Filmdienst 09 2016

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Das Magazin für Kino und Filmkultur

09 2016

www.filmdienst.de

Utopisch!

Im aktuellen Kino ist es oft düster geworden. Gibt es noch den utopischen Film, der zu denken wagt, was nicht durchführbar scheint?

Cécile de France

Ob helfender Engel oder gute Fee: Stets geht von der großartigen belgischen Schauspielerin etwas Märchenhaftes aus.

Schach, nicht matt

Das Spiel der Könige: Die Kunst ist voller Reminiszenzen an das altehrwürdige Brettspiel. Vor allem auch im Kino. 28. April 2016 € 5,50 69. Jahrgang

A Bigger Splash

Vor mehr als 45 Jahren entstand der Kinoklassiker »Der Swimming Pool« mit Alain Delon und Romy Schneider. Nun wirbelt die Neuverfilmung »A Bigger Splash« viel Wasser auf. Mit Tilda Swinton und Matthias Schoenaerts.


filmdienst 09 | 2016 DIE NEUEN KINOFILME Neu im Kino Alle Starttermine

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A Bigger Splash 5.5. Bahubali: The Beginning 28.4. Bauernopfer – Spiel der Könige 28.4. Chamissos Schatten: Kapitel 2 – Tschu kotka und die Wrangelinsel Teil 2 28.4. Chrieg 28.4. Deliormanli 7.4. Desire will set you free 5.5. Eva Hesse 28.4. Fan 14.4. Frauen 5.5. Heaven Knows What 5.5. Ein Hologramm für den König 28.4. Ich bin tot, macht was draus! 28.4. Küçük Esnaf 31.3. La Belle Saison – Eine Sommerliebe 5.5. Lenas Klasse 28.4. Mannheim 5.5. Peggy Guggenheim 5.5. Queen of Earth 5.5. Ratchet & Clank 28.4. Rico, Oskar und der Diebstahlstein 28.4. Schrotten! 5.5. The Boss 21.4. The First Avenger: Civil War 28.4. Tito on Ice 21.4. Triple 9 5.5. Wer hat Angst vor Sibylle Berg 28.4.

37 la belle saison – eine sommerliebe

50 A Bigger Splash

Kinotipp  der katholischen Filmkritik

43 Chrieg

36 Ein Hologramm für den König

Drama über gestrauchelte ­Jugendliche in einem Erziehungscamp in den Alpen.

fernseh-Tipps 56 Arte stimmt auf das diesjährige Festival de Cannes mit zahlreichen Höhe­ punkten aus dem Wettbewerben der letzten Jahre ein. Außerdem feiern BR FERNSEHEN und 3sat den 75. Geburtstag von Senta Berger und der WDR startet die britische Polizeiserie »Babylon«.

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46 Schrotten!

38 The first Avenger: CIVIL WAR

Fotos: TITEL: StudioCanal. S. 4/5: Picture Tree Int., Alamode, StudioCanal, X-Verleih, Walt Disney, Port-au-Prince, Concorde, Majestic

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09 | 2016 DIE ARTIKEL Inhalt Kino

Akteure

FilmKunst

10 Utopien im Kino

24 Film & Musik

28 Schach im kino

10 utopien im kino

Vor 500 Jahren erschien Thomas Morus’ Idealstaatsentwurf »Utopia«. Die davon abgeleitete Idee von Utopien als Modellen einer besseren Gesellschaft ist trotz aller Unkenrufe auch im Kino bis heute anzu­ treffen. Eine Bestandsaufnahme. Von Rüdiger Suchsland

16 cécile de france

Als vielseitige Spezialistin für unprätentiöse Frauenfiguren hat sich die belgische Darstellerin einen Namen gemacht. Derzeit glänzt sie im Liebesdrama »La Belle Saison – Eine Sommerliebe«. Ein Loblied. Von Michael Ranze

18 katherine waterston

Die US-Schauspielerin (»Inherent Vice«) legt ihre Figuren gern undurchschaubar an. Nach Independent-Hauptrollen wie aktuell in »Queen of Earth« steht nun auch ihr Durchbruch in Hollywood bevor. Ein Porträt.

22 ulrike ottinger

27 e-mail aus hollywood

Von Arne Koltermann

Von Franz Everschor

24 film & musik

28 schach im kino

Von Ulrich Kriest

Von Marius Nobach

26 in memoriam

33 Filminstallation »7 Tage«

Für ihr neues Werk »Chamissos Schatten« hat die deutsche Regisseurin Alaska und das äußerste Russland bereist. Ein ­Gespräch über den zwölfstündigen Film, der in den Kinos in vier Teilen zu sehen ist.

Notizen zur Filmmusik von »Grüße aus Fukushima« und »Heart of a Dog«, zu einer Neuinterpretation des »Twin Peaks«Scores und zu den filmischen Klängen des ­Nor­wegers Ketil Björnstad.

Nachrufe u.a. auf die spanische Schau­ spielerin Chus Lampreave, die als skurrile alte Frau die Filme von Pedro Almodóvar und Fernando Trueba bereicherte. Von Wolfgang Hamdorf

In amerikanischen Kinos läuft derzeit der herausragende Kriegsfilm »Eye in the Sky«. Der differenzierten Auseinandersetzung mit dem Drohnenkrieg ist auch ein baldiger Deutschland-Start zu wünschen.

Schon immer hat das Kino eine besondere Liebe zum Schach gepflegt. Filme profi­ tieren ebenso vom Spannungspotenzial des Spiels wie von seinen Qualitäten als Metapher. Eine Hommage ans Schach-Kino.

Das Berliner Museum für Fotografie zeigt einen siebenteiligen Filmzyklus des Künstler­duos M+M, inspiriert u.a. von ­Godard und Kubrick. Ein Interview mit den Machern. Von Jens Hinrichsen

Von Esther Buss

21 bei joachim gauck

S i eg f r

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ed kracauer s

Rubriken 3 Editorial 4 Inhalt 6 Magazin 34 DVD-klassik 52 DVD/Blu-ray 56 TV-Tipps 66 P.S. 67 Vorschau / Impressum

Der Autor Sven von Reden hat 2015 das Siegfried-Kracauer-Stipendium gewonnen. Der FILMDIENST veröffentlicht Texte, die er im Rahmen dieses Stipendiums verfasst. In dieser Ausgabe: seine Kritik zu »A Bigger Splash« (S. 50). Eine ­Initiative zur Förderung der Filmkritik.

endium

Von Horst Peter Koll

tip

Der Bundespräsident hat den deutschen Film bei einer Soirée im Schloss Bellevue als bedeutendes Kulturgut gewürdigt. Ein Eindruck vom Empfang.

