Filmdienst 04 17

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PAU L V E R H O E V E N

FILM DIENST Das Magazin für Kino und Filmkultur

04 2017

16. Februar 2017 € 5,50 70. Jahrgang

www.filmdienst.de

Derzeit steht der niederländische Filmemacher der internationalen Jury der „Berlinale“ vor. Außerdem startet sein neuer Film „Elle“ in den Kinos. Ein Werkporträt zwischen Genre, Skandal und Kunst.

I SA B E L L E H U P P E R T

Sie ist Frankreichs sprödeste Diva: Die 1953 geborene Schauspielerin verlässt in ihren Rollen immer wieder die Komfortzone. Ein Interview.

„ M E I N L E B E N A L S Z U CC H I N I “

Mittels Stop-Motion erzählt Claude Barras in seinem preisgekrönten Animationsfilm von einem Waisenjungen und der Sehnsucht nach Geborgenheit.


inhalt DIe neuen KInoFIlMe neu im Kino

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ALLE STArTTErMInE A Cure for Wellness 23.2. Bailey – Ein Freund fürs Leben 23.2. Bibi & Tina – Tohuwabohu Total! 23.2. Boston 23.2. Do Not Resist - Police 3.0 23.2. Elle 16.2. Empörung 16.2. Enklave 16.2. Europa – ein Kontinent als Beute 23.2. Fences 16.2. Firildak Ailesi 2.2. Die Gabe zu heilen 23.2. Hitlers Hollywood 23.2. John Wick: Kapitel 2 16.2. Kötü Cocuk 26.1. Lion 23.2. Mein Leben als Zucchini 16.2. Neruda 23.2. Offline – Das Leben ist kein Bonuslevel 23.2. Raees 2.2. Rings 2.2. Schatz, nimm du sie! 16.2. T2 Trainspotting 16.2. The Lego Batman Movie 9.2. Vezir Parmagi 26.1. Worlds Apart 23.2.

44 fences

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elle

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john wick: kapitel 2

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Kinotipp

der katholischen Filmkritik

Berührende Puppenanimation um Waisenkinder auf der Suche nach Geborgenheit.

fernseh-tipps 56 Das ZDF startet am 19.2. die Miniserie „Trapped - Gefangen in Island“ von Baltasar Kormákur. Spannende Unterhaltung liefern außerdem die Free-TV-Premiere von David Finchers Thriller „Gone Girl“ (26.2., ProSieben) sowie der österreichische Zweiteiler „Aufschneider“ (27./28.2., 3sat) mit Josef Hader als biestigem Pathologen.

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37 worlds apart

Fotos: TITEL: Polyband. S. 4/5: Polyband, Paramount, MFA+, Concorde, Kairos, Berlinale 2017 © Lex de Meester

+ 41 49 51 38 51 36 43 42 49 44 49 51 47 49 51 48 39 40 51


4 | 2017 DIe arTIKel inhalt

RUBRIKEN EDITOrIAL 3 InHALT 4 MAGAZIn 6 DVD-KLASSIK 34 DVD/BLU-rAY 50 TV-TIPPS 56 FILMKLISCHEES 66 VOrSCHAU / IMPrESSUM 67

Kino

aKteure

filmKunst

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paul VerhoeVen

10 PAUL VERHOEVEN

22 PABLO LARRAÍN

hans poseGGa

27 E-MAIL AUS HOLLYWOOD

Mit „Elle“ hat der niederländische regisseur, der einst mit Filmen wie „robocop“, „Basic Instinct“ und „Starship Troopers“ Zuschauer und Kritiker polarisierte, 2016 in Cannes ein fesselndes Comeback hingelegt. Hommage auf einen „agent provocateur“.

Die Verstrickungen von Individuen in politische Prozesse sind ein zentrales Thema im Werk des chilenischen regisseurs. Derzeit ist er mit zwei Biopics über historische Persönlichkeiten auf deutschen Leinwänden präsent: „Jackie“ und „neruda“.

Zwischen den Filmen, in die in den USA das breite Publikum strömt, und denen, die für die „Oscars“ nominiert werden, klafft eine immer breitere Kluft. Wird die einst so glamouröse Branchenauszeichnung bald zur Marginalie?

Von Rüdiger Suchsland

Von Wolfgang Hamdorf

Von Franz Everschor

16 ISABELLE HUPPERT

Figuren, die man sofort ins Herz schließt, sind ihre Sache nicht: „la Huppert“ bevorzugt scharfkantige rollen, die ihr und ihrem Publikum Grenzgänge zumuten. Im Interview spricht sie über ihren Part in „Elle“ als Vergewaltigungsopfer, das auf verstörende Weise sein Trauma verarbeitet. Von Margret Köhler

18 VIELFÄLTIGES HOLLYWOOD?

Aktuelle Kinofilme wie „Hidden Figures“, „Moonlight“ und „Fences“ scheinen zu belegen, dass sich Hollywood die #OscarsSoWhite-Debatte vom letzten Jahr zu Herzen genommen hat. Ein Paradigmenwechsel hin zu mehr „Diversity“? Von Lucas Barwenczik

25 CLAUDE BARRAS

Hinter dem kuriosen Titel „Mein Leben als Zucchini“ verbirgt sich eine Puppenanimations-Perle, in der Claude Barras von den Abenteuern eines Waisenjungen erzählt. Im Interview berichtet er, warum ihm das Projekt am Herzen liegt. Von Margret Köhler

26 FESTIVALS

Deutschsprachiges nachwuchs-Kino beim Festival Max Ophüls Preis und eine Leistungsschau des Schweizer Films bei den Solothurner Filmtagen. Von Irene Genhart und Wolfgang Hamdorf

28 HANS POSEGGA

Dem deutschen Fernsehen hat er das Thema zur „Sendung mit der Maus“ beschert, und auch ums Kino hat sich der Komponist verdient gemacht: Seine Melodien prägten das „neue deutsche Kino“ mit. Von Stephan Ahrens

+ Poseggas Musik für „nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ Von Jörg Gerle

32 IN MEMORIAM

nachrufe auf Filmemacher und -wissenschaftler Werner nekes und die SchauspielerInnen John Hurt, Emmanuelle riva und Mary Tyler Moore. Von Rainer Dick, Horst Peter Koll, Ulrich Kriest und Marius Nobach

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magazin

Cineasten timeline

Vom 16.2. BIS 1.3.2017 19.2. 1967

Geburtstag des puertoricanischen Schauspielers Benicio Del toro (u.a. „Traffic – Macht des Kartells“, „Sicario“, „Jimmy P.“)

20.2. 1927

Geburtstag des bahamaisch-amerikanischen Schauspielers und Regisseurs sidney poitier (u.a. „In der Hitze der Nacht“, „Flucht in Ketten“, „Lilien auf dem Felde“)

20.2. 1942

Geburtstag des französischen Regisseurs und Drehbuchautors Claude miller (u.a. „Das Verhör“, „Das freche Mädchen“, „Ein Geheimnis“; †2012)

20.2. 1947

Geburtstag des deutschen Schauspielers henry hübchen (u.a. „Alles auf Zucker!“, „Jakob der Lügner“, „Whisky mit Wodka“)

21.2. 1942

Geburtstag der deutschen Regisseurin, Drehbuchautorin und Schauspielerin margarethe von trotta (u.a. „Die bleierne Zeit“, „Rosa Luxemburg“, „Das Versprechen“)

22.2. 1987

Todestag des amerikanischen Malers, Grafikers, Fotografen, Autors und Regisseurs andy Warhol (u.a. „Sleep“, „Lonesome Cowboys“, „Bike Boy“; geboren 1928)

24.2. 1967

Todestag des deutsch-amerikanischen Filmkomponisten franz Waxman (u.a. „Boulevard der Dämmerung“, „Ein Platz an der Sonne“, „Rebecca“; geboren 1906)

25.2. 1937

Geburtstag des britischen Schauspielers tom Courtenay (u.a. „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“, „45 Years“, „Doktor Schiwago“)

26.2. 2017

Verleihung der 89. „academy awards“ in Los Angeles

27.2. 1957

Geburtstag des britischen Schauspielers timothy spall (u.a. „Mr. Turner“, „Harry Potter“, „Lügen und Geheimnisse“)

