mitmach-Ausstellung. Nicht jedes Erinnerungsexponat überzeugt. Und doch finden sich veritable Unikate in den subjektiven Schatztruhen von »Zusammen sammeln«. Von Alexandra Wach

Pa pa s ­ K i no -­ sa m m lu n g lebt !

Ohne Bewerten geht ja heute nichts mehr. Und tatsächlich. Die herzlichen Liebesbeweise der Konsumenten rieseln wie eine launische Duftnote über den Exponaten. Da wären etwa die diversen Kinoticket-Sammlungen, an denen in der Ausstellung nicht gerade Mangel herrscht. Meine ist älter! Meine ist größer! Und meine akribischer sortiert, schreit es aus den Vitrinen. Das eitle Zur-Schau-Stellen reicht natürlich nicht. Jeder Besitzer darf per Mini-Wandbildschirm seine gefühlige Geschichte zum Besten geben. Da wähnt man sich schon hin und wieder in einer jener Privat-TV-Lebensratgeber-Shows für unterbelichtete Neurotiker, so banal sind die Erklärungen der passio-

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Fotos: Deutsches Filmmuseum

Ist das Aufkleb-Herz am Eingang erstmal in die Hand gedrückt, macht sich ein mulmiges Gefühl breit. Mit dem passiven Schauen ist jetzt wohl Schluss. Das Museum sucht den Sammel-Superstar. Es will den Besucher aktivieren. Er soll nicht etwa nur seine Fan-Artikel herausrücken. Kreativ muss er werden, Noten verteilen, damit die Macher mehr über seine Vorlieben erfahren. Davon träumte schließlich schon Bert Brecht in seiner Mitmach-Radiotheorie – wenn auch nicht direkt vom Triumph der nur selten zuverlässigen Schwarmexistenz. Dass der alte Demokratisierungstraum der 68er ausgerechnet unter dem kommerziellen Druck der Klicks, Quoten und Besucherzahlen zustande kommt: Geschenkt!


Memorabilia filmkunst nierten Sammler, die das Gegenüber für ihre Tattoos mit Film­motiven von Dracula bis Tarantino gewinnen wollen, den abgenutzten DVDQuerschnitt mit Filmen von Johnny Depp, die »Star Wars«-Dioramen, den aus dem Lieblingskino entwendeten Kinositz oder die antike VHS-Kassette des kindlichen Dauerhits »101 Dalmatiner«. Ältere Jahrgänge beglücken die Aktivierten mit ihrer glamourösen Autogramm-Jagd im Schlepptau von Gary Cooper, Tippi Hedren oder Curd Jürgens, dessen Aura das Filmmuseum mit einem SchachEnsemble aus der eigenen Sammlung zu verstärken versucht, das sich immerhin an den James-Bond-Entwürfen eines Ken Adam orientiert. Den in Fotoalben blühenden Star-Kult donnert man mit einem Abendkleid von Maria Schell auf, oder einem Turban der jungen Romy Schneider. Bezeichnenderweise glänzt der Neue Deutsche Film – oder gar die Berliner Schule – durch Abwesenheit. Warum wohl ihre »Fans« bei dem persönlichen Erinnerungskitsch, zu dem über Facebook & Co. im Vorfeld aufgerufen wurde, nicht mitmachen wollten? Immerhin taucht Jung-Regisseur Dietrich Brüggemann, der sich inzwischen in der Vermittlerrolle zwischen den Fraktionen gut eingerichtet hat, mit einer eigenwillig geschnittenen »Casablanca«-Hommage aus seiner Studentenzeit auf – und gerät prompt zum subversiven Störfaktor. Selbst die Filmmusik-Abteilung zeigt sich anschlussfähig an die unverwüstlichen Retro-Charts-Nostalgie-Shows, in denen Prominente zu berichten wissen, mit wem sie gerade zu diesem oder jenen ABBA-Hit im Bett lagen. Die Hör-Duschen in der Schau präferieren eindeutig die 1980er-Jahre, vor »Flashdance«- und »Das Boot«Soundtrack gibt es kein Entkommen. Wie überhaupt das Stimmengewirr bei jedem Schritt einen höheren Pegel erreicht. Wie soll man da noch all die Texte mit den Kinobekenntnissen der üblichen Verdächtigen Katja Eichinger, Peter Maffay, Cem Özdemir, Alfons Schuhbeck, Eckhart Hirschhausen oder Regina Ziegler goutieren können? Da grenzt es an ein Wunder, dass in dem mitteilungsbedürftigen Einerlei hin und wieder eine veritable historische Rarität auftaucht: ein brüchiges »Hamlet«-Plakat von Asta Nielsen etwa, die Aushangfotos mit Louise Brooks aus »Die Büchse der Pandora« oder ein altes »Quartettspiel Filmgrößen« mit Porträts von Conrad Veidt und Brigitte Helm neben Hans Albers, Heinz Rühmann oder Willy Fritsch, die sich mit dem Nazi-Regime zu arrangieren wussten. Und selbst die rostigen Filmdosen aus einem russischen Archiv oder die Ausgabe von Athanasius Kirchers Klassiker »Ars magna lucis« von 1646 lösen sogleich einen Bewahrungsreflex aus. Die roten Harmonieherzchen sucht man hier indes vergeblich. + »Zusammen sammeln. Wie wir uns an Filme erinnern.« Sonderausstellung (bis 16.5.2016) im Deutschen Filmmuseum, Schaumainkai 41, 60596 Frankfurt am Main. Informationen: zusammen-sammeln.de Von Filmfans und ihren Sammlungen handeln Filme der Begleitreihe, die im März ein Treffen mit »Star Wars«-Fans (»Fanboys«. USA 2009. Regie: Kyle ­Newman), eine Begegnung mit dem »König der Statisten« im gleichnamigen Kurzfilm (Deutschland 2008. Regie: Michael Schwarz) sowie mit Henri Langlois, dem Gründer der C­ inémathèque française, bot (»Faire-part. Musée Henri Langlois – Cinémathèque française (8 Juillet 1997).« Frankreich 1997. R: Jean Rouch). Programm: http://deutsches-filminstitut.de/blog/zusammensammeln-die-filmreihe

