Essay von Frank Sauer
Nukleare Abschreckung Theorie, Grenzen und Kritik
ie nuklearen Arsenale Russlands und der USA schrumpften nach dem Ende des Ost-West-Konflikts drastisch. Trotzdem bleiben bis heute mehr als genug atomare Sprengköpfe, um eine zivilisationsgefährdende Katastrophe zu verursachen. Aktuelle Klimamodelle unterstützen die aus den 1980er-Jahren stammende Befürchtung eines »nuklearen Winters«: Ein umfassender nuklearer Schlagabtausch würde nicht nur Millionen von Menschenleben fordern – er würde so viel Staub in die Atmosphäre wirbeln, dass durch Dunkelheit und Kälte Pflanzenwachstum auf Jahre hin unmöglich würde. Die allermeisten Menschen und größeren Lebewesen würden dies nicht überleben. Die Bedrohung durch einen Einsatz nuklearer Waffen bleibt unverändert. Aber im Bewusstsein der breiteren Öffentlichkeit spielten Nuklearwaffen in den letzten Jahrzehnten trotzdem kaum eine Rolle. Mit der Zerstörung der europäischen Sicherheitsarchitektur durch den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind sie nun zurück in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Abschreckung, so hört man nun wieder, solle den Einsatz von Nuklearwaffen verhindern. Aber funktioniert »nukleare Abschreckung« zuverlässig – und wenn ja, wie? Auf den ersten Blick ist die Antwort ganz einfach. Denn das Konzept der Abschreckung begegnet uns überall. Im Tierreich finden sich zahllose Beispiele dafür, wie Beutetiere durch Androhung von Gefahr mittels Farben oder Formen Angriffe von Fressfeinden abzuschrecken versuchen. Auch wir Menschen setzen in unserem Zusammenleben auf Abschreckung: So droht in modernen demokratischen Gesellschaften der Rechtsstaat mit Strafe, um Gesetzesbrüche zu verhindern. Es geht bei Abschreckung also um die Androhung von Strafe, um das Verhalten des Gegenübers zu beeinflussen. Abschreckung ist demzufolge nicht Verteidigung. Vielmehr soll Abschreckung den Gegner vom Angriff abhalten, so dass eine Verteidigung gar nicht erst notwendig wird. Dreh- und Angelpunkt für funktionierende Abschreckung ist die Fähigkeit zu und die glaubwürdige Androhung von Bestrafung (oder Vergeltung). Dieser Mechanismus kommt bei der nuklearen Abschreckung in besonderem Maße zum Tragen – denn es brauchen nur einige wenige Nuklearwaffen ihr Ziel zu erreichen, um dem Gegner immensen Schaden zuzufügen. Eine wirksame Verteidigung gegen Nuklearwaffen ist kaum möglich.
Die Gefahr durch Nuklearwaffen in Europa ist wieder brandaktuell: Im Krieg gegen die Ukraine setzt Russland auf nukleare Drohungen. Aber funktioniert »nukleare Abschreckung«? Und wenn ja, wie?
Foto: Universität der Bundeswehr München
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Grundlagen nuklearer Abschreckung Ohne die entsprechenden Kapazitäten kann keine Drohung mit nuklearer Vergeltung (Zweitschlag) aufrechterhalten werden. Sie soll den potenziellen Aggressor vor dem Überfall mit Nuklearwaffen (Erstschlag) abschrecken. Dies erfordert die Fähigkeit:
1) zur stabilen, kosteneffizienten Aufrechterhaltung des Zweitschlag-Arsenals samt Maßnahmen gegen Fehlalarme und unbefugten Zugriff; 2) einen gegnerischen Erstschlag frühzeitig erkennen zu können; 3) die Entscheidung zum Zweitschlag zu fällen und an die ausführenden Stellen zu kommunizieren; 4) zum Erreichen des gegnerischen Territoriums mit Trägersystemen, wie Flugzeugen oder Raketen; 5) zur Überwindung gegnerischer Abwehrmechanismen; 6) zur Zerstörung von Zielen trotz Verteidigungs- und Schutzmaßnahmen. Die Kriterien 4 bis 6 erledigten sich spätestens ab den 1960er-Jahren mit der Einführung von mit Wasserstoffbomben bestückten Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen. Raketenabwehr ist so aufwendig und teuer, dass der Angreifer stets im Vorteil ist, denn einige Raketen werden immer ihr Ziel erreichen. Wasserstoffbomben entfalten zudem die tausendfache Sprengkraft der Bomben, die 1945 Hiroshima und Nagasaki zerstörten.
Dr. Frank Sauer hat Politikwissenschaft, Soziologie, Philosophie und Rechtswissenschaft studiert. Er forscht und lehrt an der Universität der Bundeswehr München u.a. zu den Themen Nuklearwaffen, Terrorismus, Cybersicherheit sowie zur Nutzung von Robotik und Künstlicher Intelligenz (KI) im Militär. Er ist Teil des Podcastteams von »Sicherheitshalber«. sicherheitspod.de FAZIT JUNI 2022 /// 39