piz Magazin No. 44

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Kaufmann wurde ich wider Willen, was mir heute kei-

die Katz war. Es muss doch jemanden geben, der wie

ner mehr glaubt. Aber ohne Musik kann ich nicht sein,

ich Freude daran hat, Gastgeber zu sein und die schö-

sie ist mehr als wohltuend, sie ist heilend, heilsam, gibt

nen Künste zu fördern.

Kraft. Wenn ich schmutzig bin, nehme ich ein Bad,

Als wir uns verabschieden, äussert Lingner den

wenn ich mich seelisch reinigen will, spiele ich Orgel.

Wunsch, ins Manuskript Einblick zu nehmen, mur-

Das klingende Schloss

melt etwas von schlechten Erfahrungen. Ist er das Schosskind des Glücks, wie viele denken? Ich weiss

Dann wird Schloss Tarasp tatsächlich ein klingendes

nicht. Wie ich zum Teehaus zurückschaue, sehe ich

Schloss werden?

hinter dem Fensterglas ein Streichholz aufflammen.

Ja. Und was auch immer ein späterer Besitzer treibt, die Musik darf keinesfalls aus dem Schloss mehr ent-

Dem Publikum öffnen? Sicher!

weichen, man soll sie im ganzen Schloss vernehmen

Auf dem Weg ins Dorf komme ich am Wachthaus vor-

können, sie bringt Leben ins riesige Gehäuse wie

bei, wo noch Licht brennt. Sekretär Vaja öffnet das

nichts anderes sonst. Dafür steht die Orgel. Verschie-

Fenster, sein Arbeitstag ist nicht zu Ende, eine Kiste

dene weitere passende Anlässe sind denkbar – als Gast-

voller rostiger Türschlösser sei auszupacken, frühmor-

geber hier oben muss man die Zweieinigkeit von mu-

gens kämen die Fachleute.

sischer und kaufmännischer Begabung mitbringen.

Meine Frage, ob Lingner denn die fertige Burg wenigs-

Übrigens habe ich damit begonnen, alte Musikinstru-

tens zeitweise auch dem Publikum öffnen werde, be-

mente zu sammeln, um sie erforschen zu lassen und zu

antwortet er mit «sicher!» In der Tat: Lingners Unter-

vervollkommnen – auch diese könnten hierher passen.

nehmungsgeist hat immerfort Öffentlichkeit gesucht. Dementsprechend, mutmasse ich, wird er auch

Inzwischen geht es gegen Mitternacht. Es scheint zu

Schloss Tarasp nicht als verriegeltes Anwesen gedacht

stimmen, was ich sagen hörte: dass Lingner regelmäs-

haben, vielmehr soll es die Menschen anziehen und

sig die Nacht zum Tag mache. Eine persönliche Ar-

ihr Interesse an Geschichte, Musik und Kunst wecken.

beitszeiteinteilung sei ihm fremd. Ausgerüstet mit

Und während ich mutmasse, sagt Sekretär Vaja: «Ex-

enormem Erkenntnisdrang und einem phänomena-

zellenz Lingner war mit dem Gespräch offenbar zu-

len Gedächtnis sei er stets ganz bei der Sache, was im-

frieden – ganz zufrieden ist er nie! – und hat jedenfalls

mer es sei. Unter Freunden soll er geäussert haben, er

grad angerufen, ich solle Ihnen unbedingt die Denk-

habe wenig vom Leben, müsse immerfort grübeln

schrift mitgeben!»

und sinnen Nächte hindurch.

Vaja steckt mir ein Büchlein zu: «Denkschrift zur Errich-

Lingner lehnt sich zurück. Tja, es ist ein köstlicher Be-

legt von Dr. med. h. c. K. A. Lingner, Wirklicher Geheimer

sitz – genau so werde ich es ins Vermächtnis schreiben.

Rat, März 1912».

tung eines National-Hygiene-Museums in Dresden, darge-

Schloss Tarasp möchte ich gewissermassen dem Adel zurückschenken. Falls dies nicht gelingen sollte,

Was lädt sich dieser Mann noch alles auf?

müsste es wegen der hohen Kosten an einen reichen Mann verkauft werden. Dieser sollte keine Steuern dafür zahlen müssen. Aber: Trau, schau wem! Es darf nicht sein, dass Schloss Tarasp wieder in Untätigkeit und Zerfall gerät und meine ganze Arbeit hier oben für

PS: Der Interviewer macht darauf aufmerksam, dass Karl August Lingners Worte zum Teil nicht im wissenschaftlichen Sinn zitierbar sind. Gleichwohl beruhen die meisten Aussagen dieses fiktiven Textes zumindest sinngemäss auf Aussagen von Lingner selbst, einige von mit ihm Vertrauten.

Karl August Lingner besuchte die Tarasper Schlossbaustelle nicht nur 1912,

LITERATURHINWEIS: Walter A. Büchi: Karl August Linger: Das grosse Leben des Odolkönigs, Edition Sächsische Zeitung, 2006, Fr. 29.50

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sondern auch in den darauf folgenden Sommern. 1914 gab es ein grandioses Aufrichtfest. Letztmals kam er 1915 nach Tarasp, bereits kränkelnd, doch immer in der Hoffnung, die Fertigstellung des Schlosses mitsamt der Orgel zu erleben. Es kam anders: Er starb am 5. Juni 1916 in einer Berliner Klinik – ohne Tarasp wieder gesehen zu haben. Das Schloss ging testamentarisch an den Grossherzog Ernst Ludwig von Hessen. In neuester Zeit sind Bestrebungen im Gang, es in die Hand einer öffentlichen Stiftung zu überführen. Bereits in den 1990er Jahren hat eine Orgelstiftung das kostbare Instrument wieder zum Klingen gebracht.

piz 44 : Winter | Inviern 2012/2013


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