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Kritiken neue Filme

Ein Mann namens Ove Wenn Ove aus dem Haus geht, bleiben seine Mitmenschen besser auf Abstand. »Idioten!«, ist der Lieblingsausspruch des 60-jährigen Mannes, der ihm beständig auf den Lippen schwebt, wenn er die heutige Gesellschaft betrachtet. Und den er unbekümmert um mögliche Ohrenzeugen ausspricht. Gelegenheit dazu hat er reichlich: Sei es im Blumenmarkt, wo er des Rabatts wegen zwei Sträuße kaufen muss, obwohl er nur einen braucht. Sei es bei der Arbeit, wo die jungen Mitarbeiter auf der »Unsitte« der Mittagspause bestehen. Oder in der Wohnanlage, wo Ove auf seinen Kontrollgängen immer wieder Zigarettenkippen aufsammelt, den Müll der Nachbarn umsortiert und Tiere anschnauzt, egal ob angeleinte Hunde oder herrenlose Katzen. Auf schlecht eingeparkte Autos klebt er Zettel, und falsch abgestellte Fahrräder werden gar konfisziert. Kein Wunder, dass Oves Nachbarn gegenüber dem grummelnden Griesgram auch keine sonderlich freundlichen Gefühle hegen. An ihm

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perlt Feindseligkeit jedoch ab, umso mehr, als er seit dem kürzlichen Tod seiner Frau Sonja seine noch ausstehende Lebenszeit ohnehin für begrenzt hält. Im realen Leben würde man einen großen Bogen um einen derart unleidigen Zeitgenossen machen; die Kinoadaption des schwedischen Erfolgsromans von Fredrik Backman durch den Regisseur Hannes Holm erweckt jedoch unwillkürlich Anteilnahme für den Protagonisten. Es ist offensichtlich, dass Rolf Lassgård die Idealbesetzung für den grantelnden Ove ist: Der hünenhafte schwedische Schauspieler verleiht seiner Figur eine Art unsichtbaren Ganzkörperpanzer aus einem permanent schroffen Tonfall und ruppigen Bewegungen. Wenn er den Reißverschluss seiner Jacke ruckartig halb zuzieht, kann niemand bezweifeln, dass Ove ein Gespräch für beendet hält. Hinter seiner robusten Massigkeit lässt Lassgård aber von Anfang an auch eine tiefe Traurigkeit aufscheinen. Sein Panzer ist auch ein Schutz vor der Außen-