28.2. 1957

Geburtstag des amerikanischen Schauspielers und Regisseurs John turturro (u.a. „Barton Fink“, „Do the Right Thing“, „Mia Madre“)

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tyler Cross Atmosphärische Comics als Essenz des Hard-Boiled-Genres

Das texanische Kaff, in das es den Ganoven Tyler Cross im ersten Band der gleichnamigen Comic-Reihe verschlägt, heißt Black Rock, wie jene Stadt, in der in John Sturges’ Filmklassiker „Stadt in Angst“ Spencer Tracy als Unruhe stiftender Fremder ankam. Der Titelheld selbst – eigentlich ein Antiheld, der als Mafia-Killer alles andere als eine weiße Weste hat – ist an die scharfkantige Physiognomie von Schauspieler Jack Palance angelehnt. Ein Unterkiefer und Wagenknochen, an denen man sich schneiden könnte, und die Kontrahenten, mit denen Cross es zu tun bekommt, sollten das besser als Warnung verstehen: Cross fackelt nicht lange, wenn es gilt, für die Mafia die Schmutzarbeit zu erledigen. In Black Rock findet er sich aber unversehens auf Seiten der Guten wieder, als er in der Kleinstadt auf das Regime einer Familie stößt, die sogar ihn an Skrupellosigkeit in den Schatten stellt. Das Erzähluniversum, das der Zeichner Brüno und Autor Fabien Nury mit der Comic-Krimireihe entwerfen, speist sich nicht zuletzt aus filmischen Bezügen. Die düsteren französischen Gangsterfilme der 1950er- und 1960er-Jahre, die Western von Sam Peckinpah, die Gewaltausbrüche Tarantinos: All das scheint Pate gestanden zu haben bei den kompakten Crime Stories, in die Brüno und Nury Tyler Cross hineingeraten lassen. Das Spiel mit Genre-Klischees konterkarieren die beiden immer wieder mit ungewöhnlichen Perspektiven, die knallharte No-Nonsense-Spannungsdramaturgie durch lakonisch-humoristische Ausfälle. Spaß machen die Bände nicht zuletzt wegen ihrer sehr reduzierten visuellen Gestaltung. Das Cover erinnert an Filmplakate und Vorspänne, die einst Saul Bass gestaltete; die Panels setzen auf wenige markante Linien, viel Schwarz, flächige, auf wenige Farben beschränkte Kolorierungen: die Essenz des Hard-BoiledGenres, stilbewusst destilliert. fkl Brüno/Fabien Nury: „Tyler Cross: Black Rock“ (Bd. 1) & „Tyler Cross: Angola“ (Bd. 2). Carlsen Verlag, Hamburg 2017. 96 S., je 14,99 EUR.


Kino XXX

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XXX Kino

Über die neue Vielfalt im Hollywood-Kino

Scheinwerfer und Mondlicht Im Frühjahr 2016 machte anlässlich der „Oscar“-Verleihung die #OscarsSoWhite-Bewegung darauf aufmerksam, wie unterrepräsentiert in Hollywood alles ist, was nicht männlich und weiß ist. Die Filme, die ein Jahr später auf die Leinwand kommen, scheinen zu belegen, dass die Sensibilität für die so genannte „Diversity“, die ethnische und sexuelle Vielfalt, gewachsen ist. Ein Strohfeuer? Von Lucas Barwenczik

Holt schwarze Wissenschaftlerinnen aus dem Schattendasein ins Rampenlicht: »Hidden Figures«

25 Techniker waren bei der letzten „Oscar“-Verleihung allein für die Beleuchtung zuständig, um mit über 100 Scheinwerfern die glamourösesten Hollywood-Stars und ihre goldschimmernden Trophäen mit aufwändigem Lichtertanz zu umspielen. Doch der strahlende Schein der Veranstaltung beleuchtet nie nur gleißende Siegerlächeln, sondern immer auch die Schattenseiten einer Industrie. Es mag absurd erscheinen, dass ausgerechnet die „Academy Awards of Merit“, jener alljährliche Akt der ritualisierten Selbstüberhöhung, mit dem eine Branche ihre eigene Mittelmäßigkeit feiert, als wichtiger Gradmesser für die Vielfalt in Hollywood gelten soll. Doch wer ins Rampenlicht treten darf, ist für viele von großer symbolischer Bedeutung. Als Kunstform des SichtbarMachens wirft das Kino unentwegt Fragen der Repräsentation auf. Obwohl Hollywood vielen Amerikanern als linksliberal und um Inklusion bemüht gilt, sind die dort kreierten Unterhaltungsprodukte weder vor noch hinter der Kamera sonderlich divers. Der Bericht „Inclusion or Invisibility?“ der USC Annenberg aus dem Jahr 2016 kommt nach einer Analyse von mehr als 11.000 Film- und Serienfiguren zu dem Schluss: „Die Filmindustrie fungiert immer noch als Club für heterosexuelle, weiße Männer.“ Das Zentrum für African American Studies der Universität von Kalifornien zog in ihrem ersten „Hollywood Diversity Report“ 2014 das Fazit: „Die falsche Vorstellung, man müsse zwischen Diversität und Spitzenleistungen wählen, hat der Industrie erlaubt, weiterhin ‚business as usual‘ zu betreiben.“ Der Nachfolgebericht 2016 klingt hoffnungsvoller und beschreibt die #OscarSoWhite-Debatte und ihre Folgen als möglichen Paradigmenwechsel für die Industrie.

Ein Club für heterosexuelle, weiße Männer An die „Oscars“ wird Jean-Luc Godard sicherlich nicht gedacht haben, als er erklärte, nicht politische Filme, sondern Filme politisch machen zu wollen. Doch seit dem letzten Jahr sind sie in den USA offiziell ein Politikum: Die öffentlich geführte Diskussion um die fehlende Präsenz Nichtweißer im Prestigekino der Vereinigten Staaten vermengt eine Filmdienst 4 | 2017

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Kino HollyWoodS neue vielfalt

im Jahr 2016 gelobte die Academy Besserung

Nachdem am 14. Januar 2016 die „Oscar“Nominierten bekanntgegeben worden waren, erhoben sich Stimmen, welche die fehlende Diversität der Auswahl – gerade in den Darsteller-Kategorien – beklagten. Sie verwiesen auf die Leistungen afroamerikanischer Filmschaffender: Aktivisten und Kritiker bemängelten, dass Filme wie der Sundance-Festival-Hit „Tangerine L. A.“, Spike Lees spitze Satire „Chi-raq“ oder der ambitionierte Anti-Kriegsfilm „Beasts of No Nation“, die sich dezidiert mit der Lebenswirklichkeit von Minderheiten auseinandersetzen, übergangen wurden. Stars wie Will Smith (dessen Sportlerdrama „Erschütternde Wahrheit“ ebenfalls übergangen wurde) boykottierten die Veranstaltung. Die Academy gelobte Besserung und leitete eine Reihe von Reformen in die Wege, durch die sich der Anteil von Frauen und Minderheiten unter den Mitgliedern bis 2020 verdoppeln soll. Auch die Liste der diesjährigen Nominierten liest sich in Teilen wie eine Reaktion auf die Diskussion des Vorjahrs: Im Jahr 2016 wurden sicherlich nicht mehr Filme von, mit und über Nichtweiße gedreht, ihnen wurde nur mehr Aufmerksamkeit geschenkt, auch durch die Academy. „Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen“ von Theodore Melfi etwa trägt schon im Titel programmatisch, was vom Prestigekino erwartet wird: Vergessenen historischen Figuren soll zu einem Platz in den Geschichtsbüchern verholfen werden. Die Filmbiografie erzählt von drei brillanten Afroamerikanerinnen, die entscheidend an der Apollo-11-Weltraummission mitwirkt. Denzel Washingtons „Fences“, basierend auf dem gleichnamigen Stück des bedeutenden schwarzen Dramatikers August Willson, wirkt in Teilen wie ein direkter Kommentar

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auf die Lage der Industrie: Washington verkörpert einen gescheiterten Baseballspieler, der seine Söhne von einer kreativen und sportlichen Laufbahn abhalten will, aus Angst, auch ihnen würden in einem von Weißen dominierten Umfeld viele Türen verschlossen bleiben. Jeff Nichols’ „Loving“ schließlich dramatisiert den bürokratischen Widerstand gegen eine Ehe zwischen einer schwarzen Frau und einem weißen Mann.

