Essay von Marco Gallina
Die Vorteile des venezianischen Ämtersystems M
ich interessieren politische Systeme und Verfassungen. Bereits in der Grundschule hat mich die römische Republik mit ihren Konzepten interessiert. Dazu gehörte die strikte Regel, nur ein Amt für ein Jahr zu bekleiden – und das kollegial, heißt, jedes Amt war doppelt besetzt, der Kontrolle wegen. Im Gymnasium lernte ich dann weitere historische Verfassungsformen kennen. Die athenische Demokratie mit ihren Mehrheitsentscheidungen und dem automatischen Wechsel des Ratsvorsitzenden. Später dann die Verfassungskonzepte der Französischen Revolution, die Märzverfassung von 1848, die Weimarer Verfassung und das Grundgesetz. Noch bis zum Ende der Schulzeit wurde uns immer wieder eingetrichtert, wie fortgeschritten unsere heutigen Verfassungen seien, im Gegensatz zu früher; die athenische Demokratie besaß keine Rechtsstaatlichkeit, [1] die römische Republik war nicht demokratisch, auf dem frühneuzeitlichen Reichstag bestimmten vor allem die Fürsten.
Marco Gallina wirft einen Blick auf die Verfassung wie Verfasstheit der venezianischen Republik. Und kann auch den einen oder anderen Vorteil in diesem Staatssystem entdecken.
Kurz: in der Theorie hätte der einfache Gondoliere Giacomo ein politisches Amt bekleiden können, es ergab aber eben im Mittelalter keinen Sinn, da man eher dessen Chef – den reichen Messer Ziani – wählte, der zudem noch einen Haufen Salinenarbeiter auf seiner Seite, Freunde im Orienthandel und natürlich das nötige Bargeld hatte, um im Falle einer Amtswahl einige Monate ohne Gehalt über die Runden zu kommen. Bald bildete sich für diese Reichen und Mächtigen ein eigenes Gremium: der eben erwähnte Maggior Consiglio. Dieser sollte den Dogen kontrollieren, war also im Sinne der checks & balances das oligarchische Ventil, um die monarchische Macht zu regulieren. Da im Laufe der Zeit klar war, dass auch nur aus diesem inneren Zirkel des Maggior Consiglio jemand die Chance hatte, zum Dogen gewählt zu werden, wählte nicht mehr die Volksversammlung, sondern der Große Rat das Oberhaupt der Republik. Weil aber Reichtum und Ehre vergänglich sind, gab es in den Jahrhunderten des comune venetiarum eine ständige Fluktuation alter Familien, die ihren Einfluss verloren, und vieler neuer, die auf deren Plätze drängten. 1297 setzte man dem ein Ende, indem man die Familien fixierte, die Teil des Maggior Consiglio waren oder nicht. 1506 zeichnete man diese Familien in einem »Goldenen Buch« (Libro d’oro) auf. Der Arrengo hatte damit keine Daseinsberechtigung mehr und verschwand aus der venezianischen Geschichte.
Foto: Privat
Auch die venezianische Republik, mit deren unüberschaubaren Auswüchsen ich mich bereits ab dem zarten Alter von 16 Jahren beschäftigte, war keine »Demokratie«, wenn man von Volksversammlungen und freien Wahlen ausgeht. In Venedig bestimmten die »Nobili«. Dies darf man nicht mit »Adel« übersetzen, wie oft fälschlicherweise getan. Die Nobiluomini hatten keinerlei Privilegien oder Rechte die sie von der übrigen venezianischen Bürgern unterschieden. Die einzige Besonderheit: Nachkommen von Nobili durften im Maggior Consiglio, dem Großen Rat Venedigs, sitzen – und damit zusammenhängend auf alle politischen Entscheidungen des Landes Einfluss nehmen. Die Nobili hatten sich als Gesellschaftsgruppe im Spätmittelalter gebildet. Noch zu Zeiten des Dogen Enrico Dandolo, der mit dem 4. Kreuzzug und der Eroberung Konstantinopels Berühmtheit erlangte, konnte jede wohlhabende Familie Einfluss in der Politik nehmen. Venedig besaß einen »Arrengo«, eine Volksversammlung, bei der jedoch aus naheliegenden Gründen die reichsten und einflussreichsten Personen – eben die Kaufleute – das Sagen hatten; einerseits, weil nur Leute wählbar erschienen, die über das nötige Geldpolster verfügten (Ämter waren in Venedig Ehrenämter, bei deren Ausfüllung man nicht arbeiten konnte) und zudem eine breite Anhängerschaft besaßen. Anhängerschaft bedeutete: man brachte Leute in Lohn und Brot, unterhielt Freundschaften oder hatte über mehrere Ecken Klientelverhältnisse aufgebaut.
Marco Gallina, geboren 1986, studierte in Bonn und Verona italienische Literatur, Politikwissenschaft und Geschichte mit Schwerpunkt auf Diplomatiegeschichte und Geschichte der Frühen Neuzeit (Reichsgeschichte, Italien). Seine Masterarbeit beschäftigte sich mit Machiavelli als Botschafter. Derzeit ist er Doktorand und daneben als Autor und freier Publizist tätig. marcogallina.de FAZIT JÄNNER 2018 /// 39