Filmdienst 12 2015

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FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

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O N E -TA K E

Sebastian Schipper & „Victoria“: Ein Kinofilm in einer Einstellung ist e in Versuch über den Wahnsinn.

C IT YG U I D E

FLORIAN DAVID FITZ ZÄHLT ZU DEUTSCHLANDS BELIEBTESTEN SCHAUSPIELERN. NUN SPIELT ER IN CHRISTOPH HOCHHÄUSLERS POLIT-THRILLER „DIE LÜGEN DER SIEGER“.

MÜNCHEN ist e ine höchst v itale Film-Stadt zwischen traditionellen Familienbetrieben und Multiplexen.

A LF R E D H O LI G H AU S Journalist, Produzent, Ku rator, Geschäftsführer, Filmpolitiker: Ein Gespräch über ein Leben mit Film. 12 4 194963 605504

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11. Juni 2015 € 5,50 68. Jahrgang

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filmdienst 12 | 2015 kinotipp

der katholischen Filmkritik

20 florian david fitz 42 city of mcfarland

neu im kino + 46 51 50 45 51 42 37 43 44 39 40 48 41 47 49 36 38

ALLE STARTTERMINE 8 namen für die liebe 11.6. Agnieszka 18.6. Amapola – eine sommernachtsliebe 18.6. Beyond punishment 11.6. Big game 18.6. city of Mcfarland 18.6. Das dunkle gen 11.6. love & Mercy 11.6. love hotel 11.6. Die lügen der sieger 18.6. Made in Ash 11.6. poltergeist 28.5. rico, oskar und das herzgebreche 11.6. san Andreas 28.5. trash 18.6. Victoria 11.6. was heißt hier ende? 18.6.

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fernseh-tipps 56 Auf prosieben startet „empire“: eine ambitionierte neue us-serie im gewand eines „Königsdramas“ im hiphop-geschäft. Weitere attraktive Fernsehpremieren: „Die Nonne“ von Guillaume Nicloux, „Oslo, 31. August“ von Joachim Trier und „Shadow Dancer“ von James Marsh. Der mdr gratuliert Gojko Mitic, dem Lieblings(film-)indianer der DDR, zum 75. Geburtstag.

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Fotos: Martin Menke. S. 4/5: Universal Home Ent., Walt Disney, nfp, StudioCanal, Senator, Filmfestival Cannes, Warner Home, Deutsche Filmakademie/Florian Liedel

ein us-sportfilm mit erstaunlichem Tiefgang

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inhalt kino

akteure

filmkunst

16 cityguide münchen

22 alfred holighaus

34 magische momente

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Drehen ohne abzusetzen: Sebastian Schippers „Victoria“ ist der jüngste Versuch, einen Film in nur einer Kameraeinstellung zu drehen. Ein essayistischer Beitrag über Sinn und Wahnsinn von One-Take-Shots und Plansequenzen. Von Jens Hinrichsen

16 cityguide münchen

zwischen dem Querdenker Karl Valentin und dem Mainstream von constantin film stellt sich die bayerische Metropole als Filmstadt mit reicher Historie und vielfältiger Gegenwart dar. Ein weiterer Teil unserer „CityGuide“-Stadttouren. Von Dunja Bialas

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in christoph hochhäuslers polit-thriller „Die lügen der sieger“ verändert der Schauspieler sein Image als Sympathieträger. Im Interview erzählt er von den Herausforderungen als Darsteller, von der Sucht nach Anerkennung und einem schwierigen Kinoland. Von Margret Köhler

22 alfred holighaus

Am 1. Juli wird Alfred holighaus neuer präsident der spitzenorganisation der filmwirtschaft (spio). Anlass für die Erinnerung an seinen Werdegang als Journalist, Festivalkurator und Geschäftsführer der Deutschen Filmakademie. Von Horst Peter Koll

26 literatur

in neuen Autobiografien blicken die US-amerikanische Schauspielerin Anjelica Huston und der DEFA-Regisseur Günter Reisch auf Leben und Arbeit zurück.

27 e-mail aus hollywood

lange haben sich die universal studios auf den Kino-lorbeeren ihrer Vergangenheit, ausgeruht, auf „Frankenstein“ oder „Der weiße Hai“. Nach einigen Kassenerfolgen hat Universal nun die Chance, an die Spitze zurückzukehren. Von Franz Everschor

28 festival de cannes

Die nachlese zum 68. filmfestival in cannes versammelt herausfordernde werke und räumt mit dem Vorurteil auf, dass „Cannes“ in diesem Jahr eher schwach gewesen sei. Jacques Audiard verrät, wie er auf die Idee von „Dheepan“ gekommen ist. Von Josef Lederle & Margret Köhler

34 magische momente

Mit naiver herzensgüte übertrumpft parsifal in John Boormans „excalibur“ bei der Suche nach dem Heiligen Gral die anderen Ritter der Tafelrunde. Von Rainer Gansera