welt. Das Gefühl, dass diese Misanthropie mit schlimmen Erfahrungen zusammenhängt, ist so bereits etabliert, wenn man erfährt, dass der mittlerweile arbeitslose Ove seinen Selbstmord plant. Doch als er im Anzug gerade auf einen Stuhl gestiegen ist und sich einen Strick um den Hals gelegt hat, bringt ihn Radau vor dem Fenster aus dem Konzept: Misstrauisch beäugt er eine unbekannte Familie beim Einzug und führt dem unbedarften Vater auch gleich korrektes Rückwärtsfahren vor. Danach ist er verständlicherweise erst mal nicht mehr in der rechten Selbstmordstimmung. Auch im Folgenden machen die neuen Nachbarn Ove aufs Köstlichste das Sterben schwer. Die kontaktfreudige und hochschwangere iranischstämmige Mutter Parvaneh lässt sich von Oves ablehnender Haltung nicht im Geringsten beeindrucken und taucht permanent bei ihm auf – ausgerechnet stets dann, wenn er einen erneuten Selbstmordversuch in Angriff nimmt. Daraus entwickelt sich

ein ebenso schöner Running Gag wie aus Parvanehs Geschick, Ove gegen seinen Willen zu sich steigernden Hilfsleistungen zu überreden. Erst geht es um eine Leiter, dann um eine Fahrt ins Krankenhaus, da ihr Mann von ebendieser gestürzt ist, als Folge davon wiederum will Parvaneh mit Oves Anleitung den Führerschein machen. Zudem wird der Einzelgänger auch als Aufpasser für die Kinder angeheuert, eine Aufgabe, die ihm weit besser gefällt, als er zunächst ahnt. Geschickt verwoben mit Oves allmählichem Auftauen sind Rückblenden in seine Kindheit und frühe Erwachsenenjahre, an seinen Vater und die erste Zeit mit Sonja, die berührende Erklärungen für seinen Kontrollwahn und sein Einzelgängertum bieten. Dabei setzen Holm und sein Kameramann Göran Hallberg auch einen bildlichen Kontrapunkt: Während Oves trübe Gegenwart fast nur matte Töne kennt, insbesondere in Grau und Blau, sind die Szenen der Vergangenheit in warme Farben und Licht getaucht. Das lässt sich als Visualisierung von

Fotos S. 36-51: Jeweilige Filmverleihe

Warmherziges Gefühlskino, in dem ein Misanthrop allmählich auftaut


neue Filme Kritiken Oves nostalgisch überhöhten Erinnerungen verstehen, unter denen sich allerdings auch etliche Momente des Verlustes befinden, sodass es mit dem Gefühlsfaktor der Rückschau nie zu viel wird. Ungemein sicher bewegt sich der Film zwischen großer Emotion und trockenem Witz, realistischer sozialer Anklage und optimistischem Feelgood-Kino – ein Meisterstück des Timings. Und wenn sich Oves gute Eigenschaften endlich auch in der Gegenwart wieder durchsetzen und sein aktiver Nachbarschaftsgeist aufs Neue erwacht, darf man dies getrost zu den schönsten Momenten der letzten Kinojahre rechnen. Marius Nobach Bewertung der Filmkommission

Ein 60-jähriger Witwer hat sich über Jahre hinweg durch Pedanterie und Unfreundlichkeit seine Umgebung zum Feind gemacht. Als er seine Arbeit verliert, will er sich umbringen, wird aber durch das Eintreffen neuer Nachbarn gehindert. Durch ihre hartnäckige Freundlichkeit besinnt er sich auf seine lange unterdrückten menschenfreundlichen Seiten. Eine in der Hauptrolle ideal besetzte, hervorragend inszenierte Komödie über die Läuterung eines Misanthropen. Der souverän zwischen Emotionen und trockenem Witz ausbalancierte Film überzeugt auch als unaufdringlicher Appell an mehr Mitmenschlichkeit. – Sehenswert ab 14.

