CRITICA Issue I/2015

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CRITICA ZEITSCHRIFT FÜR PHILOSOPHIE UND KUNSTTHEORIE

T TÄ LI EA R & Ö M N TE EI K H C LI G Elize Bisanz | Christoph Kammertöns | Marc Peschke Sabine Dehnel | Julia-C. Dissel | Danièle Perrier David Altmejd | Jeppe Hein | Michel François

ISSN: 2192-3213 I/ 2015



EDITORIAL Liebe Leserinnen, liebe Leser, die Idee einer Realität im Allgemeinen als einer Theorie, die sich

Realität hin zur Imagination und Christoph Kammertöns

nicht einen bestimmen Blickwinkel innerhalb des Wirklichen

erhellt in seinem philosophischen Artikel den Sinn und die

eingeräumt hat, ist für unsere heutigen Begriffe absurd.

Bedeutung der in Wechselseitigkeit bestimmten Begriffe

Zahlreich sind die Realitäten in der post-metaphysischen Welt

Offenheit und Unabgeschlossenheit des Handelns am Beispiel

und ebenso vielfältig die Möglichkeiten das was ist zu begreifen

Nancys und Poppers und schließt mit seinen Überlegungen

und zu kommunizieren.

zur Ambiguitätstoleranz mit einem Ausblick auf den möglichen Umgang im Konflikt der aktuellen politischen

In dieser Ausgabe von CRITICA widmen wir uns also in

Situationen. Neben der Vorstellung ausgewählter Künstler

Essays, Rezensionen, Interviews und Präsentationen von

und deren Arbeiten, präsentieren wir auch in dieser Ausgabe

Künstlern dem Thema „Realität und Möglichkeiten“ und damit

wieder Ausstellungsbesprechungen – die eine mit Blick

auch der unumgänglichen Wechselseitigkeit dieser beiden

auf das intelligible Werk des in den letzten Jahren eher rar

Begrifflichkeiten. Elize Bisanz eröffnet diese Ausgabe mit

in Erscheinung getretenen Altmeisters Heijo Hangen,

Ihrem Beitrag „Wirkliche und mögliche Bilderwelten“, in dem sie

die andere mit kritischem Auge auf das Geschehen zur

den Phänomenen Bild und Sehen als einer Zusammensetzung

erst kürzlich zu Ende gegangenen, wieder aufgelegten

von Elementen der externen Wirklichkeit und Elementen der

Kunstmesse in Frankfurt am Main.

simulierten Möglichkeit im Rückgriff auf jüngste Einsichten der Kognitionswissenschaft nachgeht. Marc Peschke bespricht

Ihre Julia-Constance Dissel

im Interview mit Sabine Dehnel Verschiebungstechniken der

Herausgeberin/Chefredakteurin


CRITICA–ZPK I/ 2015

INHALT

Wirkliche und mögliche Bilderwelten Repräsentation – Simulation – Emulation 5 Elize Bisanz Eine große Erzählung in Bildern Die Künstlerin Sabine Dehnel im Interview Marc 9 Peschke Offenheit und Unabgeschlossenheit des Handelns bei Jean-Luc Nancy und Karl Popper 13 Christoph Kammertöns Zur visuellen Ökonomie der Modulgestalt Heijo Hangen in der Galerie Geiger 30 Julia-Constance Dissel Ausstellungsansicht Heijo Hangen, Konstanz 2015

Zwischen Realität und Anspruch Die neue Kunstmesse Frankfurt: Eine verpatzte Chance? 32 Danièle Perrier

KÜNSTLERPOSITIONEN La chambre d‘hôte und Le Guide, David Altmejd

24

Semicircular Mirror Labyrinth II, Jeppe Hein

26

Instant Gratification und Scribble, Michel François 28

Jeppe Hein, Semicircular Mirror Labyrinth II, 2013

Courtesy Johann König, Berlin, 303 Gallery, New York & Galleri Nicolai Wallner, Kopenhagen, Foto: Anders Sune Berg

BÜCHER Bücher im Fokus Kunst Philosophie 34

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Titelbild: Marc Peschke „Maschera“, 2014


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WIRKLICHE UND MÖGLICHE BILDERWELTEN repräsentation – simulation – emulation von Elize Bisanz

E

ine der entscheidenden Schlüssel-

welt mit der mentalen und abstrakten

oben erwähnten Ebenen, die mindestens

qualifikationen zur Bewältigung

Gedankenwelt. Dementsprechend lässt

die Disziplinen Kognitionswissenschaft,

der Probleme unserer Zeit ist die Ak-

sich das Sehen als ein ontologischer Pro-

Neurowissenschaft sowie Bildwissen-

kumulation, Organisation und Verwer-

zess erklären, der durch Bilder der äu-

schaft umfasst. Diese Strategie wäre,

tung von Informationen und Wissen.

ßeren Welt dem Sehenden notwendige

zumindest auf der intentionalen Ebene,

Optimierter Informationskonsum und

Informationen über die wirkliche Welt

keineswegs neu, die Anfänge des aktuel-

Wissenszirkulation gehören zu den

vermittelt sowie konstitutive Elemente

len disziplinübergreifenden Interesses

wichtigsten Funktionen, mit denen die

und Schemata von möglichen Welten

an der visuellen Kommunikation und

kommunikative Leistung von Medien

manifestiert.

am bildhaften Denken lassen sich bis

gemessen wird. Das Medium Bild – so-

Auch die visuelle Tätigkeit, als sinn-

zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

wohl in der Form von künstlicher wie

liche Wahrnehmung, stützt sich auf

zurückverfolgen. Physiologie, Kunstge-

auch

Repräsentation

Repräsentationen. Sie beginnt mit der

schichte, Philosophie, Psychologie so-

– spiegelt die Strukturen unserer Sin-

Perzeption von Signalen – wie Linien,

wie Optik formulierten unterschiedliche

neswahrnehmungen wider und mani-

Farben, Kontraste, Formen, Konturen

Thesen über die strukturelle Beschaf-

festiert die Kodes unseres kulturellen

–, verwandelt diese durch das Zusam-

fenheit der visuellen Wahrnehmung.

Gedächtnisses. Der folgende Aufsatz

menfügen von charakteristischen Zügen

Wichtige Erkenntnisse zum Phänomen

diskutiert interdisziplinär-analytische

in semantische Interpretationen– und

des bildhaften Denkens und des Sehens

Ansätze, die sich auf die besonders aus-

verbindet sie schließlich durch die emo-

konnten vor allem an den disziplinären

geprägte Eigenschaft von Bildern stüt-

tionale Kognition mit dem Kontext der

Schnittstellen gewonnen werden, die

zen, Erfahrungsräume zu gestalten, in

visuellen Erfahrung. Beispiele für diese

unübersehbare Parallelen zu den zeitge-

denen sowohl unmittelbare Abdrücke

dritte Ebene stellen

nössischen bildwissenschaftlichen For-

der Bedeutungswelt als Wirklichkeit wie

wie Kunstwerke dar, denn bei der ersten

auch die Sphäre unserer Vorstellungen

Konfrontation mit der Kunst dominiert

und Phantasie als Möglichkeiten reprä-

primär die emotionale Kognition und

Auch die jüngsten Debatten innerhalb

sentiert werden. Hier sollen vor allem

weniger das logische Urteilen.

der Neurowissenschaft und der Kogniti-

Positionen jüngster kognitionswissen-

Aufgrund der zeicheninhärenten Kom-

onsforschung zeigen ein wachsendes In-

schaftlicher Forschung herangezogen

plexität von Bildsystemen lässt sich die

teresse an Fragen nach der Spezifität des

werden, die die Phänomene Bild und

Frage nach der repräsentationalen Ei-

Bildes und nach der Rolle der Bilder für

Sehen als eine Zusammensetzung von

genart von Bildern nicht aus einer ein-

das Gedächtnis. Es wird argumentiert,

Elementen der Wirklichkeit der Außen-

zigen Wissenschaftsperspektive beant-

dass innere Bilder mehr als die Zusam-

welt und Elementen der simulierten

worten; eine mögliche Annäherung bie-

menstellung vorgegebener Formen in

Möglichkeit erklären.

tet die Analyse des visuellen Prozesses

bedeutungsvollen Einheiten sind, dass

Bilder verbinden die physische Außen-

auf der Grundlage der Analyse der drei

sie nach Bedarf Realitäten simulieren

künstlerischer

komplexe Bilder

schungen aufweisen.

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und sogar mögliche Welten als erfahr-

der Denkperspektiven, denn es kann

mälde spannt ein Wahrnehmungsraster

bare Entitäten entwerfen können. Diese

sowohl als die Verkörperung eines Na-

auf die Leinwandfläche, basierend auf

vorhersagende Eigenschaft der inneren

turgesetzes wie auch eines Denkgesetzes

der sichtbaren Wirklichkeit, während

Bilder, so die These, untermauert den

verstanden werden. Das Bild, wie jedes

ein Kandinsky-Gemälde Strukturen von

modellierenden Charakter von mögli-

kulturelle Medium, ist ein kulturelles

Gedanken festhält und sichtbar macht.

chen Bildern.

