Filmdienst 19 2014

Page 1

FIlM DIenSt Das Magazin für Kino und Filmkultur

19 2014

www.filmdienst.de

ANTON CORBIJN Der niederländische Fotograf und Filmemacher verfilmte in Hamburg John le Carré: »A Man Most Wanted«.

HELSINKI Cineastische Städtetour zwischen torte und Wodka: Der neue »CityGuide« führt in die finnische Metropole

ROGER CORMAN Begegnung mit einer legende: Der Produzent/regisseur im Gespräch über seine Arbeit in Hollywood

19 4 194963 604507

01_Titel_19_14_2.indd 1

11. Sept. 2014 € 4,50 67. Jahrgang

einsame Menschen verharren bei edward Hopper in klaustrophobischen räumen. Der österreichische Filmemacher Gustav Deutsch übertrug 13 Gemälde des berühmten amerikanischen realisten (1882–1967) auf die Kinoleinwand.

EDWARD HOPPER

02.09.14 17:02


filmdienst 19 | 2014 neu im kino + 36 47 43 41 48 41 45

Alle StArttermine A Most Wanted Man 11.9. A World not Ours 18.9. Der Anständige 18.9. Die Biene Maja – Der Kinofilm 11.9. Concercing Violence 28.8. Everyday Rebellion 11.9. Gemma Bovery 18.9.

16 helsinki

26 literatur

KINOTIpp der katholischen Filmkritik

39 Song from the Forest 11.9. Kontemplativer Dokumentarfilm

50 49 47 38 50

Heli 18.9. Istanbul United 18.9. Der Junge Siyar 11.9. Lügen und andere Wahrheiten 11.9. Maps to the Stars 11.9. Mea Culpa 18.9. Million Dollar Arm 11.9. Nowitzki. Der perfekte Wurf 18.9. Schönefeld Boulevard 18.9. Sex Tapes 11.9. Shirley – Der Maler Edward Hopper in 13 Bildern 18.9. Sin City: A Dame to kill 18.9. Supermensch–Wer ist Shep Gordon? 18.9. The Texas Chainsaw Massacre 4.9. Töchter 11.9. War of the Worlds: Goliath 18.9.

fernseh-tipps 55 sechs spannende und innovative filme umfasst eine »russische reihe« bei 3sat. filme von benoît jacquot sind ebenso im fernsehen zu sehen wie ein neuer fernsehfilm von andreas kleinert, »monsoon baby«, zu dem es eine ausführliche kritik gibt.

3 4 6 52 55 66 67

4

rubriken editorial inhalt magazin dvd/blu-ray tv-tipps dvd-perlen vorschau / impressum

25 personen

32 dok-symposium

36 kinokritiken

34 magische momente

Fotos: michael Gais/Archiv FD/real Fiction/Blinker Filmprod./Capelight/Prokino. titel: KGP Kranzelbinder Gabriele Prod.

42 41 51 37 46 47 50 41 44 50 40

Filmdienst 19 | 2014

04-05_Inhalt_19_2014.indd 4

03.09.14 16:31


inhalt kino

akteure

film-kunst

10 anton corbijn

20 posy simmonds

28 roger corman

10 Anton Corbijn

die niederländer anton corbijn ist fotograf, videoclip- und kinoregisseur. nun hat er einen sponage-thriller von john le carré verfilmt: »a most Wanted man«. corbijns filme zeigen, was die kameralinse alles anstellen kann mit der Welt. und mit dem leben der menschen davor und dahinter.

22 »lebende bilder«

der österreichische experimentalfilmer gustav deutsch zeigt in seinem film »shirley« »lebende bilder« – tableaux vivants. dafür übertrug er 13 gemälde des berühmten amerikanischen realisten edward hopper (1882–1967) von der mal- auf die kinoleinwand. ein gespräch über das licht. Von Jennifer Borrmann

Von Tim Slagman

16 Auf nACh helsinki!

kino zwischen törtchen und Wodka: Wie in vielen großstädten befindet sich auch helsinkis kinokultur gegenüber den multiplexen und der dominanz von us-blockbustern in der defensive. doch in finnlands hauptstadt überleben nicht nur erinnerungen an eine frühere kino-Ära. ein neuer streifzug aus unserer reihe »fd-cityguide«. Von Olaf Möller

20 GrAfisChe Welten

zum zweiten mal spielt gemma arterton in der verfllmung einer »graphic novel« der comic-künstlerin posy simmonds: nach »tamara drewe« wurde nun deren bildergeschichte »gemma bovery« fürs kino adaptiert. simmonds erzählt passionsgeschichten hinter mittelklasse-fassaden.