Rückblickend ist es leicht, auf der richtigen Seite zu stehen

Interessant ist, dass diese Filme alle in einer ähnlichen Epoche spielen: in der Zeit vor dem Civil Rights Act aus dem Jahr 1964. Damit stehen sie für Hollywoods Tendenz, gesellschaftspolitische Probleme zu historisieren. Statt sich den Problemen der Gegenwart zu widmen, kämpft man Ersatzgefechte gegen die Schrecken der Vergangenheit. Im Rückblick ist es immer leicht, auf der richtigen Seite zu stehen. Filme wie etwa „Loving“ und „Hidden Figures“ sind von einem merkwürdigen historischen Materialismus geprägt: Immerzu vermitteln sie den Eindruck, es hätte ohnehin nie anders kommen können, eine Brücke zum Jetzt schlagen sie nicht. In der Gegenwart angesiedelt sind Garth Davis’ „Lion“, der einzige nominierte Film mit einem asiatischen Hauptcharakter, und Barry Jenkins’ Coming-of-AgeDrama „Moonlight“, das Schlaglichter auf das Leben eines jungen, homosexuellen Schwarzen in unterschiedlichen Phasen seines Lebens wirft. Es ist interessant, wie Jenkins’ Studie von Isolation, Maskulinität und Chancenlosigkeit eingeordnet wird: Während ein in Sujet und Form ähnlich angelegter Film wie „Boyhood“ als universelle Beschreibung des Heranwachsens gilt, wird „Moonlight“ als direkter Ausdruck der „black experience“ gewertet. Auch wenn Kenneth Lonergans „Manchester by the Sea“ Figuren zeigt, die einem sehr charakteristischen katholischen und weißen Arbeiterklassen-Milieu entstammen und dies auch in ihrem Umgang mit persönlichen Tragödien offen nach außen tragen, käme niemand auf den Gedanken, den Film als Produkt einer wie auch immer gearteten, kollektiven „weißen Erfahrung“

zuzuordnen. Die Diskussion über Vielfalt ist auch der Versuch, gegen solche Vorstellungen von Normalität anzugehen, Weichen zu stellen für auf Schienen verlaufende Denkmuster. Dieser Prozess hat begonnen, der „Annenberg Report“ 2016 attestiert ein gesteigertes Bewusstsein für das Thema „Diversity“, auch bei zentralen Figuren der Industrie. Doch nur weil ein Problem bekannt ist, wird es nicht automatisch behandelt. Gerade in diesem Zusammenhang darf nicht vernachlässigt werden, dass eine entscheidende Triebkraft für Hollywood die gegenwärtig im Wandel begriffene Marktsituation ist: China steht kurz davor, die USA als weltweit größten Filmmarkt zu überholen, weil der Zugang kompliziert ist, wächst die Zahl der chinesisch-amerikanischen Co-Produktionen mit den entsprechenden Filmstars. Das Angebot von Streaming-Diensten wie Netflix und Amazon diversifiziert sich parallel zur sich ändernden Demografie der USA und der Ausweitung auf neue internationale Märkte. Selbst die langsam mahlenden Franchise-Mühlen von etwa Marvels ComicUniversum oder der „Star Wars“-Serie bemühen sich um eine breitere Repräsentation. Auch wenn manche Casting-Entscheidung sicherlich einen Feigenblatt-Charakter besitzt oder nur dazu dient, eine bestimmte Zielgruppe zu befriedigen, können sie als Zwischenschritt zu einer neuen Normalität dienen. Die Frage, ob die Qualität der Endprodukte darunter leidet, erscheint irrelevant: Sie zielen ohnehin auf den kleinsten gemeinsamen Nenner ab. Die meisten Blockbuster-Filme können heute durch das enge Korsett, in das sie durch Studio und Franchise-Logik gezwängt werden, kaum mehr Ausdruck einer kulturell andersartigen Autorenhaltung sein.

Durch die Augen eines anderen sehen können Ohne den Blick auf die Arbeitswirklichkeit vieler Filmschaffender zu ignorieren, liegt doch gerade darin der künstlerische Wert der Vielfalt: spezifische, individuelle Geschichten und Ausdrucksformen hervorzubringen, die durch ihre unmittelbare Verknüpfung mit einer spezifischen Identität einen universellen Charakter entwickeln. Hier wird das Kino politisch, weil

Fotos: Paramount, UPI, DCM. S. 18/19: Twentieth Century Fox

Reihe verschiedener Fragestellungen in sich. Welche Art von Geschichten werden erzählt, welche sollten erzählt werden, von wem und über wen? Gerade Kritiker der #OscarSoWhite-Aktivisten stellten die Frage, die auch im „Diversity Report“ anklang: In welchem Zusammenhang stehen emanzipatorische, ideologische Ziele und der ästhetische Wert eines Films?


HollyWoodS neue vielfalt Kino

»Moonnlight« (Kinostart: 9.3.) »Loving« (Kinostart: Herbst 2017)

»Fences« (Kinostart: 16.2.)

es Strukturprinzipien der Gesellschaft und Industrie in Frage stellt, nicht durch Parolen und Inhalte, sondern weil es Momente der Offenheit und Unentscheidbarkeit schafft. Das beste Beispiel dafür unter den Nominierten ist „Moonlight“, ein Film, der sicherlich nicht nur Gesinnungsapplaus erhält, sondern tatsächlich ein formal eindrucksvolles Kunstwerk darstellt. Elliptisch erzählt und radikal empathisch zeigt der Film, dass Humanismus eine Frage der Ästhetik ist. Es gibt keine Trennung zwischen politischer Botschaft und Form, die Form allein kann eine Botschaft sein. Der Titel des Films bezieht sich auf seine Vorlage, das Theaterstück „In Moonlight Black Boys Look Blue“. Filmmaterial hatte jahrzehntelang Probleme damit, dunklere Hauttöne naturgetreu wiederzugeben. Mithilfe seines Kameramanns James Laxton und moderner Digitaltechnik, die verschiedene Formen von Filmmaterial emulieren kann, ist es Regisseur Barry Jenkins gelungen, schwarze Körper in ein neues Licht zu rücken. Statt in dunklen Bildern zu verschwinden, erstrahlen sie in einem einzigartigen, schimmernden Schwarzblau. Durch die Augen eines anderen können wir sehen, was vorher verborgen lag. Barry Jenkins’ „Moonlight“ mag nicht so hell strahlen wie die goldglühenden Scheinwerfer der „Oscar“-Verleihung, aber ist nicht weniger wichtig. Repräsentation heißt, dass eine gewaltige Industrie Raum für neue Akteure schaffen muss - aber eben nicht nur. Es gilt ebenso, abseits des Rampenlichts Perspektiven und Haltungen zu entwickeln, die das bestehende Spektrum erweitern. Wenn das Kino diverser wird, indem sich eine neue Generation von Kreativen durch die bestehenden Strukturen assimilieren lässt, dann ist wenig gewonnen. Erst durch Künstler, die den Mut haben, mit all ihren Eigenheiten, Stärken und Schwächen, ins Licht zu drängen, entsteht wirkliche Vielfalt. •

StARttERMinE »Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen« Start 2.2., Kritik in fd 3/17 »Fences«, Start 16.2., Kritik in dieser ausgabe »Moonlight«, Start 9.3., Kritik in fd 5/17 »Loving«, Start Herbst 2017 vgl. auch franz everschor: »Eine Kluft tut sich auf. Der aktuelle US-amerikanische Film zwischen Studio-Hits und independents«, in fd 2/2017

