White Paper „focus: Architektur, Innovation in der Architektur – Analyse und Anregungen“

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Kapitel 5 – Bauaufgaben

Standards hinsichtlich Bauqualität, architektonischen Anspruchs oder ökologischer Nachhaltigkeit aufzugeben. Neben den ganz handfesten, dringlichen Notwendigkeiten sozialer Natur harren noch weitere, bereits im vergangenen Jahrhundert angeschnittene Wohnbaufragen – auch im Bereich des privaten Wohnungs- und Eigenheimbaus – einer substantiellen Weiterverfolgung.

erweitern und schlussendlich andernorts wieder verwendbar oder umweltfreundlich zu entsorgen, ist gering. Wo sind die serientauglichen Systeme, die für den Geschoßwohnbau ebenso wie für das Einfamilienhaus preisgünstige, städtebaulich gut zu integrierende und gestalterisch hochwertige Lösungen anbieten? Gleich ob geförderte Wohnung im Minimalstandard, mittelständische Familienwohnung, schickes Stadtapartment, Reihenhaus oder Villa – nie ist es die Architektur allein, die ihre Bewohner glücklich macht. Immer aber leistet sie ihren Beitrag. Interessant ist, dass in den technisch hoch entwickelten Ländern der Welt Globalisierung und Neoliberalismus zwar zusehends vereinheitlichte (kommerzialisierte) öffentliche Räume, ein überall ähnliches Angebot in den Supermärkten, einheitliche Bekleidungscodes und -moden oder diverse Spielarten von Fusion Kitchen mit sich bringen, beim privaten Wohnen die regionalen Unterschiede aber trotz der Omnipräsenz bestimmter Möbelhäuser erstaunlich groß sind.

Zahlreiche Wohnprojekte des letzten Jahrzehnts standen unter dem Slogan „Wohnen und Arbeiten“. Neue Arbeitsmodelle wie die so genannte „neue Selbstständigkeit“ und technische Möglichkeiten führen dazu, dass Berufs- und Privatleben oft zuhause stattfinden können oder müssen. Leistungsfähige Netzwerktechnologien und ein breites Angebot auf dem Büromöbelsektor für das Home Office sorgen dafür, dass heute im Grunde in jedem Wohnungstyp Heimarbeit via Computer stattfinden kann. Dem Privileg der flexiblen Arbeitsgestaltung stehen negative psychosoziale Auswirkungen aber ebenso entgegen wie bedenkliche Manifestierungen familienpolitischer Verhältnisse. Mütter, seltener Väter, haben mangels entsprechender Möglichkeiten der Kinderbetreuung oft keine andere Wahl, als zu Hause zu arbeiten. Könnten neue Organisationsformen von Wohnhäusern oder Siedlungen Abhilfe schaffen? Könnten zudem Gemeinschaftseinrichtungen effiziente Angebote liefern, um den teuren Unterhalt eines Haushalts ohne hauptberufliche Hausfrau (oder Hausmann) günstiger und einfacher zu organisieren?

Das geräumige Bad mit Bidet ist typisch für Frankreich, der begehbare Schrankraum für die Vereinigten Staaten, nach außen zu öffnende Drehflügel herrschen in Skandinavien vor, Schiebefenster in Großbritannien, das breite und vorhanglose Wohnzimmerfenster ist charakteristisch für die Niederlande. Würde der Wiener nicht auch zu schätzen wissen, was dem Pariser oder New Yorker unverzichtbar ist? Und sind regionale Bautraditionen angesichts der Realität einer multikulturellen Gesellschaft zumindest in den Ballungszentren womöglich nicht überholt?

Isolation, Ökonomisierung der Privatsphäre, Elektrosmog – wo sind architektonische Lösungen, die vorbeugen und die „mediale Revolution“ für den Wohnbau innovativ und positiv nutzbar machen?

Der Wohnbau ist eine der sensibelsten und vielleicht auch eine der konservativsten Bauaufgaben. Leichtfertige Spielereien auf Kosten der Nutzer sind daher fehl am Platz. Stures Beharren, Innovationsfeindlichkeit, Uniformität und Ressourcenvergeudung aber auch. Es braucht wieder mehr Diskussion, Anregung zum Querdenken, Mut zum Experiment, Adolf Loos’ Konzepte und Überlegungen brauchen ein Update.

Flexibilität ist ein anderes großes, inflationär verwendetes Schlagwort im Wohnbau. Sind aber gleichgroße Zimmer, im Fall des Falles halbwegs leicht zu entfernende Zwischenwände in Leichtbaukonstruktion und Schiebewände wirklich das Höchste der Gefühle? Könnten nutzungsneutrale Hybridstrukturen funktionale Durchmischung forcieren und die Mobilität erleichtern? Der Marktanteil modularer Bausysteme, industriell vorfertigbar, rasch zu versetzen, einfach zu

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