25 in MeMoriAM

mit 90 jahren starb der britische charakterdarsteller und filmregisseur richard attenborough, der allein mit seinen inszenierungen »gandhi« und »cry freedom« filmgeschichte schrieb.

26 literAtur

christoph hübner und gabriele voss zählen zu den dokumentaristen, die sich im eigenen lebenskreis umschauen und kein verlangen nach exotischen sujets haben. ihr buch beschreibt ihr verhältnis zu »film/arbeit«. ebenfalls neu: charles chaplin in deutschland. Von Rainer Gansera & Rainer Dick

27 e-MAil Aus hollyWood

mark harris schrieb das bemerkenswerteste filmbuch, das in den vergangenen monaten auf den amerikanischen markt kam: »five came back«. Von Franz Everschor

28 roGer CorMAn

roger corman ist eine legende, der man nur zu gerne und zu jeder zeit zuhört. legendär wie seine edgar-allan-poe-verfilmungen mit vincent price, die ihn in den 1960er-jahren als filmemacher etablierten. bis heute produzierte corman 400 filme und führte bei ungefähr 100 filmen regie. Von Michael Saur

32 kinder & dokuMentArfilM

der dokumentarfilm für kinder ist ein fast ausgestorbenes genre. doch es gibt ihn, spannender und wichtiger denn je. ein symposium in köln will zeigen: »die Wüste lebt!« Von Marcus Seibert

34 MAGisChe MoMente

1989 drehte jane camion »sweetie«: ein fulminantes kaleidoskop aus satire und poesie, surrealismus des alltags und theatralischem Überschwang. Von Rainer Gansera

Von Felicitas Kleiner

66 fleisChMAnn & sChAMoni

zwei filme belegen, wie wagemutig das (west-) deutsche kino einmal war: »die hamburger krankheit« von peter fleischmann und „ein großer graublauer vogel“ von thomas schamoni. Von Ralf Schenk

Filmdienst 19 | 2014

04-05_Inhalt_19_2014.indd 5

5

03.09.14 16:31


kino anton corbijn

Foto aus »Anton Corbijn – Inside Out« von Klaartje Quirijns

10

Filmdienst 19 | 2014

10-15_anton_corbijn.indd 10

03.09.14 14:43


anton corbijn kino

Wenn sich ein Fotograf und Filmemacher wie der Niederländer Anton Corbijn (geb. 1955) eines Spionagethrillers von John le Carré annimmt, dann darf man vieles erwarten, nur keine handfeste Agenten-Action à la James Bond. »A Most Wanted Man« (Kritik in dieser Ausgabe) entstand nach dem Roman »Marionetten«, über den le Carré einmal sagte: »Ich bin die Geschichte mit ziemlich viel Wut angegangen, und meine Figuren haben diese Wut für mich zum Ausdruck gebracht.« Corbijn taucht in diese bewegte literarische Szenerie ein – und findet seine ganz eigene Sicht darauf. Eine Annäherung an Anton Corbijn und seine visuellen Konzeptionen.

Filmdienst 19 | 2014

10-15_anton_corbijn.indd 11

11

03.09.14 14:43


kino anton corbijn

Es fehlt etwas in den Filmen von Anton Corbijn: es fehlt die Farbe, wie in seinem Kinodebüt »Control« (2007), es fehlen die erklärungen und Biografien wie in »the American« (2010), oder es fehlt, ganz simpel formuliert, die Action – wie in seinem aktuellen Film »A most Wanted man«. Doch gerade weil dieser mangel sofort und unmittelbar erfahrbar ist, präsentiert er sich nicht als Schlamperei: Bei Anton Corbijn ist er Strukturprinzip. Von anderem gibt es dagegen zu viel: Zu viel Schweigen herrscht in »the American«, umso mehr Gerede in »A most Wanted man«, und immer, ganz besonders in »Control«, presst sich so viel repräsentation, so viel metapher, so viel komprimierte Bedeutung in die Szenen, dass diese Filme stets hochgradig stilisiert wirken. es ist vermutlich genau diese faszinierende Dialektik, die dafür sorgt, dass selbst Corbijns thriller nicht als Kassenhit taugen. »man muss den Film immer auch für sich selbst machen«, sagte der niederländer, allen Berichten nach ein eigentlich ausgesprochen bescheidener mensch. Der Sohn eines Priesters und einer Krankenschwester war als Fotograf und regisseur von musikvideos – vor allem von und für U2 und Depeche mode – längst berühmt, als er mit »Control« seinen ersten langfilm drehte, die Biografie des Joy-Division-Sängers ian Curtis. Die Vermutung liegt nahe: Anton Corbijn lernte zuerst das Zeigen und später das erzählen. Doch von Anfang an verweigerte er sich in seinen Filmen dem Spektakel. Während seine Bilder und Klänge durchaus für sich genossen werden können, lassen sie sich