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Herausforderndes Drama um Vergewaltigung und Rache Eigentlich kennt sie sich mit Angst und Schrecken aus. Michèle hat ein Vermögen mit sexuell aufgeladenen HorrorVideogames verdient. Ihre überwiegend männlichen Mitarbeiter hält sie mit homöopathisch dosierter Erotik auf Distanz. Doch dann wird sie in ihrem eigenen Wohnzimmer überfallen. Ein maskierter Mann vergewaltigt die selbstbewusste Geschäftsfrau, während ihre Katze teilnahmslos zuschaut. Als der brutale Eindringling weg ist, nimmt sie ein Bad, um sich das Blut abzuwaschen. Sie räumt unbeeindruckt das zerbrochene Geschirr weg und belügt ihren missratenen Sohn, der sich von seiner schwangeren Freundin herumkommandieren lässt, dass ihre Verletzungen von einem Fahrradunfall stammten. Ihre Freunde erfahren von dem Vorfall zwischen zwei Gängen in einem Restaurant. Michèle denkt nicht daran, sich als Opfer zu empfinden. Die Vergewaltigung nimmt sie persönlich, was in ihrem Fall darauf hinausläuft, dass für sie fortan die Jagdzeit ausgebrochen ist. Schließlich

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ist sie die Tochter eines bekannten Serienmörders und einer Mutter, die noch als Greisin einen Jahrzehnte jüngeren Mann ehelichen möchte. Regeln und Verbote gelten in dieser Familie nur für andere. Weshalb auch die Polizei in Michèles Rachefeldzug nichts zu suchen hat. Wer könnte eine solche satirisch überspitzte Frauenfigur, bei der man lange überlegen muss, ob man sie für eine feministisch vorbildliche Amazone oder eine misogyne Männerfantasie halten soll, besser spielen als die neurotisch verrenkte „Klavierspielerin“ Isabelle Huppert? Ausgedacht hat sich diese hart an der Grenze zur Parodie ihrer bisherigen Figuren balancierende Paraderolle ausgerechnet der 78-jährige Paul Verhoeven. Natürlich nicht ganz uneigennützig, denn auch dem in Ungnade gefallenen Holländer bietet der schwarzhumorige Thriller genug Raum, um sich erneut als filmhistorisch versierter Macher von Erfolgen wie „Total Recall“ (1990) oder „Basic Instinct“ (1991) zu empfehlen.

Inszenatorisch erinnern der Soundtrack und der Spannungsaufbau an die Atmosphäre klassischer Hitchcock-Filme, die bürgerlichen Rituale und familiären Kleinkriege hätte Claude Chabrol nicht besser einfangen können und sogar Krzysztof Kieslowski wird mit einem Zitat geehrt, als die Voyeurin Michèle ihren Nachbarn mit einem Fernglas beobachtet und ihn zum Objekt ihrer zweifelhaften Begierde kürt. Huppert vermag jede noch so abwegige Gefühlsregung, oder auch ihre Abwesenheit, zu einer Kunst zu erheben, die außer ihr gegenwärtig vielleicht noch Cate Blanchett ähnlich furchtlos beherrscht. Vor dem Übergriff ist Michèle unangefochten Herrin der Lage. Ihre Effizienz wirkt beinahe unmenschlich, ihr Spott zeugt von einer Abgeklärtheit, dessen Ursprünge das Drehbuch in ihrer ambivalenten Rolle bei den Kindermorden des Vaters andeutet, die für die damalige Boulevardpresse ein gefundenes Fressen waren. Die literarische Vorlage „Oh...“ geht auf Philippe Djian zurück,

Fotos S. 36–51: Jeweilige Filmverleihe

Elle

der schon der Ideengeber für „Betty Blue“ (1985) von JeanJacques Beineix war. Der Tabubrecher Verhoeven scheut in seiner ersten französischen Produktion zwar keine blutigen Details, garniert mit Rückblenden, die sich wiederholt an der Vergewaltigungssequenz abarbeiten, aber er überrascht auch mit subtilen Beobachtungen und besteht auf die Abwesenheit von Moral, die er sich in Hollywood wohl in dieser Eindeutigkeit nicht hätte leisten können. An potenziellen Tätern fehlt es in diesem bewusst überkonstruierten Geschlechterreigen nicht. Michèles Computer wird mit anonymen Drohungen überflutet, der Ex-Mann ist ein gescheiterter Schriftsteller, der sich in seiner männlichen Dominanz gekränkt fühlen könnte. Der Liebhaber und Gatte ihrer Geschäftspartnerin ist von ihr gerade frisch abserviert worden und mit dem neuen, verheirateten Nachbarn bahnt sich ein Seitensprung an. Als es Michèle innerhalb der Genremuster beinahe enttäuschend schnell gelingt, ihren Vergewaltiger zu enttarnen, bricht sie nicht etwa schamvoll zusammen. Sie dreht vielmehr den Spieß um und lässt sich mit ihm auf riskante Sexspiele ein, bei denen sie die Kontrolle zu übernehmen versucht, was nicht heißt, dass sie auf einen Racheakt gänzlich verzichtet. Er fällt nur temperierter aus, als man es von einer die weiblichen Leidensvorgaben verweigernden Rebellin wie ihr erwartet hätte. Die von Michèle psychologisch fein gesponnene Falle aus Machtumkehr und Imitation der Täterstrategien schnappt im Finale zu, womit sich das familiär „vererbte“ Morden auch der zweiten Generation bemächtigt. Glaubwürdig ist diese absurdbittere Versuchsanordnung nicht gerade. Aber das muss sie


nEUE FILME KRitiKEn auch nicht sein. Man folgt der famosen Hauptdarstellerin unerschrocken in jeden Abgrund, in jede noch so scheinbar unverständliche sexuelle Abweichung, denn das Finale, in dem ihre Figur über die männlichen Statisten ihres unkonventionellen Lebensentwurfs triumphiert, macht sie zu einer ungemein erfrischenden Einzelgängerin, die das Überleben von Sartres „Die Hölle, das sind die anderen“ über alles stellt. Ein doppelbödiges Meisterwerk, mit dem man lange nicht fertig wird. Alexandra Wach

BEwERtung DER FiLmKommiSSion

Als eine erfolgreiche Geschäftsfrau und Produzentin von sexuell aufgeladenen Horrorvideos von einem Unbekannten vergewaltigt wird, lehnt sie es ab, sich als Opfer zu fühlen. Statt sich auf die Polizei zu verlassen, will sie den Täter selbst aufspüren. Ihre Rache fällt dann aber überraschend temperiert aus, weil ihre psychologisch fein gesponnene Falle auf Machtumkehr und Imitation setzt. Der schwarzhumorige, mit raffinierten Rückblenden arbeitende Thriller entfaltet eine absurd-bittere Versuchsanordnung hart an der Grenze zur Unglaubwürdigkeit, wartet aber mit subtilen Beobachtungen auf und wird von einer überragenden Hauptdarstellerin getragen, die furchtlos eine erfrischende Einzelgängerin verlebendigt. – Sehenswert.

ELLE Scope. Frankreich/Belgien/ Deutschland 2016 Regie: Paul Verhoeven Darsteller: Isabelle Huppert (Michèle Leblanc), Laurent Lafitte (Patrick), Anne Cosigny (Anna), Charles Berling (Richard), Virginie Efira, Judith Magre, Christian Berkel Länge: 126 Min. | Kinostart: 16.2.2017 Verleih: MFA | FSK: ab 16; f FD-Kritik: 44 487

worlds Apart

Episoden über die Liebe

Der Mythos von Amor (griechisch: Eros) und Psyche zieht sich wie ein roter Faden durch diesen als Triptychon aufgebauten Liebesfilm des griechischen Schauspielers und Filmemachers Christopher Papakaliatis. In der dritten Episode erzählt ein pensionierter deutscher Historiker, der in Athen in der Nationalbibliothek arbeitet, einer frustrierten griechischen Hausfrau die Geschichte der scheinbar unmögliche Liebe zwischen dem Gott und der Sterblichen, ihrem Scheitern und der zweiten Chance, wenn Psyche nach langer Trennung und vielen Mühen von Zeus zur Göttin gemacht und mit ihrem Liebsten vereint wird. Der Akademiker aus München, der nach der Emeritierung nach Griechenland gezogen ist, hat dabei durchaus Hintergedanken: Er wirbt um die Griechin, die er vor einem Supermarkt kennengelernt hat und der er in den folgenden Wochen im Café und zwischen den Regalen des Marktes näher gekommen ist. Allerdings hegt Maria zunächst Vorbehalte, weil sie auf die Deutschen nicht gut zu sprechen ist, die sie für die wirtschaftliche Misere ihres Landes verantwortlich macht. Außerdem hat sie Ehemann und Familie. Obwohl sie in ihrem bisherigen Leben zutiefst unzufrieden ist, zögert sie, sich selbst die Chance auf einen Neuanfang zuzugestehen. Die anderen zwei Liebesgeschichten, deren Zusammenhänge mit der Altersromanze sich erst gegen Ende offenba-