Von Jochen Kürten & Ralf Schenk

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ruBriKen EDITORIAL INHALT MAGAzIN DVD/BLU-RAy DVD-PERLEN TV-TIPPS ABCINEMA VORSCHAU / IMPRESSUM

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kino film in einer einstellung

augen auf und durch! Plansequenzen und der sagenhafte »one-take« filmemachen ohne (Viel) schnitt

Von den gebrüdern lumière bis zu sebastian schiPPers aktuellem kinofilm „Victoria“: eine abgeschlossene filmeinstellung kann 44 sekunden oder 144 minuten dauern. aber wer tut sich den marathon des sPielfilmlangen „kameraschusses“ an? und wozu? Von Jens hinrichsen

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Angenommen, das olympische Komitee führte eine Metadisziplin aus Bodenturnen, Marathon und hürdenlauf ein – diese absurde Kombination käme den Anforderungen beim Dreh von „Victoria“ ziemlich nahe. Mit Nervenstärke, Kondition und Glück haben Regisseur Sebastian Schipper und sein Team in einer Aprilnacht 2014 einen Film in einem zug gedreht – ohne Schnitt. Natürlich geht „Victoria“ (Kritik in dieser Ausgabe) über die sportliche Anstrengung weit hinaus. Als kollektive Kunstleistung grenzt das filmische Ergebnis ans Unheimliche. Freundschaft und Liebesanbahnung, ein Raubüberfall mit katastrophalen Folgen: Die Geschichte einer Nacht in Berlin, die dem Leben der jungen Spanierin Victoria eine jähe Wendung gibt, entwickelt einen dramatischen Sog, den man selten erlebt im Kino. Der One-Take, die filmlange Einstellung, gilt als Heiliger Gral des Kinos. Ob es Sebastian Schipper wichtig war, das Heiligtum zu finden, sei dahingestellt. Es ging ihm wohl eher um das Filmemachen als Äquivalent zum realen Wahnsinn des Verbrechens – um Kino als Guerilla-Aktion. Schauspieler, die gleichsam ohne Sicherheitsnetz um ihr

Leben spielen müssen. Scheitern oder alles gewinnen. Die Aufnahmen von Kamera und Mikrofon seien „das Material, mit dem die eigentliche filmische Geste, die Geste des Schneidens und Klebens, zu tun hat“, schrieb Vilém Flusser in seiner Phänomenologie „Gesten“. Diese Feststellung scheinen Schipper (und seine wenigen Vorläufer) außer Kraft zu setzen. (Die Soundebene ist ein anderer Fall, vgl. Interview). Handelt es sich um Rückfälle in die Frühzeit der Filmgeschichte? Paradoxerweise stellt sich heraus, dass One-TakeFilme ohne die hochdifferenzierte Kunst der Filmmontage undenkbar wären.

inszenieren Als experiMent Am Anfang stand der kunstlose und sehr kurze One-Take. Es gab nichts anderes. Die Filme der Lumières und Skladanowskys in den 1890er-Jahren bestanden aus Einstellungen von wenigen Minuten. Die Kamera war meistens starr am Stativ befestigt, sodass die Szenen kaum mehr als Einzelfotos mit bewegtem Inhalt waren. Im nachfolgen-

den Jahrzehnt entwickelte sich der Filmschnitt als narratives Mittel. 1903 drehte Edwin S. Porter „The Great Train Robbery“, eine Reihe aus 14 meist statischen Szenen, die phasenweise die Geschichte eines Eisenbahnraubs erzählten. Streng genommen waren es bereits Plansequenzen – Handlungseinheiten in ungeschnittenen Shots –, obwohl dieser Begriff erst Jahrzehnte später von André Bazin geprägt wurde. Der französische Filmtheoretiker orientierte sich dabei vor allem an der Praxis Jean Renoirs in den 1930er-Jahren, Kameraschwenks und das Erzählen aus der Tiefe des Raums („Mise en scène“) dort vorzuziehen, wo andere Regisseure die Montage vorgezogen hätten. Bazin begeisterte sich für die Kamerafahrten und tiefenscharfen Long-Takes in Orson Welles’ Erstling „Citizen Kane“ (1941). Max Ophüls, Luchino Visconti, Michelangelo Antonioni, Jean-Luc Godard und andere Regisseure haben zur Kunst der Plansequenz in den nachfolgenden Jahrzehnten beigetragen (vgl. Kasten). Wie ein Taucher, der eine unverrückbare Rekordmarke im Luftanhalten setzen will, versuchte es Alfred Hitchcock Ende