12

allerdings erst in ihrer Vernetzung und montage richtig verstehen – nicht schlecht und vor allem ausgesprochen »filmisch« für einen, der dem »Guardian« einmal sagte, er habe noch gar nichts über das medium gewusst, als er sich an die Arbeit an »Control« machte. In seinem Debüt interessiert sich Corbijn jedenfalls mehr für den Kater danach als für den Rausch des Rock – eine Perspektive, die sich angesichts von ian Curtis’ Selbstmord mit 23 Jahren durchaus aufdrängt. Jeder exzess ist den Bildern konsequent ausgetrieben. Stattdessen rückt Corbijn den Alltag im Arbeitsamt, Beziehungsstreitigkeiten, das Abhängen im Backstage-Bereich in den Fokus. Die montage setzt den von Depressionen und unberechenbaren epileptischen Anfällen geplagten Curtis hinter der Bühne alternierend mit den wütenden Konzertbesuchern ins Bild, die von einem minderwertigen Sängerersatz wenig amüsiert sind – das ist bereits das maximum an dramatischer Zuspitzung. »A most Wanted man« ist weniger die erzählung der Jagd nach einem terrorverdächtigen in Hamburg als vielmehr die Schilderung der Bürokratie dieser Jagd: all das locken, Abwägen, Bluffen, Verhandeln – Geheimdienstarbeit als ewige verbale Vermittlung zwischen den mitarbeitern unterschiedlicher Behörden, ihren Fahndungs-Zielpersonen und deren Vertrauten. »the American«, in dem es George Clooney als Auftragskiller in ein Dorf in den Abruzzen verschlägt, präsentiert die tötungsbranche als Ort eines manchmal öden, in jedem Falle weniger hektischen als präzisen Handwerks: Der Film verwendet viel Zeit darauf, Clooney beim Zusammenschrauben,

Filmdienst 19 | 2014

10-15_anton_corbijn.indd 12

03.09.14 14:43


anton corbijn kino »lOOKing At A mOst wAnted mAn« Mit »looking at a most wanted man« beendet Anton Corbijn (nach »In Control« und »Inside The American«) seine Bildband-Trilogie, die während der Dreharbeiten zu seinen Kinofilmen entstand. Erneut versteht sich Corbijn dabei nicht als ausgefeilter Standfotograf, sondern fängt eher betont »amateurhaft« Stimmungen und Atmosphären, Räume und Menschen während der Drehpausen ein. Wobei er sich am Ende leicht kokett für manche Unschärfe entschuldigt: »So was kommt vor.« Die ganzseitigen, durchweg querformatigen Fotografien wurden auf festes mattes Papier gedruckt, was den Eindruck der rauen, seltsam unfertigen »Schnappschüsse« noch verstärkt, und wurden durchweg mit Corbijns handschriftlichen Kommentaren und Erläuterungen versehen. Ob Totale, Aufsicht oder Nahaufnahme: die Motive reihen sich als unberechenbare Impressionen von einem ansonsten selten zu sehenden Hamburg aneinander, mit Parkhäusern in der Abenddämmerung, S-Bahnhöfen in der Nacht, bunt beleuchteten Bars und Döner-Buden; hinzu kommen Filmsettings, charakterisiert durch höchst karge architektonische Strukturen. Dazwischen dann immer wieder die Menschen: Schauspielerinnen und Schauspieler in Drehpausen, mal Nina Hoss, mal Robin Wright, vor allem aber Philip Seymour Hoffman, dem Corbijn sein Buch gewidmet hat: »Dem Größten: PSH.« Auch dies sind alles andere als GlamourFotografien, sondern eher schmutzige, dunkle, unterbelichtete, mitunter auch wenig vorteilhafte Momentaufnahmen, die doch stets von eindrucksvoller Intimität und großer Nähe zu den Personen zeugen. Corbijns Lieblingsfoto entstand in Berlin und ziert auch das Buchcover: »Ich wollte, dass dieses Bild das Filmplakat wird, oder zumindest ein Teil, aber mein Wunsch wurde ignoriert.« Philip Seymour Hoffman von hinten im herbstlichen Wald: Es ist ein stiller, wehmütiger Abschied, ein Motiv von ikonischer Zeitlosigkeit. HPK Anton Corbijn: »looking at a most wanted man«. Verlag Schirmer/Mosel, München 2014. Englisch, mit beigefügtem deutschen Textheft. 180 S., 140 farbige Abb., 49,80 EUR.

