Essay von Heinz Gärtner
Neutralität als Option Überlegungen, den Krieg Russlands gegen die Ukraine zu einem Ende kommen zu lassen ie Frage, ob der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hätte verhindert werden können, hängt davon ab, welche Motive und Ziele die russische Führung unter Präsident Putin zu dieser ungeheuerlichen Entscheidung veranlasst haben. Die Mutmaßungen im Westen darüber reichen von der Verhinderung der weiteren Ausdehnung der Nato an die russische Grenze über die Wiederrichtung des russischen und sowjetischen Imperiums bis hin zur Revanche für die Demütigung durch den Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Russland selbst nennt die Osterweiterung der Nato und die drohende Aufnahme der Ukraine als wichtigsten Kriegsgrund. Weitere Motive, wie die Absicherung seines geostrategischen Vorfelds und die Eingliederung der Ukraine in die »russische Welt«, sind auf dasselbe Ziel gerichtet: die USA und den Westen möglichst von den Grenzen Russlands fernzuhalten. Das besonders lautstark proklamierte Ziel der »Entnazifizierung« der Ukraine ist dagegen eher als Narrativ zur Rechtfertigung des Krieges gegenüber der eigenen Bevölkerung und prorussischen Kreisen im Ausland zu verstehen. Putin hatte bereits 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz deutlich davor gewarnt, die Nato immer weiter in Richtung der russischen Grenze auszuweiten. Der Westen ignorierte die Warnungen. 2008 wurde eine weitere Erweiterung um die Ukraine und Georgien angekündigt, ohne jedoch einen genauen Zeitplan anzugeben. Die Ukraine hat die Option, ein neutraler Staat zu werden, 2008 aufgegeben, als sie auf dem Nato-Gipfel in Bukarest ihre Absicht erklärte, dem Bündnis beitreten zu wollen. Ende 2021 forderte Putin in zwei Briefen an die US-Regierung und an die Nato den Stopp der weiteren Ausdehnung der Nato und den Rückzug der Nato-Infrastruktur aus den Staaten, die nach 1997 Mitglieder geworden waren. Moskau verlangte außerdem eine schriftliche Garantie, dass der Ukraine keine Nato-Mitgliedschaft angeboten werde. Um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen, hatte Russland bereits im März 2021 begonnen, mehr als hunderttausend Soldaten an der ukrainischen Grenze zusammenzuziehen, was von der Ukraine und der Nato als Bedrohung wahrgenommen wurde. [1] Außerdem erkannte Russland Luhansk und Donezk als unabhängige Republiken an und startete schließlich am 24. Februar 2022 seinen weitreichenden Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die militärischen Vorbereitungen auf russischer Seite sprechen dafür, dass eine Beschränkung des Krieges auf die Ukraine geplant war. Dort hatte Putin offenbar mit einem schnellen Sieg gerechnet. Jedenfalls verfügte Russland zu Kriegsbeginn nicht über die erforderliche Mannschaftsstärke und die Ressourcen für einen großangelegten Angriff auf andere Staaten in der Region, insbesondere auf das Baltikum. Konventionell ist Russland der Nato weit unterlegen. Lediglich bei den Nuklearwaffen besteht mit dem Westen Parität. Seine Verteidigungsausgaben entsprechen gerade sechs Prozent der Nato-Länder. Die russischen Rüstungsausgaben vor dem Krieg stiegen nicht so stark, wie das vor Kriegen üblicherweise der Fall ist. [2] Zum Vergleich: Deutschlands Militärausgaben zu Beginn des Zweiten Weltkrieges betrugen zwei Drittel der Ausgaben seiner wichtigsten europäischen Kriegsgegner, England, Frankreich und Sowjetunion, zusammengenommen. [3] Neutralität als Friedensgarantie? Wenn die Nato-Erweiterung das Hauptmotiv Russlands für den Einmarsch in die Ukraine ist, dann hätte ein neutraler Status für die Ukraine möglicherweise eine Option für die Verhinderung des Krieges sein können. Eine zweite Option wäre die Teilung der Ukraine im Donbas gewesen. Diese Konstellation weist Parallelen zur Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Mitteleuropa auf, als Österreich und Deutschland vor dem Dilemma standen, sich entweder für die staatliche Einheit in Neutralität oder die Spaltung und Mitgliedschaft der Besatzungszonen bzw. Teilstaaten in den sich unversöhnlich ge-
Eine glaubwürdige, völkerrechtlich garantierte Neutralität der Ukraine, etwa nach dem österreichischen Modell, hätte Russland das Argument entzogen, dass sich die Nato weiter nach Osten ausdehnen würde. Eine neutrale Ukraine wäre auch eine Option für die Beilegung des Konflikts zwischen Russland und dem Westen.
Foto: Heinz Gärtner/Wikipedia
D
Dr. Heinz Gärtner, geboren 1951 in Gurk, ist Politikwissenschaftler und Publizist. Er studierte Politikwissenschaft, Publizistik und Kommunikationstheorie an der Universität Salzburg. 2001 wurde er Universitätsprofessor. Seit 2017 ist er Vorsitzender des Beirates des International Institute for Peace (IIP) in Wien sowie des Beirates Strategie und Sicherheit der Wissenschaftskommission des Österreichischen Bundesheeres. FAZIT AUGUST 2022 /// 39