ren, zitieren ebenfalls den Mythos von Eros und Psyche herbei. Und sie handeln gleichfalls von amourösen Beziehungen zwischen Griechen und Nicht-Griechen. Eine Studentin verliebt sich in einen syrischen Flüchtling, der ihr bei einem nächtlichen Überfall zu Hilfe eilte; die Beziehung entpuppt sich allerdings bald als Romeound-Julia-Konstellation, da der Vater des Mädchens in einem Schlägertrupp mitmischt, der in Athen Jagd auf Flüchtlinge macht. Die mittlere Episode stellt einen Familienvater um die Vierzig in den Mittelpunkt, dessen Ehe kriselt und der unter privaten Frustrationen ebenso leidet wie unter der Bedrohung, seinen Job als Marketingchef zu verlieren. Als sich die hübsche Schwedin, mit der er eine Affäre beginnt und kurz ein neues Glück findet, ausgerechnet als Consultant entpuppt, der für Personalkürzungen in seinem Betrieb verantwortlich ist, wird das zur Zerreißprobe. Die drei Einzelfilme zeichnen ein Porträt des existenziell und moralisch destabilisierten griechischen Mittelstands in einer von der Wirtschafts- und Flüchtlingskrise gebeutelten Zeit; zugleich stimmen sie aber auch ein zutiefst romantisches Hohelied auf die Kraft der Liebe an. Papakaliatis, der den Film nicht nur inszeniert, sondern auch geschrieben hat und eine der Hauptrollen spielt, ist in der Wahl der stilistischen Mittel nicht zimperlich, sondern trägt dick auf. Keine der Geschichten und erst recht nicht die schicksalshafte Verstrickung, in der sie am Ende zusammengeführt werden, ist subtil; die Grenzen zu

Kitsch und Pathos werden gelegentlich durchaus überschritten. Nichtsdestotrotz nimmt der Film durch die Verve für sich ein, mit der er sich für eine friedliche Lösung der Konflikte in die Bresche wirft: Die Erschütterungen, die Griechenland und ganz Europa derzeit innerlich zu spalten drohen, lassen sich nicht durch Gewalt, Abgrenzung und einseitige Schuldzuweisungen lösen, sondern nur durch die Suche nach einer gemeinsamen Basis. Dass „Worlds Apart“ im Kino in Griechenland enorm erfolgreich war, verdankt sich auch der souveränen Kameraarbeit von Yannis Drakoularakos, die den klischeehaften Erzählkonstellationen mit interessanten Perspektiven und ausdrucksstarken Bildern Leben einhaucht. Aber auch den souveränen Darstellern, die ihre Figuren aus allzu exemplarischer Konstruktion in Menschen aus Fleisch und Blut überführen. Felicitas Kleiner BEwERtung DER FiLmKommiSSion

Episodischer Liebesfilm, motivisch festgemacht am Mythos von Amor und Psyche, über Beziehungen zwischen Griechen und nicht-Griechen aus unterschiedlichen Generationen. Drei Geschichten zeichnen anhand einer Studentin, eines Familienvaters in mittleren Jahren und einer Seniorin ein Bild der durch die Wirtschafts- und Flüchtlingskrise existenziell wie moralisch destabilisierten griechischen Mittelschicht und beschwören den gegenseitigen Austausch als Motor, um Trennendes zu überwinden. Ein nicht immer subtiles, aber effektvolles Hohelied auf die Liebe. – Ab 14.

EnAS ALLoS KoSmoS. Scope. Griechenland 2015 Regie: Christopher Papakaliatis Länge: 103 Min. | Kinostart: 23.2.2017 Verleih: Kairos | FD-Kritik: 44 488

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KrItIKeN neUe FiLme Der Marathon von Boston zählt zu den prestigeträchtigsten und beliebtesten Langstreckenrennen der Welt. Eine Herausforderung für die Läufer, die bereits für die Qualifikation schneller sein müssen als anderswo, ein Fest für Hunderttausende Zuschauer, die die Wegstrecke säumen. Das Attentat am 15. April 2013, bei dem drei Menschen starben und fast 300 verletzt wurden, war ein Schock und hat sich tief in die kollektive Erinnerung der US-Amerikaner eingegraben. Eine Bluttat, die einmal mehr die Verwundbarkeit des Landes aufzeigte, aber auch den Zusammenhalt der Menschen stärkte. Regisseur Peter Berg, der mit „Deepwater Horizon“ (2016) eine andere von Menschen verantwortete Katastrophe aufarbeitete, stellt das Attentat als eine Mischung aus rasanter Action, spannendem Thriller und menschlichem Drama nach. Über einen Zeitraum von vier Tagen hinweg entwirft er einen detaillierten Ablauf der Geschehnisse, die wenige Stunden vor dem Startschuss beginnen. Der Film erzählt aus unterschiedlichen Perspektiven: aus der Sicht der Überlebenden, der ermittelnden Polizisten und Opfer. Schrifttafeln, die über Ort, Zeit und gelegentlich über Personen Auskunft geben, interpunktieren das Geschehen. Das verleiht dem Film eine dokumentarische Genauigkeit, die den Faktor Zeit als wesentliches Spannungsmoment der Erzählung etabliert. Unter den Figuren, zwischen denen der erzählerische Fokus wechselt, kristallisiert sich rasch die Figur von Police Sergeant Tommy Saunders heraus. Ausgerechnet er soll heute, angetan mit einer leuchtend gelben Weste, die ihn wie einen Schülerlotsen aussehen lässt, im Zieleinlauf des Marathons für Ordnung sorgen – trotz großer Knie-

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Am Schluss treten authentische Beteiligte vor die Kamera, Opfer, Polizisten, Politiker, und sprechen darüber, wie sehr das Attentat die Menschen zusammengebracht hat. Auch Bezüge zu den Anschlägen in Paris, Brüssel und Nizza werden hergestellt. „Boston“ setzt den Einwohnern der Stadt ein filmisches Denkmal, manchmal etwa zu pathetisch, doch in der Essenz klar und deutlich: Die terroristische Bedrohung ist international, man kann ihr nur gemeinsam begegnen. Deshalb ist auf zahlreichen Aufklebern, T-Shirts und Postern die Solidaritätsbotschaft „Boston Strong“ zu lesen: „Boston ist stark“. Michael Ranze

Boston

Thriller um das Attentat auf den Marathon von Boston schmerzen. Dann ereignet sich plötzlich eine Explosion, wenige Sekunden später eine zweite. Peter Berg beherrscht wie schon in „Deepwater Horizon“ diese Szenen der Zerstörung perfekt. Rasant, mit agiler, fast schon ruheloser Kamera fängt er das Durcheinander nach den Detonationen ein: Blut, Lärm, Sirenengeheul, abgetrennte Gliedmaßen, flüchtende Menschen und heranbrausende Krankenwagen. Die Panik und das Chaos, die an diesem Tag in Boston herrschten, teilen sich unmittelbar mit. Saunders macht sich an die Arbeit, spricht mit Opfern und Zeugen, konferiert mit Kollegen und dem FBI und ist Teil des Kommandozentrums, das in einem alten Lagerhaus errichtet wird. Mark Wahlberg, der nach „Lone Survivor“ und „Deepwater Horizon“ zum dritten Mal unter der Regie von Peter Berg spielt, interpretiert den Sergeant vielleicht nicht so intensiv und kantig wie sonst, was allerdings an der vom Drehbuch konzipierten Figur liegt: Saunders ist ein

Jedermann, verheiratet, mit alltäglichen Problemen, der plötzlich über sich hinauswachsen muss. In einer packenden Szene überlegt der Polizist, der sich über ein Modell der Straße beugt, fieberhaft, wo überall Überwachungskameras aufgestellt sein könnten. Jemand ruft den Namen einer Kreuzung oder eines Geschäftes, und schon sieht man, was die Kamera dort aufgenommen hat. Allgegenwart und Unmittelbarkeit der Bilder gehören zur Spannungsdramaturgie des Films. Alternierend lenkt der Film das Augenmerk aber auch auf die Opfer, etwa ein verheiratetes Paar, einen Sicherheitsbeamten der Universität, der seine Waffe nicht herausrücken will, oder einen chinesischen Web-Designer, dem die flüchtenden Attentäter, die Brüder Tamerlan und Dzhokhar Tsanaev, in einer der packendsten und intensivsten Szenen das Auto stehlen. Bei der Verfolgung der Täter entwickelt sich „Boston“ zum Spannungskino, mit viel Action im Vordergrund.