EN MAN SOM HETER OVE Scope. Schweden 2015 Regie: Hannes Holm Darsteller: Rolf Lassgård (Ove), Filip Berg (junger Ove), Ida Engvoll (Sonja), Bahar Pars (Parvaneh), Tobias Almborg (Patrick), Klas Wiljergård (Jimmy) Länge: 117 Min. | Kinostart: 7.4.2016 Verleih: Concorde | FSK: ab 12; f FD-Kritik: 43 787

Memories on Stone Tragikomödie aus Kurdistan Ein kleiner Junge sitzt gebannt im Kino. Auf der Leinwand ist »Yol – Der Weg« zu sehen. Yilmaz Güneys Meisterwerk aus dem Jahre 1982, über die Unterdrückung des kurdischen Volkes. Es ist eine heimliche, verbotene Vorführung. Während auf der Leinwand das türkische Militär kurdische Rebellen abführt, dringen plötzlich irakische Soldaten in den Kinosaal ein und verhaften die Zuschauer. Es sind die finstersten Jahre der Unterdrückung, als Saddam Hussein die Kurden der Kollaboration mit dem Erzfeind Iran bezichtigte, die kurdische Sprache verbot und zu einem Vernichtungsfeldzug gegen die kurdische Bevölkerung aufrief. In der so genannten Anfal-Offensive kamen 1988 etwa 180.000 Menschen ums Leben; kurdische Dörfer und Städte wurden mit Giftgas angegriffen. 25 Jahre später findet in einem ehemaligen Gefängnis ein Casting statt. Das Regime ist längst gestürzt, dem Diktator wurde der Prozess gemacht, Kurdistan ist inzwischen eine selbständige Region im Nordirak. Zwei Jugendfreunde, Alan und Hussein, wollen einen Spielfilm über den Genozid des SaddamHussein-Regimes gegen die kurdische Bevölkerung im Nordirak drehen und suchen Laienschauspieler, die die Ereignisse miterlebt haben. Fast alle sind mit Begeisterung dabei. Nur die Suche nach einer weiblichen

Hauptdarstellerin war bislang erfolglos. Bis die schöne Sinur auftaucht, deren Kindheit im Schatten des Massenmordes stand. Doch im patriarchalisch geprägten Kurdistan kann das eine junge Frau nicht alleine entscheiden. Ihr Cousin Hiwa und sein Vater Hamid müssen ihre Zustimmung geben. Feierlich, fast wie bei einem Heiratsantrag ziehen die Filmemacher zum Haus von Sinurs Familie, um ihre Mitarbeit zu erbitten. Der Onkel lehnt zunächst kategorisch ab. Um die Hauptrolle dennoch spielen zu dürfen, stimmt Sinur der Verlobung mit ihrem ungeliebten Vetter Hiwa zu. Als die Dreharbeiten beginnen, eskalieren jedoch die Probleme; Geld und Zeit verrinnen, der Hauptdarsteller, ein beliebter kurdischer Sänger, besitzt wenig schauspielerisches Talent, und Sinars Familie schießt überdies quer: Hiwa ist eifersüchtig, und sein Vater redet von Verletzung der Familienehre. Alles geht schief. Bei der dramatischen Schlussszene wird Hussein lebensgefährlich angeschossen, die Produktion muss gestoppt werden. »Memories on Stone« ist ein Film im Film, über die tragikomischen Aspekte des Filmemachens unter schwierigen Bedingungen. Es ist aber auch ein Film über die therapeutische Funktion des Kinos, über nachgestellte Erinnerungen als Therapie, die Bewältigung

einer traumatischen Vergangenheit und die kathartische Kraft der Bilder. Gleichzeitig geht es um archaische Gesellschaftsstrukturen und tradierte Rollenbilder. Das kunstfertige Spiel mit den Zeitebenen kontrastiert Regisseur Shawkat Amin Korki mit einer eher direkten, teils dramatischen, teils volkstümlichen Inszenierung einzelner Szenen, wobei ihm eine erstaunliche Gratwanderung zwischen tragischem Ernst und Situationskomik gelingt. Das alles macht »Memories on Stone« zu einem sehr vielschichtigen Porträt der kurdischen Gesellschaft in einem kurzen Moment des Friedens und der Hoffnung. Eine Hoffnung, die von den aktuellen Entwicklungen allerdings allzu schnell überrollt wurde. Wolfgang Hamdorf

Bewertung der Filmkommission

Zwei Filmemacher wollen 25 Jahre nach der »Anfal-Operation« einen Film über den Genozid an den irakischen Kurden drehen, bei dem Saddam Hussein den Einsatz von Giftgas befahl. Als ihre schwierige Suche nach einer Darstellerin endlich Erfolg hat, beginnen die Probleme erst recht, weil die Verwandtschaft der Frau viele Vorbehalte hat. Hinzu kommen finanzielle Engpässe und ein tragischer Unglücksfall. Der tragikomische Film lotet im kunstsinnigen Spiel mit unterschiedlichen Zeitebenen die Rolle des Kinos als therapeutische Institution aus und zeichnet zugleich ein vielschichtiges, von vielen Widersprüchen geprägtes Bild der kurdischen Gesellschaft. – Ab 14.

