Fazit 123

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Essay von Manfred Prisching

Migration: Europa auf der Suche nach moralischem Realismus (II) ie »neue Völkerwanderung« ist für die Bewohnerinnen und Bewohner der europäischen Länder eine ungewohnte Situation, und so ist es nicht überraschend, dass die Einschätzung der Verhältnisse, in denen sie sich befinden oder zu befinden glauben, schwankt; dass sich die Einschätzungen sozialer Gruppen durch Nichtinformation, Verängstigung, Anbiederei oder Strategie manchmal auf die eine oder andere Seite »verirren«; dass von Seiten der Politik (die sich in einem komplizierten europäischen Mehrebenensystem befindet) mit unterschiedlichen Instrumenten experimentiert wird; dass auf allen Seiten auch Missgriffe geschehen und Unverständnis, Böswilligkeit, Angst und Besserwisserei obwalten. Ein Problem, das mit Anstand und Realismus (beides in ausgewogener Weise) behandelt werden müsste, wächst sich – durch Verschleppung, durch Interessengegensätze, durch Kleingeistigkeit, durch Ungeschick und Managementinkompetenz, aber auch durch die Komplexität der Sache selbst – zu einer Krise nationaler und europäischer Politik aus. Lesen Sie hier den zweiten Teil dieses Textes.

13. Anpassungsvarianten Für jene Menschen, die »erfolgreich« im Asyl- oder Einwanderungsstatus gelandet sind, beginnt erst der Prozess der Eingliederung in die Aufnahmegesellschaft, und davon hängt auf lange Sicht vieles ab. Assimilation kann von Flüchtlingen nicht gefordert werden, gerade nach dem europäischen Verständnis von individuellen Freiheiten; Integration zielt hingegen auf die Akzeptanz eines rechtlichen, politischen und sozialen Rahmens ab. Integration soll Fragmentierung (den Zerfall einer Gesellschaft in unterschiedliche Gruppen, sodass jede ethnische Gruppe ihr eigenes »soziales Universum« bildet) ebenso wie Polarisierung (die zunehmend feindselige Konfrontation von Gruppen innerhalb einer Gesellschaft, einschließlich der Formierung einer »Gegengesellschaft«) vermeiden. Die Einigkeit über die Wünschbarkeit von Integration lässt sich abstrakt leicht herstellen, aber das Problem liegt immer im Detail, in der europäischen Situation: der Muslim mit mehreren Ehefrauen; der Schwimmunterricht für Schulkinder; das Kreuz im Klassenzimmer; die männliche Beschneidung. In Wahrheit müssen die »Sphären der persönlichen Autonomien« verträglich gemacht werden. Noch schwieriger wird es bei »Weltbildern«, wenn es sich also etwa um übergreifende Kategorien wie »Ehre« dreht. [26] Da wird auch die Vermittlung der europäischen Position schwierig, was soll man denn schon sagen: dass die Europäer mit dem sonderbaren Phänomen der »Ehre« eigentlich nichts mehr anfangen können und sie derlei Firlefanz rasch vergessen sollten?

Erstens: Die Herstellung von Kompatibilität zwischen Eingewanderten und Ansässigen wird zu einem herausfordernden Thema. Es ist eine absurde Vorstellung, wenn im Zusammenhang mit Integration und europäischer Wertewelt auf lokale Sitten und Gebräuche verwiesen wird, um die Wertediskussion lächerlich zu machen: auf den Schweinebraten und die Blasmusik, auf knorrige Tiroler Bauern und Wiener Bobos. Das hat beileibe nichts mit europäischer Wertewelt zu tun. Gleichwohl gibt es einen harten Kern europäischer Werte, von den Menschenrechten bis zur Demokratie, von der Rechtsstaatlichkeit bis zur Korruptionsbekämpfung, von der Gleichberechtigung der Geschlechter bis zum Bildungsanspruch der Mädchen – und um solche Werte gilt es ja auch in den europäischen Ländern immer wieder zu ringen, denn sie verstehen sich nicht von selbst und unterliegen einer ständigen Gefährdung durch die Einheimischen. Man mag über die Quantität streiten, ob es sich um 15 oder 30 Prozent der einheimischen Bevölkerung handelt – aber in dieser Größenordnung wird wohl der Anteil jener Einheimischen liegen, die man nicht als in einen europäischen Wertekanon wohlintegriert bezeichnen kann. (Empirische Belege und Beispiele finden sich leicht zugänglich in den Leserforen

Wenn es ein politisches Problem gibt, das auf europäischer und nicht auf nationalstaatlicher Ebene gelöst werden muss, dann ist es das Migrationsproblem.

Foto: Archiv

D

Mag. Dr. Manfred Prisching ist Universitätsprofessor und Autor. Er studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre. 1985 wurde er habilitiert und ist als Dozent und seit 1994 als Professor an der Karl-Franzens-Universität tätig. 1997-2001 war er wissenschaftlicher Leiter der steirischen Fachhochschulen. Prisching ist korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und Herausgeber der Reihe »Sozialethik«. manfred-prisching.com FAZIT JUNI 2016 /// 43


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