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kino Cécile de France

Klare Sache Ein Loblied auf die Schauspielerin Cécile de France Die 40-jährige belgische Aktrice hat sich seit der Komödie »L’Auberge Espagnole – Barcelona für ein Jahr« (2002) als charismatische »Leading Lady« für unprätentiöse Frauencharaktere etabliert. Ihr Spektrum reicht vom harten Horror-Schocker (»High Tension«) bis zum eleganten Spionagefilm (»Die Möbius-Affäre«), vom sozialkritischen Kino (»Der Junge mit dem Fahrrad«) bis zum Hollywood-Film (»Hereafter«). Aktuell ist sie in »La belle saison« von Catherine Corsini zu sehen (Kritik in dieser Ausgabe). Von Michael Ranze Die erste körperliche Annäherung endet mit einer Irritation. Doch wenige Tage später nimmt Delphine, 23-jährige Bauerntochter, die in Paris studiert, die zwölf Jahre ältere Carole an die Hand, zieht sie in eine Seitengasse und küsst sie leidenschaftlich. Auch dem Zuschauer ist nach einer halben Stunde von »La belle saison« klar, was ihr an der streitbaren Feministin so gut gefällt. Carole ist eine schöne Frau mit großen blauen Augen und langen lockigen Haaren. Sie redet frei, raucht selbstbewusst. Delphines Interesse schmeichelt der unabhängigen und lebhaften Dozentin, auch wenn sie in ihrer emotionalen Verwirrung zunächst mit Rückzug reagiert. Cécile de France spielt diese Frau, die hin- und hergerissen ist zwischen Weltstadt und Provinz, zwischen Mann und Frau, geistiger und körperlicher Arbeit, politischem und privatem Leben. Mit so langen Haaren, einer Mähne gleich, hat man die belgische Schauspielerin bislang noch nicht gesehen. Doch sie sind wichtiger Mittelpunkt ihrer Attraktion, unterstreichen ihre Freiheit und Wildheit. Regisseurin Catherine Corsini bekennt, schon beim Schreiben des Drehbuchs Cécile de France vor Augen gehabt zu haben.

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»Am Anfang bin ich ein weißes Stück Papier« Cécile de France wird am 17.7.1975 in Namur in Belgien geboren. Mit 17 geht sie nach Paris, um Bühnenschauspielerin zu werden, lernt Drama bei Jean-Paul Denizon und assistiert Peter Brook, bevor sie 1995 an der Ecole Nationale Supérieure des Arts et Techniques du Théâtre angenommen wird. Richard Berry offeriert ihr 2001 eine Rolle in »L’art (délicat) de la séduction«. Einem größeren Publikum wird sie im Jahr darauf mit ihrer Rolle der Isabelle in »Barcelona für ein Jahr« von Cédric Klapisch bekannt, die sie in »L’auberge espagnole – Wiedersehen in St. Petersburg« (2005) und »Beziehungsweise New York« (2013) aufnimmt. Im ersten Teil der Trilogie wird sie als Lesbe zur besten Freundin von Xavier, dem sie Tipps gibt, wie er eine andere Mitbewohnerin verführen kann. Ständig trägt sie Hosen, auch ihre kurzen Haare signalisieren eine burschikose Weiblichkeit, die ein Spiel mit den Geschlechterrollen bedeutet: Isabelle wechselt als Ratgeberin die Seiten und schlüpft in die Rolle des Mannes. Wenn sie in der Fortsetzung dann doch einmal ein Kleid trägt, steht ihr Äußeres im Kontrast zu ihrem schweren, fast männlichen Gang. Eine geheimnisvolle Androgynität geht von Cécile de France in diesen Filmen aus. Das vermeintlich Unweibliche ändert nichts an ihrer Anziehungskraft, die ihre lebendigen Augen, das freundliche Lachen, die ebenmäßigen Gesichtszüge und die lebensfreudige Natürlichkeit ausüben. Zwischendurch wagt Cécile de France Ausflüge ins Genrekino mit dem Horror-Kultfilm »High Tension« (2003) von Alexandre Aja und an der Seite von Jackie Chan in der Action-Komödie »In 80 Tagen um die Welt« (2004). Einer ihrer schönsten Filme ist »Chanson d’amour« (2006) von Xavier Giannoli: Hier spielt sie eine Immobilienmaklerin und alleinerziehende Mutter, die sich schroff und widerwillig gegen die Avancen eines alternden Schnulzensängers (Gérard Depardieu) wehrt, um dann doch eine Nacht mit ihm zu verbringen. Zwei höchst unterschiedliche Charaktere, getrennt durch Alter, Beruf und Lebensumstände. Je mehr sie sich verschließt, desto mehr macht ihr der Charmeur den Hof. Ihre unbewegten Gesichtszüge signalisieren Enttäuschung und Verlust, und erst am Schluss verwandelt sich die kühle Abwehr in


Cecile de france kino

S. 16: Objekt der Bewunderung ist Cecile de France als agile Schwimmerin in »Ein Geheimnis«. Links: Als cleveres Finanzgenie gerät de France im Agententhriller »Die Möbius-Affäre« in ein doppeltes (Liebes-)Spiel mit Jean Dujardin. Oben: Der Durchbruch der Schauspielerin: als sexy-selbstbewusstes »Tomboy«-Mädchen in »L'auberge espagnole« mit Romain Duris.

so etwas wie Zärtlichkeit. An der Aussichtslosigkeit dieser Liebe ändert das nichts. In »Ein perfekter Platz« (2006) von Danièle Thompson nimmt Cécile de France als Kellnerin in einer Brasserie die Androgynität aus »L’auberge espagnole« wieder auf. Wunderschön ist sie mit ihrer Uniform, zu der eine rote Weste und eine schwarze Fliege gehören. Schon das Plakat zeigt sie groß, während sich zehn Figuren mit kleinen Porträts um sie scharen – als würden sie Cécile de France als ihre Sonne umkreisen. Mit staunenden Augen, unverhohlener Neugier und ungelenken Bewegungen zieht sie die Blicke und das Interesse auf sich. Eine Beobachterin, die lernt, dass sie handeln muss, darum als Einzige in diesem Reigen ihr Glück findet.