Anfertigen und nachbessern eines Gewehrs für eine »Kollegin« zuzuschauen. »ich liebe Körpersprache. eine hohe Schnittfrequenz mag ich hingegen gar nicht«, sagt Corbijn. Die Feststellung geht über den Allgemeinplatz des entschleunigten erzählens hinaus, wäre also diese: Anton Corbijn reichert seine Filme thematisch wie motivisch mit Genre-elementen an – denen der musikerbiografie oder des thrillers –, und legt sein Augenmerk dann auf Handlungen und Abläufe, die in der repräsentation dieser Genres ungewöhnlich, eben nicht typisch »generisch« sind. Dies tut er so geschickt, dass vielen gar nicht auffiel, wie »the American« vor Klischees nur so strotzt – vom »allerallerletzten« Job des Killers bis zur heiligen Hure. Aber geht es überhaupt darum, diese Stereotypen zu verbergen? Die Verdopplung, die Überbetonung des Ausdrucks ist jedenfalls eine Charakteristik, die sich durch Corbijns Werk zieht. man darüber rätseln, ob seine Fotos von David Bowie, Herbert Grönemeyer (den er als Schauspieler und als Filmkomponist wiederentdeckt hat), von Bono, tom Waits und all den anderen, diese mal ätherisch entrückenden, mal in jede Gesichtsfurche greifenden Schwarz-Weiß-Bilder Fortschreibungen oder hinterlistige reflexionen des Starkults sind. ist es tatsächlich ein emotional verstärkender oder nicht viel eher ein banaler effekt, wenn Corbijn in »Control« die Bilder einer auseinanderfallenden ehe ausgerechnet mit dem Song »love Will tear Us Apart« von Joy Division unterlegt? Würden wir nicht auch begreifen, dass die Angeranztheit seiner Hamburger eckkneipe

»Silbersack« viel mit dem Wesen von Philip Seymour Hoffmans Geheimdienstler in »A most Wanted man« zu tun hat, wenn dort nicht bei jedem Besuch ein stinkbesoffener Gast sein Haupt auf der tischplatte zum ruhen brächte? Es ist nie so recht zu entscheiden, ob Anton Corbijn den punkt erreicht, an dem die Übertreibung kippt und das Klischee sich selbst zur Entlarvung bringt – oder ob er sich überhaupt nach diesem Punkt streckt. Vielleicht lässt sich ein Hinweis am ehesten in seinen musikvideos finden, in einstellungen wie der aus »Atmosphere«, ebenfalls von Joy Division, in der seltsame Kapuzenmänner Fotos von Band und Sänger Curtis durch eine dürre Steppenlandschaft tragen. Die Fotos werden hier als bearbeitbare materie ausgestellt, der nichts Fetischhaftes mehr anhaftet. Dann gibt es die surreale landschaft in nirvanas »Heart Shaped Box«: Kunststoffblumen vor einem gemalten Hintergrund, wo ein dürrer Kerl mit Weihnachtsmannmütze auf ein Kreuz mit Plastik-raben steigt und wo an anderer Stelle Plastik-embryonen von den Zweigen hängen. es ist nirvanas letztes Video: der traum eines Sterbenden womöglich, in einem Fantasiereich voller Blutmetaphern. Dem raum haftet bei Anton Corbijn nichts Wirkliches mehr an, er ist ganz auf seine repräsentative Funktion zurückgeworfen. Das ist im »Silbersack« so und überhaupt in den urbanen Settings eines Hamburg, das in »A most Wanted man« ein wenig zu perfekt zwischen graffiti-verzierter Vernachlässigung und schroffen behörd-

Filmdienst 19 | 2014

10-15_anton_corbijn.indd 13

13

03.09.14 14:43


Der Fotograf und Filmemacher im Zentrum des Dokumentarfims »Anton Corbijn - Inside Out«