BÎRANÎNÊN LÍ SER KEVÍRÎ Irak/Deutschland 2014 Regie: Shawkat Amin Korki Darsteller: Hussein Hassan (Hussein), Nazmi Kirik (Alan), Shima Molaei (Sinur), Rekesh Shahbaz, Hishyar Ziro, Suat Usta Länge: 97 Min. | Kinostart: 9.4.2016 Verleih: mitosfilm | FD-Kritik: 43 788

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kritiken Auf DVD/BLu-Ray

Grandma

Herzliche Tragikomödie mit Lily Tomlin

Wölfe BBC-Serie über die Tudor-Ära Die Tudors und insbesondere Heinrich VIII. haben es Filmemachern seit jeher angetan. Liegt der Fokus üblicherweise beim launenhaften König oder der unglückseligen Anne Boleyn, wählt die sechsteilige Miniserie

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Filmdienst 07 | 2015

noch nicht verkraftet. Die Trauer kann sie während ihres Trips nicht verbergen; ihr streitbares, teilweise provozierendes, doch auch starkes Auftreten scheint auch eine Art Abwehrmechanismus zu sein, der während der Fahrt mit ihrer Enkelin immer wieder aufbricht. Der Versuch, das Geld für die Abtreibung aufzutreiben, führt die beiden zu Freunden, alten Weggefährten und Bekannten von Elle. Bei diesen Begegnungen werden alte Wunden aufgerissen, Elle muss sich mit Konflikten aus ihrer Vergangenheit auseinandersetzen; und sie muss Lösungen finden, will sie ihr Ziel mit Sage erreichen. Es geht um richtige und falsche Entscheidungen, die im Leben getroffen werden und mit denen man dann leben muss. Und nun muss auch Sage eine Entscheidung über die Abtreibung treffen, die sie womöglich noch lange beschäftigen wird. Der Film lotet diese Fragen sehr feinfühlig aus, findet die richtige Balance zwischen amüsanten Momenten und ernsten Augenblicken. Die richtige Balance zwischen Zerbrechlichkeit und Selbstsicherheit findet auch Lily Tomlin in ihrer Darstellung der Elle,

nach den Romanen von Hilary Mantel einen reizvollen Neuzugang: Der Aufstieg des Anwalts Thomas Cromwell aus armen Verhältnissen zum wichtigsten Berater des Königs und Wegbereiter der Reformation steht im Fokus; vor den Augen des gewandten Taktierers stellt sich der Hof als Ort dar, an dem keine großen Männer und Frauen, sondern Eitelkeit, verletzter Stolz und andere Befindlichkeiten die Staatspolitik bestimmen. Und mittendrin steht der einsame Melancholiker Cromwell, dessen Preis für seinen Einsatz im Staat das persönliche Glück ist – eine dank der

die für diese Rolle für einen »Golden Globe« nominiert wurde. Auch wenn Julia Garner, Judy Greer oder Sam Elliott in ihren (Neben-)Rollen und Auftritten ebenfalls überzeugen, ist Tomlin die treibende Kraft eines Films, der es in nicht mal 80 Minuten und einer Erzählzeit von wenigen Stunden schafft, große Diskurse im kleinen Rahmen zu verhandeln. Auch wenn nicht alle Begegnungen von Elle gleichermaßen tiefgründig behandelt werden, ist der Film von »American Pie«- und »About a Boy«-Regisseur Paul Weitz am Ende doch eine herzliche und ehrliche Tragikomödie – und ein kurzweiliger Roadtrip durch Los Angeles zugleich. – Ab 12. Alexander Hertel GRANDMA USA 2015 | Regie: Paul Weitz Darsteller: Lily Tomlin, Julia Garner, Marcia Gay Harden, Judy Greer, Sam Elliott Länge: 76 Min. | FSK: ab 12 Anbieter: Sony FD-Kritik: 43 811

brillanten Gestaltungskunst von Mark Rylance durchweg faszinierende Charakterstudie. – Sehenswert ab 14. mno WOLF HALL Großbritannien 2014 Regie: Peter Kosminsky Darsteller: Mark Rylance, Damian Lewis, Claire Foy, Jonathan Pryce, Kate Phillips Länge: 360 Min. | FSK: ab 12 Anbieter: Polyband FD- Kritik: 43 812