Fotos: Indigo, Prokino, Universum

»Die Psychologie und den Intellekt einer Figur ent­wickle ich aus ihrem Körper« In »Ein Geheimnis« (2007) von Claude Miller spielt sie ihre wohl körperlichste Rolle. Im Frankreich der 1950er-Jahre ist sie eine passionierte Schwimmerin, die sich ganz über ihre Physis definiert. Gleich zu Beginn wird man durch den aufschauenden Blick des siebenjährigen François, dem hageren und mutlosen Sohn der Hauptfigur, in die Rolle des Bewunderers gezwungen. Seine schöne, durchtrainierte Mutter nutzt das Schwimmbad als Bühne: Graziös und stolz hat sie sich liegend auf ein Podest drapiert, den Körper durch einen schwarzen Badeanzug, der den Rücken freilässt, nachgezeichnet, durch die Untersicht mit dominanter Ausstrahlung versehen. Eine Frau, die weiß, dass sie angeschaut wird. Dann gleitet sie anmutig übers Wasser – fast so, als ob sie keine Kraft aufwenden müsste – und verleiht ihrem kraulenden Körper Sinnlichkeit. Die Leichtigkeit ihrer Bewegungen steht im Gegensatz zur Thematik des Films: Es geht um Erinnerung und Vergangenheit, um Traumata und Verdrängung. Dabei bemüht sich de France bei jedem Film um einen spezifischen Zugang: »Die Psychologie und den Intellekt einer Figur entwickle ich aus ihrem Körper. Am Anfang bin ich ein weißes Stück Papier, dann lerne ich, mich wie die Figur zu bewegen, dann bekomme ich mein Kostüm, mein Make-up, dann tauche ich in das

Innenleben ein, und am Ende steht auf dem Stück Papier eine ganze Lebensgeschichte.« Richtig verwegen ist Cécile de France in »Public Enemy No. 1 – Mordinstinkt«, dem ersten Teil des Biopics über Jacques Mesrine. Sie spielt seine Komplizin Jeanne Schneider, nicht minder brutal und skrupellos wie der Verbrecher selbst, voller krimineller Energie, wild und enthemmt. Die Burschikosität aus »Barcelona für ein Jahr« macht einer berechnenden Coolness Platz. Sehr viel sensibler, fast schon zerbrechlich ist sie in Clint Eastwoods Drama »Hereafter«. Äußerlich fast ein wenig unscheinbar spielt sie die französische Journalistin Marie, die 2004 beim Urlaub in Asien von den Fluten des verheerenden Tsunami mitgerissen und im letzten Moment gerettet wird. Zurück in Paris, lässt sie die Katastrophe nicht mehr los. Sie hängt ihre Karriere an den Nagel und schreibt ein Buch über ihre Grenzerfahrung. Cécile de France verkörpert perfekt die innere Unruhe, ihr Getriebensein, den Wunsch nach Erklärungen, die Unfähigkeit, das alte Leben wieder aufzunehmen. Der Gedanke, dass sie mit ihrer Hinwendung zur Esoterik auch unvernünftig sein könnte, kommt ihr nicht. Mit »Der Junge mit dem Fahrrad« (2011) fügt sie sich in den Kosmos der Dardenne-Brüder ein. Als Friseurin nimmt sie einen heranwachsenden Ausreißer unter ihre Fittiche, lässt den Jungen bei sich wohnen, begleitet ihn nach einer unbedachten Straftat zur Polizei und gewährt ihm Schutz. Helfender Engel oder gute Fee – etwas Märchenhaftes geht von ihr aus. Zu den schönsten Bildern zählt, wie die beiden mit dem Rad an einem Fluss entlangfahren. Es ist ein schöner Tag, die Sonne scheint, und Cécile de Frances Lachen signalisiert: Mit ihr an der Seite sind die Sorgen weit weg. # Things to Come… Eines der nächsten Projekte mit Cécile de France ist die Miniserie »The Young Pope«, inszeniert von Paolo Sorrentino. Im Mittelpunkt der italienisch-britisch-amerikanischen Co-Produktion steht ein fiktiver Papst (Jude Law), der mit den Verantwortlichkeiten seines Amtes ringt. Cécile de France verkörpert die Chefin der Öffentlichkeitsarbeit im Vatikan. Mit dabei sind prominente Darsteller wie Silvio Orlando, Diane Keaton und James Cromwell. Deutschlandpremiere: Spätjahr 2016 auf Sky.

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filmkunst Schach im kino

Schach ist nicht nur das »Spiel der Könige«, man kann es mit Fug und Recht auch als »König der Spiele« bezeichnen: Wenn es um Reminiszenzen in Kunst, Literatur und Kino geht, kann kein anderes Brettspiel mit dem altehrwür­ digen Schach mithalten. Das mag mit dem schieren ästhetischen Reiz der Figuren zusammen­ hängen, vor allem liegt es aber am Spannungspotenzial des Strategiespiels und seinen meta­ phorischen Qualitäten. Von Marius Nobach

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Die Hoffnung der freien westlichen Welt ruht auf einem unberechenbaren Wirrkopf. Sein Schlachtfeld ist ein hell-dunkel gemustertes Brett, der Kampfstil schließt Tote und Verletzte aus. Und doch würde ein Sieg Bobby Fischers über seinen russischen Gegner Boris Spasski der Sowjetunion und ihrem Selbstverständnis als Schach-Supermacht eine beispiellos schmerzhafte Wunde zufügen. »Wir haben China verloren. Wir werden Vietnam verlieren. Das hier müssen wir gewinnen«, erklärt in Edward Zwicks »Bauernopfer – Spiel der Könige« (Kritik in dieser Ausgabe) ein Vertreter der US-Behörden, warum sie dem Jungen aus Brooklyn zum Weltmeisterschaftstitel verhelfen wollen. 1972 ist es soweit: Auf Island treten Fischer und Spasski gegeneinander an, und so werden zwei Männer, die einander gegenüber sitzend kleine Figuren hin- und herschieben, selbst zu Schachfiguren in einem Spiel der politischen Winkelzüge im Kalten Krieg. Dieses »Match of the Century« war durch seine politische Brisanz auch aus­

gesprochen filmreif, wie schon das damalige Medienspektakel belegte. Im Kino fand es bereits 1984 im »Oscar«-gekrönten Schachdrama »Duell ohne Gnade« Widerhall, bei dem die Gegner noch stärker auf Kontraste hin konzipiert wurden: Alt gegen jung, linientreu gegen dissident, bedächtig gegen temperamentvoll. Dass die Spannung beim Schach wie bei allen Spiel- und Sportarten oft weniger aus dem Spiel als mehr aus den beteiligten Persönlichkeiten resultiert, hatten Filmemacher freilich schon lange vorher erkannt. Auf die Spitze trieb es Ingmar Bergman mit allegorischen Kontrahenten in seiner Parabel »Das siebente Siegel« (1956). Hier setzen sich niemand Geringerer als der Tod und ein mittelalterlicher Ritter als Stellvertreter des Menschengeschlechts zur Schachpartie nieder und spielen um den denkbar höchsten Einsatz: das Leben des Ritters. Existenzialistischer Pessimismus steht im Zentrum von Bergmans Film, doch setzt er sich auch grundlegend mit dem Wesen des Schachspiels auseinander: Der Ritter entwickelt beim Spielen

Fotos S. 28/29: StudioCanal. S. 30-32: Walt Disney, Concorde, Rapid Eye Movies, Koch, Tiberius, Twentieth Century Fox, Warner Home, FD-Archiv, Real Fiction

Aktuell im Kino: In Edward Zwicks »Bauern­ opfer« tragen Tobey Maguire (o.) und Liev Schreiber (u.) als Vertreter von West- und ­Ostblock den Kalten Krieg stellvertretend am Schachbrett aus.

