Fazit 120

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Essay von Viktor Orbán

Rede zum Gedenktag der Vertreibung der Ungarndeutschen Warum wir die Rede eines Politikers abdrucken In Österreich ist der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán unter anderem wegen seiner Migrationspolitik höchst umstritten. Um den Lesern auch ein weiteres Bild dieses Politikers zu vermitteln, drucken wir in dieser Ausgabe eine bemerkenswerte, von Toleranz und Mitgefühl geprägte Gedenkrede ab, die Orbán anlässlich des Jahrestages der Vertreibung der Ungarndeutschen am 16. Jänner in Budaörs/Wudersch gehalten hat.

Entsprechend gnadenlos war nach dem Krieg der Umgang mit der deutschsprachigen Minderheit. So wurden viele Ungarndeutsche zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt oder in Ungarn nach Entnazifizierungsverfahren enteignet, entrechtet und zwischen 1946 und 1948 auf Basis des Potsdamer Abkommens nach Deutschland, zuerst in die amerikanische, später auch in die russische Besatzungszone vertrieben. Ausgesiedelt wurden alle ungarischen Staatsbürger, die sich im Jahr 1941 zur deutschen Nationalität oder Muttersprache bekannt oder die Magyarisierung ihres Namens rückgängig gemacht hatten. -jot/cak-

I

ch begrüße recht herzlich den Vertreter der deutschen Regierung, Herrn Koschyk. Ich begrüße Barnabás Lenkovics, den Präsidenten des Verfassungsgerichtes, und die Mitglieder des Verfassungsgerichtes. Ich begrüße die Vertreter der Nationalitäten Ungarns, den Herrn Bürgermeister. Ich begrüße den Präsidenten der Ungarischen Akademie der Künste sowie die Vertreter der historischen Kirchen. Und ich begrüße einen jeden, der heute hierher nach Wudersch gekommen ist, damit wir uns gemeinsam an eines der schmerzvollen und unwürdigen Ereignisse der Geschichte des vergangenen Jahrhunderts zu erinnern.

Die Neunzehnvierzigerjahre lassen die zusammenhängende Leidensgeschichte Ungarns vor unseren Augen erstehen. Besetzungen, Verschleppung und Vertreibung, einander folgende Waggons, Trauerzüge. Die Akzente, die Ziele, die Gründe und Motive mochten unterschiedlich sein, jedoch war die Konklusion unverändert. Als Ungarn besetzt wurde – ganz gleich ob vom Osten oder vom Westen aus –, das Ergebnis wurde unermessliches Leid. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeugt davon, dass wenn Ungarn seine Unabhängigkeit verlor, es dann seine eigenen Bürger, jene Menschen, zu deren Schutz und zur Bewahrung ihrer Werte das Land berufen gewesen wäre, es diese verstieß, ausplünderte, vertrieb und in eine extrem ausgelieferte Lage geraten ließ. Es ist eine Lehre für die Ungarn für alle Zeiten, der Ankunft einer derartigen Welt, in der ähnliche Verordnungen und Listen entstehen könnten, nicht die geringste Chance zu geben. Es ist eine Warnung für alle Zeiten, dass nur die starke Regierung eines souveränen Landes in der Lage ist, seine Staatsbürger der unterschiedlichsten Nationalität vor den äußeren Kräften und den die äußeren Kräfte bedienenden inneren Anhängern zu schützen.

Foto: Európai Bizottság/Daniel Végel

Denn anders als andere osteuropäische Staaten hat sich Ungarn unter Viktor Orbán dazu entschlossen, den Umgang mit der deutschsprachigen Minderheit in den Jahren zwischen dem zweiten Weltkrieg und der Wende offensiv aufzuarbeiten. So gibt es inzwischen eine jährliche Gedenkfeier zur Erinnerung an die Vertreibung, Deportation und Zwangsarbeit der Ungarndeutschen. Die deutschsprachigen Ungarn hatten sich in der Zwischenkriegszeit gegen den Magyarisierungsdruck aufgelehnt und in großer Zahl den Nazis angeschlossen. Viele Deutschungarn waren Angehörige der SS und in die Verbrechen des Nationalsozialismus involviert.

Viktor Orbán ist graduierter Jurist und prägt die ungarische Politik seit der Wende in führender Position. Er war im Jahr 1988 Mitbegründer der Allianz junger ungarischer Demokraten (Fidesz). Seit 1993 ist er Vorsitzender von Fidesz. Unter seiner Führung änderte er die Ausrichtung der ehemals liberalen Jugendpartei auf einen Mitterechtskurs. Fidesz ist heute Mitglied der Europäischen Volkspartei. Im Westen galt Orban lange Zeit als Garant für den demokratischen Wandel Ungarns. Orban war von 1998 bis 2002 erstmals Ministerpräsident. Unter seiner Führung vollzog Ungarn den Beitritt zur Nato. Zum zweiten Mal wurde Orban 2010 zum Ministerpräsidenten gewählt – diesmal mit einer absoluten Fidesz-Mehrheit. Seitdem wird gegen ihn der Vorwurf erhoben, die Rechte von Opposition und Medien systematisch einzuschränken.

FAZIT MÄRZ 2016 /// 47


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