„Victoria“

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der 1940er-Jahre ganz ohne Schnitt: Den „Cocktail für eine Leiche“ („Rope“, 1948), also die Party mit einem versteckten Toten, geben die Homosexuellen Brandon und Phillip in ihrem New yorker Appartement. Sie ermorden einen Mitstudenten, werfen seine Leiche in eine Truhe und lassen auf diesem Sarg ein Buffet für Freunde und Familie des Toten anrichten. Was wie verfilmtes Theater aussieht, war für Hitchcock „reines Kino“: „Der Apparat bewegt sich, die Darsteller bewegen sich und komponieren im Spiel die unterschiedlichen Einstellungen“, erklärte der Regisseur. Als Set ließ er eine Wohnung mit verschiebbaren Wänden und Manhattan-Skyline hinter dem Fenster bauen und realistisch beleuchten, inklusive Studio-Sonnenuntergang zum Finale. Gänge vom Wohnzimmer durch eine Tür zum Flur kamen, anders als üblich, ohne Schnitt aus. Nur nach jeweils acht Minuten musste ein Kameranegativ ans andere geklebt werden. Für die Schauspieler war es der Horror, die langen Takes zu spielen. Anders als Schipper gelang es Hitchcock aber nicht, den Stress beim Dreh in Spannung für den zuschauer umzuwandeln. („Rope“ hat trotzdem seine fesselnden und amüsanten Momente.) Später fand er: „Jetzt, wenn ich darüber nachdenke, ist mir völlig klar, dass

das [Experiment] idiotisch war.“ Sein harsches Selbsturteil und implizites Lob des Filmschnitts muss man nicht verallgemeinern, wie der Fall des 2014 verstorbenen Miklós Jancsó zeigt. Er wisse nicht, was Montage sei, gestand der ungarische Filmemacher, habe auch nie verstanden, wie das funktioniert: Einstellungen aus Schuss und Gegenschuss aneinanderzureihen. Jancsó drehte Filme wie „Roter Psalm“ (1972) aus wenigen durchchoreografierten Einstellungen, in denen sich Kamera und Darsteller gegenseitig umkreisten – meist so lange, wie die Filmrolle es erlaubte. Bis er im Spätwerk von der Arabeske abkam, waren Jancsós Schnitte eigentlich immer nur Klebestellen. Heute kommen die Filme seines 34 Jahre jüngeren Landsmanns Béla Tarr („Das Turiner Pferd“, 2011) mit extrem wenigen Einstellungen aus.

Die KAMerA niMMt Die perspeKtiVe Des trAuMwAnDelnDen erzählers ein

Mit dem Wandel vom chemischen zum elektronischen Bild war der Filmrollenwechsel verzichtbar, neuere Speichertechniken

d u rc h g e d r e ht : „sunrise“ f.W. murnau, 1927

in den anderthalb minuten der ersten virtuosen plansequenz der geschichte schleicht sich ein junger farmer aus dem dorf ins moor, schlägt sich durchs gestrüpp, klettert über einen zaun, um schließlich seine im vollmondlicht wartende geliebte zu umarmen. einziger zeuge: die studiokamera.

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erlauben zeitlich unbegrenzte Dauerdrehs. So konnte der Brite Mike Figgis im Jahr 2000 für „Timecode“ vier ununterbrochene 90-Minuten-Shots auf die Leinwand bringen – und zwar, dank Split-Screen-Ästhetik, gleichzeitig. Die vier Parallelszenen montiert sich der zuschauer im Kopf selbst zusammen. Interaktives Kino: ein Gimmick? Konventioneller Filmschnitt sei doch das eigentliche Gimmick, erklärte Figgis und brach die Lanze für ein unverfälschtes Erzählkontinuum – und für das Motivieren eines denkfaul gewordenen Publikums. Figgis: „Die Ehe zwischen Schnitt und Plot liefert dem Publikum das Adrenalin, nach dem es inzwischen regelrecht süchtig ist.“ Auf einen 84-Minuten-Take kam der griechisch-kolumbianische Regisseur Spiros Stathoulopoulos mit „PVC-1“ (2007). Gustavo Hernández aus Uruguay behauptete 2010, seinen Low-Budget-Thriller „The Silent House“ in einer einzigen 86-minütigen Einstellung aufgenommen zu haben. Dumm nur, dass er den Kameratyp angab: Die Canon 5D kann lediglich zwölf Minuten am Stück aufzeichnen. Die Dreharbeiten zu Alexander Sokurows „Russian Ark“ am 23. Dezember 2001 in der Eremitage in St. Petersburg waren logistisch ähnlich anspruchsvoll und stra-

S p e k ta k u l ä r e

„sklavin des herzens“ alfred hitchcock, 1948 ingrid bergmans beichte in diesem kostümfilm hat 560 wörter, mehr als jeder hamlet-monolog. die kamera filmt die mit perlentiara bekränzte lady wie ein maler-modell des 18. Jahrhunderts, frontal, im profil, im dreiviertelprofil: ein bewegtes und bewegendes frauenporträt in neun minuten.

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„im zeichen des bösen“ orson Welles, 1958

furioses intro mit einem attentat an der mexikanisch-amerikanischen grenze: ein zeitzünder wird scharfgestellt, das auto mit der Bombe im kofferraum kreuzt den Weg des flanierenden protagonistenpaars, das dann miterlebt, wie der schwerreiche fahrer und seine geliebte nach dreieinhalb minuten in die luft gejagt werden.