S c h a c h , n i c h V o n d e r L i e b z u m » S p i e l d


Schach im kino filmkunst

t m a t t e d e s K i n o s e r K ö n i g e «

sonstige Kommunikation. Die Entwicklung von kalten Strategen wie dem Großmeister und SPECTRE-Planer Kronsteen im James-Bond-Film »Liebesgrüße aus Moskau« (1963) hin zu emotionsfreien Vertretern der künstlichen Intelligenz kam vor diesem Hintergrund folgerichtig. Schon in den Adaptionen des Historienromans »Der Schachspieler« von Henry Dupuis-Mazuel (1927/1938) trat ein spielender Automat auf, und in Stanley Kubricks »2001: Odyssee im Weltraum« (1968) nimmt der Bordcomputer HAL die Siege vorweg, die Elektronengehirne heutzutage sogar gegen Weltmeister einfahren. HAL oder auch der Replikant Roy in »Blade Runner« (1982) setzen ihre Schach-Begabung auch tückisch ein. Der Computer Joshua verfährt dagegen in »War Games« (1983) menschenfreund­ licher. Verwirrt durch den fast real gewordenen Atomkrieg kehrt er mit der Frage »Wie wäre es mit einer netten Partie Schach?« zu einem Spiel zurück, das er eher kontrollieren kann.

Der M en sc h als f r emd ­ g elen kte Sc h ac h f i g u r eine Strategie, die am Ende zwar nicht ihn, wohl aber einige andere Menschen rettet. Stimmig lehnt sich Bergman an Theorien über den Ursprung des »Spiels der Könige« an, denen zufolge es um 450 n. Chr. im indisch-persischen Raum erfunden wurde, um Strategien für reale Kämpfe auszutüfteln.

» B e rüh rt ist gefü hrt« Das Kino ist sich dieser kriegerischen Implikationen von Anfang an bewusst gewesen. Schon der 1903 entstandene Stummfilm »A Chess Dispute« (Regie: Robert W. Paul) führt das latente Aggressions­potenzial des Schachspiels vor. Die anfänglich harmonische Stimmung zwischen zwei galanten Herren kippt in dem Einminüter rasch, als der eine die Figuren in eine bessere Position umzustellen versucht. Hitzige Worte münden in einen wüsten Kampf, bei dem zuallererst das Schachbrett umgeworfen wird. Die Gefahr, primitive Instinkte zu wecken, wohnte Schach damals offensichtlich genauso inne wie 100 Jahre

später in Michael Schorrs Komödie »Schultze Gets the Blues«. Hier geraten sich zwei Spieler über die Regel »Berührt ist geführt« in die Haare und opfern diesem Zwist fast eine jahrzehntelange Freundschaft. Für einen handfesten Streit braucht es aber nicht immer Regelverletzungen, es reichen im Zweifel auch unterschiedliche Temperamente. So wie etwa in Gerd Oswalds Adaption von Stefan Zweigs »Schachnovelle« (1960), wo die phlegmatische Spielweise des Weltmeisters (Mario Adorf) seinen rastlosen Gegner Basil (Curd Jürgens) zur Weißglut treibt. Mit der Möglichkeit solch explosiver Entwicklungen im Hinterkopf haben Filme immer wieder höchst attraktive Partien zusammengestellt: Von Boris Karloff und Bela Lugosi als teuflischen Rivalen im Gruselfilm »Die schwarze Katze« (1934) bis zu Sherlock Holmes und Professor Moriarty in »Sherlock Holmes – Spiel im Schatten« (2011) ist das Kräftemessen genialer Geister auf dem Schachbrett ein festes Kino-Motiv. Umso mehr, als Genies das Spielen offensichtlich leichter fällt als

Natürlich kennen auch Menschen in Filmen das Gefühl, lediglich fremdgelenkte Schachfiguren zu sein. Wo das Schachbrettmuster im Kino auftaucht, wird für gewöhnlich mächtig mani­ puliert, und nicht jeder ist sich dessen so bewusst wie die junge britische ­Monarchin in »Young Victoria« (2009), die ihren Verlobten am Schachbrett auf die Parallelen zu ihrem eigenen Schicksal hinweist. Der strategisch-manipulative Charakter des Spiels bewirkt freilich auch, dass Schachromanzen auf der Leinwand relativ selten sind. Unmöglich sind sie jedoch nicht, wie schon 1925 Wsewolod Pudowkin in seinem kurzen Stummfilm »Schachfieber« zeigen konnte: Wehrt sich die Heldin darin anfangs noch verzweifelt gegen die unerschütterliche SchachLeidenschaft ihres Verlobten, ist pünktlich zum Happy End – nicht zuletzt dank der Hilfe des damaligen Weltmeisters José Raúl Capablanca – auch sie von dem Spiel voll und ganz ergriffen. Von jenem Fieber, das auch das Kino seitdem immer wieder befällt und ihm die untrügliche Gewissheit vermittelt, mit der Liebe zum Schach eine gute Partie gemacht zu haben.

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Kritiken neue Filme

Tom Tykwer schickt Tom Hanks in die Wüste Dave Eggers schreibt Romane, die getränkt sind mit den ­Nervositäten der Gegenwart. Durch die Augen seiner Protagonisten schaut er auf eine sich ständig neu konfigurierende Welt, in der alte Gewissheiten schneller zerfließen als neue sich verfestigen können. Tom Tykwer wiederum hat sich einen Ruf mit Filmen gemacht, die in ihrer Formsprache das scheinbar Bekannte aufbrechen und ganz neu erzählen, wobei sie sich gleichzeitig aber auf die Schwächlichkeiten und Verunsicherungen ihrer Figuren einlassen. Dieser Tom Tykwer, jedenfalls der vor »Das Parfüm«, hätte der ideale Regisseur für die Verfilmung der Leidensgeschichte von Alan Clay sein können, einem eigentlich sympathischen Kerl von gestern, einem modernen Willy Loman, der von den Winden der Globalisierung, die er einst selbst kräftig mit angepustet hat, am Ende davongewirbelt wird. Inszeniert hat »Ein Hologramm für den König« allerdings ein