Werk, denn der „Lebensprozeß der Kul-

Die mehrfach-reflektierte ästhetische

Welche Art von Repräsentationen sind

tur besteht eben darin, daß sie in der

Ebene beider Richtungen weist auf re-

Bilder, welche Kodierungsmuster haben

Schaffung derartiger Vermittlungen und

elle und mögliche Relationen zwischen

sie und welche Informationen vermit-

Übergänge unerschöpflich ist“ . Das Bild

dem Subjekt und der Welt, zwischen der

teln sie? Ein Blick in die Geschichte der

als Repräsentation wird „zum Vermittler

erfahrbaren Wirklichkeit und der denk-

geisteswissenschaftlichen Definitionen

zwischen Ich und Du, nicht indem es ei-

baren Möglichkeit hin.

des Bildes und des bildhaften Denkens

nen fertigen Gehalt von dem einen auf

Künstliche Bildsysteme, wie digital pro-

zeigt erstaunliche Parallelen zwischen

das andere überträgt, sondern indem

duzierte Bilder, werden dagegen durch

den heutigen und den Theorien um die

es sich an der Tätigkeit des einen die

die technische Logik der eigenen Spra-

Jahrhundertwende des letzten Jahrhun-

des anderen entzündet.“ Als kulturelles

che bestimmt. Auch hier lässt sich eine

derts. So erklärt die Wissenschaft der

Werk kann das Bild als Verkörperung

Tendenz von Virtualität und Simulation

Logik Bilder als verkörperte Repräsen-

und als Zugang zu den Verflechtungen

feststellen. Insbesondere am Beispiel

tationen von sinnlicher Wahrnehmung

zwischen Natur und Kultur verstanden

der in Telepräsenz und über fMRT ver-

und dem Denkprozess. Diese Definition

werden.

mittelten Bildinformationen von pla-

setzt voraus, dass Sehen die Verflech-

netarischen Expeditionen und die der

tung organischer und intellektueller

Aus einer Fülle von Bilddefinitionen soll

Innenwelt des Gehirns lassen sich neue

Funktionen widerspiegelt und dass Bil-

hier auf einer Metaebene argumentiert

Bildschemata erkennen und die fun-

der als Projektionsfläche der visuellen

werden, dass Bilder in zwei Arten von

damentale Funktion von Bildzeichen

Wahrnehmung die Strukturmerkmale

Repräsentationen kategorisiert werden

für die Wahrnehmung unserer Umwelt

des Sehens manifestieren. Somit ver-

können, die die Unterscheidung zwi-

verdeutlichen, allerdings in einer un-

binden sie sinnliche, intellektuelle und

schen Bildern als Wirklichkeit und Bil-

mittelbaren Form, ohne eine reflektier-

repräsentationale Bedeutungssphären.

dern als Möglichkeit verdeutlichen: in

te Distanzierung und ohne mehrfache

Ähnlich

kulturphilosophische

künstliche und künstlerische. Während

Bedeutungskodierung. Im Übrigen sind

Erklärungen des Bildes auf die verbin-

künstlerische Bilder als Repräsentatio-

auch die immer bedeutender werdenden

dende Eigenschaft von Bildern der Na-

nen die Bedingungen und den Prozess

Bilder des Inneren des menschlichen

tur- und Kulturgesetze. Die Frage, ob

der visuellen Wahrnehmung im Kontext

Körpers wie die Hirnbilder eher einfache

Bilder einfache Darstellungen, eine Wie-

einer individuellen medialen Manifes-

Kompositionen durch hochauflösende

dergabe von existenten Welten, von Na-

tation, des Kunstwerks, reflektieren,

berechnende Kameras als die unmittel-

turgesetzen sind oder uns eine symbol-

verkörpern künstliche Bildsysteme, wie

bare Abbildung von Körperinnenwel-

hafte Darstellung von möglichen Wel-

die digitale Programmierung von Bild-

ten. Sowohl die künstlerischen wie auch

ten vorführen, gehört zu den zentralen

konzepten, schematische Besonderhei-

die künstlichen Bildbeispiele zeigen,

Fragen der Wissenschaftsgeschichte. Sie

ten der bildhaften Wahrnehmungs- und

dass sich die lange Geschichte der Suche

resultiert aus dem permanenten Kampf

Darstellungsformen.

nach dem Ort von Bildern – sei es digital

zwischen zwei Positionen: die einer po-

Allerdings lässt sich die Geschichte des

konzeptuelle wie auch motorisch funk-

sitivistisch gesinnten Begründung der

künstlerischen Bildes keineswegs auf

tionale oder ästhetische Bilder – im Zu-

Wissensgeschichte durch Naturgesetze

eine Reflexionsstrategie zurückführen;

sammenhang mit dem Gehirn und dem

gegenüber einer relationalen Lektüre

es besteht keine nennenswerte Über-

Denken klären lässt.

von symbolhaften Kulturgesetzen, zwi-

einstimmung zwischen der Narrations-

Die philosophische Erklärung des Se-

schen dem Bemühen der Strukturierung

struktur eines Renaissance-Bildes und

hens weist auf einen direkten Zusam-

der Wirklichkeit und ihrer Ausdehnung

der eines abstrakten Expressionisten,

menhang zwischen dem Bild, der Vor-

und Überführung in eine simulierte

außer der schlichten, dennoch entschei-

stellung und dem Bewusstsein. Vor-

Möglichkeitssphäre.

denden Intention, die Wahrnehmungs-

stellung wird als ein allgemeines Bild

Das Medium Bild als Repräsentation

strukturen unseres Sehens in Sinnstruk-

verstanden, eine Repräsentation von

manifestiert die Grundstrukturen bei-

turen umzuwandeln. Ein Raphael-Ge-

sinnlichen Wahrnehmungen und Emp-

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zielen


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findungen. Für geisteswissenschaftliche

lich strukturiert sind. Mit dieser Fest-

stets von Interpreten bestimmt werden.

Theorien des Sehens und des Erblickens

stellung werden neue Perspektiven von

Symbolische Referenz wird nicht aus

ist das Bild als Selbstbildnis Schauplatz

Vergleichs- und Zugangsmöglichkeiten

einer spezifischen Eigenschaft des Ge-

der Beziehungen zwischen dem Be-

zwischen Bildern der Wirklichkeit und

hirns oder des Auges hergeleitet, son-

trachter, dem Zeichner, einem Artefakt

Vorstellungsbildern im Möglichkeits-

dern aus einer spezifischen Beziehung

und technischen Gegenständen sowie

modus aufgezeigt, was zur Annahme

zu Objekten. Wenn allerdings Bewusst-

zwischen dem Sehorgan, dem Sehfeld

führt, dass ähnlich wie die äußere Bild-

sein unausweichlich repräsentational

und dem Bildzeichen. Das Bild als das

wahrnehmung auch Vorstellungsbilder

ist, dann darf gefolgert werden, dass

Produkt des kodierten Sehens manifes-

als Ergebnis von rein abstrakten, geisti-

Wahrnehmung,

tiert die Struktur der mentalen Tätig-

gen Denkvorgängen verstanden werden

Bewusstsein sich im permanenten Aus-

keitsfelder, der Forschungsfunktion, der

können. Des Weiteren wird propagiert,

tausch beeinflussen.

Wiedererkennung, der vorausschauen-

dass die visuelle Wahrnehmung und die

Die neuro- und kognitionswissenschaft-

den Selektion und der konzeptuellen

visuelle Vorstellung eng miteinander

liche Annäherung an das Sehen sucht

Anordnung von Informationen. Die Un-

verknüpft seien und eine reziproke Be-

Antworten auf die Fragen nach den

terscheidung zwischen dem Sehen und

einflussung zwischen den Gedächtnis-

konstitutiven Elementen des visuellen

dem Seh-Ereignis hebt den kognitiven

bildern im Gehirn und dem Wahrneh-

Wahrnehmungsprozesses sowie des-

Charakter des Sehphänomens hervor.

mungsmuster der Netzhaut als Organ

sen Funktion im Gesamtprozess des

Sie definiert den Sehvorgang als aus ver-

der visuellen Wahrnehmung bestehe.

menschlichen Bewusstseins. Die seman-

schiedenen Phasen bestehend: von einer

Es herrscht die fundierte Meinung,

tischen Inhalte und das Phänomen der

Sehsensation bis zum bewussten Beob-

dass ohne einen Abgleich der inneren

emotionalen Kognition, die unmittelbar

achten und zum aufmerksamen Blick,

und äußeren Sehschemata eine visuel-

zur Simulation von möglichen Welten

der sowohl wahrnimmt wie auch be-

le Erkenntnis nicht hergeleitet werden

führen, lassen sich allerdings nicht neu-

wahrt, zur Verankerung im Gedächtnis,

kann. Darüber hinaus werden mentale

rowissenschaftlich erfassen. Ein ent-

das konserviert und archiviert.

Simulationen in zwei Unterkategorien

scheidender Grund hierfür liegt in der

Auch für die geisteswissenschaftliche

aufgeteilt: instrumentale und emulative

polyvalenten Wahrnehmungsstruktur,

Annäherung gilt das Verständnis, dass in

Simulationen. Während die erstere die

dass das gleiche Objekt unterschiedliche

der Bildung kultureller Wirklichkeiten

einzelnen simulierten Folgen als eine

Repräsentationsschemata

biologische Dispositionen des Sehens

Aneinanderreihung von Teilen ohne jeg-

schiedlichen Individuen evoziert.

entscheidende Funktionen erfüllen: sie

liches Konzeptualisieren strukturiert,

Das Phänomen des Sehens zeigt sich so-

sichern die Kontinuität unserer Hand-

können Emulationen (Nachbildungen)

mit als ein geeignetes Forschungsfeld für

lungen, die durch einen weiteren Schritt

sowohl die Struktur wie auch den Struk-

das Verstehen der kulturellen Aktivität,

in Gewohnheiten umgewandelt werden.

turierungsprozess nachahmen und ge-

im Sinne der Kommunikation und Pro-

Bilder als das Resultat von kognitiven

stalten; darin werden auch Absichten,

duktion von kulturellen Informationen

Prozessen, so die allgemein akzeptierte

Kontext, Emotionen und Assoziationen,

als Wirklichkeiten und Möglichkeiten,

These, repräsentieren sowohl automati-

die die Simulation lenken, involviert.

sowohl auf individuellen wie auch auf

sierte mechanische, in der Wirklichkeit

Die Theorie der Emulation ermöglicht

kollektiven Wahrnehmungsebenen.

zu beobachtende Handlungsformen wie

eine verlässliche Grundlage für einen er-

auch imaginäre, gedachte, simulierte

kenntnisorientierten Zugang zu Vorstel-

Welten unserer Vorstellungen.

lungsbildern, denn auf Bilder gestützte

Eine interessante Wende zeigt die ak-

mentale Emulationen evozieren Asso-

tuell kontrovers diskutierte These der

ziationen und können dadurch präzise

Emulation, die neue Funktionshori-

Vorhersagen generieren. Das visuelle

zonte für Bilder auf der Schwelle von

Gedächtnis scheint in der Lage zu sein,

Wirklichkeit und Möglichkeit eröffnet.

durch die Simulation die Vergangenheit

In seinem Buch „The Case for Mental

und Zukunft zu verbinden, und die Er-

Imagery“ argumentiert der Psycholo-

gebnisse im Gedächtnisarchiv für den

ge und Neurowissenschaftler Stephen

späteren Gebrauch zu speichern.