BEwERtung DER FiLmKommiSSion

Filmische Rekonstruktion des Bombenattentats auf den BostonMarathon am 15. April 2013. Der Film zeichnet die Ereignisse vom Vorabend des Wettlaufs bis zur Fahndung nach den Tätern nach, wobei das Geschehen aus der Perspektive von Opfern, Polizisten und Überlebenden geschildert wird. Im Mittelpunkt steht ein Sergeant, der mit Verletzten und Zeugen spricht, mit Kollegen und dem FBI konferiert und Teil des Kommandozentrums in einem alten Lagerhaus wird. Die Mischung aus rasanter Action, spannendem Thriller und menschlichem Drama setzt den Einwohnern von Boston ein filmisches Denkmal. Zugleich plädiert der umsichtig inszenierte Film für den Zusammenhalt gegen terroristische Bedrohungen. – Sehenswert ab 14.

PAtRiotS DAY. Scope. USA 2016 Regie: Peter Berg Darsteller: Mark Wahlberg (Tommy Saunders), Michelle Monaghan (Carol), John Goodman (Ed Davis), J.K. Simmons (Jeffrey Publiese), Vincent Curatola, Kevin Bacon, Alex Wolff Länge: 133 Min. | Kinostart: 23.2.2017 Verleih: StudioCanal | FD-Kritik: 44 489


neue Filme KritiKen

mein Leben als Zucchini

meisterhafter Stop-motion-Animationsfilm Sie habe gutes Kartoffelpüree gekocht, sagt Icare über seine Mutter. Und manchmal habe sie mit ihm auch gelacht. Außerdem gefällt ihm der Spitzname, den sie ihm gab: Zucchini. Doch nun ist sie tot. Gestorben bei einem Unfall, für den sich der Neunjährige verantwortlich fühlt. Als er zu laut mit den leeren Bierdosen seiner alkoholkranken Mutter spielte und sie ihn bestrafen wollte, stürzte sie die Treppe hinab. Da der Vater die Familie schon vor einiger Zeit verlassen hat, muss Zucchini in ein Kinderheim. Dort stammen die anderen Kinder größtenteils auch aus Familien, die alles andere als „heil“ sind. Auf den ersten Blick sehen die Figuren mit ihren überdimensionalen Köpfen, den großen Augen und den dünnen langen Armen niedlich aus. Aber so künstlich und betont unrealistisch sie auch gestaltet sind, so menschlich und berührend ist das, was der Stop-Motion-Animationsfilm nach und nach über sie preisgibt. In ihren traurigen Augen spiegeln sich ihre traumatischen Erlebnisse. Wenn ein Mädchen einem anderen liebevoll eine Haarsträhne aus dem Gesicht streicht, dann ist beiläufig eine lange Narbe zu erken-

nen, die andeutet, was dieses Mädchen erlitten haben muss. Noch tiefer als die äußerlichen Verletzungen sind ohnehin die seelischen. Es sind heftige Themen, die „Mein Leben als Zucchini“ aufgreift: Alkoholismus und Drogen im Elternhaus, häusliche Gewalt, Vernachlässigung und sexueller Missbrauch. Alle Kinder sind gezeichnet. Nicht, weil sie etwas angestellt hätten, sondern weil sie Erwachsenen ausgeliefert waren, die sie nicht schützten und im schlimmsten Falle sogar misshandelten. Sie alle sehnen sich nach Liebe. Und glauben doch nicht mehr daran, dass es jemanden gibt, der sie lieben könnte. Dass man sich auf seine Eltern verlassen kann, haben die Kinder schon lange als Illusion erkannt. Dennoch erzählt der Film auch von Hoffnung. Nach anfänglichen Schwierigkeiten erweist sich der ruppige Anführer im Kinderheim, der seine Coolness als Schutzschild vor sich herträgt, als sensibel und verlässlich. Als Camille auftaucht, deren Vater erst ihre Mutter und dann sich selbst vor den Augen der Tochter getötet hat, kommt etwas Neues ins Spiel. Zucchini verliebt sich in das forsche Mäd-

chen und weiß, dass er ihm helfen muss. Denn zu ihrer Tante, die sie schlecht behandelt und es überdies nur auf das Pflegegeld abgesehen hat, möchte Camille auf keinen Fall zurück. So ist es die Rettung von Camille, die die Kinder zusammenschweißt. Céline Sciamma hat den Roman „Autobiographie d’une courgette“ von Gilles Paris adaptiert und stellt mit ihrem Drehbuch einmal mehr unter Beweis, wie gut sie sich in zerrissene Kinderseelen einfühlen kann. Wie in ihrer eigenen Regiearbeit „Tomboy“ über ein Mädchen, das eigentlich ein Junge sein will, bewegt sie sich hier ganz auf Augenhöhe der Kinder und behandelt die kindlichen Figuren mit größtmöglichem Ernst. Auch Regisseur Claude Barras trifft in seinem Langfilmdebüt mit den skurril-originellen Figuren und seiner zurückhaltenden Inszenierung den richtigen Ton, um nach dem Echten im Künstlichen zu suchen und die Miniaturwelt in kleinen poetischen Momenten immer wieder zum Leuchten zu bringen. So lässt Zucchini einen Flugdrachen steigen, auf den er mit einfachen Strichen seinen Vater als Superheld gezeichnet hat. Oder er hütet eine leere Bierdose als Erinnerung an seine Mutter wie einen wertvollen Schatz. In diesen einfachen, ebenso komischen wie zutiefst tragischen Bildern versteckt der

Film seine großen Themen – und eröffnet damit für Kinder wie Erwachsene leichte Zugänge. Das ist das große Kunststück des Films: Er lässt auch jüngere Zuschauer erahnen, was die Kinder im Film erlebt haben, ohne alles auszusprechen und zu erklären, und er spricht Themen aus ihrem Alltag an, etwa die Sehnsucht nach bedingungsloser Liebe oder die Akzeptanz durch die Eltern. Zugleich aber lehnt er sich auch aus dem Fenster und wirft vorurteilsfreie Blicke auf gescheiterte Familien. Den Status als Ideal hat die leibliche Kernfamilie längst eingebüßt. Das Glück und die echte Zuneigung finden sich hier vor allem in selbst gewählten Familienformen. Stefan Stiletto Bewertung Der FiLmKommiSSion

nach dem unfalltod seiner alkoholkranken mutter landet ein neunjähriger Junge im Kinderheim, wo er sich mit anderen Kindern anfreundet, die ebenfalls Vernachlässigung und missbrauch erfahren haben. Solidarisch bemühen sie sich darum, ein neu hinzugekommenes mädchen vor seiner egoistischen Tante zu schützen. Der bemerkenswert zurückhaltend inszenierte Stop-motion-Animationsfilm erzählt ebenso berührend wie angemessen optimistisch von traumatisierten Kindern, wobei die Handlung durchgängig auf Augenhöhe seiner jungen Protagonisten bleibt. Die inszenierung lässt Poesie, Realismus und Fiktion mustergültig ineinanderfließen und schafft so für ein breites Publikum Zugänge zu einem schwierigen Thema. – Sehenswert ab 10.

mA Vie De Courgette. Frankreich/ Schweiz 2016 regie: Claude Barras Länge: 66 min. | Kinostart: 16.2.2017 Verleih: Polyband | FSK: ab 0; f FD-Kritik: 44 490

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Bibi & tina – tohuwabohu total!

offline – Das Leben ist kein Bonuslevel

Bei einem Ausflug treffen die besten Freundinnen Bibi und Tina ein Mädchen, das vor einer Zwangsheirat aus Albanien geflüchtet ist. Da es von seinen Verwandten verfolgt wird, ist es auf Hilfe angewiesen. Der vierte Teil der Kinderfilmreihe nach der populären Hörspielvorlage greift brisante aktuelle Themen wie die Flüchtlingskrise auf, kann diese jedoch nicht mit dem verspielt-absurden Stil der Vorgängerfilme in Einklang bringen. So fehlt es dem Pop-Musical an Schwung und inszenatorischer Maßlosigkeit, zumal auch die Songs aufgesetzt und wie Fremdkörper wirken. – Ab 8.