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anderer Tom Tykwer: ein Routinier, der das leichte Erzählen perfektioniert hat, ein Entertainer, der einen ansehnlichen, unterhaltsamen Film inszeniert hat, der allerdings in keiner Sekunde an das erinnert, was in »Winterschläfer« steckte oder in »Lola rennt«. In »Heaven« hatte Tykwer noch die Geschichte eines Bettnässers erzählt; nun verleiht er einer Niete im Bett die nötige Potenz, um kulturelle Unterschiede wegzuvögeln. Diese Unterschiede prasseln auf Alan Clay nur so ein, der einst die Fertigung einer renommierten amerikanischen Fahrrad-Firma nach China verlegte und nun als frei flottierender Consultant einem IT-Unternehmen helfen soll, eine größenwahnsinnige, noch mehr aus Sand denn aus Stein bestehende Wüstenstadt zu vernetzen. Telefonieren mit einem 3D-Hologramm des Gesprächspartners: das wäre doch was für diese superreichen Scheichs! Noch allerdings ist die Ausschreibung nicht

prägt. Da steht Clay in einer Rückblende vor Dutzenden Fahrradmonteuren, denen er seine »Sanierungspläne« vorstellen muss. Eine Herde Kamele lungert auf der Straße herum, während sich Clay auf dem Beifahrersitz erstmals von dem redseligen Chauffeur Yousef herumkutschieren lässt. Und immer wieder schieben sich schwarze und weiße Flächen in Clays Blick: Thawbs und Burkas. Diese Momentaufnahmen sind nicht deshalb schwach, weil sie das Ressentiment der blickenden Figur übernehmen. Vielmehr erinnern sie an einen besseren Film, der in Tykwers Arbeit steckt, ein kafkaeskes, elendes, auswegloses Verwirrspiel in der undurchdringlichen Fremde. Tim Slagman Bewertung der Filmkommission

Ein angeschlagener Berater soll einem US-amerikanischen Unternehmen helfen, den Zuschlag bei einem größenwahnsinnigen ITProjekt in Saudi-Arabien zu erhalten, verliert sich aber in der fremden Kultur und den Wirren der Globalisierung. Verfilmung des Romans von Dave Eggers, in der der Hauptdarsteller souverän die Verlorenheit einer JedermannFigur einfängt. Handwerklich perfekt inszeniert, wirkt der Film doch an vielen Stellen steril und steht irritierend im Gegensatz zu den kafkaesken Qualitäten des Stoffes. – Ab 14.

A HOLOGRAM FOR THE KING Scope. Deutschland/Großbritannien 2016 Regie: Tom Tykwer Darsteller: Tom Hanks (Alan Clay), Alexander Black (Yousef), Sarita Choudhury (Zahra Hakem), Sidse Babett Knudsen (Hanne), Tom Skerritt Länge: 98 Min. | Kinostart: 28. 4. 2016 Verleih: X-Verleih | FSK: ab 6; f FD-Kritik: 43 847

Fotos S. 36-51: Jeweilige Filmverleihe

Ein Hologramm für den König

gewonnen. Clays Team versauert derweil in einem Zelt ohne WLAN und funktionierende Klimaanlage. Der König, Gründer und Namensgeber des Stadtprojektes, lässt genauso auf sich warten wie der Ansprechpartner für die potenziellen Lieferanten; überdies wächst auf Clays Rücken ein Geschwür, während daheim in der USA seine Tochter dringend Geld für ihre College-Laufbahn gebrauchen könnte. Tom Hanks, der große Jedermann des amerikanischen Kinos, geht in der Titelrolle auf: Er lässt die beiden Alans, den lächerlichen wie den Sympathieträger, gekonnt ineinanderfließen. Die Bilder von Frank Griebe sind von einer glasklaren, lichtdurchfluteten Perfektion. Selbst die Szenen, die in einer bunten, lebendigen Welt unter der Meeresoberfläche ein verspieltes Refugium jenseits von Moralterror und Leistungsdruck imaginieren, wirken fast steril – so unwirklich wie neureiche Retortenstädtchen, und so leicht konsumierbar, wie sich versöhnliche Komödien diesseits wie jenseits des Atlantiks allzu oft präsentieren. Einmal verirrt sich Clay in einem Musterwohnhaus und stolpert durch ein düsteres Geschoss im Bauzustand, wo sich die von Arbeitsdreck gezeichneten Gastarbeiter gerade in einer Schlägerei verstricken. Wenige Schritte und noch weniger Schnitte weiter gleitet er geradewegs in eine hochglanzpolierte Vorzeigewohnung, wo ihm sogar ein kühles Bier serviert wird. Doch selbst in solchen Ambivalenzen oder in den zaghaften Tauchgängen zur wirklich dunklen Seite des saudischen Wirtschaftswunders steckt also eine Berechenbarkeit, die auf den Effekt der maximalen Konfrontation schielt und damit viele Einstellungen des Films


neue Filme Kritiken

La Belle Saison – Eine Sommerliebe Mit leichter Hand inszenierte Hommage an die Frauen Delphine sitzt gut auf dem ­Traktor. Bestimmt und selbstverständlich, wie ein Cowboy auf seinem Pferd. Nachts trifft sie mit gleicher Selbstverständlichkeit ihre heimliche Geliebte. Die aber beendet die Beziehung, um zu heiraten – »Kindheit war mal«, schiebt sie ihr zum Abschied hinterher. Zu Beginn der 1970er-Jahre, zumal auf dem französischen Land, ist die Liebe zwischen zwei Frauen nicht vorgesehen. Sie passt nicht ins Weltbild und erst recht nichts ins Wirtschaftssystem. Einen Hof ohne männliche Führung betreiben: unvorstellbar. Auch Delphines Eltern erträumen für die Tochter eine Ehe mit einem Bauern. Doch die hat andere Pläne und geht vorerst nach Paris. Kaum angekommen, schließt sich Delphine einer feministischen Gruppe an – »Ach, die Erregten«, heißt es einmal. Die Bezeichnung ist gar nicht so verkehrt. Laut und erhitzt durcheinanderredend, streitend, lachend und singend tun sie, »was sie wollen und mit wem

sie wollen«, wie es eine von ihnen kämpferisch formuliert. Delphine gefällt die aufgekratzte Energie und Unangepasstheit der Gruppe. Sie verliebt sich in die etwas ältere Carole, eine agile Aktivistin, die mit einem Mann zusammen lebt. Die beiden Frauen werden trotzdem nach einigen Hürden ein Paar – und doch schon bald wieder getrennt. Als Delphines Vater schwer erkrankt, muss die Tochter auf den Bauernhof zurückkehren. Carole reist ihr nach, bleibt einen Sommer lang und lernt eine andere Delphine kennen. Eine, die ihre persönlichen Bedürfnisse hinter die Anforderungen und Konventionen einer bäuerlichen Existenz zurückstellt. Und die ihre Gefühle vor der eigenen Mutter versteckt. »La Belle Saison« beginnt als »Period Piece«, um seinen Radius nach ungefähr der Hälfte zum persönlichen Drama zu verengen. Etwas vorhersehbar steuert die Erzählung auf den Konflikt zwischen Leidenschaft und gesellschaftlicher Erwar-

