Fazit 118

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Lawinen kann man auslösen, wenn irgendein unvorsichtiger Schifahrer an den Hang geht und ein bisschen Schnee bewegt. Wolfgang Schäuble, deutscher Finanzminister über die Flüchtlingspolitik

Fotos: ÖVP-Online, SPÖ Presse und Kommunikation

Hat tatsächlich Bundeskanzlerin Angela Merkel die »Flüchtlingslawine« ausgelöst?

EU-Schönwetterpolitik statt Krisenmanagement Die Europäische Union befindet sich in einem miserablen Zustand. Nach der Eurokrise zeigt sich die Flüchtlingskrise neuerlich, worin das fundamentale Problem der Union liegt. Überforderte Politiker in den Mitgliedsstaaten und der Kommission haben Angst, die persönliche Wohlfühlzone zu verlassen, und weigern sich, die rechtsverbindlichen Verträge, auf denen das supranationale Konstrukt der Union beruht, mit den erforderlichen Konsequenzen durchzusetzen. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel sind die Speerspitzen dieser europäischen Schönwetterpolitik: So erklären beide, dass etwa die Defizitregeln der Eurozone von allen Mitgliedsländern einzuhalten seien. Wenn es darum geht, den Worten die vertraglich vereinbarten Taten folgen zu lassen, haben sie jedoch eine Heidenangst davor, etwa den französischen Ministerpräsidenten François Hollande zu brüskieren. Und so kann Frankreich seine abenteuerliche Wirtschafts- und Sozialpolitik ungehindert fortsetzen, obwohl diese längst die ökonomische Zukunft ganz Europas gefährdet. Dabei sind die französischen Sozialisten ohne Druck aus Brüssel einfach viel zu 12 /// FAZIT DEZEMBER 2015

schwach, um die notwendigen Reformen gegen den Willen von Gewerkschaften und NGOs durchzusetzen. Aber zur europäischen Realverfassung gehört es eben, dass Regeln, die für die kleinen Mitgliedsstaaten gelten, bei den großen keine Anwendung finden.

Orbán wird heftig kritisiert, weil er alle Flüchtlinge registrieren wollte Das zeigt sich auch bei der Flüchtlingskrise. Heute fordern Frau Merkel und Herr Juncker im Gleichklang den Schutz der EU-Außengrenzen und des Schengenraums. Dabei hat doch erst die deutsche Kanzlerin die Flüchtligslawine losgetreten. Merkels Einladung an die Flüchtlinge, nach Deutschland zu kommen, beruhte auf dem Umstand, dass der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán darauf bestanden hatte, nur Schutzsuchende nach Ungarn ein- oder aus Ungarn ausreisen zu lassen, die zuvor entsprechend den Dublin-Regeln registriert worden waren. Und weil sich die Flüchtlinge weigerten, ist es zur Eskalation auf dem Budapester Bahnhof und zum Marsch Tausender Richtung Wien gekommen. Auch danach hat sich Orbán als Einziger an die Schengenregeln gehalten und die ungarischen Schengen-Außengrenzen zu Serbien und Kroatien vor dem unkon-

trollierten Ansturm geschützt. Dass lange zuvor Griechenland und Italien damit begonnen hatten, die Flüchtlinge einfach durchzuwinken, ohne sie zu registrieren oder gar in ein Asylverfahren zu nehmen, wurde und wird weiterhin hingenommen. Dieser hilflose Umgang mit den Problemen ist in Wahrheit ein Offenbarungseid der EU. Anscheinend braucht die Staatengemeinschaft eine oder gar mehrere Katastrophen. Und so ist nach jahrelangem Herumgemurkse nicht einmal der Zusammenbruch des Euros vom Tisch. Mit dem Zustrom Hunderttausender, wenn nicht Millionen aus dem Nahen Osten und Afghanistan, vom Balkan und aus Afrika hat die europäische Zerrissenheit eine neue Stufe erreicht. Inzwischen wird sogar das Auseinanderbrechen der Union hingenommen: Denn osteuropäische Länder wie Polen, Tschechien oder die Slowakei weigern sich bekanntlich beharrlich, irgendwelchen verbindlichen Quoten zur Aufnahme moslemischer Migranten zuzustimmen, und auch alle anderen EUStaaten mit Ausnahme von Österreich, Deutschland und Schweden, das nun ebenfalls Grenzkontrollen eingeführt hat, lassen die Flüchtlinge nur durchreisen, verweigern jedoch die Aufnahme. Auch das schwierige deutschpolnische Verhältnis ist gefährdet Die moralisierenden Töne aus Deutschland gefährden längst mehr als nur das deutsch-polnische Verhältnis. So findet die hanebüchene Idee von Werner Faymann, die EU-Fördertöpfe für alle Mitglieder zu sperren, die keine Flüchtlinge aufnehmen, in Deutschland eine besonders große Zustimmung. Bei den Osteuropäern, die den Gutteil der EU-Strukturmittel erhalten, sorgt diese Forderung für Verwunderung und Kopfschütteln. Ernst genommen werden solche Drohungen bisher aber zum Glück nicht. Den Eifer, mit dem sich Deutschland aus Sicht der Osteuropäer freiwillig selbst islamisiert, versteht dort niemand. Und


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