Ein schüchterner Schüler verbringt jede freie Minute in einem digitalen Fantasy-Rollenspiel, wo er als mächtiger Krieger Punkte sammelt. Als vor der alljährlichen Entscheidungsschlacht sein Account gehackt wird, muss er seine Fähigkeiten in der Realität unter Beweis stellen, wobei er von einem blauhaarigen Mädchen unerwartet Hilfe erfährt. Die Inszenierung mischt pointiert Spiel und Realität, ohne sich allzu kritisch mit dem Thema Online-Spielsucht auseinanderzusetzen. Der unverkrampfte Debütfilm überzeugt durch aufwändige Animationen, griffige Botschaften und gute Darsteller, fällt für einen Jugendfilm aber etwas zu harmlos aus. – Ab 12.

Do not RESiSt. USA 2016 | R: Craig Atkinoson | 72 Min. | Start: 23.2. | FSK: ab 12; f | FD-Kritik: 44 507

Scope. Deutschland 2017 | R: Detlev Buck | 110 Min. | Start: 23.2. | FD-Kritik: 44 508

Deutschland 2016 | R: Florian Schnell | 91 Min. | FSK: ab 12; f | FD-Kritik: 44 509

Kötü Cocuk

Vezir Parmagi

Do not Resist Seit den Anschlägen auf das World Trade Center in New York hat das US-Heimatschutzministerium die Polizei massiv aufgerüstet, unter anderem mit Panzerfahrzeugen und Waffen aus Armeebeständen. Der Dokumentarfilm beobachtet die Veränderungen der Ordnungskräfte, die auch auf dem Land wie für einen Bürgerkrieg ausgestattet sind und Spezialeinheiten mit High-Tech-Gerätschaften unterhalten. Eine beklemmende Bestandsaufnahme über die Militarisierung der Polizei, die um so mehr irritiert, als nichts mit versteckter Kamera aufgenommen wurde, sondern die Protagonisten freimütig und voller Stolz ihre überdimensionalen Arsenale präsentieren. – Ab 14.

Die gabe zu heilen

Eine bei ihrer Mutter aufgewachsene Jugendliche wird von ihrem entfremdeten Vater auf eine Eliteschule geschickt, knüpft dort aber primär Kontakt mit Außenseitern. Besonders ein verschlossener Junge hat es ihr angetan, der sie nur zögernd an seinen Geheimnissen teilhaben lässt. Als sich das Mädchen jedoch ihrem Vater wieder zuwendet, erhebt er bedrohliche Besitzansprüche. Türkische Teenager-Romanze, die mitunter durchaus intelligent Rollenspiel und Pathos verbindet. In der Adaption erzählerischer Mittel von Vorbildern wie „Twilight“ verfällt der Film allerdings zunehmend dem Kitsch. – Ab 14. (O.m.d.U.)

Ein anatolisches Dorf hat nahezu alle Männer im Krieg gegen die „Ungläubigen“ verloren. Als die Frauen einen sexuellen Hilferuf an den Sultan richten, schickt der Wesir fünf Lastenträger auf den Weg, um der Not abzuhelfen. Der strapaziöse Weg in den weit entfernten Ort schweißt die ethnisch heterogene Truppe zusammen, ehe die Begegnung mit den Frauen zur wahren Herausforderung wird. Bunte Musical-Komödie mit schrägen Charakteren, guten Tanzeinlagen und derbem Humor. Dabei fallen die politischen Anspielungen der mit leichter Hand inszenierten Parabel eher mild aus. – Ab 14. (O.m.d.U.)

Porträt von fünf sehr unterschiedlichen Menschen, die sich aufs Heilen jenseits der Schulmedizin verstehen. Der auf angenehme Weise unspektakuläre Film begleitet die Heiler bei der Behandlung ihrer Patienten und lotet das Wundersame im Alltäglichen aus. Dabei geht es nicht um eine Bewertung der alternativen Heilmethoden, sondern um eine aufmerksame Wahrnehmung, die sich beispielsweise für die unterschiedlichen spirituellen Hintergründe der Heiler interessiert. Denn ohne Glauben, darin sind sich alle einig, kann sich die heilende Wirkung nicht entfalten. – Ab 14.

KÖtÜ CoCuK. 2016 | R: Yagiz Alp Akaydin | 121 Min. | Start: 26.1. | FSK: ab 12; f | FD-Kritik: 44 510

VEZiR PARmAgi. Scope. Türkei 2016 | R: Mahsun Kirmizigül | 111 Min. | Start: 26.1. | FD-Kritik: 44 511

Deutschland 2016 | R: Andreas Geiger | 106 Min. | Start: 23.2. | FD-Kritik: 44 512


kRitikEn AUF DvD/BLU-RAY Ist das Kunst oder peinlicher Blödsinn? Die beiden Kritiker, die über das Werk der Fangs diskutieren, können da keinen gemeinsamen Nenner finden. Ähnlich geht es den beiden erwachsenen Kindern jenes Ehepaars Fang, das seit den 1970er-Jahren als ebenso prominentes wie umstrittenes Duo an diversen öffentlichen Plätzen Chaos stiftet. Das Prinzip der Eltern: unangekündigt irgendwo auftauchen, harmlose Passanten mit mehr oder minder schockierenden oder makabren Aktionen konfrontieren und sehen, wie sie darauf reagieren. Dabei waren Annie und Baxter als „Kind 1“ und „Kind 2“ fester Bestandteil, wie diverse Rückblenden zeigen. So musste zum Beispiel Baxter als Knirps bei einem fingierten Banküberfall die Pistole schwingen, während Annie die Tochter einer dabei aus Versehen erschossenen Kundin spielte. Ein Missbrauch der Kinder zugunsten eines radikalen Kunstkonzepts, der Baxter und Annie ab und an wohl Spaß machte, latent aber Groll und tiefe Verunsicherung hinterließ. Als Erwachsene haben es die Geschwister zwar geschafft, sich von der Teilnahme an solchen Performances zurückzuziehen und eigene künstlerische Karrieren zu lancieren – Annie als Schauspielerin, Baxter als Autor –, jedoch machen ihnen diverse Rückschläge schwer zu schaffen. Als die beiden Alten während einer Reise verschwinden und die Polizei die jungen Fangs darüber informiert, dass sie Opfer eines Serienkillers geworden sein könnten, sind sie ratlos: Ist das nur eine weitere grenzwertige Inszenierung ihrer Erzeuger oder bitterer Ernst? Jedenfalls wird das Ganze zum Anlass, sich endlich grundsätzlich mit den berühmten Eltern und den eigenen Erwartungen an Familie, Kunst und das Leben im Allgemeinen auseinanderzusetzen.

