b – N° 1 / Das Magazin des Balletts am Rhein

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Ballett am rhein

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Durch viele Phasen und Verfassungen bin ich gegangen, während der 20 Jahre, in denen ich jetzt ohne Unterbrechung unterrichte, habe vieles integriert und auch wieder ver­ worfen oder losgelassen. Aber nach wie vor gilt für mich: »Class is everything!« Es war damals so für mich als Tänzer und ist heute so für mich als Choreograph, Lehrer und Ballettdirektor. Obwohl ich selber nicht mehr täglich trainiere, denke ich dieses Faktum für »meine« Tänzer mit und versuche es durch Überzeugungsarbeit und manchmal auch mit Druck einzufordern. ————

Die tägliche Klasse ist fast heilig. Wenn es Heiliges überhaupt gibt, dann sind es auch das Training im Ballettsaal und die Vorstel­ lung auf der Bühne. Ballettsaal und Büh­ nenraum sind nicht nur heilig als Orte oder Räume, sondern auch durch das, was dort geschieht – das Geschehen. Übung, Streben, Erhitzung, Schwitzen, Hingabe, Verbinden, Fließen, Öffnen – Weggeben. Ein Training ist Übung. Exerzitium im wirklichen Sinne des Wortes. Es ist nicht wichtiger oder bes­ ser als tolle Kreationsproben, wunderbar ge­ tanzte Vorstellungen oder fantastisch gebaute und inspirierende Ballette, aber es ermöglicht diese eben erst. Die „Class“ macht gute Tänzer besser. Dies an Körper, Kopf und Geist. Ich behaupte sogar, richtig verstanden und eingesetzt, macht sie bewusster, formt sensiblere, egofrei­ ere Menschen. Sie schützt den Tänzer vor Ver­ letzungen und ist die fast einzige Möglichkeit zu verhindern, dass man als Künstler und in der körperlichen Leistung stehen bleibt, sta­ gniert – sich als gut genug „zumauert“. Ein endloses Feld in den Raum der Wesenswer­ dung hinaus ist sie. Jedes verpasste Training ist ein Schritt zurück, zumindest ein Anhal­ ten im Wachstumsprozess und der Auseinan­ dersetzung mit dem Selbst und dem Außen. Eine für jeden Tänzer bemerkbare Zäsur im Üben des „muskulären Hirns“, der Koordina­ tionsfähigkeit etc. Einmal nicht zu trainieren ist natürlich völlig in Ordnung, mag ein wert­ volles kurzes Innehalten sein, eine kleine not­ wendige Pause. Ich gebe den Tänzerinnen und Tänzern des Balletts am Rhein auch die Mög­ lichkeit, einmal pro Woche in einer „Class“ zu fehlen, sei es, um zusätzlich etwas ausruhen zu können, sei es, um einen Hauch mehr Zeit für Privates zu haben. Als Direktor finde ich diese „Geste“ absolut wichtig und richtig – als Lehrer bleibe ich möglichst neutral, aber wa­ chend darüber, dass aus einmal nicht zwei­ mal wird. Der Tänzer in mir versteht das An­ gebot überhaupt nicht, findet es sogar falsch. Der Choreograph in mir hat nichts dage­ gen, solange die Tänzer, welche nicht in der