Kosslyn, dass bildhafte Vorstellungen so

Dennoch darf nicht unerwähnt bleiben,

wie reale Bilder im Wesentlichen räum-

dass repräsentationale Eigenschaften

Repräsentation

bei

und

unter-

Literatur Merleau-Ponty, M. , Das Auge und der Geist. Philosophische Essays. Hamburg, 2003. Cassirer, E. , Zur Logik der Kulturwissenschaft. Darmstadt, 1961. Kosslyn, Stephen M.; Thompson, W. L.; Ganis, G. The case for mental imagery. New York, 2006. Moulton, S.T. and Kosslyn, S. Imagining predictions: mental imagery as mental emulation. In: Phil. Trans. R. Soc. B 12 May 2009 vol. 364 no. 1521. Bisanz, E. Die Überwindung des Ikonischen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven der Bildwissenschaft. Bielefeld, 2010. Bisanz, E. The Logic of Interdisciplinarity. Charles S. Peirce, The Monist Series. (Hrsg.). Berlin, 2009.

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INTERVIEW


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EINE GROSSE ERZÄHLUNG IN BILDERN Die Künstlerin Sabine Dehnel spricht im Interview mit Marc Peschke über Malerei, Fotografie und Realität 1971 in Ludwigshafen geboren, studierte Dehnel 1993 bis 1999 Bildende Kunst an der Akademie für Bildende Künste in Mainz, danach ein Jahr am Otis College of Fine Arts and Design in Los Angeles. Die vielfach ausgezeichnete Malerin und Fotografin lebt in Berlin und arbeitet an der Schnittstelle von Malerei und Fotografie.

PESCHKE: Lassen Sie uns zuerst über eine ältere Serie spre-

einigen Städten in den Niederlanden fast nur die Turnhallen

chen. „Portrait I-XIII“ aus dem Jahr 2008 zeigt Frauen mit

kennengelernt. Eine Ausstellung in Amsterdam Ende 2007

verschiedenen Kopfbedeckungen. Das Überraschende ist: Sie

war dann der Anlass, eine Sportstätte von damals erneut auf-

offenbaren nicht die Gesichter Ihrer Protagonisten. Warum?

zusuchen. Ich habe die Turnhalle zum ersten Mal visuell wahrgenommen. Die Spielfeldmarkierungen hatten plötzlich etwas

DEHNEL: Die unterschiedlichen Frisuren und Accessoires

von einer großen konkreten Zeichnung – sie erinnerten mich

verweisen auf einen bestimmten Typus von Frau, den der Be-

an Schnittmuster und die Unterlagen von Brettspielen. Ein

trachter zu kennen meint. So können die Frauen ganz viele Ge-

„schräger“ Raum an sich – fast schon ein „Kunstraum“. Fast wie

sichter haben – je nachdem, wer sie anblickt. Portraits unter-

ein auf den Boden projizierter Van Doesburg oder Mondrian.

liegen jeher bestimmten Darstellungsnormen – meistens dem Dreiviertelprofil. Ich nehme das auf, führe es gleichzeitig doch ad absurdum und zeige damit, dass Individualität und Typus durch Normen kaum zu trennen sind. PESCHKE: Haben Sie auch für diese Serie eine malerische Vorlage benutzt? DEHNEL: Ja klar! Die Fotografie würde ohne die Malerei nicht existieren. Es geht mir ja um das Überschreiben, um das Übermalen eines Momentes. Was ich in meinem ständigen Hin und Her zwischen den Medien praktiziere, weist Parallelen zum Prozess des Erinnerns auf. Gemeint ist der Umgang mit eigenen Erlebnissen und daraus resultierenden autobiografischen Bildern, die uns immer wieder begleiten und schließlich zu einem ganz persönlichen Bildarchiv werden.

Birte III (Serie Playground). 2009. C-Print/Diasec. 50 x 66 cm © Sabine Dehnel, VG Bild Kunst, Bonn

PESCHKE: Es gibt eine weitere Fotoserie, bei der Sie eine Frau

PESCHKE: Bei dieser Serie ist eine Frau zu sehen, die zwi-

in einer Turnhalle zeigen. Genauer gesagt: Sie zeigen Aus-

schen gespannten Gymnastikbändern Sport treibt. Es steckt

schnitte von Turnhallenböden, die im Studio nachgebaut sind.

etwas Bedrohliches darin – vielleicht ist es der labyrinthische

Was interessiert Sie an diesen Orten?

Effekt. Ist diese Sportlerin gefangen? Sie scheint stets an neue Grenzen zu stoßen.

DEHNEL: Nachdem sich meine Protagonisten lange in kargen Winterwäldern befanden, war ich auf der Suche nach einem

DEHNEL: Durch den 3-fachen Überschreibungsprozess der

Innenraum, der öffentlich ist und somit von vielen Menschen

Bilder haben sich die Linien plötzlich vom Hallenboden gelöst

erlebt wird. Die Idee kam durch meine eigene Biografie. Als Ju-

und wurden für die Fotoinszenierung im Atelier quer durch

gendliche bespielte ich mit unterschiedlichen Volleyballmann-

den Raum gespannt. Das Agieren der Frauen lässt sich nicht

schaften unzählige Turnhallen. Nach dem Abitur habe ich ein

eindeutig zuordnen. Es ist eine Mischung aus rhythmischen

Jahr für eine Mannschaft in Amsterdam gespielt und dabei von

Bewegungen, die ein ausgelassenes Hochgefühl hervorrufen

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CRITICA–ZPK I/ 2014

können, und auch zugleich ein aggressives Verhalten. Eine Art

DEHNEL: Weniger das auf den ersten Blick Sichtbare als das,

Befreiungsschlag.

was das Wesen Mensch ausmacht, ist für mich immer wieder

PESCHKE: Typisch für diese Arbeit ist: Sie hat sich aus einer

geheimnisvoll anziehend: die Konfrontation mit der eigenen Existenz und die Reflexion aus einer sehr subjektiven Perspek-

Malerei ins Fotografische entwickelt. Bitte erläutern Sie doch

tive heraus. Durch die Fragmentierung lenke ich den Blick des

diesen Prozess.

Betrachters auf die mir wichtigen Details.

DEHNEL: Eine bildliche Vorlage wird von einem Medium in

PESCHKE: Ihre Fotoserie „Dazwischen“ zeigt eine junge Frau

ein anderes Medium übertragen: Der Weg der Umwandlung

mit gesenktem Blick – inmitten von sieben verschiedenen,

führt vom Trivialfoto und der daraus resultierenden Fotocol-

selbst gebauten Kulissen. Mal in einem Wald, dann in einer

lage über die Malerei zum nachgebauten „lebendigen Bild“

Blumenwiese, dann zwischen bunten Kunststoffbändern –

einer temporären Installation, ehe er schließlich in einem C-

oder zwischen einem Schwarm von Möwen.

Print endet. Während die Malerei in das Medium Fotografie zurückgeführt wird, aus dem sie ursprünglich hervorgegangen

DEHNEL: Ja, die junge Frau ist gefangen, fast schon einge-

ist, wird das Foto wie eine Matrix überschrieben, umformuliert

klemmt. Sowohl körperlich als auch gedanklich befindet sie

und neu besetzt.

sich in einem Zwischenbereich.

PESCHKE: Aus einer Fotografie entsteht bei Ihnen Malerei

PESCHKE: „Die Künstlerin kann nicht als Regisseurin außen

– und daraus, vielleicht nach ein, zwei Jahren, wird eine auf-

vor bleiben, sondern gerät in die Rolle einer Täterin“, war ein-

wändige Foto-Inszenierung. Warum bedienen Sie sich immer

mal in einem Text von Sigrun Hellmich über Sie zu lesen. Wie

wieder aus Ihrem eigenen Bildrepertoire?

eng ist Ihr Werk mit Ihrer Autobiografie verknüpft?

DEHNEL: Die Bilder werden von mir immer wieder neu und

DEHNEL: Ich bin immer wieder mit den eigenen Sehnsüchten

weiter verarbeitet. Ähnlich wie Bilder im Kopf – Erinnerungen

und Ängsten konfrontiert. Etwas von diesen Momenten ist na-

an Momente, die nie authentisch und stets im Wandel begrif-

türlich in der eigenen Arbeit zu finden. Es geht mir um eine

fen sind. Denn Bilder und Ereignisse, die an die Oberfläche,

neue Bebilderung – das Überschreiben von Erinnerungen. Ich

und also ins Bewusstsein gelangen, verändern sich je nach

finde, es ist ein schöner und erlösender Gedanke, dass ein Bild

Gefühlslage in Nuancen. Letztendlich überlappen biogra-

im Kopf einen neuen Rahmen bekommen kann und somit an-

fische Ereignisse und Fiktionen in unserem Kopf zu einer

ders in die Geschichte eingebettet wird.

neuen Realität. Es geht mir dabei um die Sensibilisierung der Wahrnehmung von Bildkonstruktionen, und damit um das

PESCHKE: Kommen wir zu Ihren neueren Arbeiten. Im

Wesen von Erinnerung. Hierbei gibt es einen Bilderstamm, der

vergangenen Jahr zeigten Sie im Museum Wiesbaden eine

einerseits durch Motive erweitert wird – und in dem anderer-

Ausstellung mit Ihrer Serie „Mona“. Auch diese operiert an den

seits Motive verblassen.

Grenzen – mit der Grenze von „Realität“ und „Möglichkeit“. Auch hier verschmelzen Malerei, Fotografie und Installation.