Fotos: Jeweilige Anbieter

Es soll ein ereignisreicher Tag für Elle Reid (Lily Tomlin) werden: An einem launigen Morgen trennt sie sich die ältere Dame von ihrer jüngeren Lebenspartnerin Olivia; wirkliche Erklärungen bleibt sie ihrer Freundin schuldig. Und kurz darauf bekommt sie auch noch Besuch von ihrer Enkelin. Die 18-jährige Sage ist in Not, sie braucht dringend 630 Dollar. Ihre Großmutter findet schnell heraus, wofür sie das Geld benötigt, auch wenn Sage es erst nicht verraten will: Das Mädchen ist schwanger und will mit dem Geld eine Abtreibung finanzieren, die in wenigen Stunden am Nachmittag vorgenommen werden soll. Elle hat allerdings kein Geld zur Hand; all ihre Kreditkarten hat sie zerschnitten. Die resolute Frau bietet ihrer Enkeltochter dennoch ihre Hilfe an. So machen sie sich in einem alten Dodge auf den Weg, das Geld aufzutreiben. Die erste Station der beiden führt sie zu der Wohnung des jungen Mannes, der Sage geschwängert hat; Elle will ihn zur Rede stellen. Nicht nur diese Auseinandersetzung verdeutlicht: Elle scheint aller Freundlichkeit gegenüber Mitmenschen abgeschworen zu haben. Sie nimmt kein Blatt vor dem Mund, wenn es darum geht, anderen ihre Meinung zu sagen. Sage ist dieses Verhalten unangenehm. Doch hinter dieser rauen Fassade und den derben Sprüchen, die den Umgang mit Elle schwierig machen, verbirgt sich ein emotionaler Kern: Elle hat den Verlust ihrer ehemaligen Freundin immer


Kritiken fernseh-Tipps

SA

SAMSTAG 02. april

07.35 – 09.00 mdr Lola auf der Erbse R: Thomas Heinemann Märchenhaft-poetischer Kinderfilm Deutschland 2014 Sehenswert ab 8

21.50 – 00.05 einsfestival Der talentierte Mr. Ripley R: Anthony Minghella Freie Highsmith-Adaption USA 1999 Ab 16

14.00 – 15.30 KiKA Der wunderbare Wiplala R: Tim Oliehoek Amüsanter und aktionsreicher Abenteuerfilm für Kinder Niederlande 2014 Ab 8

22.10 – 00.35 zdf_neo American Gangster R: Ridley Scott Aufstieg und Fall eines Drogenbarons USA 2007 Ab 16

20.15 – 21.50 einsfestival Swimming Pool R: François Ozon Fabulierfreudiges Vexierspiel Frankreich 2003 Sehenswert ab 16

22.25 – 00.45 ProSieben American History X R: Tony Kaye Edward Norton als reuiger Neonazi USA 1998 Ab 16

20.15 – 22.25 ProSieben The Descendants R: Alexander Payne Familiendrama mit George Clooney USA 2011 Ab 14

23.00 – 01.00 Servus TV Before Midnight R: Richard Linklater Dritter Teil der mäandernden Dialogfilme USA/Griechenland 2013 Ab 14

20.15 – 22.15 SAT.1 Rapunzel – Neu verföhnt R: Nathan Greno Amüsanter Märchenanimationsfilm USA 2010 Ab 6

23.50 – 01.40 rbb Fernsehen Abenteuer in Rio R: Philippe de Broca Ironisch gefärbter Abenteuerfilm Frankreich/Italien 1963 Ab 16

20.15 – 23.00 Servus TV Little Buddha R: Bernardo Bertolucci Filmische Buddhismus-Lektion Frankreich 1993 Ab 16

01.10 – 02.38 Das Erste Ein Cop mit dunkler Vergangenheit R: Dito Montiel Psychogramm eines Getriebenen USA 2010 Ab 16