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„Touch of Evil“

paziös wie später bei „Victoria“. Knapp 90 Minuten HD-Video nahm der Kameramann Tilman Büttner („Lola rennt“) auf einem speziell konstruierten Festplattenrekorder auf. Da Tageslicht benötigt wurde, war das zeitfenster auf vier Stunden limitiert, ein zweiter Drehtag im staatlichen Museum ausgeschlossen. Das Kamera-Auge nimmt die Perspektive des traumwandelnden Erzählers ein, man hört seine Stimme aus

dem Off, ein mephistophelischer französischer Marquis begleitet ihn, ein ziemlicher Russland-Verächter, der auch im Bild zu sehen ist. Obwohl sie die Museumssäle in Echtzeit durchschreiten, passieren die Besucher drei Jahrhunderte russischer Geschichte, treffen Peter den Großen, zarin Katharina oder Nikolaus II., sind zaungäste bei Audienzen, Soupers und einem Ball, betrachten zahllose Gemälde und Statuen aus

dem Museumsbestand. Schon der Titel deutet an, welch reaktionäres Unternehmen die „russische Arche“ ist. Sokurow behandelt Geschichte wie eine Museumskollektion. Was immer geschehen ist, wird hochglanzpoliert und in die Vitrine gestellt. Als technisch-ästhetische Sonderleistung nötigt der Film immerhin Respekt ab: Nach Theo Angelopoulos, der sich in einer Plansequenz von „Der Blick des Odysseus“ (1995)

„Russian Ark“

e q u e n z e n „weekend“ Jean-luc godard, 1967

corinne und roland fahren auto. auf der landstraße: ein stau, gesäumt von Wracks und leichen. hupkonzert. die immobile gesellschaft regt sich auf – oder vertreibt sich mit Ball- oder schachspiel die Wartezeit. das eilige paar überholt auf der gegenspur, die kamera fährt am straßenrand mit – fast acht minuten lang.

„beruf: reporter“ michelangelo antonioni, 1975

sechs unerreichte schlussminuten: Jack nicholson liegt auf dem hotelbett im südspanischen kaff, die kamera fährt langsam auf das fenstergitter zu. auf dem sonnenglühenden platz hält ein dorfbewohner siesta, eine junge frau erwartet ein killerkommando. schüsse im off, polizei fährt vor; irgendwann – aber wie? – ist die kamera durch das gitter nach draußen geglitten, schwenkt über den platz, blickt zurück zur fensteröffnung – im Bett liegt nicholsons leiche.

„opfer“ andrej tarkowskij, 1986

alexander, ein alternder schauspieler, hat sein haus angezündet. vor dem kleinen inferno auf der insel gotland spielen sich dramatische szenen zwischen dem Brandstifter, seiner frau und anderen zeugen ab. Beim ersten sechs-minuten-dreh ging die kamera kaputt. tarkowskij bestand darauf, die plansequenz zu wiederholen, ließ das haus wieder aufbauen und erneut bis aufs fundament abbrennen.

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Montage bearbeitet das Material des Films, wie der Tod das Leben bearbeitet“, schrieb er. Ohne den Tod, fand der Filmemacher, käme das Leben einer unendlichen Plansequenz gleich. In Pasolinis Schaffen finden sich keine in sich abgerundeten Long-Takes, weil sie für ihn eine falsche Idealität verkörperten. Solche philosophischen Bedenken haben gerade amerikanische Filmschaffende nicht davon abgehalten, mit gefühlt endlosen Takes zu experimentieren. Brian de Palma ließ im Intro von „Spiel auf zeit“ (1998) die Minuten vor und während eines Boxkampfs in Atlantic City als kontinuierliche Allesnach-Plan-Sequenz ablaufen, um Attentat und Tumult, die das Match in der ersten Runde jäh beenden, mit rüden Schnitten vom Sportereignis abzusetzen. Erst nach der durch Gewehrschüsse verdorbenen Echtzeit-„Übertragung“ beginnt der Thriller. zuvor streckt de Palma seinen Fake-LongShot dank unsichtbarer Schnitte (Reißschwenks, Passanten, die das Objektiv streifen) auf zwölfeinhalb Minuten. Alfonso Cuarón profitiert bei den Long-Takes (2006) des Endzeitschockers „Children of Men“ von der Digitaltechnik. zum Beispiel bei der Autoszene: Ein Kleinwagen mit fünf Passagieren ist auf der Flucht mit diversen

„goodfellas“ martin scorsese, 1990

„hunger“ steve mcQueen, 2008

new york 1980: henry und karen laufen über die straße, betreten den copacabana-club über den seiteneingang, begrüßen en passant das küchenpersonal und nehmen am Bühnenrand des restaurants ihren platz ein, während ein stand-up-comedian seinen auftritt beginnt. drei minuten dauerte der mit unfassbar vielen statisten bevölkerte, bis dahin längste steadicam-shot der filmgeschichte.

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17 minuten dauert die einstellung zweier männer an einem gefängnistisch: ein priester versucht, den ira-häftlings Bobby sands (michael fassbender) von seinem hungerstreik-vorhaben abzubringen. eine darstellerische tour de force.

