Fazit 125

Page 39

Essay von Werner J. Patzelt

Für Radikalität, gegen Gewalt! Vom Wert der pluralistischen Demokratie

W

ie macht man eine Gesellschaft oder einen Staat lernfähig, versetzt die Gesellschaft oder den Staat also in die Lage, sich auf immer wieder neue Herausforderungen im Inneren oder von außen her einzustellen? Die bestmögliche Antwort scheint zu sein: Man muss Diskurse über – echte oder eingebildete – Probleme herbeiführen, Debatten über Verursachungszusammenhänge von Problemen organisieren, Streit über Problemlösungsmöglichkeiten zulassen. An deren Ende müssen Entscheidungen darüber stehen, was nun zu unternehmen ist. Diese gestaltet man plausiblerweise als Mehrheitsentscheidungen, weil auf diese Weise Chancen auf größtmögliche Meinungs- und Interessenberücksichtigung bestehen. Und natürlich gehört zum Mehrheitsprinzip immer auch der Minderheitenschutz. Getragen werden muss dieser Politikansatz von einer Grundhaltung dahingehend, dass man sich immer wieder neu aufs Lernen einlassen muss – aus Versuchen und Irrtümern, und aus Korrekturen des Versuchten, die auch nicht immer zielführend sein werden.

Über die immer neuen Herausforderungen im Inneren wie von außen an Staat und Gesellschaft.

I. Politische Lernfähigkeit und pluralistische Demokratie

Der Name für den »streitfrei gestellten« Bereich einer pluralistischen Demokratie ist »Minimalkonsens«. Der besteht aus drei Teilkonsensen. Da ist der Wertekonsens. Zu ihm gehört vor allem Konsens darüber, dass jeder die gleichen Menschenrechte besitzt, darunter gerade auch das Recht darauf, von anderen verschieden zu sein – verschieden nach dem Aussehen, der sexuellen, der Religion, der politischen Einstellung. Da ist der Verfahrenskonsens. Er umschließt Gewaltfreiheit, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz. Vor allem ist die noch ausführlich zu behandelnde Gewaltfreiheit wichtig. Gewalt nämlich – und im Vorgriff auf ihre Anwendung: die Einschüchterung durch Gewaltandrohung – verringert nämlich die Vielfalt dessen, was aus freien Stücken an Sichtweisen und Interessen in den Streit eingebracht wird und reduziert eben dadurch die Chancen reduziert, im Streit und durch den Streit zu lernen. Damit aber wird pluralistischer Demokratie ihr zentraler Vorteil entzogen. Und drittens braucht es den sogenannten Ordnungskonsens. Für unseren Zweck genügt folgendes Beispiel: Es braucht Konsens darüber, dass auf der Straße demonstriert, dann aber in den Parlamenten entschieden wird. Ein Staatswesen gerade so auszugestalten, dass über so viel wie möglich gestritten werden darf und dadurch die Lernfähigkeit von Politik und Gesellschaft optimiert wird, ist das »wirkungsmächtige Geheimnis« pluralistischer Demokratie. Ihr besonderer Wert besteht darin, dass sie Kritik an den herrschenden bzw. bestehenden Verhältnissen ermöglicht und gerade nicht einfach die Affirmation des Bestehenden verlangt, also dessen Rechtfertigung, Unterstützung, Verteidigung. Vielmehr gehört zur pluralistischen Demokratie – außerhalb des minimalen Wert-, Verfahrens- und Ordnungskonsenses – eine kritische

Foto: Karlheinz Schindler

Der Name eine politischen Systems, das nach diesen – und freilich auch einigen weiteren – Regeln funktioniert ist pluralistische Demokratie. Zu deren Kennzeichen sind mindestens die folgenden zu rechnen: die bereitwillige Hinnahme, möglichst sogar Wertschätzung von Verschiedenheit; die Selbstverständlichkeit des Rechts, dass jeder seine Interessen eigenständig und eigenverantwortlich definiert, und zwar gerade auch solche Interessen, die man selbst ablehnt; die Legitimität von Streit – und natürlich auch dann, wenn man das Risiko tragen muss, im Streit seinerseits zu unterliegen. Wichtig für pluralistische Demokratie ist ferner, dass der Bereich dessen, worüber gestritten werden darf, möglichst groß gehalten wird, und der Bereich dessen, was dem Streit entzogen, so klein wie möglich ist. Umgekehrt kennzeichnen sich diktatorische Regime gerade durch die Minimierung des Bereichs des Strittigen und durch große Ausdehnung des Bereichs dessen, worüber eben nicht gestritten werden darf – von der führenden Rolle der Partei bis hin zur Prägung der Politik durch Gottes Gesetz.

Werner J. Patzelt, geboren 1953 in Passau, ist Politikwissenschaftler. Nach dem Abitur in Passau leistete er zwei Jahre Dienst bei der Bundeswehr. Ab 1974 studierte er Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an der Ludwig-MaximiliansUniversität München (Magister Artium 1980) und habilitierte sich 1990 an der Universität Passau. Seit 1991 lehrt er an der Technischen Universität Dresden. wjpatzelt.de FAZIT AUGUST 2016 /// 39


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.