2. April, 20.15 – 22.15 SAT.1

Rapunzel – Neu verföhnt Der 50. Film der traditionsreichen Disney-Animations-Schmiede gehört zu den teuersten Filmen aller Zeiten. Das mag u.a. daran liegen, dass die Neuinterpretation des beliebten Grimm-Märchens in dem 2010 noch immens teuren 3D-Verfahren produziert wurde. Inzwischen hat die Komödie ihre 206 Millionen Dollar längst eingespielt. SAT.1 zeigt den Film in klassischem 2D. Das tut der Geschichte um die eingesperrte Königstochter keinen Abbruch, denn mit Witz und Schlagkraft nimmt das Mädchen mit den langen blonden Haaren ihre Befreiung hier mal selbst in die Hand – und findet trotzdem ihre große Liebe. 2./3. April

arte

Happy Birthday Queen Elizabeth II. Andere Monarchinnen sind einfach Königinnen, sie ist »die Queen«: ­Elizabeth II., die am 21.4. ihren 90. Geburtstag feiert, ist nicht nur in ­Groß­britannien beliebt. Seit ihrer Krönung 1952 hat sie auch in Deutschland einen festen Bewundererstamm. Das ist durchaus auch Thema der neuen Dokumentation »The Queen«, mit dem arte am 2.4. einen kleinen Schwerpunkt zu Elizabeth II. einläutet (20.15 – 21.45). Mehr aber geht es um die Kompromisse eines Lebens als Repräsentantin ihres Staats wie äußerste Disziplin, die ihr Ansehen in den letzten 64 Jahren gefördert haben. Auch die Bedeutung der prachtvollen Hochzeiten für die Inszenierung der Monarchie spielt eine Rolle, wie auch im anschließenden Dokumentarfilm »Die Ahnen der Queen« (21.45 – 23.00). Darin werden die Strategien einer Heiratspolitik beleuchtet, deren Ziel die Vernetzung der europäischen Königshäuser war. Protagonist ist der deutsche Prinz Leopold von Sachsen-Coburg, der u.a. als Onkel von Queen Victoria im 19. Jahrhundert allerlei politische Fäden zog. Abgeschlossen wird der royale Schwerpunkt am 3.4. mit »Englands heimliche Hymne – Land of Hope and Glory« (23.15 – 00.10) über die Wirkungs­geschichte der von Edward Elgar komponierten Krönungshymne.

American Gangster Auch wenn man Ridley Scott als Regisseur eher im fantastischen Genre verortet (zuletzt erfolgreich mit „Der Marsianer“), beweist er in Abständen immer mal wieder auch im klassischen Gangsterfilm sein Talent fürs große dramatische Epos. „American Gangster“ erzählt vom Aufstieg und Fall eines Drogenbarons in Harlem, der sich erfolgreich in die Geschäfte der italienischen Mafia drängt, aber schließlich von einem grundehrlichen Ermittler gefasst wird und sich mit der Justiz verbündet, um die wirklich Bösen seiner Zunft dingfest zu machen.

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Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.

2. April, 22.10 – 00.35 zdf_neo


fernseh-Tipps Kritiken

SO Ab 3. April, 23.05 – 01.05 SAT.1

3. April, 20.15 – 23.15

»Homeland« goes Berlin: Start der 5. Staffel

Ein Abend mit Charlie Chaplin

Zwei Jahre nach den Ereignissen in Staffel 4 hat es SerienHauptfigur Carrie Mathison (Claire Danes) nach Berlin verschlagen. Ihrem Job als CIA-Agentin hat sie ebenso wie ihrem Heimatland den Rücken gekehrt; sie arbeitet nun bei einer Stiftung, der Düring Foundation – und kann die politischen und moralischen Verwicklungen doch nicht hinter sich lassen; altes Verhängnis bringt sie und ihren ehemaligen Kollegen Quinn (Rupert Friend) nicht selten in existenzielle Grenzsituationen, deren Wendungen für ihre persönliche Geschichte staunen machen. Die BerlinSchauplätze evozieren bei leichter Klischee-Neigung treffsicher Typisches; es handelt sich um die erste Staffel einer US-Serie, die komplett in Deutschland produziert und gedreht worden ist. Die informationspolitischen Fragestellungen, um die die Serie kreist, sind auch nach Carries Ausscheiden aus der CIA noch virulent, etwa in kammerspielartig verdichteten Szenen, die um die mühsame Kooperation zwischen CIA und BND kreisen, einen Spielraum der »hidden agendas«, in welchem neben der wiederkehrenden Nina Hoss als BND-Agentin in Staffel 5 vor allem Martin Wuttke als leicht sinistrer Geheimdienstbeamter Adler überzeugt. Action-Szenen sind in den aktuellen Folgen seltener als in früheren Staffeln, dafür wohldosiert und von überwältigender Kontrastwirkung. »Homeland« erfindet sich mit Staffel 5 wieder einmal neu – nicht zu seinem Schaden! Karsten Essen