Hindernissen und Verfolgern konfrontiert. Spektakulär ist die Plansequenz nicht unbedingt von der Länge her (knapp vier Minuten), sondern durch die zweifach mobile Perspektive. Die Kamera bewegt sich nicht nur mit dem vollbesetzten Kleinwagen mal geradeaus, mal im Rückwärtsgang, sondern fährt auch noch (dank des komplizierten Auto-Sets) völlig losgelöst im Wageninneren herum.

innen unD Aussen DurchDringen sich, Alles pAssiert iM hier unD Jetzt

Computer-Algorithmen bieten heutigen Filmemachern eine Fülle an Optionen, die bis zur Illusion der totalen Continuity reichen. Wenn der Handlungsfluss es erfordert, radiert man Anschlussstellen einfach weg. Cuaróns weitgehend durchkomponierte Weltraumoper „Gravity“ (2013) kommt mit 155 „Schnitten“ aus, trotz der immensen Kleinteiligkeit des Produktionsprozesses. Die Wirkung – eine Ästhetik der Schwerelosigkeit – ist allerdings grandios. Nicht zuletzt wegen der 3-D-Technik, die keine schnellen Schnitte verträgt und damit ohnehin eine Tendenz zu längeren Einstellungen im zeitgenössischen Kino befördert. Ein Jahr später holte der Regisseur Alejandro González Iñárritu „Gravity“Kameramann Emmanuel Lubezki für das Filmprojekt „Birdman“. Abgesehen von kurzen Montagesequenzen am Anfang und am Ende des Films generiert Iñárritu ein bruchloses Kontinuum. „Birdman“ spielt an einem Broadway-Theater. Auf der Bühne wird geprobt und vor Publikum aufgeführt, hinter der Bühne macht sich das Theatervolk gegenseitig Szenen. Sequenzeinstellungen von fetzigen Dialogen wechseln

Fotos: Senator/Universal/Twentieth Century Fox/Delphi

durch fünf Jahrzehnte bewegte, ist „Russian Ark“ der erste One-Take-Film ohne Bindung an die aristotelischen Einheiten von zeit, Raum und Handlung. Doch dieses Dogma ist sogar im Theater – im Kino seit D. W. Griffiths Parallelmontagen ohnehin – längst überwunden. Beißt sich nicht die sprichwörtliche Katze in den Schwanz, wenn ein Filmemacher innerhalb der technisch eingeschränkten Drehweise doch wieder auf das Prinzip der zeitlichen Diskontinuität oder auf die „innere Montage“ qua verschiedener Kamerapositionen (wie Hitchcock bei „Rope“) zurückgreift? Bisher ist noch jeder Regisseur, der sich am One-Take versuchte, zum Filmschnitt zurückgekehrt. Montage ist üblicherweise ein Teil des Regieführens, bedeutet Kontrolle, sogar Macht über das Material. Mit der aus brutal kurzen Filmstücken montierten Duschmordszene in „Psycho“ zeigte Hitchcock die symbolische Parallele zwischen der Gewalt des Attentäters und der Macht des Regisseurs auf. Der Schneidetisch, so Cutter Walter Murch, sei eine „Miniaturguillotine“, mit „Metzgerarbeit“ generierten die „Frankensteins“ des Kinos ein Geschöpf, das erstaunlicherweise „nicht nur zum Leben erwacht, sondern auch eine Seele hat“. Ähnlich sah das Pier Paolo Pasolini: „Die

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den irrsinn einfangen Sebastian Schipper zu seinem aktuellen Film „Victoria“

„Birdman“

sich mit Selbstzerfleischungsmonologen des Schauspielers und Regisseurs Riggan Thompson (Michael Keaton) ab. Sein Alter Ego Birdman, ein von Riggan einst kreierter Superheld, mischt sich fast immer ein. Kein „Lidschlag“ der Kamera, wie Walter Murch den Schnitt nennt, unterbricht den Fluss der Handlung. Wenn González Iñárritu es mit dem Erzählen eilig hat, spult er im zeitraffermodus vor. In „Birdman“ gleiten nicht nur Plansequenzen ineinander, sondern auch Realitätsebenen. Innen und Außen durchdringen sich, alles passiert im Hier und Jetzt. Die objektivierende Kameraperspektive erinnert an Alexander Sokurow (und Antonioni), und doch lassen sich „Russian Ark“ und „Birdman“ kaum miteinander vergleichen, schon deshalb, weil González Iñárritu vom Größenwahn im Theater mit viel Ironie erzählt. Früher hieß es, der Teufel stecke im Detail. Und heute? Lassen sich kleinste Filmfehler ausmerzen, lässt sich problemlos ein stromlinienförmiges Ganzes herstellen. Obwohl es Virtuosen wie González Iñárritu oder Cuarón immer geben wird, die Improvisation und Schauspielkunst nicht restlos einer perfekten Maschinerie opfern, eröffnet der Perfektionsdrang des digitalen Blockbusterkinos doch eine ganz neue diabolische Dimension. Auf dieses System der totalen Manipulation hat Sebastian Schipper in der Nacht des 27. April 2014 einen Anschlag verübt. Was verfangen schon die Fehlerteufelchen, die sich ab und an in seinen Guerilla-Film eingeschlichen haben? Wenn ein Darsteller stottert, die Handkamera wackelt – na und? Selten haben sich Kunst und Leben so triumphal umarmt wie bei „Victoria“. Schipper und Co. haben das Ding mit der einzigen richtigen Einstellung gedreht: aus Leidenschaft für das Kino. •