PESCHKE: In Ihrer inszenierten Fotografie kommen Malerei,

Auch hier verwischen Sie die Übergänge von einem Medium

Skulptur und Bühnenbildnerei zusammen. Sie bauen ganze

ins andere. Auch hier verblüffen Sie den Betrachter im

Kulissen für Ihre Foto-Inszenierungen, schminken Ihre Pro-

Grenzbereich zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Wie sind die

tagonisten – Sie lieben das Handwerkliche in der Kunst, oder?

neuen Bilder der Frauen mit Amuletten weiblicher „Ikonen“

DEHNEL: Vielleicht ist es eine Zusammenarbeit zwischen Intellekt und Lust. Das direkte Eingreifen mit Hand, Pinsel und

DEHNEL: Den Wunsch, berühmte Frauenpersönlichkeiten

anderen Utensilien ist genauso wichtig wie die konzeptionelle

ins Bild zu setzen, hatte ich schon lange. Mit dem Portrait auf

Weiterentwicklung. Diese verschiedenen Techniken und Ma-

dem Brustbein habe ich einen Platz gefunden, der die Frauen

terialien stellen für mich Bearbeitungsmöglichkeiten dar, um

im doppelten Sinne ehrt. Früher wurde hier nahe am Herzen

meinen Objekten, Utensilien und Kleidungsstücken die pas-

der Rosenkranz getragen oder das Amulett mit den Liebsten.

sende Textur zu geben.

Das Leben einer Ikone manifestiert sich zu großen Teilen

PESCHKE: Der Mensch ist immer Thema bei Ihnen, wenngleich oft nur als Fragment, als Anschnitt im Bild.

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entstanden?

erst im Nachhinein durch die Bilder und Geschichten, die bewahrt und kreiert werden und etwa im Netz weiter existieren. Hier wird ein Leben erneut umgeschrieben. Die Kleider und


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Amulette entspringen meinen persönlichen Assoziationen in

nicht hinwegsehen.

Auseinandersetzung mit meiner Erinnerung an die Frauen und der erneuten Beschäftigung mit deren Lebensgeschichte.

PESCHKE: Eine ganz neue Arbeit trägt den Namen „Linda“. Sie stellt einen Schwan dar, den Sie aus Nylonstrumpfhosen

PESCHKE: Kommen wir noch einmal auf den Begriff der

gefertigt haben. Auch hier verschiebt sich die Realität des

„Realität“ zu sprechen. Er scheint mir – vor allem in der

Stofflichen hin zur Imagination. Um was geht es bei der Arbeit?

Fotografie – ein wenig fade geworden. Kann Fotografie, die Realität spiegelt, eigentlich Kunst sein? Benutzen Sie ihre verschlungenen Transformationswege, Ihre Liebe zur Imagination auch, um Realität zu verunklären? DEHNEL: Realität ist keine objektive Größe. Sie ist immer eine Interpretation von Jemandem. Und selbst diese eigene Realität wird umgeschrieben, teilweise ersetzt oder gar ausgelöscht. Spannend wird es für mich, wenn Persönlichkeit in die Kunst einfließt. Die Hand und nicht nur die Kamera. Eine Kamera verkürzt die Realität ja nach den Vorgaben, die der Technik immanent sind. Mir geht es um einen Impuls zum Wundern. Etwas fällt ins Auge. Die andersartige Setzung reisst uns aus den Sehgewohnheiten heraus und gibt uns die Möglichkeit zur Reflexion der Realität. PESCHKE: Die Verschiebungstechniken von Realität zur Imagination sind in der Kunstgeschichte nicht neu. Vor allem die surrealistische Fotografie sah in der Aufgabe realistischer Bildkonzepte auch eine Möglichkeit, bekannte Bildwelten hinter sich zu lassen. Geht es in Ihrer Arbeit nicht auch stets darum: neue Bildwelten zu entwickeln? DEHNEL: Ja, letztendlich arbeite ich an einer großen

Linda, 2013, Nylonstrumpfhosen, Draht, Motor, Tisch, Spiegel, MP3 Player, div. Materialien, 145 x 97 x 97 cm© Sabine Dehnel, VG Bild Kunst, Bonn

Erzählung mit Bildern. Eine Bildwelt, die nach und nach ergänzt und erweitert wird. Eine eigenartige, spezielle Sicht, die

DEHNEL: Es ist eine Art Gedenkspieluhr. Ein weibliches

ich im Austausch mit meiner Umwelt entwickele.

Porträt im übertragenen Sinne. Ich habe das Federkleid ei-

PESCHKE: In der Serie „Mona“ trifft die Wirklichkeit (die Amulette mit Bildern von etwa Romy Schneider oder Madonna) sehr unvermittelt auf Fiktives oder Imaginatives, nämlich die illusionistisch bemalten, ästhetisierten Körper der anonymen, nur fragmentarisch gezeigten Modelle. Verstehen Sie das als unvermittelten Bruch – und ist dieser Bruch der Serie immanent? DEHNEL: Man kann es als Bruch bezeichnen. Dieser Bruch ist der Serie immanent. Beim Betrachten von Fotografie funktioniert unser Gehirn anders. Dieser Bruch kann überhaupt

nes schwarzen Schwans aus Nylonstrumpfhosen einer verstorbenen Dame gefertigt. Mir kommen viele Assoziationen: Eher nicht die Imagination, sondern die Kontextverschiebung, wodurch ein neuer Blick auf ein reales Geschehen entsteht. Haut und Materialität. Die Anmutung der Oberflächen. Die Nylonstrumpfhosen. Das Beinkleid der Damen. Eine zweite, hauchdünne Haut, die zum Federkleid des Schwans wird. Ein Tier, dem unterschiedliche menschliche Eigenarten angedichtet werden. Symbolgeladen mit unterschiedlichen Bildern. Für mich der Trauerschwan. Und dieser dreht sich zum Lied „Ich liebe das Leben“ von Vicky Leandros.

nur hier als Bruch eingesetzt und wahrgenommen werden. In der Malerei wäre es ein heftiger Pinselstrich im Kontrast zu einer realistisch ausgearbeiteten Fläche. Innerhalb des Mediums Malerei ist alles Farbe auf Leinwand, egal wie groß der Illusionscharakter ist. Wir können über die Oberfläche

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OFFENHEIT UND UNABGESCHLOSSENHEIT DES HANDELNS BEI JEAN-LUC NANCY UND KARL POPPER von Christoph Kammertöns

V

1 Einleitung

Offenheit und Unabgeschlossenheit des Handelns werden

orliegend sollen die Ausrichtung von Handeln auf Offen- sowohl von Jean-Luc Nancy als auch zuvor von Karl Popper heit hin und deren in prinzipieller Unabgeschlossenheit vehement vertreten. Der fruchtbare Abgleich beider philoso-

liegende Bedingtheit anhand der Ansätze Jean-Luc Nancys phischer Ansätze speist sich dabei aus der tendentiell unterund Karl Poppers untersucht werden. ‚Offenheit’ verstehe ich schiedlichen Perspektive: als logische Folgekonstruktion der Annahme von Unabge- Nancy denkt m. E. sozialphilosophisch von der ontologischen schlossenheit bzw. Unabschließbarkeit, die für beide Autoren Verfasstheit bzw. Eingebundenheit des Menschen einerseits, in ihrem je spezifischen Verständnis wesentlich ist (wem Un- andererseits von seiner individuellen Verfasstheit aus (sinnabschließbarkeit bewusst ist, kann sein Handeln logischerwei- gemäß in der Fragestellung verdichtet: ‚Wie prinzipiell offen se nur auf Offenheit hin anlegen, sie ist dann sozusagen eine ist der Mensch/der Einzelne in seinem Denken und Handeln?’) Operationsdisposition von Handeln).

und begründet die Notwendigkeit v. a. formal-logisch über die

Bezüglich seiner Offenheit ist Handeln vor allem als soziales zwangsläufig fehlende Abgeschlossenheit auf der Basis eines Handeln eine Herausforderung. »Soziales Handeln« ist nach nicht existierenden Beginns und von Inkommensurabilität. Max Weber »seinem von dem oder den Handelnden gemein- Popper dagegen denkt sozialphilosophisch von der Warte ten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen […] und dar- der sozialen Institutionen aus (sinngemäß in der Fragestelan in seinem Ablauf orientiert« (Weber 1980, 1). Damit ist eine lung verdichtet: ‚Welche Offenheit des Planens und Handelns Dimension der Zweckhaftigkeit angesprochen, verbunden mit braucht die Sicherung demokratischer Institutionen?’) und »Entscheidungen, Absichten, Plänen, Zielen« und »Willensak- begründet die Notwendigkeit m.E. einerseits formal-logisch – ten« (Regenbogen/Meyer 1998, 279), Dimensionen, die philo- dabei anders gelagert als Nancy – über die Korrelation von sophisch häufig unter ethischen Vorzeichen hinsichtlich einer Nichtbeurteilbarkeit des menschlichen Wissenszuwachses Mittel-Zweck-Relation thematisiert werden (vgl. ebd. u. ebd. , und Nichtbeurteilbarkeit einer zukünftigen geschichtlichen 753).

Entwicklung, vor allem jedoch ethisch.

Diese Zweckhaftigkeit steht im Sinne Jürgen Habermas’ in den Der Sinn der Konfrontation von Nancy und Popper soll also Demokratien des 20. Jahrhunderts nicht mehr unter einem darin liegen, eine ähnlich gelagerte Schlussfolgerung einertotalitären Vorbehalt, sondern »gesellschaftliches Handeln« seits aus einer Mikro- (Individuum) wie Makroebene (der kann im Sinne »kommunikativen Handelns« vom »verdingli- Mensch), andererseits aus einer Mesoebene1 (Institutionen als chenden Bann instrumenteller Rationalität« befreit sein und Funktionen der Gesellschaft) herleiten zu können. zu einem »spannungsvollen Gegeneinander von strategischer und kommunikativer Rationalität« werden. Emanzipation Verdichtet ergeben sich für die Untersuchung zwei »wird jetzt vor dem Hintergrund einer herrschaftskritischen Thesen: Rekonstruktion kommunikationsverhindernder Sozialfor- – Die sozialtechnische Ausrichtung Poppers auf Institutionen mationen, als aufklärerisches Programm der Optimierung und seine logisch und ethisch fundierte Kritik am Historizisder gesellschaftlichen Verständigungsverhältnisse bestimmt« mus können im Sinne Nancys als prinzipielle Offenheit und (Kersting 1995, S. 58f.).