Sexszenen bedient sich die Inszenierung recht ungehemmt an der ländlichen Kulisse mit dem satten, flirrenden Sonnenlicht und den warmen Farben – das ist mitunter haarscharf an der Grenze zur »cheesyness«, zum Kitsch. Aber Corsini zeigt auch die Arbeit der Frauen, das Melken der Kühe, das Heueinholen, und sie porträtiert Delphines Mutter (Noémie Lvovsky) sehr schön als eine Frau, die keinen Begriff hat von Frauenrechten und Gleichberechtigung und doch tagein, tagaus ebenso hart arbeitet wie ein Mann. Als Carole ihr sagt, sie könne stolz auf sich sein, macht sie nur große Augen. Esther Buss Bewertung der Filmkommission

tung zu. Selbst wenn diese Zweiteilung die Unverträglichkeit von Stadt- und Landleben gewissermaßen abbildet, wirkt sie doch etwas schematisch: hier das feministische Modell, da die Praxis, in der sich die Theorie nur bedingt leben lässt. Der feministische Aktivismus sieht hingegen wie ein großer Abenteuerspaß aus: fremde Männer antatschen, die Veranstaltung eines Abtreibungsgegners sprengen, einen schwulen Freund aus der Psychiatrie befreien. Und dabei lachend wegrennen. Es herrscht zwar eine lebhafte Debattenkultur, aber am Ende steht immer die harmonische Gemeinschaft der Frauen, die einheitlich und mit geballter Faust »Debout les femmes« anstimmt. Um historische Komplexität geht es der Regisseurin Catherine Corsini offensichtlich nicht. »La Belle Saison« ist eher eine mit leichter Hand inszenierte Hommage an die Frauen – an ihren Gemeinschaftssinn, ihre Selbständigkeit, ihre Arbeit, ihre Sinnlichkeit. In den Liebes- und

Eine junge Frau verlässt Anfang der 1970er-Jahre den Bauernhof ihrer Eltern und zieht nach Paris, wo sie sich in eine feministische Aktivistin verliebt. Als ihr Vater erkrankt und sie auf den Hof zurückkehren muss, kommt es zum Konflikt zwischen Leidenschaft und gesellschaftlicher Erwartung. Beherzte, mitunter in satten Farben schwelgende Hommage an die Frauen, ihren Gemeinschaftssinn, ihre Selbstständigkeit und Sinnlichkeit. Zwar zerfällt der Film in zwei Teile, in denen sich das »Period Piece« zum persönlichen Drama verengt, dennoch überzeugt er vor allem durch die Leichtigkeit seiner Inszenierung. – Ab 14.

LA BELLE SAISON Scope. Frankreich/Belgien 2015 Regie: Catherine Corsini Darsteller: Cécile de France (Carole), Izïa Higelin (Delphine), Noémie Lvovsky (Monique), Kévin Azaïs (Antoine) Länge: 106 Min. | Kinostart: 5.5. 2016 Verleih: Alamode | FSK: ab 12; f FD-Kritik: 43 848

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kritiken Im Netz

Marvel’s Daredevil Eine Serie um Marvels blinden Superhelden als düstere Facette des Erzählkosmos, zu dem auch die »Avengers« gehören

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gleichwohl souverän durch den urbanen Alltag navigiert; denn was (zunächst) niemand weiß: Matts übrige Sinne haben sich in hohem Maße weiterentwickelt und bescheren ihm übernatürliche Fähigkeiten, die er nun in seinem einsamen Kampf gegen Verbrechersyndikate, Menschen- und Drogenhandel, bestechliche Polizisten und korrupte Politiker einsetzt. Der Sohn eines tragisch gescheiterten Boxers wurde vom väterlichen, gleichwohl dubiosen und ebenfalls blinden Stick zum virtuosen Kämpfer ausgebildet, der immer wieder auch einstecken muss, und das nicht nur körperlich: Als „Schmerzensmann“ und tief gläubiger Katholik leidet er schwer an seiner inneren Zerrissenheit, muss er doch immer wieder selbst auf Gewalt mit Gewalt reagieren. Solche moderat existenzialistische Grundierung verleiht der Serie eine düstere, durchaus bemerkenswerte Ernsthaftigkeit, die sich reizvoll im Berufsalltag des engagierten Rechtsanwalts spiegelt und dabei thematisch facettenreich ausdifferenziert wird. Zugleich sichern diverse gleichwertig behandelte Personen der Serie dauerhaft Tragfähigkeit: An Matts Seite stehen sein bester Freund und Partner Foggy Nelson und die engagierte Karen Page als sich zunehmend emanzipierende Anwaltsgehilfin, während Krankenschwester Claire Temple Daredevil immer wieder zusammenflicken muss. Auf der Seite des

Verbrechens setzt (besonders) in der ersten Staffel Wilson Fisk markante Akzente, während die zweite Staffel mit der Schlacht gegen die archaische Organisation „Die Hand“ das Personal um abgründig-zwiespältige „Helden“ wie den Punisher und Elektra Natchios weitet. Sie drücken der nun noch weit düsterer gewordenen, atmosphärisch noch intensiveren, aber auch deutlich gewalttätigeren Fortsetzung der Serie nachhaltig ihren Stempel auf. Aus den vielen markanten Episoden, Handlungsfäden und überraschenden Verknüpfungen entsteht ein schillerndes Gebräu aus Fantasy und skeptischer Reflexion über die Befindlichkeit einer aus den Fugen von Moral und Loyalität geratenen Welt, die auch dadurch, dass sich ein Einzelner handfest und couragiert zum Kämpfer aufschwingt, nicht besser zu werden verspricht. Kleiner Trost: In Hell’s Kitchen gibt es ja auch noch Jessica Jones, Luke Cage und Iron Fist. Auch sie kämpfen, gebrochen, aber doch nicht brechbar, gegen das Verbrechen und werden am Ende als „Marvel’s The Defenders“ mit Daredevil zusammenfinden. – Ab 16. Horst Peter Koll MARVEL’S DAREDEVIL USA 2015 Showrunner: Drew Goddard Darsteller: Charlie Cox, Deborah Ann Woll, Elden Henson, Vincent D‘Onofrio, Rosario Dawson Anbieter: Netflix FD-Kritik: 43 873

Fotos: Jeweilige Anbieter

Immer wieder ächzen die Straßen und Gebäude New Yorks unter den martialischen Schlachten der Avengers gegen außerirdische Invasoren. Während sich die Helden nach getaner Arbeit erschöpft eine Auszeit mit Schawarma-Essen in der verwüsteten Innenstadt gönnen, geht es andernorts gesitteter zu. Könnte man meinen. Denn auch im Viertel Hell’s Kitchen im New Yorker Stadtbezirk Manhattan brodelt es, treiben Verbrecherbanden ihr Unwesen, rangelt die Yakuza mit Rockern und Iren um die Macht, während ein gnadenloser Gangsterboss seine eigenen Fäden spinnt. Wilson Fisk ist ein wohlhabender, höchst einflussreicher Geschäftsmann, der sich „seine Stadt“ rücksichtlos so bauen will, wie es ihm und seiner Machtgier gefällt; doch es gibt jemanden, der Hell’s Kitchen ebenfalls für sich reklamiert: einen mysteriösen Superhelden mit rotem Kostüm und einer Maske mit Teufelshörnern, der als Daredevil die Bürger beschützt und den martialischen Kampf gegen Fisk aufnimmt. Mit „Daredevil“ hat sich der üppig mäandernde Geschichtenkosmos des „Marvel Cinematic Universe“ um eine fulminante Fernsehserie erweitert, die sich nunmehr bereits in zwei Staffeln als eigenständige, packend erzählte Actiongeschichte neben den Marvel-Kinofilmen behauptet. Hinter Daredevil steckt der Rechtsanwalt Matt Murdock, der als Junge durch einen radioaktiven Unfall sein Augenlicht verlor,