Der jüngste ernährungstrend heißt „paläo“. strebten sie auch eine Art filmischer steinzeitdiät an, indem sie „Victoria“ so drehten, als wäre der schnitt noch nicht erfunden? Schipper: Gefragt, ob ich Filme für den Kopf oder fürs Herz mache, habe ich einmal geantwortet: Fürs Nervensystem. Dem entspricht der CavemanStil von „Victoria“ am deutlichsten. Aber mir geht es da nicht um einen filmhistorischen Rückgriff, sondern darum, an den Wahnsinn heranzukommen, an die Katastrophe. Viele sagen: Mensch, „Victoria“ ist ja ein Experiment, aber das trifft für jeden Film zu. Alles das zu drehen, was man vorher schon wusste: Wie langweilig ist das denn? Ein Urgedanke des Projekts war, dass ich mir vorgestellt habe: Wäre ich beim lahmarschigsten Banküberfall aller zeiten der Fahrer, würde ich mir trotzdem vor Aufregung in die Hose machen. Überfälle und Ballereien im Kino können dagegen sehr langweilig sein. Mein Film sollte anders sein, er sollte was von dem Irrsinn einfangen. inwieweit lässt sich der echtzeitfilm „Victoria“ mit theater vergleichen? Schipper: „Victoria“ ist die Antithese von Theater. Beim Theater gibt es keine Kamera. Auf der Bühne kannst du darstellen, in einen großen Resonanzraum hineinspielen, da ist die große Geste durchaus gefragt. Die Kamera hasst das! Sie sagt: Du lügst! Erzähl’ mir keine Geschichten! Wie ein Gangster. Die Kamera ist eine Waffe. Vor ihr kann sich der Schauspieler nicht schützen, muss sich ihr vollkommen öffnen.

ter müssen in dieser Nacht besoffen gewesen sein. Es gab seltsamerweise nur wenige Beinahe-Pannen mit zufällig durchs Bild laufenden Passanten. Einen Fast-Supergau hatten wir, als sich die Darsteller mit dem Auto verfuhren. Ich liege hinten im Wagen und schreie nach vorne: Falscher Weg! Und dann biegen die in eine Einfahrt ein, in der Kranken- und Polizeiwagen sowie Teammitglieder mit Kaffeebechern warten. Unser Kameramann hat das mitbekommen und die Kamera geistesgegenwärtig auf Frederick Lau geschwenkt. Das geschrei des regisseurs hört man im fertigen film aber nicht. Schipper: Weil wir natürlich mit dem Ton gearbeitet haben. Das ist neben der großartigen Kameraarbeit auch ein Grund, warum „Victoria“ ein Kino- und kein Experimentalfilm ist. Der Film hat eine großartige Akustik. Die Musik spielt natürlich auch eine große Rolle, sie ersetzt die Montage, besonders an zwei Stellen. Durch die Off-Musik hat man das Gefühl, in diesen zwei Szenen würden mehrere Stunden verstreichen. Aber das ist ohnehin das Seltsame an so einem filmischen zeitkontinuum. Die zwei Stunden 14 Minuten fühlen sich wie mindestens fünf Stunden an. Das Gespräch führte Jens Hinrichsen.

würden sie noch einen film in einem take drehen? Schipper: Nie wieder. So ein Glück hat man nicht noch einmal. Die Filmgöt-

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kritiken neue filme

victoria Radikales Filmexperiment: Wilder Tripp durch die Berliner Nacht Am Anfang ist das licht. gleißend-flackernd durchdringt es das künstliche Dunkel eines Berliner clubs. Eine junge Frau im verschwitzten T-Shirt tanzt in den zerhackten Stroboskopblitzen. „Ich will es heute wissen“, sagt jede ihrer Gesten. Was genau, das ist noch nicht so klar, aber am Ende wird sie mehr erfahren haben, als sie je zu träumen wagte. Diese ersten Sekunden und der Auftritt der Titelheldin zeigen ein Irrlicht, das sich treiben lässt, eine Fremde in BerlinMitte: Victoria, eine lebensfrohe Spanierin, die Heldin des Films, die der Blick der Kamera von nun an nicht mehr loslassen wird, über zweieinhalb Stunden lang. Die vierte Regiearbeit des vor allem als Schauspieler tätigen Sebastian Schipper ist ein riskanter Film. Ihm liegen zwei Ideen zugrunde, die beide verführerisch klingen, aber auch sehr theoretisch. zum einen ist der ganze Film in einer einzigen langen Einstellung gedreht, ohne Schnitt, in einem einzigen Sog. zugleich bringt er vor den Kulissen einer auratisch aufgeladenen Großstadt ein fremdes