Sam Riley in »Control« (2007); George Clooney in »The American« (2010)

kino anton corbijn

14

lichen Hochglanzfassaden oszilliert, zwischen den metonymien des Alternativen, Weltoffenen und des sich hermetisch in Denken und Handeln Abriegelnden. Auch die verwinkelten Gassen der Abruzzen-Dörfer in »the American« sind mehr Zitat als empirische Beobachtung: Jeder Quadratzentimeter Kopfsteinpflaster schreit nach ruhe, Kontemplation, Katholizismus und, angesichts des titels, nach dem exotismus eines traditionssatten europas – Versprechungen, die sich ebenso lust- wie gewaltvoll zerlegen lassen. »the American« ist der bislang einzige Film Corbijns, in dem die natur eine wesentliche rolle als Handlungsort spielt. Hierhin zieht man sich zum Picknicken zurück oder zum Austesten der Waffen auf einer improvisierten »shooting range«. es ist der rückzug vom rückzug, der sich auf der Wiese oder am Fluss ausproben lässt – Hoffnung auf ein idyll, gleichzeitig die Gelegenheit, seinem verbrecherischen treiben in ruhe weiter nachzugehen, beides entfernt von der Sozialkontrolle des Dorfs, die sich, wie sollte es auch anders sein, im redseligen Pfarrer materialisiert. in »Control« erhebt sich die Kamera erst zum ende aus dem streng kadrierten mief von innenräumen und dem Stein der Straßen; der Schornstein des Krematoriums bläst Curtis’ Asche in die »Atmosphere«, der passende Song dazu läuft, im Hintergrund eine weite Hügellandschaft und ein wolkiger Himmel.

2005 2005 2008 2009 2010 2011 2012 2013

»Alle meine erinnerungen an diese Zeit und an Joy Division, alle Unterlagen und die alten Fotos – das alles ist in Schwarz-weiß«, sagte Anton Corbijn. Jeder Film, den er bisher gedreht hat, basiert

control (FSK: ab 12, Anbieter: Alive) the American (FSK: ab 16, Anbieter: Universal Pictures) Anton corbijn - inside Out (Regie: Klaartje Quirijns. FSK: ab 6, Anbieter: Alive)

auf einem Buch, es sind Bearbeitungen von Bearbeitungen der Wirklichkeit. es ist diese Wirklichkeit, die in den Arbeiten von Anton Corbijn fehlt. Doch wir Kinogänger sollten am besten wissen, dass das empirische material dort draußen mit den Wahrheiten der individuellen und sozialen existenz nicht unbedingt zu verwechseln ist. Zurzeit stellt Corbijn gerade einen weiteren Film fertig. er heißt »life« und erzählt von einem Fotografen, der Bilder von James Dean machen soll. es ist das große Verdienst Anton Corbijns, uns zu zeigen, was die linse alles anstellen kann mit der Welt. Und mit dem leben der menschen davor und dahinter.

Veröffentlichungen: Bücher/filme (AuswAhl) Famouz. Photographs 1975-88 U2 & I: Die Photographien 1982-2004 In Control – Das Buch zum Ian Curtis Film Star Trak Inside The American Inwards and Onwards Private Passion Waits/Corbijn 1977-2011

Filmdienst 19 | 2014

10-15_anton_corbijn.indd 14

03.09.14 14:43


Fotos: mindjazz (10–11, 14)/Verlag Schirmer-mosel (12–13)/Capelight (14 l.)tobis (14 r.)/Senator (15 o.)/Youtube (15 u.)

Anton Corbijn und Rachel McAdams während der Dreharbeiten zu »A Most Wanted Man«

anton corbijn kino

Zwischen Kunst und KinO: music-clips VOn AntOn cOrBijn Viele Kinofilm-Regisseure drehen Video-Clips, wie auch viele Pop-Video-Regisseure sich vom Kino inspirieren lassen oder eigene Filmkarrieren vorbereiten. Ein stilvolles Beispiel ist Anton Corbijns Hommage an den deutschen Filmexpressionismus für die Band Propaganda: In Fritz Langs Kinoschurken Dr. Mabuse fand Corbijn einen Seelenverwandten zum schrillen und ausdruckfreudigen Life Style der frühen 1980erJahre. Schon immer regten Kunstwerke zu Neuinterpretationen und Nachschöpfungen an. Das Musikvideo stand lange im Verruf, sich »cliptomanisch« an der Film- und Kunstgeschichte schadlos zu halten. Inzwischen gibt es aber zahlreiche Beispiele bekannter Clips, die ihrerseits Remakes und Cover-Versionen inspirierten. 1990 hatte Anton Corbijn die Idee, den Song »Enjoy the Silence« der Band Depeche Mode mit Leadsänger David Gahan in der Rolle eines heimatlosen Königs zu inszenieren. Mit

