Fazit 199

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Essay von Leo Dorner

Vernunft in der Geschichte? Hegel und Marx, zwei Optimisten, nicht derselben Fakultät

H

egel war bekanntlich ein deutscher Philosoph, der die Vernunft des Wirklichen lehrte, folglich auch in der Geschichte der Menschheit die Vernunft wirken sah. Damit erregte er bei seinen Gegnern heftigen Widerspruch und unter seinen Anhängern einen nicht weniger umstrittenen Zuspruch.

Es waren nicht zufällig polnische Hegelianer, die zuerst zu einer »Philosophie der Tat« aufriefen, weil die reale Welt der damaligen europäischen Gegenwart ihre (durch Hegels Vernunftphilosophie) zugesagte Vernunft noch nicht erreicht habe. Nicht lange danach folgte die Fraktion der ersten Linkshegelianer und in deren Gefolge die »Intellektuellen« Marx und Engels, welche die Weltveränderung zum Leitprogramm einer neuen wahren Philosophie erhoben. Die Analogie zu den heutigen Weltveränderungs-Ideologien im Schafskostüm selbsternannter Open-Border-, Klima-, Genderund Woke-Pakte ist evident. Wie die neue Ideologie hielten sich auch die beiden alten (Nationalsozialismus und Kommunismus) für wissenschaftlich bewiesen. Sei es durch urdeutsche Rassen-Erforschung, sei es durch eine marxistische Analyse des »Kapitals«, das der kapitalistischen Weltordnung zugrundliege.

»Über die Altvorderen wissen die Junggeborenen der Gegenwart restlos Bescheid.« Leo Dorner über Stolpersteine beim Versuch aktueller Gegenwart(en) über ihre Vergangenheit(en) Gericht zu halten.

Aber Hegels Feinde und Mißdeuter können den letztlich doch erfolgten Mißerfolg seiner Philosophie nicht als Beweis für das Wirken der Vernunft in der Geschichte anführen: Man kann sich nicht auf eine Instanz berufen, die man mit Schopenhauer, Nietzsche und Marx abberufen und für inexistent erklärt hatte, oder erst noch durch radikale Weltveränderung herbeiführen wollte. Naturgemäß wünschte Hegel zwar einen Erfolg seiner Philosophie, doch wollte er diesen niemals mittels politischer Parteien erreichen. Nach anfänglichen Erfolgen seiner Philosophie nicht nur in Deutschland, wandte sich das Blatt der Geschichte mit steigendem Tempo. Die Problemhölle in der Höhle des Problems Die Unvernunft in der Geschichte Europas ist seither ein bleibendes Thema aller Philosophien nach Hegel und ein praktisches Vollzugsprogramm von Europas Welterrettungs-Parteien bis heute. Letztere wechseln die Inhalte der selbstzerstörerischen Unvernunft, nicht deren kollektive Wahnmacht.

Zwar »richten« wir heute über das Versagen der gewesenen Ideologien mehr als vernichtend. Ob aber durch Vernunft oder nur durch die Anmaßung neuer Ideologien, diese Frage zu beantworten, wurde extrem schwierig, nachdem die modernen Philosophien ihre »Kontrakte« mit der oder wenigstens mit »einer« Vernunft gekündigt haben. Das geschieht euch recht, könnte ein schadenfreudiger Hegelianer unserer Tage verkünden: Man verläßt nicht ungestraft das Boot der Vernunft, um vernunftbefreit über das Meer tausender neuer und alter Ungewissheiten zu segeln. Die bekannte Tatsache, daß jede Gegenwart über die Vergangenheit urteilt und richtet, führt uns in die Höhle des Problems. Einerseits ist das Urteilen und Richten unvermeidbar, sogar auf der Ebene von Familie und Erziehung. Die Jungen wollen nicht mehr so singen,

Foto: Archiv

In seinen Briefen schrieb Hegel schon um 1830 über Amerika und Rußland als möglichen künftigen Weltmächten. Daß die Ökonomie, durch einige »seiner Schüler« initiiert, zur Leitphilosophie und Afterreligion Deutschlands und der halben Welt aufsteigen könnte, ahnte er wohl nicht. Nun ist es völlig illusorisch zu behaupten: wenn sich die hegelsche Philosophie in Deutschland und Europa durchgesetzt hätte, wären der Menschheit die Katastrophen und das Unheil der nachhegelschen Epoche erspart geblieben.

Dr. Leopold »Leo« Dorner, 1947 in Ödenburg/Sopron geboren, ist österreichischer Philosoph. Nach der Flucht seiner Familie aus Ungarn nach Österreich (1948) verbrachte Dorner seine Kindheit und Schulzeit in Leoben. Es folgten Studien in Philosophie, Musikwissenschaft, Pädagogik und Komposition an der Universität bzw. Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien. 1979 übersiedelte Dorner mit seiner Familie nach Linz und begann seine Arbeit am damaligen Bruckner-Konservatorium (nunmehr Anton-Bruckner-Privatuniversität). Leo Dorner lebt heute in Mautern. FAZIT JÄNNER 2024 /// 39


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