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Mädchen aus einem fernen, aber nicht zu fernen Sehnsuchtsland mit einem proletarischen Kleingangster zusammen, der bei allen Macho-Allüren doch sensibel genug ist, damit sie sich ineinander verlieben. „Außer Atem“ in Berlin. Riskant ist das in einem durchaus positiven Sinne. Denn Schipper setzt sich damit ohne Not einer Fallhöhe aus, von der andere gar nicht erst herunterstürzen können. Virtuos schreibt er sich ins universale Kinogedächtnis ein und tritt damit selbstbewusst in einen Dialog mit der Filmgeschichte, stellt sich ohne Anbiederung auf Augenhöhe mit dem europäischen Autorenkino. Wie fruchtbar formale Beschränkungen wirken können, wie eine veränderte Theorie eine andere Praxis kreiert, das haben Bewegungen wie der Neorealismus oder zuletzt „Dogma #95“ bewiesen. Denn das Drehen eines Films in einer Einstellung erzwingt eine enorme Konzentration der Darsteller und zieht eine Angespanntheit und Intensität nach sich, die sich auf den ganzen Film überträgt. Natürlich hätte man

später trotzdem noch schneiden können. Doch gerade weil die Kamera nie unterbrochen wird, weil sie gelegentlich mäandert und dadurch „Luft“ in die Bilder und Szenen lässt, überträgt sich der Taumel des Geschehens und die Intensität der Inszenierung auf das Publikum. Der zuschauer ist mittendrin in diesem nahtlos pulsierenden Driften, zweieinhalb Stunden lang. Auch wenn Laia Costa in der Titelrolle keine Jean Seberg ist, und Frederick Lau kein Belmondo, und Berlin vermutlich auch kein Paris, so sind die Hauptdarsteller doch interessant genug, um ihnen gern dabei zuzuschauen, wie die Schlinge des Schicksals sich um sie legt und ihre jungen, kurzen Träume erstickt. Der Plot ist so gradlinig wie das Verhalten der Hauptfigur. Vier Kleinkriminelle lernen gegen vier Uhr nachts eine vollgedröhnte, aber immer noch recht umsichtige Spanierin kennen. Man flirtet, kifft, trinkt bis zum frühen Morgen. Dann kommt heraus, dass einer der vier als Gegenleistung einem Ex-Mithäftling einen Banküberfall schuldet. Weil ein Freund

alkoholbedingt ausfällt, macht Victoria an dessen Stelle als vierter „Mann“ mit. Während die drei Jungs zu ängstlich oder zu unfähig sind, behält Victoria den Überblick und wahrt selbst dann noch kühles Blut, als die Polizei auftaucht. Natürlich ist das alles konstruiert und nicht unbedingt glaubwürdig. Es gibt ein paar Wendungen und Schicksalsschläge zuviel. Alles ist auch ein bisschen zu hektisch, um all den Mythen, die hier beschworen werden, zeit zur Entfaltung zu lassen. Auch sind die Bilder bei aller Energie mitunter zu ungestaltet, um der Schönheit der reinen Empfindung und des bloßen Gedankens die entsprechenden Aufnahmen zur Seite zu stellen. Aber: Es ist immer alles möglich in diesem Film. Sein Sog funktioniert und hält an bis zum Schluss. Die Idee, ohne Schnitt zu arbeiten, ist ja nicht zwingend, aber auch nicht „gewollt“, weil es nie als technisches Posieren wirkt. Wenn man erst mal akzeptiert hat, dass „Victoria“ ein Märchen ist, kommt es nicht mehr darauf an, dass manches konstruiert erscheint. Die zunächst untergründig deprimierte Hauptfigur, ein BorderlineCharakter, entdeckt über Nacht eine neue Welt, sie spürt ihre Tatkraft und Entschlossenheit und staunt dabei am meisten

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neue filme kritiken

über sich selbst. Wir sehen ihr dabei zu, wie sie sich findet, wie sie zur tapferen, mutigen Heldin wird. Wer nichts riskiert, lebt verkehrt. Victoria weiß das. „Victoria“ ist damit die schönste Überraschung des deutschen Kinos seit Jahren: ein ungemein mutiger, schöner Film, der von seiner Intensität ebenso lebt wie von seinen Figuren, ihrer existentiellen Verlassenheit und der Verbindung, die sie mit Berlin eingehen, mit der Nacht der Metropole. Hier pulsiert sie endlich, die so oft vermisste Aura des Kinos. Am Anfang war die Nacht, jetzt ist es Tag, und Victoria verschwindet in dessen Licht, ins Offene. Rüdiger Suchsland

bewertung der filmkommission

eine junge spanierin lernt in einem Berliner club vier proletarische kleingangster kennen, die in dieser nacht eine schuld begleichen wollen. als einer von ihnen ausfällt, springt sie für ihn ein. ein radikales auratisches drama auf augenhöhe mit Jean-luc godards „außer atem“, in dem sich die innerlich zerrissene protagonistin neu entdeckt. dabei lebt der in einer einzigen einstellung gedrehte film von seiner enormen konzentration sowie von der intensität der darsteller. der taumel des geschehens, in dem jederzeit alles möglich ist, überträgt sich auf den zuschauer, der mit den protagonisten planlos und doch zugleich hellwach durch die nacht driftet. – sehenswert ab 16.