Kritiken fernseh-Tipps SAMSTAG 30. april

07.25 – 08.55 mdr Blauvogel R: Ulrich Weiß Werkgetreue Kinderbuch­klassiker-Adaption DDR 1979 Ab 10 13.30-15.00 einsfestival Wochenendkrieger R: Andreas Geiger Einblicke in die Parallelwelt von Live-Rollenspielen Deutschland 2012 Ab 12 20.15 – 22.05 SAT.1 Hotel Transsilvanien R: Genndy Tartakovsky Animationskomödie um schrägen Grusel-Clan USA 2012 Ab 10 20.15 – 22.05 Servus TV Das Mädchen mit dem Perlenohrring R: Peter Webber Hausmädchen inspiriert Jan Vermeer GB 2003 Sehenswert ab 14 20.15 – 21.50 zdf_neo Good Kill – Tod aus der Luft R: Andrew Niccol Kriegsdrama mit Ethan Hawke & January Jones USA 2014 Ab 16 22.05 – 23.55 Triage R: Danis Tanovic Engagiertes Drama über Kriegstraumata Irland/Frankreich 2009

Servus TV

Ab 16

23.50 – 01.25 rbb Fernsehen London Nights R: Alexis Dos Santos Jugendfilm um Rausch, Liebe und Selbstfindung Großbritannien 2008 Ab 16 00.50 – 02.20 mdr Sein Name ist Mad Dog R: John McNaughton Humorvolles Polizei-Märchen USA 1993 Ab 16 02.00 – 04.00 arte Joschka und Herr Fischer R: Pepe Danquart Unterhaltsames Porträt des Politikers Deutschland/Schweiz 2011 Ab 16

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30. April, 20.15 – 21.50 zdf_neo

30. April, 23.50 – 01.25

rbb Fernsehen

Good Kill – Tod aus der Luft

London Nights

Der Einsatz von Kampfdrohnen ist die militärtechnisch prägendste Entwicklung des letzten Jahrzehnts; in nur wenigen Jahren ist die Zahl der Todesopfer in Ländern wie Afghanistan, Pakistan, Jemen und Somalia in die Tausende gestiegen. Moralisch ist der Drohneneinsatz höchst umstritten – worauf zögerlich auch Hollywood reagiert (siehe E-Mail aus Hollywood S. 27). Darum geht es auch in »Good Kill« von Andrew Niccol (»Gattaca«, »Lord of War«, »Seelen«): Ein US-Drohnenpilot (Ethan Hawke), der von Las Vegas aus Ziele in Pakistan und Afghanistan unter Beschuss nimmt, leidet zunehmend an seiner Arbeit und stellt deren moralische Berechtigung in Frage. Auch sein Privatleben und speziell seine Ehe werden durch seine Krise in Mitleidenschaft gezogen. Das Kriegsdrama nimmt kritisch die Praxis moderner Kriegsführung ins Visier, indem es deren psychische Kollateralschäden beleuchtet, wobei es sich ganz auf die Perspektive und die moralischen Dilemmata seiner Hauptfigur konzentriert.

»Unmade Beds«, heißt das bewegte, stilistisch sehr eigensinnige Jugenddrama von Alexis Dos Santos im Original, denn zerwühlte Schlafstätten gibt es in dem WG-Haus im Londoner East End jede Menge. Hier kreuzen sich die Lebenswege einer Handvoll junger Menschen aus aller Welt. Sie sind auf der Suche nach sich und anderen. Es geht um Rausch, Liebe, Lust, Identität und die Sehnsucht, ein anderer zu sein. Die Inszenierung greift dafür auf unterschiedliche filmische Materialien zurück und mischt Erinnerungen, Träume, Sehnsüchte und verborgene Wünsche. Was mitunter wie eine Geschichte aus den späten 1980er-Jahren wirkt, ist durch moderne Accessoires fest in der Gegenwart verankert. Am meisten beeindruckt dabei die Natürlichkeit der jungen Schauspieler sowie die wilde, ausdrucksstarke Musik.

1. Mai, 20.15 – 22.20 arte

1. Mai, 15.20 – 17.00 ZDF

Der Marshal

Lachsfischen im Jemen

Der Ruhm der ersten Verfilmung des Western-Romans »True Grit« aus dem Jahr 1969 ist durch das aufwändige Remake der Coen-Brüder von 2010 ein wenig verblasst. Zu Unrecht, denn das Original bricht im Vergleich sogar radikaler mit den Traditionen des Western-Genres. John Wayne unterwandert in der Rolle des alternden, übergewichtigen, trinkfreudigen und einäugigen Marshals »Rooster« Cogburn sein Image des unerschütterlichen Helden in einer Weise , die ihm zuvor nur die Filme von John Ford und Howard Hawks erlaubt hatten, und gewann dafür seinen einzigen »Oscar«. Auch sonst punktet der Film mit einer exzellenten Besetzung: Vom Country-Sänger Glen Campbell als Texas-Ranger über Kim Darby als Jugendliche mit Rachewunsch bis zu u.a. Robert Duvall und Dennis Hopper als Desperados. Den Western-Konventionen der damaligen Zeit verpflichtet ist allerdings der Humor, der sich erkennbar dem raubeinigen Charme von John Wayne anpasst.

Die Idee, im Jemen Lachse züchten zu wollen, findet der bodenständige Experte vom britischen Fischerei-Institut (Ewan McGregor) einfach schwachsinnig. Nichtsdestotrotz wird er genötigt, einem jemenitischen Scheich bei der Verwirklichung seiner exzentrischen Pläne zu helfen. Dafür sorgen zwei selbstbewusste Damen, denen die ungewöhnliche Kooperation nutzt: die Pressesprecherin des englischen Premierministers (Kristin Scott Thomas) und Harriet, eine britische Vertreterin des Scheichs (Emily Blunt). Im Jemen angekommen, entwickelt der Mann dann langsam Interesse an seinem Job – und an Harriet. Lasse Hallström macht aus dem absurden Stoff eine schwungvolle RomCom mit trockenen Pointen, was nicht zuletzt auch am liebenswerten Spiel der Hauptdarsteller liegt.