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Die gesammelten Peinlichkeiten unserer Eltern in der Reihenfolge ihrer Erstaufführungen Schräge Tragikomödie von und mit Jason Bateman Die Verfilmung von Kevin Wilsons gleichnamigem Roman ist die zweite LangfilmRegie des Schauspielers Jason Bateman nach „Bad Words“ (2013), und wie das Debüt rankt sich auch dieser Film um Fortysomethings, die so sehr an Erlebnissen ihrer Kindheit herumkrebsen, dass sie es nie geschafft haben, erwachsen zu werden. Daraus schlägt Bateman komödiantisches Kapital, ohne die dunklen Töne zu überspielen, die in den Geschichten mitschwingen: Bemerkenswert geschickt balanciert sein Film zwischen lustvoll ausgespielter Albernheit und bitterbösem Familiendrama. Dabei kann sich Bateman auf sein Talent als Komödiant verlassen, der ähnlich wie Steve Carell oder Ben Stiller bei aller Blödelei immer auch

eine melancholisch-verletzliche die Figuren und ihre KunstSeite sichtbar macht; hinzu und Lebensentwürfe sichtlich kommen hochkarätige Kollegen zurück: Ihm geht es weder wie Christopher Walum ein Bashing ken und Nicole Kidder exzentrischen man, die ihre Figuren 1968er-Eltern noch ähnlich vielschichtig ums Bloßstellen ihrer anlegen. Vor allem chronisch unreifen, Christopher Walken zwischen zu vielen bietet als Vater Fang, Möglichkeiten heder sowohl rebellirumeiernden Sprössscher Künstler als linge, vielmehr auch despotischer um das bei allem THE FAMLY FANG Familienpatriarch ist, Klamauk sensible USA 2015 eine Meisterleistung Psychogramm einer Regie: Jason Bateman und macht es dem Künstler-Familie, Darsteller: Jason Bateman, bei der das Ringen Zuschauer ebenso Nicole Kidman, schwer wie seinen um gegenseitige Christopher Walken, Film-Kindern, eine Anerkennung und Maryann Plunkett eindeutige Haltung Liebe untrennbar Länge: 102 Min. zu der Figur zu finund unheilvoll mit FSK: ab 6 den. Inszenatorisch der kreativen Arbeit Anbieter: Tiberius hält sich Bateman verbunden ist. – Ab FD-Kritik: 44 513 mit Urteilen über 14. Felicitas Kleiner


MI

MITTWOCH 22. Februar

20.15-22.20 arte Der Retter R: Xavier Giannoli Betrüger übernimmt Autobahn-Projekt Frankreich 2009 Ab 14 22.25-00.30 3sat Das Leben der Anderen R: Florian Henckel von Donnersmark Drama um Stasi-Mann Deutschland 2006 Ab 14 23.15-23.30 Kino Kino Filmmagazin

21. Februar, 00.35-02.18

Das Erste

BR FERNSEHEN

00.55-01.50 arte Kurzschluss – Das Magazin Schwerpunkt „Im besten Alter“

Die bleierne Zeit In „Die bleierne Zeit“ beschreibt Margarethe von Trotta, die am 21. Februar ihren 75. Geburtstag feiert, verschiedene Wege des politischen Widerstandes: die Journalistin Juliane (Jutta Lampe) steht für Veränderung ohne Gewalt, ihre Schwester Marianne (Barbara Sukowa) wirft hingegen eine Bombe. „Für Christiane“, heißt es im Abspann, eine Widmung an die Schwester von Gudrun Ensslin, die beide in den 1950er-Jahren in einem schwäbischen Pfarrhaus aufwuchsen. Der nach einem Hölderlin-Zitat betitelte Film entfaltet in fragmentarischen Rückblenden Kindheit und Jugend zweier Pfarrerskinder, deren schwierige Beziehung aus der Perspektive der älteren Juliane erzählt wird. Sie war früher die aufbegehrende Rebellin, während die artige Marianne der Liebling des Vaters war. Jahre später hat sich dies ins Gegenteil verkehrt; die Angepasste agiert jetzt als Revolutionärin; Juliane hingegen schreibt bei einer feministischen Zeitschrift gegen die Verhältnisse an. Margarethe von Trotta „läßt sich auf die heikle Gratwanderung zwischen theoretischem Planspiel mit konträren politischen Positionen und höchst subjektivem und melodramatischem Kammerspiel ein. Die Gratwanderung gelingt, weil von Trotta auf eine allzu geradlinige Kausalität der Charaktere verzichtet. So entwickelt sie das Verhalten der beiden Figuren in einer verblüffenden Gegenläufigkeit zu den Kindheitsmustern. Auch die Rückblenden in die Kindheit verzichten darauf, sich überdeutlich über psychologische Schlüsselerlebnisse auszulassen, sondern ereignen sich eher reizvoll beiläufig und schlaglichtartig.“ (FD 19/1981)

22. Februar, 20.15-22.20

arte

Der Retter Einen Trickbetrüger hat es auf seiner Tour durch Frankreich in die Region um Calais verschlagen, wo er sich als Mitarbeiter einer Baufirma ausgibt und dadurch unbeabsichtigt Hoffnungen weckt, dass ein seit Jahren ruhender Autobahnbau endlich weitergeführt wird. Ehe er sich versieht, gerät er in den Fokus der Medien, die ihn schon als Retter einer von hoher Arbeitslosigkeit geplagten Gegend feiern. Seine betrügerischen Absichten kommen erst ins Schleudern, als er sich in die Bürgermeisterin (Emmanuelle Devos) verliebt. Das von einem realen Fall inspirierte Drama nimmt aktuelle Themen aufs Korn, erschöpft sich jedoch nicht in Sozialkritik; im Mittelpunkt stehen vielmehr menschliche Wahrheiten und die Psyche eines einsamen Ganoven. Parallel zum Bau der Autobahn beginnt ein sich nach Anerkennung sehnender Mann nämlich, eine nicht vorhandene Identität zu konstruieren – genial gespielt von François Cluzet.

ERSTAUSSTRAHLUNG: 22. Februar, 20.15-22.00

Das Erste

Katharina Luther In ihrem Biopic über Luthers Ehefrau Katharina von Bora zeigt sich Regisseurin Julia von Heinz unwillig oder unfähig, zwei entscheidende Dimensionen in deren Biografie auch nur ahnungsweise erfahrbar zu machen: ihr Eingebundensein ins gesellschaftliche Leben Wittenbergs und ihr Verankertsein im christlichen Glauben. Dass zur Frömmigkeitskultur der „Lutherin“, deren Mann immerhin für die Wiederbelebung des reinen Evangeliums kämpfte, Gebet, Andacht, Gottesdienstbesuch und Bibellektüre gehören, übergeht die Regisseurin einfachhin. Die Story folgt mit kitschigen Gefühlsintermezzi dem heute so beliebten Szenario von Frauen, die selbstbewusst die Ärmel hochkrempeln und ihren Weg gehen. Als Kind wird Katharina ins Kloster gesteckt, dem sie 17 Jahre später entflieht – inspiriert durch Luthers Schriften, die das Klosterleben delegitimieren. In Wittenberg heiratet sie den gerade mit der Agitation gegen die Bauernaufstände beschäftigten Reformator. Sie mistet den Saustall seiner chaotischen Lebensführung aus, ordnet den Haushalt geschäftstüchtig als Pension für Scholaren, weist Luther zartfühlend in die Wonnen körperlicher Liebe ein, entbindet unter Schmerzen Kinder und kämpft dabei gegen Albträume, in denen sie von den HassProphezeiungen ihrer Feinde heimgesucht wird. In späteren Jahren muss sie geduldig ertragen, dass ihr Gatte geistesverwirrt um sich schlägt. Die Männer? Katharinas Vater: ein jämmerlicher Feigling. Ihr Bruder: Inbild der Herzenskälte. Auf dem Marktplatz in Wittenberg: der geile (Männer-)Pöbel. Luther selbst, zuerst abweisend, wird in der fürsorglichen Schule der Gattin zum innig liebenden Ehemann. Auf diese Weise wird die Gestalt der Katharina von Bora, die in ihrer eigenwilligen Tatkraft, Glaubensstärke und Hingabe eine rühmenswerte Frau war, auf fatale Weise dazu gezwungen, ins Klischee-Szenario heutiger „Starke Frauen“-Konzepte zu passen. Rainer Gansera

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