Unabgeschlossenheit des Handelns beim einzelnen Menschen

Das Interesse der Fragestellung dieser Untersuchung rührt von der situativen Widersprüchlichkeit o. g. Dimensionen der 1  Die soziologisch nicht korrekte Verwendung der Begriffe Mikro-, Meso- und Makroebene wird hier bewusst in Kauf genommen, um das

Zweckhaftigkeit und der Offenheit von (sozialem) Handeln unterschiedliche und auch widersprüchlich weite ‚Ausgreifen’ (mikro vs. makro) der Konzepte bei Nancy und Popper begrifflich einfach zu her, die kommunikativ ausbalanciert werden müssen. illustrieren.

13


CRITICA–ZPK I/ 2015

wie auch beim Menschen an sich bestätigt werden.

hier Heideggers Gedanke des ‚Mitseins’ angesprochen als das

– Die Art der Offenheit und Unabgeschlossenheit lässt sich in-

»›existenziale Umwillen Anderer‹« (zit. nach Nancy 2004, 127),

des für beide Autoren graduell differenzieren.

womit gegenseitige »Öffnung«, die »Ko-Inzidenz der Öffnungen« und das Offensein »für/durch die Pluralität der singulä-

Kritik und Präzisierung dieser Thesen sollen sich aus der Dar-

ren Öffnungen« verbunden sind (ebd.).

stellung beider Ansätze und ihrem Abgleich hinsichtlich der

Auch in der wechselbezüglichen »Öffnung« liegt bereits die

philosophischen Problematisierung von ‚Offenheit und Unab-

Betonung des unabschließbar Prozessualen, des generell Of-

geschlossenheit’ ergeben.

fenen menschlichen Handelns – damit des »uneingeschränk-

Bei Popper beziehe ich mich insbesondere auf Die offene Ge-

ten Modus der Öffnung und der Aktivität« (s. o.). Heidegger

sellschaft und ihre Feinde (mit vorrangigem Bezug auf seine

versteht den Menschen ohnehin über sein ‚In-der-Welt-Sein‘

Platonkritik), bei Nancy berücksichtige ich unterschiedliche

(dessen Teil neben dem ‚Zeug‘ der Welt das genannte Mitsein

Veröffentlichungen, aus denen sich wesentliche Aspekte sei-

ist) als ‚weltoffen‘ innerhalb der Herausforderung des freiheit-

nes Verständnisses von Offenheit und Unabgeschlossenheit

begrenzenden ‚Geworfenseins‘ (begrenzend wirkt sich zudem

isolieren lassen.

nach Jean-Paul Sartre überhaupt der ‚Andere‘ bzw. der ‚Blick

2

des Anderen‘ aus). 2  Nancys philosophischer Ansatz

Vorausgesetzt ist damit in Bezug auf das Handeln auch bereits

Nancy betont in Anlehnung an Descartes und Leibniz den

der o. g. Aspekt des sozialen Handelns, den Nancy durch Hei-

»Status des Möglichen« gegenüber dem »Status des Wirkli-

degger stützt: »Das Sein kann nur als Mit-ein-ander-seiend

chen« im Sinne eines »uneingeschränkten Modus der Öffnung

sein, wobei es im Mit und als das Mit dieser singulär-pluralen

und der Aktivität«. Perspektivisch ergibt sich die Betonung

Ko-Existenz zirkuliert« (21, Hervorh. i. Orig.; zum Aspekt der

des »Herkommenden« gegenüber dem Hergekommenen. Ein

‚Zirkulation‘ s. u.). Die »paradoxe ›erste Person Plural‹«, die

Denken im Zeichen einer »monadischen pluralen Singulari-

»den Sinn der Welt ausmacht«, bringt vielfältige sinnstiften-

tät« lässt das »Geschöpf« zum »potentiellen Schöpfer« (Nancy

de »Verräumlichung und Verflechtung« und »Übergänge der

2003, 70ff.) werden.

Präsenz« mit sich – mit der Folge einer »Einzigartigkeit und

Meines Erachtens lässt sich hier Edmund Husserls Betonung

Einheit in der Vielheit« (vgl. ebd. , 23). Die »Frage des ›Mit‹«

der Noesis, des Erkenntnisakts, gegenüber dem Noema, dem

überführt Nancy in eine Frage von Identitätsgewinnung bzw.

im Erkenntnisakt Gegebenen, auffinden: ‹Herkommend› ist

-zuschreibung: »niemals Identität, immer Identifizierungen«

prozessual das, was ich als Akt der Erkenntnis und in damit

(105). Das Absetzen der (immer prozessualen) Identifizierung

verbundener ‹Verarbeitung› (man könnte hier auf Jean Pia-

bzw. gar der vervielfältigenden entsprechenden Pluralbildung

gets Modell von Invention und Konstruktion im Zeichen einer

gegen einen Begriff statischer Identität verweist wiederum

durch Assimilation und Akkommodation geprägten Adapta-

auf Offenheit durch Unabschließbarkeit.4

tion in kognitiven Strukturen bzw. Schemata zurückgreifen)

Hinter diesem Gedanken steht zweifellos eine spezifische

schöpferisch – und nicht lediglich abbildend – selbstständig

(von Popper gänzlich unterschiedene) Hegel-Rezeption, die

leiste. Mit Martin Heidegger liegt hier gegenüber der (Um)

sich in Nancys Hegel-Aufsätzen nachvollziehen lässt: Die zi-

Welt ein ‚hantierender Umgang‘ vor, der vom aktiven Bezug

tierten »Übergänge« ergeben sich aus dem Zentralbegriff Sinn

auf das ‚Zeug’ wie auch auf die ‚Anderen’ geprägt ist.

und dessen Doppelbedeutung als Sinnesorgan und Bedeu-

3

Der Einzelne steht immer im Bezug des Plurals zu den Ande-

tung: »Der Sinn des Sinns liegt daher im Übergang von einer

ren, ohne den er nicht zu denken ist, weshalb er – in Anlehnung

dieser Bedeutungen zur anderen« (Nancy 2011, 205, Hervorh.

an Hannah Arendts ‚menschliche Pluralität’ – ‚singulär plural’

i. Orig.). Das »Element des Sinns« ist die »effektive Gleichheit

ist in der »Totalität des Seienden«, die dazu herausfordert und

konkreter Singularitäten – als absolute Gleichheit des Abso-

ermöglicht, »wir zu sagen für alles Seiende, das heißt für jeden

luten […]«. Es ist dann das »Begreifen« eine »Bewegung« der

Seienden, für je alle Seienden einzeln, jedes Mal im Singular

Affirmation des »konkret Singulären […] in der konkreten Be-

ihres wesensmäßigen Plurals« (Nancy 2004, 21). Zugleich ist

ziehung der Trennung« und in einer »Einzigartigkeit«, die eine

2  Nancy und Popper werden in deutschen Übersetzungen zitiert. In Einzelfällen wird auf mehrdeutige Bezüge zum originalsprachlichen Wortlaut hingewiesen. Generell wird die ggf. zitierend vorgenommene grammatikalische Einrichtung auf den neuen Satzzusammenhang nur [kenntlich] gemacht, wenn es sich um ergänzte Buchstaben handelt. 3  Nicht-zitierendes Aufrufen französischer Philosophie be-

zieht sich hier und folgend auf Bedorf/Röttgers 2009.

14

der »Begierde nach Anerkennung in einem anderen, in allen anderen ist« (226).5 Diese Bewegung von sinnhafter Beziehung 4  Thomas Bedorf pointiert diesen Umstand als »Unmöglichkeit der Sistierung der Identität« (Bedorf 2010, 117). 5  Zum philosophisch, sozial und psychologisch sehr vielfältigen Gegenstand der »Anerkennung« im Zusammenhang des »Anderen« bzw. im Zusammenhang von »Alterität« vgl. Bedorf 2010.


CRITICA–ZPK I/ 2015

in der Trennung und Trennung durch die Beziehung impliziert

zip und ohne Zweck«, mit der Folge einer »extremen Unbe-

bereits den unten eingeführten zirkulären Sinn.

ständigkeit und Veränderlichkeit« als »conditio humana«. Hier

Nancy leitet eine prinzipielle Offenheit auf Basis von Unab-

mag im Hintergrund auch Derridas Begriff der ‚différance’

schließbarkeit aus der Herkunft der Philosophie ab, die »von

wirksam sein, der nur eine Abfolge von Unterschieden ohne

sich aus« beginne bzw. eine »selbst-erzeugende Technik ih-

beschließende Ganzheit oder Einheit kennt, damit keine ge-

res Namens, ihres Diskurses und ihrer Disziplin« sei (Nancy

wesene oder erreichbare Beständigkeit.7

2003, 91): »Der Entzug […] des Anfangs ist Teil des Selbstan-

Gegenüber der Annahme einer ursprünglich »beständigen

fangs« (97). Hinsichtlich einer Geschichtlichkeit ergibt sich die

›Natur‹« ist somit die »Denaturierung« die Bedingung von

Annahme von »Nicht-Anfang« und »Nicht-Vollendung«, somit

»Menschheit« bzw. »Menschwerdung« (Nancy 2003, 108). Die

keine Auflösung im Resultat, sondern eher die Gleichung von

Behauptung einer Produktion von Zweck stärkt wiederum die

Prozess und Resultat, womit ein »Endresultat« unmöglich

aktive, schöpferische Rolle des Menschen; sie lässt sich auf

wird (93). Philosophisch folgt gegenüber Schöpfung und Kon-

Heidegger zurückführen, insofern die Zweckhaftigkeit eines

struktion die »Dekonstruktion«, ein »Auseinanderfügen« des

‚Um-zu‘ mit einer Erfahrung von Mangel bzw. des ‚Nicht-Zu-

Gewordenen mit der Wirkung, die »Tradition zu erschüttern

handenseins‘ von ‚Zeug‘ verbunden ist, die wiederum als ak-

(nicht zu zerstören)« (101). Hier steht offenbar Jacques Derri-

tive Leistung zu werten ist. Generell erscheint der Mensch als

das Absetzung der ‚dé-construction’ im Sinne einer ‚dé-sédi-

‚verstehender‘, als Gestalter in einem Dasein des ‚Sein-Kön-

mentation’ gegenüber der ‚démolition’ Pate (vgl. auch ebd. , 62).