Fotos S. 56 – 65: Jeweilige Sender.

SA


fernseh-Tipps Kritiken

SO

MO

sonntag 01. mai

06.00 – 07.30 rbb fernsehen Bei uns und um die Ecke R: Bernd Böhlich Einfallsreiche Lektionen in praktizierter Demokratie Deutschland 2009 Ab 10 07.15 – 08.35 hr fernsehen Was weg is, is weg R: Christian Lerch Turbulent-makabre Heimatkomödie Deutschland 2012 Ab 14 10.55 – 13.10 einsfestival Tod auf dem Nil R: John Guillermin Starbesetztes Mörderrätsel in Ägypten Großbritannien 1977 Ab 14 12.00 – 13.50 KiKA Till Eulenspiegel R: Christian Theede Fantasiereiche Verfilmung der ­Narrenspiegeleien Deutschland 2014 Sehenswert ab 10 14.25 – 15.50 rbb Fernsehen Balduin, der Sonntagsfahrer R: Serge Korber Präzise Louis-de-Funès-Komödie mit Tiefgang Frankreich/Italien 1970 Ab 14 15.20 – 17.00 ZDF Lachsfischen im Jemen R: Lasse Hallström Romantische Komödie mit Ewan McGregor & Emily Blunt Großbritannien 2011 Ab 14 16.25 – 17.55 einsfestival Abseitsfalle R: Stefan Hering Engagierte Sozialkomödie Deutschland 2012 Ab 14 20.15 – 22.20 arte Der Marshal R: Henry Hathaway Alter Revolverheld hilft Mädchen USA 1969 Ab 14 23.35 – 02.23 Das Erste Die Frau des Polizisten R: Philip Gröning Sperriges Drama häuslicher Gewalt Deutschland 2013 Sehenswert ab 16

montag 02. mai

20.15 – 22.00 arte Elf Uhr nachts R: Jean-Luc Godard Junger Poet bricht aus Gesellschaft aus Frankreich/Italien 1965 ERSTAUSSTRAHLUNG: 2. Mai, 23.25 – 00.45 arte

ERSTAUSSTRAHLUNG: 2. Mai, 20.15 – 21.45 ZDF

Materia oscura

Im Namen meines Sohnes

An der steilen, touristisch weniger erschlossenen Ostküste Sardiniens befindet sich zwischen Bergen und Meer seit Mitte der 1950er-Jahre ein militärisches Sperrgebiet, in dem im Auftrag der italienischen Regierung, aber auch deren internationaler Partner, Waffen unterschiedlichster Art getestet werden. Dass dieses Gebaren auf dem »Erprobungsund Übungsplatz Salto di Quirra« unabsehbare Folgen für Land, Leute, die Tiere und die kulturelle Entwicklung der Region hat, wird allzu gern verschwiegen. Der vielfach ausgezeichnete Dokumentarfilm begibt sich auf Spurensuche, sammelt Beweise für die Unverantwortlichkeit der Behörden und Institutionen und rückt die Opfer in den Fokus, die allenfalls als Kollateralschaden verzeichnet sind – Sehenswert!

Ein Internatsschüler wird tot aufgefunden, ermordet auf mysteriöse Weise. Der Vater, auf dessen Begehr der Aufenthalt in der Privatschule zustande kam, zergeht in Selbstvorwürfen und beginnt, selbst nach dem Täter zu suchen. Eine Odyssee, die 19 Jahre dauern wird und die Beziehung zu seiner Frau und dem jüngeren Sohn auf eine extreme Zerreissprobe stellt. Ein in den 1990er-Jahren nach wahren Begebenheiten angesiedelter (Fernseh-)Thriller, der die spannende Krimi-Oberfläche des Sujets nutzt, um die Tragödie eines leidenden, von Schuldgefühlen geplagten Vaters zu inszenieren. Dabei lebt das klug konstruierte Psychodrama von den brillanten Darstellern, allen voran von der Leistung von Tobias Moretti, der das Gros der Handlung ganz unprätentiös, aber intensiv gestaltet.

Ab 2. Mai

arte

Schwerpunkt Cannes 2016 Auf der Bugwelle des Filmfestivals in Cannes (11. – 22.5.) präsentiert arte in den kommenden Wochen eine Reihe herausragender Filme, die alle in Cannes ihre Premiere feierten. Das Festival an der Croisette steht auch im Mittelpunkt des »Kurzschluss«-Magazins auf arte, das am 20. Mai sein Programm ganz auf Cannes ausrichtet (00.00 – 00.50). 2.5., 20.15 – 22.00 2.5., 22.00 – 23.25 4.5., 20.15 – 22.50 4.5., 22.50 – 00.25 9.5., 20.15 – 22.05 9.5., 22.05 – 23.40 11.5., 20.15 – 21.55 11.5., 21.55 – 23.30 18.5., 21.45 – 23.50 18.5., 23.50 – 01.30 22.5., 20.15 – 22.10

Elf Uhr nachts, R: Jean-Luc Godard Die Geschichte der Nana S., R: Jean-Luc Godard Lunchbox, R: Ritesh Batra Samson & Deliliah, R: Warwick Thornton Die Jagd, R: Thomas Vinterberg Der Fremde am See, R: Alain Guiraudie Habemus Papam, R: Nanni Moretti Ilo Ilo, R: Anthony Chen A Touch of Sin, R: Jia Zhang-ke Heli, R: Amat Escalante Von Menschen und Göttern, R: Xavier Beauvois

20.15 – 21.40 einsfestival Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs R: Pedro Almodóvar Frivol-überdrehte Liebesund Situationskomödie Spanien 1987 22.00 – 23.25 arte Die Geschichte der Nana S. R: Jean-Luc Godard Frauenschicksal als Filmessay Frankreich 1962 Sehenswert 22.15 – 23.40 ZDF Jung & Schön R: François Ozon Abgründiges Melo über eine ­Verführerin Frankreich 2013 Ab 16 23.25 – 01.25 The Yards – Im Hinterhof der Macht R: James Gray Gangsterfilm und ­Gesellschaftsdrama USA 1999

Servus TV

23.55 – 01.30 ZDF Los Ángeles R: Damian John Harper Jugenddrama aus dem Süden Mexikos Mexiko/Deutschland 2014 Ab 16 23.55 – 02.35 mdr Die Abenteuer des Werner Holt R: Joachim Kunert Eindringlicher Kriegsfilm DDR 1964 Ab 16 00.20 – 02.00 hr fernsehen Der Feind in den eigenen Reihen – Intimate Enemies R: Florent Emilio Siri Kolonialkritisches Drama Frankreich 2007 00.45 – 02.15 arte Fenster zum Sommer R: Hendrik Handloegten Kunstfertiges Liebesdrama Deutschland/Finnland 2011 Ab 14

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