Seine letzten 25 Jahre verbrachte Charlie Chaplin in der Schweiz, nahe des Genfer Sees. Dort wird nun nach 15 Jahren Planung am 17.4. ein neues Museum eröffnet, das Leben und Werk des Jahrhundertkomikers präsentiert. Diejenigen, die angesichts dieser Aussicht nicht stante pede in die Schweiz aufbrechen und bis zur Eröffnung vor dem Anwesen campen, finden zumindest beim arte-Themenabend passablen Ersatz. Die fundierte Dokumentation »Charlie Chaplin, wie alles begann« (22.15 – 23.15) von Serge Bromberg und Eric Lange zeichnet nicht nur Chaplins Karriere nach und illustriert den Aufstieg des Slapsticks im Stummfilmkino und die Komplexität der »Tramp«-Figur, sie wartet auch mit Restaurationen seiner drei ersten Kurzfilme auf. In diesen ist bereits die Genialität des Komikers sichtbar, die später vor allem seine langen Arbeiten zu Kinoklassikern machte. So wie der Film, mit dem arte den Abend eröffnet: Chaplins immer wieder gern gesehene Hitler-Satire »Der große Diktator« (20.15 – 22.15).

arte

3. April, 20.15 – 22.45 ProSieben

X-Men – Zukunft ist Vergangenheit In einer nicht allzu fernen Zukunft haben Roboter fast alle »X-Men« ausgerottet und große Teile der Welt zerstört. Wolverine reist ins Jahr 1972 zurück, um die Zukunft zu retten. Dabei muss er sich auch der Mithilfe seines Mentors Xavier und dessen Nemesis Magneto versichern. Die originelle, aufwändig inszenierte Fortschreibung des »X-Men«-Mythos nimmt erneut die Diskussion um Akzeptanz und Diskriminierung auf und bettet sie in ein Action-Spektakel mit viel Sinn für Ironie und verhaltenem 3D ein. Auf ProSieben feiert die Kinofassung in 2D ihre Free-TV-Premiere. Sie glänzt weiterhin mit Schauwerten und Charaktertiefe, auch wenn Regisseur Bryan Singer seinen Fantasy-Blockbuster inzwischen fürs Heimkino um gut 15 Minuten erweitert hat.

sonntag 03. april

08.50 – 10.30 BR FERNSEHEN Carlitos großer Traum R: Jesús del Cerro Waisenjunge träumt von ­Fußballerkarriere Spanien 2008 Sehenswert ab 10 20.15 – 22.15 arte Der große Diktator R: Charlie Chaplin Ultimative Nazi-Satire USA 1940 Sehenswert ab 12 20.15 – 22.45 ProSieben X-Men – Zukunft ist Vergangenheit R: Bryan Singer Mutanten, Zeitreise & Seventies-Flair USA/Großbritannien 2014 Ab 14 20.15 – 21.55 zdf.kultur Die tödliche Maria R: Tom Tykwer Grandioses Spielfilmdebüt mit Nina Petri Deutschland 1993 Ab 16 22.15 – 23.15 arte Charlie Chaplin, wie alles begann R: Serge Bromberg, Eric Lange Leben und Werk des Komikerstars Frankreich 2013 Sehenswert ab 12 22.45 – 01.45 ProSieben Watchmen – Die Wächter R: Zack Snyder (siehe auch S. 16) Stylisch-düstere Comicbuchadaption USA/Kanada 2009 Ab 16 23.15 – 01.00 BR FERNSEHEN Barfuß auf Nacktschnecken R: Fabienne Berthaud Annäherung ungleicher Schwestern Frankreich 2010 Ab 16 23.50 – 01.15 mdr Allein in vier Wänden R: Alexandra Westmeier Doku über Jugendgefängnis im Ural Deutschland 2008 Sehenswert ab 14 00.10 – 01.58 Das Erste Königreich des Verbrechens R: David Michôd 17-Jähriger gerät unter ­verbrecherische Verwandte Australien 2010 Ab 16 01.30 – 03.00 hr fernsehen Menachem und Fred R: Ofra Tevet, Ronit Kertsner Holocaustüberlebende begegnen sich wieder Deutschland/Israel 2008 Ab 16

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