Essay von Ulrich Beck
Europa braucht einen neuen Traum E
s war einmal ein europäischer Traum. Der handelte davon, wie aus Feinden Nachbarn werden. Nachbarn, die sich vielleicht nicht unbedingt mögen, Nachbarn, die sich auch streiten, missverstehen, wechselseitig ihre Stereotype pflegen, aber eben Nachbarn und nicht Feinde. Dieser Traum ist paradoxerweise in seiner Erfüllung verblasst. Es ergibt für viele offenbar keinen Sinn mehr, vom Frieden zu träumen, wenn ein Krieg in Europa nahezu undenkbar geworden ist.
Es ergibt für viele offenbar keinen Sinn mehr, vom Frieden zu träumen, wenn ein Krieg in Europa nahezu undenkbar geworden ist.
Heute erleben viele Menschen die Europäische Union als Albtraum – als den Albtraum der Arbeitslosigkeit, des Abstiegs, der Armut, des Verlustes von Würde, Gerechtigkeit, Identität und Demokratie. Ist es möglich, dass die Entfremdung der Menschen von der EU gefährlicher für die EU ist als die Euro-Krise? Ja, das ist möglich. Ist es möglich, dass die skandalöse Jugendarbeitslosigkeit für Europa gefährlicher ist als die Euro-Krise? Ja, das ist möglich. Ist es möglich, dass die neuen Gräben zwischen Nord und Süd, zwischen Gläubigern und Schuldnern, zwischen Euro-Ländern und Nicht-Euro-Ländern gefährlicher für die EU sind, als die Euro-Krise selbst? Ja, auch das ist möglich. Ist es möglich, dass der europäische Traum – Freiheit, Demokratie, Weltoffenheit – in den überfüllten Flüchtlingsbooten im Mittelmeer und von den Menschen, die auf den Straßen Istanbuls, Kairos, Moskaus, Rio de Janeiros und Tokios protestieren, geträumt wird, aber nicht in der EU selbst? Ein Traum, den gerade die auf den Straßen für ihre Zukunft in der EU protestierenden Ukrainerinnen und Ukrainer noch zu träumen verstehen, und den sie leider wohl weiter träumen müssen. Ihre Botschaft an uns alle ist: Europa ist mehr als eine Währung, mehr als ein Fiskalpakt. Europa ist eine Hoffnung, die nicht enttäuscht werden darf! Aber wenn all dies möglich ist, dann muss – um Himmels willen – doch endlich etwas geschehen! Aber was? Europa muss die Kraft des Träumens zurückgewinnen. Diese Kraft des Träumens könnte, in gesellschaftliche und politische Formen gegossen, ein contrat social für Europa werden. Meine Frage lautet: Welche politische Gestalt muss ein Europa annehmen, das sich von einem Albtraum wieder zum Traum verwandelt?
In der bisherigen Betrachtungsweise bleibt zumeist (und das meine ich durchaus selbstkritisch) die Frage ausgeklammert: Welchen Einfluss haben und hatten Prozesse der Entkolonialisierung auf die Herausbildung der Europäischen Union und ihre Entwicklung? Denn auch hier sind es die Siege des modernen, industriellen Kapitalismus und deren Nebenfolgen – globale Risiken, Krisen und geopolitische Verschiebungen speziell seit 1989 –, welche die Grundlagen der nationalstaatlichen Ordnungen innerhalb und außerhalb Europas infrage stellen.
Aus der Perspektive der sich entwickelnden Länder betrachtet, zeigt sich gegenwärtig allerdings ein etwas anderes Bild Europas. Es ist gekennzeichnet durch eine Machtverschiebung zugunsten der postkolonialen, sich entwickelnden Länder (die sich beispielsweise auch in ihrer Teilnahme an den neuen G20-Zusammenkünften niederschlägt) und eine Verschiebung des Schwerpunkts der weltökonomischen Machtgeografie vom Atlantik zum Pazifik, verbunden mit der schleichenden Entmonopolisierung des US-Dollars als globale Leitwährung zugunsten einer Bündelung verschiedener Währungen und bilateraler Währungsabkommen. Hinzu kommt die wachsende Bedeutung der Süd-Süd- und Ost-Süd-Kooperation zur Lösung wirtschaftlicher Probleme und nicht zuletzt der Verlust an moralischer Autorität und Vorbildlichkeit des ehemaligen US-amerikanisch-europäischen Zentrums. Die Konsequenz daraus ist: Das alte, westlich dominierte Zentrum-Peripherie-Modell droht zu kippen. In Zukunft dreht es sich nicht mehr primär um das Verhältnis von Postkolonialismus und Europa. Vielmehr stellt sich die Frage: Inwieweit
Foto: European Alternatives
Europa im fremden Blick
Professor Dr. Ulrich Beck war einer der bekanntesten deutschen Soziologen der Gegenwart. Unter anderem war er Professor an der Ludwig-MaximiliansUniversität München sowie an der London School of Economics and Political Science. Seine Bücher wurden in mehr als 35 Sprachen übersetzt, er erhielt zahlreiche nationale wie internationale Preise. Ulrich Beck ist im Jänner 2015 im Alter von 70 Jahren gestorben. FAZIT JÄNNER 2016 /// 45