einem Liegestuhl unter dem Arm wanderte Gahan durchs schottische Hochland, entlang der portugiesischen Küste, schließlich durch die Schweizer Alpen. Diverse Jahre später erlebte Corbijns Original ein Revival, als sich Chris Martin, Sänger von Coldplay, bei Corbijn eine Hommage dieses von ihm hoch geschätzten Clips bestellte. Coldplays »Viva la Vida«, 2008/09 ein Welthit mit mehr als vier Mio. bezahlten Downloads, wurde laut Corbijn tatsächlich von seinem Depeche-Mode-Clip inspiriert. So ließ er sich gern darauf ein, nun Chris Martin als ruhelosen König durch England wandern zu lassen. Die Gemälde-Reproduktion in seinem Arm, Delacroix’ »Die Freiheit führt das Volk«, erinnert an die Revolution, der einfach gehaltene Filmstil an Promo-Filme der 1960er-Jahre wie »A Whiter Shade of Pale«. Daniel Kothenschulte

Depeche-Mode-Sänger David Gahan als heimatloser König: Szenen aus Anton Corbijns frühem Videoclip zum Song »Enjoy the Silence« (1990)

Filmdienst 19 | 2014

10-15_anton_corbijn.indd 15

15

03.09.14 14:43


kritiken neue filme

a most Wanted man Krankheiten breiten sich häufig an Verkehrsknotenpunkten aus. egal, ob sie Körper oder in Gestalt von Ängsten oder ideologien die Köpfe von menschen befallen. Hamburg gilt als ein solcher Ort, an dem tausende Zuflucht suchen, bevor sie weiterreisen oder bleiben. in dem aber auch einige, wie die 9/11-terrorzelle um mohammed Atta, untertauchen, um Unheil in die Welt zu streuen. Die romanfigur igor »issa« Karpov, der als tschetschenischer terrorist in russland gefoltert wurde, bevor er heimlich in Hamburg strandet, ist ein solcher potenzieller infektionsherd. ersonnen hat ihn John le Carré in seinem roman »A most Wanted man«, der 2008 in Deutschland unter dem titel »marionetten« erschien und nun von Anton Corbijn verfilmt wurde. Will issa weiterreisen oder bleiben? Was trägt der muslim an mentalen Päckchen mit sich herum? Das sind die Fragen, über die sich die Sicherheitsbehörden den Kopf zerbrechen, als sie von issas illegaler einreise Wind bekommen, allen voran Günther Bachmann, lei-

36

ter einer deutschen Anti-terroreinheit. »mit kleinen Fischen fängt man Barracudas. Und mit Barracudas fängt man Haie«, verteidigt sich Bachmann vor den Behörden. Bachmann schätzt issa nicht als akute Bedrohung ein, möchte ihn aber an einer weit ausgeworfenen Angel baumeln lassen. insbesonders, da issa über ein Vermögen von mehr als 10 millionen Dollar verfügen könnte, die sein verstorbener Vater bei einer britischen Privatbank hinterlegt hat. eigentlich ist Bachmann hinter einem mann her, der ihn zu den »Haien« des terrorismus führen soll. Dr. Abdullah heißt der Akademiker, der Spenden für humanitäre Brennpunkte der muslimischen Welt sammelt. Alles rechtmäßig, bis auf ein kleines reederei-Unternehmen, mit dem Abdullah Geld in die Gewaltspirale des terrorismus schleust. issa, der seinen Vater, einen russischen Kriegsverbrecher, verachtet, soll das schmutzige erbe spenden, und Abdullah soll anbeißen. Aus »eigenem« Antrieb versteht sich. Dafür soll eine junge Anwältin

sorgen, die einwanderern in Hamburg zu ihrem (menschen-) recht verhilft. Von issa aber, hinter dessen geschorenem Bart ein schönes Gesicht zum Vorschein kommt, fühlt sich die Anwältin zugleich angezogen und zutiefst verunsichert. Weder die sexuelle Attraktivität des terroristen noch eine Figur wie Bachmann sind sonderlich neu. in der aktuellen US-Serie »Homeland« kann sich eine Agentin ebenfalls nicht dem Charme eines terrorverdächtigen entziehen, und wie Bachmann schützt sie ihre informanten, um ein großes netzwerk auffliegen zu lassen. Auch hier geht es um das heikle Abwägen zwischen Zugriff und Abwarten; und um einen Slogan, der Bachmann zunächst ebenfalls alle türen öffnet: »Für eine sicherere Welt.« Wie schon in »Control« (fd 38 519) und »the American« (fd 40 061) konzentriert sich Corbijn auch hier auf männliche einzelkämpfer. Die Spannung, dass der Köder die leine zerreißt, wäre indes größer, wenn sich sein Film tatsächlich um den »most Wanted man« von le