morgendlichen Klasse trainiert haben, sich intensiv genug für die kommenden Proben vorbereitet und eingearbeitet haben. So gleite ich in meinem Versuch, ein Ensemble adä­ quat zu leiten, immer zwischen diesen ver­ schiedenen in mir angelegten und auch lange ausgeübten Berufen und Positionen hin und her, bevor ich mich für das mir richtig Er­ scheinende entscheide. Ich glaube, dass das so stimmig ist. Es hat sich für mich bewährt, auch wenn die Entscheidungsfindungen da­ durch etwas komplexer und arbeitsaufwen­ diger werden. Ich habe 1990 begonnen, Klassischen Tanz zu unterrichten. Die ersten Stunden gab ich in meiner Ballettschule Dance Place in Basel. Ich wollte das nie, Ballettpädagoge zu sein war nie ein Berufswunsch von mir. Ich wollte aber auch nie Choreograph sein oder gar Ballettdirektor. Das Ganze entstand da­ mals aus dem Druck einer Frage heraus. Ich habe endgültig, knapp dreißigjährig, aufge­ hört zu tanzen. „Und was machst du jetzt“? hat mein Vater mich gefragt. „Ich mache eine Ballettschule auf.“ „Das ist richtig. Das ist ein Geschäft. Ich gebe dir ein zinsloses Darlehen dafür.“ Theoretischen, spezifisch tanzbezoge­ nen Musikunterricht nahm ich begleitend bei Harriet Cavalli, der brillanten amerika­ nischen Ballettpianistin, und einmal wö­ chentlich reiste ich zu Anne Woolliams nach Zürich, um an der Schweizerischen Ballett­ berufsschule unter ihrer Obhut und Anlei­ tung zu unterrichten und zu studieren. Nicht dass wir unbedingt das Gleiche wollten oder dachten. Bei einem guten Lehrer ist das aber auch nicht das Wichtige. Nur, dass er einem voraus ist, zählt. Dass man bereit ist, von ihm zu lernen, eben bei ihm in die „Schule“ zu gehen. Später, ziemlich viel später erst sollte man für sich entscheiden, was richtig oder falsch war von dem Erlernten. Zuerst muss man einfach möglichst viel Wissen und Er­ fahrung sammeln. Eintauchen wollen in die Welt des Meisters – seine Methode – ihn ver­ stehen wollen, ihm vertrauen. Sich „offen und

porös“ machen, damit Neues mit einfließen kann, ist dabei unabdingbar. Der Begabte tut dies gerne und bedingungslos, ohne Wenn und Aber – und bleibt dabei doch er selbst; sammelt quasi nur für seine spätere, eigene, sicherlich auch andere Form. („To be able to surrender without delivering oneself is always a sign of talent“.) Als Autodidakt und Anfängerlehrer – und ich war damals beides – gibt man tenden­ ziell vor allem das an Schüler weiter, was sich am eigenen Körper als richtig anfühlt. Natür­ licherweise ist es das, was man kennt, und wie man bis anhin von anderen trainiert wurde. Das muss nicht schlecht sein, aber auch nicht unbedingt richtig, wird aber deshalb so emp­ funden, weil es sich als richtig anfühlt und sich im Körper über Jahre hinweg manifestiert hat – selbstverständlich nicht nur dort. Das mit dem Gefühl, dem Anfühlen ist eh ein sehr komplexes Feld. Sogar ein ziemlich rutschiges Terrain. Gefühlen sollte man immer kritisch begegnen. Sie sind nicht die Intuition, nicht der Instinkt und auch nicht das „Fühlen“ als Sinngabe. Konditionierte „Bagage“ sind sie, eingefräste „Granitadern“, die einen meistens vom Offen­Sein abhalten – vom Wachsen. Ich plädiere nicht unbedingt für ein buddhistisch „durchtränktes“ Balletttraining, aber es ist tat­ sächlich so, dass Gefühle jeder Meisterschaft, allem wirklichen Können im Wege stehen. Ich hatte das Glück, in meiner Laufbahn fast durchweg großen, unorthodox arbei­ tenden Lehrern begegnen zu dürfen. Da­ für bin ich sehr dankbar. Manchmal habe ich sie mir auch gesucht. Meine wichtigsten Ballettlehrer waren und sind: Marianne Fuchs, Eileen Ward, Terry Westmoreland, Maryon Lane, David Howard, Gelsey Kirkland und Peter Appel. Alle sind bis heute meine Leh­ rer geblieben. Ob sie noch leben oder nicht mehr, ist dabei nicht relevant. Gewisse Dinge werden mir manchmal erst heute ganz klar. Das ist etwas sehr Schönes. Dann fällt es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen. „Das also hat sie oder er damals gemeint!“ Lernen tut man von allen und allem, so man es denn


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