nens‘ (womit sich wiederum die zitierte Betonung des ‚Mögli-

Die Philosophie als »Gemeinstätte« der »Inkommensurabili-

chen‘ gegenüber jener des ‚Wirklichen‘ stützen lässt).

tät« artikuliert eine Metaphysik im Sinne der »Inkommensu-

Die Grundannahme von Offenheit in obigem Sinne zieht sich

rabilität selbst des Seins an sich« und im Sinne der »anarchi-

durch die Publikationen Nancys: Folgerichtig lässt sich etwa

schen […] und atelischen Prinzipien und Zwecke« (105). Mit

die politisch orientierte These ableiten: »Ein Volk ist immer

dieser Herkunfts- und Ziellosigkeit hängt der ‚zirkuläre Sinn’

seine eigene Erfindung« (Nancy 2003, 123) oder die historisch

im doppelten Sinne des französischen Originals »sens [Sinn/

orientierte Frage: »Ist es möglich, eine Geschichte zu machen

Richtung] de la circulation [bildlich auch: des (Straßen)ver-

[…] ausgehend von ihrer Nicht-Gründung?« (Nancy 2003,

kehrs]« zusammen: Sinn gibt es nur in seiner »Zirkulation […]

97f.).

6

gleichzeitig in alle Richtungen, durch die Präsenz in die Präsenz, in alle Richtungen aller offenen Raum-Zeiten« (Nancy

Anschließen lässt sich ebenso die (wenigstens auch metapho-

2004, 21).

rische) Selbstreflexion Nancys als Transplantatempfänger:

Der Sinn bezieht sich dabei auf das Menschsein, da »[…] wir

»Von Anfang an ist mein Über- und Weiterleben in einen kom-

selbst der Sinn sind […] ohne Rückhalt, unendlich, ohne einen

plexen, von Fremden und Fremdartigem gebildeten Prozeß

anderen Sinn als ›uns‹«. Zugleich ist der Sinn »seine eigene

verwickelt.« Damit verbunden ist für Nancy der Zweifel am

Kommunikation, oder seine eigene Zirkulation« (19). In einer

»allgemeinen Programm« einer »Beherrschung und Aneig-

‚totalen’ (Richtungs)zirkulation kann es logischerweise keinen

nung der Natur« und der Zusammenhang einer lebensverlän-

Anfang und kein Ende geben, ebenso muss das Entstehen oder

gernden Medizintechnik mit einer »End- und Ziellosigkeit«,

Vorliegen von Zweck bzw. Zweckhaftigkeit, in alle Richtungen

dem »Fehlen von Ende und Zweck«, das gerade durch das

gedacht, paradox ausfallen. Die Unmöglichkeit einer »Vollen-

medizinische Aufschieben des Endes deutlich würde (Nancy

dung« ergibt sich also auch aus der Annahme einer »Inkom-

2000, 21). In diesen Zusammenhang ist auch die produktions-,

mensurabilität« in Bezug auf einen »Zweck« (vgl. Nancy 2003,

äquivalenzorientierte und katastrophenanfällige Ökonomie

64).

einzuordnen, mit ihrer »unablässigen Hervorbringung neuer Bedingungen, Normen und Zwänge des Lebens« (Nancy 2013,

Die »Produktion der Zwecke« ist »eigenes Prinzip« und »eige-

10).

ner Zweck« des Menschlichen, zugleich paradox »ohne Prin-

Die Offenheit ist in diesen Exemplifizierungen nicht nur Möglichkeit, sondern vor allem – durchaus ambivalente – Her-

6  Im Sich-Verfügbarmachen der Hegel‘schen Gedanken und ihrer formulierenden Verarbeitung lässt Nancy m. E. stärker als in anderen Publikationen eine auch sprachliche Anverwandlung erkennen, die vielleicht die Gefahr einer (durch das Prisma der französischen HegelRezeption lediglich gebrochenen) Hegel-Tautologisierung birgt (diese Überlegung trägt allerdings nicht dem hier nicht überblickten Anteil des Übersetzers an dieser Wirkung Rechnung). Sehr wohl kommentierend ist allerdings die Absetzung Hegels von dem Vorwurf einer »inhumanen Mechanik des Absoluten« (Nancy 2011, 226).

7  Dem ‚Unterschied’ wendet Nancy sich explizit und mit reichen Begriffsassoziationen etwa am Beispiel des »Körpers« zu: »Es kann nicht nur einen einzigen Körper geben, und der Körper trägt den Unterschied. Die Körper sind angeordnete, gegeneinander gespannte Kräfte. Das ›Gegen‹ (im Gegensatz, als Begegnung, ›entgegen allem …‹) ist die wichtigste Kategorie des Körpers. Das heißt das Spiel der Unterschiede, Gegensätze, Widerstände, Erfassungen, Penetrationen, Abstoßungen, Dichten, Gewichte und Maße« (Nancy 2010, 13).

15


CRITICA–ZPK I/ 2015

ausforderung: »Was uns widerfährt, ist eine Erschöpfung des

Kapitel 4 und 5), das wesentlich frühere Plädoyer Poppers für

Denkens des Einen und einer einzigen und einzigartigen Be-

eine ‚offene Gesellschaft’.

stimmung der Welt: Es erschöpft sich in einer einzigartigen

In Die offene Gesellschaft und ihre Feinde plädiert Popper für die

Abwesenheit von Bestimmung […]« (Nancy 2007, 9). Dieser

prinzipielle Offenheit und Unabgeschlossenheit von Handeln

Abwesenheit von Bestimmung steht direkt die gegenwärtig vi-

in historischer Perspektive, insofern eine Stückwerk-Sozi-

rulente Sinnsuche (vgl. Nancy 2004, 19ff.) gegenüber, die sich

altechnik, eine »Sozialtechnik der Einzelprobleme« auf der

zudem auf drängende politische und ethische Fragen beziehen

Basis von Falsifikation nicht auf eine Abgeschlossenheit zielt,

muss (etwa auf die Kriege der 1990er Jahre, für die »Sarajevo der

sondern auf die andauernde Offenheit für demokratische Kri-

Martyriums-Name, das heißt der Zeugnis-Name sein wird«), dies vor

tik bzw. Reformen (die kein beschließendes Resultat kennen

dem Hintergrund einer »Welt, die an der Welt und am Sinn der Welt

können) (vgl. Popper 1975, 213ff.). In Abgrenzung dazu warnt

krankt« (Nancy 2004, 10f. , Hervorh. i. Orig.).

Popper vor den totalitären Folgen einer holistischen bzw. uto-

In Anlehnung an Heidegger ergibt sich für Nancy gewisserma-

pischen, historizistisch auf Platon bezogenen Sozialtechnik:

ßen eine Forderung an die Gesellschaft, die freilich nicht pro-

Im Gegensatz zur unerlässlichen Kompromissbildung im

grammatisch auf ein konkretes Handeln gerichtet sein kann:

Rahmen demokratischer Institutionen (vgl. 216) verlange »ein

»Das Mit, seine irreduzible Struktur der Nähe und des Abstands, seine

utopischer Versuch der Verwirklichung eines idealen Staates

irreduzible Spannung, die es zwischen dem Einen und dem Anderen er-

auf Grund eines Entwurfes der Gesellschaftsordnung als gan-

zeugt, steht uns erneut bevor und muss gedacht werden: Denn nur mit

zer eine streng zentralisierte Herrschaft einiger weniger, und

ergibt Sinn« (12, Hervorh. i. Orig.).

er führt daher aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Dikta-

Sinn ist also, wie zuvor bereits ausgeführt, ein sozial bezo-

tur« (217), die obendrein zwangsläufig ineffizient sein muss.

gener Sinn, der sich – implizit durch die Hinweise auf politi-

Ausgangspunkt Poppers (und bedingt verbindendes Element

sche bzw. gesellschaftliche Problemzustände, z. B. Kriege und

mit Nancy, s. u.) ist ein spezifisches Kant-Verständnis. Fast po-

Nichtbeherrschung der Atomkraft, nahegelegt – auf ein Han-

lemisch betont Popper, ‚welchen Kant’ er meint (den Aufklä-

deln wird richten müssen (das durch Nancys Prisma von Pa-

rer) und welchen nicht (den ‚Idealisten’): In der Gedächtnisrede

radoxien gleichwohl immer nur verschleiert erscheinen kann).

zu Kants 150. Todestag hebt Popper Kant als »letzte[n] große[n] Vorkämpfer« der Aufklärung hervor (10). Den »Deutschen

Nancys zentrale Aspekte der Offenheit lauten zusam-

Idealismus« im Zeichen Fichtes, Schellings und insbesondere

mengefasst:

Hegels beurteilt er als jene Schule, »die die Aufklärung ver-

– Conditio humana: Singuläre Pluralität, Denaturierung, sich

nichtete« (ebd.) und Kant in tückisch anbiedernder Weise ver-

selbst zirkulärer Sinn sein, mit der Folge grundsätzlicher Un-

einnahmte (vgl. ebd.).

beständigkeit und Veränderlichkeit.

Als Zentrum von Kants Philosophieren zitiert Popper den

– Abwesenheit von Bestimmung, auch von geschichtlicher Be-

Kernsatz der Aufklärung: »Sapere aude! Habe Mut, dich dei-

stimmung (Erschöpfung des Denkens des Einen und einer ein-

nes eigenen Verstandes zu bedienen!« (zit. nach ebd. , 11); ein

zigen und einzigartigen Bestimmung der Welt) vor dem Hin-

Zentrum, das als »Lehre von der Autonomie« wirksam werden

tergrund unablässiger Hervorbringung neuer Bedingungen,

kann in Bewusstheit für folgende fokussierte Aspekte:

Normen und Zwänge des Lebens.

– Problematisierung »von Endlichkeit oder Unendlichkeit der

– Modus der Öffnung und der Aktivität: Mögliches vs. Wirkliches.