Carré drehen würde. Bei Corbijn heißt dieser aber nicht issa oder Abdullah, sondern Philip Seymour Hoffman, der als Günther Bachmann in seiner letzten rolle zu sehen ist. Hoffman spielt ihn als Agenten mit dem richtigen riecher und den falschen Vorgesetzten, dem die westlichen Anti-terror-Bürden sichtbar auf den Schultern lasten. Dieser Druck nimmt auch beim zigsten Zug an der Zigarette nicht ab. Dabei ist der Film derart auf Hoffmans eindrückliches Spiel konzentriert, dass Stars wie nina Hoss, Daniel Brühl oder robin Wright zu Stichwortgebern verkommen. Die Konzentration auf Bachmann führt auch zur reduktion von Figuren wie Abdullah, der das leid, das er mit Spenden bekämpft, durch die Unterstützung des terrors zugleich verstärkt. Seine mentale Verstrickung hätte mehr Augenmerk verdient. Dass Corbijns terroristenjagd aus Konferenz- und Abhörzimmern heraus solide abrollt, aber nicht gerade wie eine Bombe im Genre des Spionage-thrillers einschlägt, liegt auch an den wenigen Grautö-

Fotos S. 36-48: Jeweilige Filmverleihe

Melancholich-düsterer Spionage-Thriller von Anton Corbijn

Filmdienst 19 | 2014

36-52_Kinokritiken_19_14.indd 36

03.09.14 16:34


neue filme kritiken

nen. Ganz abgesehen von den entsättigten Farben, in die das bewölkte Hamburg getaucht wird. Die Schwarz-Weiß-malerei trifft dabei weniger die muslime als vielmehr Bachmanns Feinde in den eigenen reihen, deutsche Vorgesetzte und amerikanische Kollegen. Denn auch wenn Bachmann zunächst die Fäden in der Hand hat: marionetten ihrer Ängste und ideologien sind hier alle. Kathrin Häger

beWertung der filmkommission

ein deutscher geheimdienstmann, leiter einer anti-terroreinheit, der von seinen vorgesetzten an der kurzen leine gehalten wird, will einen in hamburg untergetauchten tschetschenischen flüchtling als köder benutzen, um an die hintermänner des terrors heranzukommen. zurückgenommene, fast spröde verfilmung eines spionagethrillers von john le carré, in der sich die düster-melancholischen bilder einer unterkühlten stadt mit dem brüchigen status der beamteten agenten zum packenden pessimistischen drama verbinden. der von philip seymour hoffmann grandios verkörperte protagonist eröffnet eine nüchterne, fast demaskierende perspektive auf das geheimdienstgeschäft. – ab 14.

großbritannien 2013 regie: anton corbijn buch: andrew bovell kamera: benoît delhomme musik: herbert grönemeyer schnitt: claire simpson darsteller: philip seymour hoffman (günter bachmann), rachel mcadams (annabel richter), robin Wright (martha sullivan), griogri dobrygin (issa), nina hoss (irna frey) länge: 122 min. | start: 11.09.2014