scope. deutschland 2015 regie: sebastian schipper darsteller: laia costa (victoria), frederick lau (sonne), franz rogowski (Boxer), Burak yigit (Blinker), max mauff (fuß), andré m. hennicke, ernst stötzner länge: 139 min. | kinostart: 11.6.2015 verleih: senator | fsk: ab 12; f fd-kritik: 43 142

das dunkle gen Ein Depressiver spürt seiner Krankheit nach frank schauder leidet seit Jahren unter Depressionen. Dass er selbst Neurologe ist, hat ihm dabei bislang wenig geholfen. Doch immerhin versetzt ihn seine Ausbildung in die Lage, der Krankheit intensiver auf den Grund zu gehen. Da es auch in früheren Generationen in seiner Familie schon Fälle von Depression gegeben hat, treibt ihn die Frage um, ob die Krankheit genetisch bedingt ist. Womit auch sein 16-jähriger Sohn Leonard gefährdet wäre. Schauder fungiert in „Das dunkle Gen“ quasi in einer Doppelrolle. Einerseits ist er der Betroffene, der nach langen Jahren der Depression zurück ins Leben zu finden hofft. Andererseits tritt er als eine Art Reporter in Erscheinung, der mehr oder minder berühmte Wissenschaftler aufsucht und sie über den aktuellen Stand der Depressionsforschung interviewt. Dadurch entstehen Szenen von großer Intimität, in denen der Protagonist, mal direkt in die Kamera, mal im Off, von seiner Krankheit, der Trennung von seiner Familie, Arbeitsunfähigkeit, Klinikaufenthalten und Suizidversuchen

erzählt. Hinzu kommen Treffen mit Freunden und Besuche seines Sohnes. Auch diese Gespräche sind vornehmlich vom Thema Depression geprägt; selbst wenn Vater und Sohn am Küchentisch mit Hilfe aufgefädelter Gummibärchen eine DNA nachbilden, ist die Krankheit immer präsent. Auf der anderen Seite sieht man Schauder als neugierigen Reporter in ganz Europa Wissenschaftler nach Dingen fragen, die weit über die Depressionsforschung hinausgehen. Über kurz oder lang dreht es sich dabei nämlich um die Frage, die zwischen Psychologen, Philosophen und Molekularbiologen seit einem knappen Jahrhundert heftig diskutiert wird: Hat der Mensch einen freien Willen? Oder sind seine Gedanken und Handlungen lediglich Ausdruck biochemischer Prozesse? Oder wie Schauder es formuliert: „Lebe ich, oder werde ich gelebt?“ Was Schauders Gesprächspartner dazu beisteuern, ist interessant, aber nicht unbedingt neu. Vieles bleibt bruchstückhaft, wird auch nicht weiter hinterfragt oder vertieft. So ist der

US-Genetiker George Church etwa davon überzeugt, den menschlichen Alterungsprozess in absehbarer zeit stoppen zu können. Um etwas Abwechslung in den akademischen Diskurs zu bringen, lassen die Filmemacher Schauder auch eine Komponistin und einen Bildhauer aufsuchen, die sich auf ihre Art ebenfalls mit Genen und der DNA beschäftigen. Doch beide Ausflüge erweisen sich letztlich als wenig fruchtbar. Ähnliches gilt für die zahllosen Aufnahmen oder Animationen von wabernden zellen, die neben Naturimpressionen für mehr Visualität sorgen sollen. Das Problem des Films bleibt allerdings die schwierige Doppelrolle des Protagonisten zwischen einem Betroffenen, der in höchst intimen Momenten seines Alltags zu sehen ist, dann aber wieder als scheinbar neutraler Journalist den aktuellen Stand der Wissenschaft erkundet. Reinhard Lüke bewertung der filmkommission

ein unter depressionen leidender neurologe will den ursachen dieser volkskrankheit auf die spur kommen und reist zu einschlägigen experten. Während ihn die sorge umtreibt, dass depression genetisch bedingt sein könnte, präsentiert er wissenschaftliche sichtweisen ebenso wie künstlerische interpretationen. der dokumentarfilm mischt momente großer intimität mit medizinischen informationen und philosophischen gedanken über die Willensfreiheit, ohne das thema neu zu betrachten. auch das konzept der doppelrolle des protagonisten als Betroffener und reporter geht nicht recht auf. – ab 16.

deutschland/schweiz 2014 regie: miriam Jakobs, gerhard schick länge: 104 min. | kinostart: 11.6.2015 verleih: real fiction | fsk: ab 12; f fd-kritik: 43 143

Filmdienst 12 | 2015

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