Welt« (12) mit der Folge einer

– Inkommensurabilität/atelische Prinzipien und Zwecke, Pa-

– Antinomie, die in der Spezifik des menschlichen Denkens

radoxon der Produktion der Zwecke ohne Prinzip und Zweck,

bzw. in »der aktiven Rolle des Beobachters« begründet liegt:

Unabgeschlossenheit vs. Vollendung.

»Unser Kosmos trägt den Stempel unseres Geistes« (16);

– Nicht-Vollendung als Folge des Nicht-Anfangs und der Zir-

– solchermaßen Akteur, erhebt Kant »den Menschen zum Ge-

kularität; Gleichung von Prozess und Resultat bedingt Un-

setzgeber der Moral in genau der selben Weise, in der er ihn

möglichkeit eines Endresultats.

zum Gesetzgeber der Natur machte« und »vermenschlicht die

– Dekonstruktion vs. Konstruktion: Erschüttern der Tradition

Ethik« (17);

durch Auseinanderfügen des Gewordenen.

– die daraus folgende Freiheit ist für Popper im Sinne Kants weniger eine der Geburt als eine der Verantwortung des Men-

3  Poppers philosophischer Ansatz

schen »für die Freiheit seiner Entscheidung« (19).

Nancys zuvor dargelegtes Verständnis von Offenheit ange-

Mit diesem nachträglich der Offenen Gesellschaft vorangestell-

sichts fehlender Bestimmung stützt m. E. , wenn auch aus

ten Kant-Vortrag ist bereits die Art der »Offenheit« als eine der

durchaus anders gewichteter philosophischer Perspektive (s.

freien Entscheidung, als eine Offenheit im Sinne der Möglich-

16


CRITICA–ZPK I/ 2015

keit, ‚es jetzt so oder anders’ zu machen und es später noch-

1980, 362), der – konstruktivistisch gesprochen – die Prüfung

mals anders machen zu können, bestimmt. Damit ist bereits

der Viabilität menschlichen Handelns im Sinne des Falsifika-

die Unabschließbarkeit der Geschichte als Produkt des Men-

tionismus verwissenschaftlicht: »Insofern sich die Sätze einer

schen gesetzt bzw. generell die Unabschließbarkeit menschli-

Wissenschaft auf die Wirklichkeit beziehen, müssen sie falsi-

chen Handelns, und sei es das Schreiben eines Buches: »Kein

fizierbar sein, und insofern sie nicht falsifizierbar sind, bezie-

Buch kann jemals fertig werden […]« (Vorwort zur amerikani-

hen sie sich nicht auf die Wirklichkeit« (20). Daraus lässt sich

schen Ausgabe, Popper 1975, 7). Zusammengefasst resultiert

m. E. ableiten, dass ein wirklichkeitsbezogenes historizistisch

die Offenheit also aus der Verantwortung freier menschlicher

starres Weltverständnis bereits logisch nicht sinnvoll ist.

Entscheidung, die nicht determiniert, sondern »schöpferisch«

Gegen den Historizismus gibt es neben der ethischen Prob-

(17) ist.

lematik laut Popper auch ein weiteres logisches Argument:

Poppers Perspektive auf der Basis der zuvor dargelegten

Wenn sich die Geschichte durch die Erweiterung menschli-

Offenheit ist vor allem eine sozialphilosophische, die eine

chen Wissens verändert, können wir nicht wissen, wie sie sich

historistische Sicht gegen eine historizistische stellt. Als Ge-

verändert, da wir unseren Wissenszuwachs nicht kennen kön-

währsmänner einer abzulehnenden deterministischen Ge-

nen. Der Historizismus nimmt nicht nur die Freiheit der Ent-

schichtswahrnehmung kritisiert Popper Platons Essentia-

scheidung, sondern er stiehlt überhaupt den Stellenwert des

lismus, Hegels optimistischen Historizismus im Sinne einer

Individuums, das lediglich zu einer »Schachfigur« im vorher-

Weltgeschichte mit dem Zielpunkt einer absoluten Idee und

sagbaren Prozess des (u. U. sogar ‚auserwählten’) ‚Volkes’8 wird.

Marx für die ökonomische Determinierung im Historischen

»Der Tribalismus, das heißt das Hervorheben der außeror-

Materialismus.

dentlichen Bedeutung des Stammes, ohne den das Individuum

Voraussetzung einer geeigneten Haltung zur Geschichte ist

nicht die geringste Bedeutung besitzt, ist ein Element, das wir

der kritische Dualismus, der Tatsachen von Entscheidungen

in vielen Formen historizistischer Theorien finden werden«

trennt. Nicht änderbaren Tatsachen – wie Naturgesetzen –

(Popper 1975, 32f.). Ursprung dieser Haltung ist die Einsicht

stehen frei wählbare Entscheidungen gegenüber, die keinen

Heraklits, nicht »die Gesamtheit der Dinge«, sondern die »der

historischen Gesetzen (die es auch gar nicht gibt) verpflichtet

Ereignisse«, das Prozesshafte der Welt zu fokussieren (35), das

sind, wohl aber soziologischen Gesetzmäßigkeiten (wie z. B.

indes gesetzmäßig »als die vorausbestimmte Ordnung der Er-

die Möglichkeit von Vollbeschäftigung nur bei Inflation). Ge-

eignisse im Weltprozeß« wirkt (38f.).

schichte hat keinen Sinn oder einen immanenten Fortschritts-

Erfahrbar wird die Ordnung durch »Tabus, Gesetze und Sitten,

anspruch, eine Sinngebung ist aber möglich und sinnvoll. Rück-

die als ebenso unvermeidlich empfunden werden wie der Auf-

schläge auf dem geplanten Weg sind einzukalkulieren und

gang der Sonne […]«. Um diese Befangenheit der »Stammes-

halten nicht davon ab, in kleinen Schritten auf das vom Men-

gesellschaft«, die eine »magische ›geschlossene Gesellschaft‹«

schen gewählte Ziel zuzuarbeiten (vgl. Popper 1980, 344ff.).

ist, abzulegen, muss sie zusammenbrechen, woraufhin »sich

Die Entscheidungsfreiheit und -notwendigkeit versteht sich

ein theoretisches Verständnis für den Unterschied zwischen

jedoch nicht als willkürlich in dem Sinne, dass jede Alternative

›Natur‹ und ›Gesellschaft‹ entwickeln« kann (91) – verbunden

so gut wie eine andere wäre. In der Gleichsetzung mit Willkür-

mit der Unterscheidung zwischen »Naturgesetzen« (nicht un-

lichkeit sieht Popper die »Zwischenstadien« auf dem Weg zum

ter menschlicher Kontrolle) und »normativen Gesetzen oder

kritischen Dualismus verhaftet: »biologischer Naturalismus«,

Normen« (unter menschlicher Kontrolle, damit auch änder-

»ethischer oder juridischer Positivismus« und »psychologi-

bar) (91f.).

scher oder spiritueller Naturalismus« (vgl. Popper 1975, 104f.).

Erstere Gesetze haben keinen Einschluss von Sittlichkeit, letz-

Der kritische Dualismus ist nur möglich, wenn anerkannt

tere sind moralisch zu verantworten (vgl. 96). Bei fehlender

wird, dass

Unterscheidung liegt eine »›geschlossene Gesellschaftsord-

a) keine natürlichen oder göttlichen Gesetze von einer Ent-

nung‹«, ein »naiver Monismus« vor, bei gelungener Differen-

scheidung entbinden oder diese verhindern,

zierung eine »›offene Gesellschaft‹« im Zeichen des »kriti-

b) keine Historizität als Zwangsläufigkeit einer geschichtli-

schen Dualismus (oder kritischen Konventialismus[!])« (94),

chen Entwicklung anzunehmen ist,

eines »Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen«9 (98, Her-

c) die resultierende Dialektik nicht in einem idealen Endzustand münden kann (wie Popper es bei Hegel als gegeben sieht), sondern als unabschließbarer Entwicklungsprozess auf der Basis des Falsifizierens stattfindet. Gegen den Essentialismus setzt Popper einen »methodischen Nominalismus« (Popper

8  Popper versteht im zweiten Band der Offenen Gesellschaft das – freilich bald durch Macht korrumpierte – Christentum als Protest nicht nur gegen den »Anspruch Roms«, sondern auch gegen »den jüdischen Platonismus im weiteren Sinn« (vgl. Popper 1980, 31ff.). 9  Popper unterscheidet eine begriffliche Zweideutigkeit, insofern der – von Popper nicht gemeinte – »Akt des Entscheidens« sehr wohl als Tatsache zu beschreiben ist (versteht man den Akt bereits als

17


CRITICA–ZPK I/ 2015

vorh. i. Orig.), den Popper auf Protagoras zurückführt (vgl.

mus die herrschende Klasse eine unanfechtbare Übermacht

102). Popper führt zudem eine dritte Möglichkeit von »Geset-

erhält«, solange sie in sich »einig ist« (78)12. Erziehung muss

zen« an, die »soziologischen Gesetze« als »wichtige Naturgesetze«

entsprechend in allen Belangen die Funktion haben, gute

i. S. von »Regelmäßigkeiten unseres sozialen Lebens«, die nicht

»Wächter« dieser Teilung, damit der »Stabilität des Staates«

normativ sind (z. B. ökonomische Theorien, vgl. 103, Hervorh.

hervorzubringen (86f.), »eines Staates, der seine menschliche

i. Orig.). Die zentrale Feststellung ist, dass »Institutionen« in

Herde genau so behandelt wie ein kluger, aber hartherziger

Verflechtung normativer und soziologischer Gesetze »immer

Hirte seine Schafe, nicht zu grausam, aber mit geziemender

im Hinblick auf bestimmte Normen aufgebaut« werden (vgl.

Verachtung« (88).

104).