lügen und andere Wahrheiten

Eine unterhaltsame Bestandsaufnahme von Vanessa Jopp

er sei nicht achtsam gewesen. Deshalb habe er den mann, der ihn auf der Straße anrempelte, zusammengeschlagen. Das bekennt ein sanfter Yoga-lehrer gegenüber seiner Freundin, einer erfolglosen malerin, die an seiner sexuellen enthaltsamkeit zu zerbrechen droht. Orale Befriedigung gesteht er ihr zwar zu, weswegen all ihre Bilder die Vulva großformatig ins Visier nehmen; den Beischlaf aber verweigert der erleuchtete, um den hohen Anforderungen seines Gurus zu genügen. Als er trotz aller hart erkämpften Askese wegen der sich häufenden Gewaltausbrüche zurück nach indien flüchten möchte, stürzt sich die im Umgang mit anderen nicht gerade zimperliche Künstlerin aus dem Fenster und landet mit gebrochenem Arm im Krankenhaus. Das tragikomische Paar steht für eine von mehreren liebeskonstellationen in Vanessa Jopps Gesellschaftssatire, die mit erstaunlicher treffsicherheit den um sich greifenden narzissmus der mittelschicht unter die lupe nimmt. einer seiner nebeneffekte ist die Gleichgültigkeit gegenüber den nöten des Umfelds. Die beste Freundin der malerin etwa, eine kontrollsüchtige Zahnärztin, sieht sich kurz vor der Hochzeit von Zweifeln geplagt, ob sie die richtige Wahl getroffen habe. Gereizt von der stressigen Situation, entlässt sie ihre Aushilfe, eine junge russin, die regelmäßig Geld an ihre Familie schickt und ihrem Bruder 3.000 euro

beschaffen soll, angeblich für eine Operation des Vaters. Dass die Probleme anderer sie nichts angehen, signalisiert die Zahnärztin mit abweisender Kälte auch ihrer nachbarin, die vergeblich sozialen Anschluss sucht und sich schließlich im Stockwerk über der Praxis das leben nehmen will. Vom SuizidVersuch unangenehm betroffen ist aber nur der angehende Bräutigam. Was für die Ärztin nur ein Grund mehr ist, sein Vorleben zu studieren, zumal der immobilienverkäufer auf einmal die Hochzeitsringe nicht bezahlen kann. Den amüsanten reigen an fatalen Kettenreaktionen vervollständigt der grandiose Auftritt von elisabeth trissenaar. Als ihre tochter in der Praxis seelisch zu kollabieren droht, springt sie, selbst Zahnärztin, ihr zu Hilfe, nicht aber ohne dabei eine tirade an Vorwürfen und enttäuschten erwartungen abzuwerfen. Alle Figuren in dieser atmosphärisch abgestimmten, sich angenehm Zeit lassenden Komödie sind täter und Opfer zugleich. Sie reden aneinander vorbei, hören sich nicht zu oder stellen sich in einem besseren licht dar als es die realität hergibt. Jede rolle ist perfekt besetzt; selbst thomas Heinze meistert den Part des vergeblich den strengen Vorgaben seiner Partnerin gehorchenden Bauchmenschen mehr als überzeugend. Dank erfrischend lebensnah improvisierter Dialoge und des gut geölten ensembles, allen voran die in jüngster Zeit erfreulich wandlungsfähige meret

Becker, bereiten diese uneitel fotografierten Chaos-tage im großstädtischen milieu kurzweiligen Genuss, ohne indes auf Szenen zu verzichten, die von einer geradezu menschelnden Wahrhaftigkeit à la ingmar Bergman getragen sind. Da sieht man dann großzügig über die Anhäufung dramaturgisch wertvoller Zufälle hinweg oder über allzu berechnende rührseligkeiten im Finale. »lügen und andere Wahrheiten« ist beileibe kein meisterwerk, aber eine im besten Sinne unterhaltende Bestandsaufnahme heutiger Unzulänglichkeiten auf dem anstrengenden Weg der Selbstoptimierung. Alexandra Wach

beWertung der filmkommission

eine kontrollsüchtige zahnärztin zweifelt daran, ob die hochzeit mit einem immobilienmakler die beste Wahl ist. ihre freundin, eine erfolglose malerin, schlägt sich mit einem asketischen yoga-lehrer herum, während die russische praxishelferin viel geld für eine operation ihres vaters auftreiben soll. atmosphärisch fein abgestimmte gesellschaftssatire, die anhand mehrerer liebeskonstellationen treffsicher den narzissmus der mittelschicht unter die lupe nimmt. erfrischend lebensnahe dialoge und das beherzte darsteller-ensemble gleichen dramaturgische zufälle und allzu berechnende rührseligkeiten aus. – ab 14.

deutschland 2013 regie: vanessa jopp darsteller: meret becker (coco), thomas heinze (carlos), florian david fitz (andi), jeanette hain (patti), alina levshin (vera), elisabeth trissenaar

Verleih: senator | fsk: ab 6; f

länge: 106 min. | kinostart: 11.09.2014

fd-kritik: 42 554

Verleih: Wild bunch | fd-kritik: 42 555

Filmdienst 19 | 2014

36-52_Kinokritiken_19_14.indd 37

37

03.09.14 16:34


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.