In diesen Annahmen erkennt Popper eine »totalitäre Tendenz

Historizismus hat bevorzugt zu Zeiten großer sozialer Um-

in Platons politischer Philosophie« (63). Er verwirft die häufige

wälzungen Konjunktur, ein Umstand, der auch Platons, auf

wertschätzende Verkennung Platons als vermeintlichen »Ver-

Heraklit aufbauenden Historizismus trifft . Nach Platon führt

treter humanitärer Prinzipien« (128) und urteilt, dass »seine

»jegliche soziale Veränderung zu Verderbnis, zum Verfall oder

politischen Forderungen rein totalitär und antihumanitär

zur Degeneration« (44), was sich als »durch ein Entwicklungs-

sind« (129), dass seine »Theorie der Gerechtigkeit« (169) rein

gesetz gelenktes System historischer Perioden« (70) darstellen

utilitaristisch-pragmatisch (vgl. 198) nur die »Klassenpräro-

lässt. Im Unterschied zu Heraklit geht Platon von der Möglich-

gativen« stützt (168) und die Forderung, dass »der natürliche

keit wirksamer Einflussnahme aus, um »den Verfall durch das

Herrscher herrschen und der natürliche Sklave fronen solle«

Anhalten aller Veränderung zu verhindern« (47); sein Histori-

(169). Entsprechend lehre Platon, »daß Gerechtigkeit Un-

zismus ist demnach ein begrenzter (vgl. ebd.). Bei Platon treten

gleichheit ist und daß der Stamm, das Kollektiv, höher steht,

Historizismus und Sozialtechnik in Kombination auf, wobei

als das Individuum« (261, Hervorh. i. Orig.).

im Sinne einer hinterlegten »Idee« oder »Essenz«11 ein »›bester

Popper benennt das Problem einer politischen Macht, die

Staat‹« zu planen ist, der vorübergehend einem »dekadente[n]

»›ihrem Wesen nach‹« keiner Kontrolle unterworfen« ist und

Abbild« (89) gewichen ist, das als »Entartung« »durch ein ent-

es auch nicht sein soll (vgl. 170). Als »Theorie der (unkontrollier-

sprechendes Stadium der Entartung der menschlichen Seele,

ten) Souveränität« (170, Hervorh. i. Orig.), die nur noch die Fra-

der menschlichen Natur, der menschlichen Rasse verursacht«

ge kennt, wer herrschen soll13, lebt sie fort in der Frage: »Wer

wird (vgl. 120).

soll diktieren? Die Kapitalisten oder die Arbeiter?« (171). Nach

Dieser »methodologische Essenzialismus« (58f.), wie Popper

Platon schließt diese Macht mit einer »totalitären Moral« das

ihn nennt und als »metabiologisch« bzw. rassentheoretisch

Recht »der Lüge und Täuschung«14 zum Besten des Staates ein.15

grundiert einordnet (vgl. 123 u. 194), geht von der Möglichkeit

Vorausgesetzt wird hier ein »Kollektivnutzen« (191), der zu-

aus, die »Essenz mit Hilfe der intellektuellen Intuition zu er-

dem die medizinische Behandlung »›nutzloser‹« Menschen

kennen und zu unterscheiden« (60). »Die Gesellschaft ist der

verbietet und deren Fortpflanzungsrecht in Frage stellt. Die

Patient; und der Staatsmann soll […] ein Arzt sein […], ein

Mittel des Staatsmanns sind »›Überredung‹«, von Popper als

Heilkünstler, ein Retter« (70).

»Propagandalügen« charakterisiert, und »›Gewalt‹«. Auch

Platons Zukunftsvision war geprägt durch eine Rückbesin-

religiöse Überzeugungen sind vom Staat gesetzt und bedin-

nung: »er wollte […] einen Staat wiederherstellen, der vergan-

12  Die herrschende Klasse in Wächter und Krieger auffächernd ergeben sich mit den Arbeitern insgesamt drei Klassen, die den drei Teilen der menschlichen Seele zuzuordnen sind: »Vernunft, Energie und Begierde (tierische Instinkte)« (vgl. 118f.). 13  Platon »hoffte die politische Veränderung durch die institutionelle Kontrolle der Nachfolge in der Führerschaft zum Stillstand zu bringen« (190), dies auf dem Wege einer Erziehung in der statischen Annahme »der Autorität des gelehrten Fachmannes und ›des Mannes, dessen Rechtschaffenheit erwiesen ist‹« (ebd.). 14  »Nur den Herrschern des Staates kommt es – wenn jemandem überhaupt – zu, die Lüge um der Feinde oder der Bürger willen zum Nutzen des Staates zu gebrauchen. Alle andern dürfen nicht daran rühren« (Platon 2012, 165). 15  Popper weist darauf hin, dass Platon anders als im Falle seiner Theorie der Gerechtigkeit darauf verzichtet, einen den Staat stützenden Mythos einfach als ‚wahr’ zu deklarieren (vgl. 198). Vielleicht ist dies aber auch nicht extra notwendig, wenn der »königliche Philosoph« vor allem »Gründer […] und Gesetzgeber des Staatswesens« ist, als Philosoph nicht »Sucher nach der Wahrheit, sondern ihr stolzer Besitzer« (199). In dieser Haltung setzt Popper Platon deutlich von dessen Bezugsgröße Sokrates ab, der die Gefahr einer Blendung durch die eigene Macht erkannt hatte (vgl. 213).

10

gen war – den Vater des spartanischen Staates« (78). Insofern Platon »das soziologische Gesetz« entdeckt hatte, »daß innere Uneinigkeit, Klassenkampf […] die Treibkraft aller politischen Revolutionen ist« (76), hätte die Vermeidung dieses Kampfes dadurch eine Chance, dass in einem strikten KlassendualisEntscheidung, kann also auch die Entscheidung eine Tatsache sein) (vgl. Popper 1975, 98f.). 10  Wenn im Folgenden Poppers sehr entschiedene Sicht auf Platon u. a. referiert wird, bleibt es für das Anliegen dieses Beitrags unerheblich, dass Poppers Wertungen durchaus auch als zeit- bzw. umständeverhaftet interpretierbar bzw. hinterfragbar sind (vgl. etwa: Baum 2002, 110ff.). 11  Essenz steht für ein »Etwas, das den zufälligen, oder unbedeutenden oder wechselnden empirischen Aspekten des Dinges gegenübersteht, ob wir uns nun vorstellen, daß dieses Etwas im Dinge selbst wohnt, oder ob wir es einer metaphysischen Ideenwelt zuweisen« (289).

18


CRITICA–ZPK I/ 2015

gungslos zu befolgen bzw. ist ihre Missachtung inquisitorisch

Popper seine (recht allgemeinen) Positiva wirksam darstellen

zu verfolgen (vgl. 197). Demgegenüber plädiert Popper für die

und in ihrer Dringlichkeit begründen (kumulatives Ziel: Ver-

prophylaktische Vorbereitung »auf die schlechtesten Führer«

meidung von Tyrannei bzw. Diktatur). Der Weg zur geforder-

und setzt programmatisch die Frage: »Wie können wir politi-

ten Offenheit verläuft durch das Gebiet wissenschaftlicher Gü-

sche Institutionen so organisieren, daß es schlechten oder in-

tekriterien im Sinne des Falsifikationismus.

kompetenten Herrschern unmöglich ist, allzugroßen Schaden anzurichten?« (170).

Poppers Kernanliegen seien abschließend zusam-

Popper sieht in Platon den »genialsten Schüler« Sokrates’, den

mengefasst:

er »verriet«, um ihn »in seinen großartigen Versuch zu ver-

– Offenheit und Unabgeschlossenheit von Handeln in histori-

wickeln, eine Theorie der erstarrten Gesellschaft zu konstru-

scher Perspektive.

ieren […]« (260). Es ist dies eine Gesellschaft unter der Knute

– Offenheit für demokratische Kritik bzw. Reformen im Rah-

der »Inquisition«, die »freies Denken, Kritik politischer Insti-

men demokratischer Institutionen vs. Determiniertheit.

tutionen, die Mitteilung neuer Ideen an die neue Generation,

– Ertragen von Unvollkommenheit bei gleichzeitigem Streben

Versuche, neue religiöse Praktiken oder gar neue Glaubensan-

nach zu wählender Verbesserung mit Rückbezug auf Kant:

sichten einzuführen«, als »todeswürdiges Verbrechen« ahndet

Verantwortung des Menschen für die Freiheit und das Schöp-

(260). Platon sei sich dieses ‚Verrats’ teilbewusst gewesen, er-

ferische seiner Entscheidung, die gleichwohl nicht willkürlich

achte ihn aber als notwendig, um den Menschen »Gewißheit«

ist.

und »Sicherheit« zu geben.

– Umsetzung als Sozialtechnik der Einzelprobleme vs. holisti-

Popper versteht den »Traum von Einheit, Schönheit, Vervoll-

sche Sozialtechnik und historizistische Weltsicht.

kommnung«, die Haltung von »Ästhetizismus, Holismus und

– Falsifikationistische Güteprüfung und Abänderung von ge-

Kollektivismus« als »Symptom des verlorenen Gruppengeis-

wählten Zielen und Teilplänen.

tes des Stammes«. Er kommt aber anders als Platon angesichts

– Methodologischer Nominalismus vs. Essentialismus.

dieser Problemanzeige zu einer Haltung, die heute wohl psy-

– ‚Kritischer Dualismus’: Trennung von Tatsachen und Ent-

chologisierend als ›Ambiguitätstoleranz‹ bezeichnet werden

scheidungen vs. naiver Monismus.

kann: als Toleranz von Uneindeutigkeit angesichts der dem Menschen notwendig immanenten »Last, daß wir uns der Un-

4  Nancy und Popper: Zwei Perspektiven auf ein

vollkommenheiten unseres Lebens, der persönlichen wie auch

Problem?

der institutionellen Unvollkommenheiten« bewusst werden.

Im Folgenden sollen Übereinstimmungen zwischen Nancy

In Anerkennung der eigenen »Verantwortung« bleibt nur,

und Popper sowie unterschiedliche Perspektiven und Gewich-

nicht aufzuhören, nach Verbesserung und damit nach Veränderung zu streben. »Das Anhalten der politischen Veränderung ist kein Hilfsmittel […]. Es gibt keine Rückkehr in einen harmonischen Naturzustand. Wenn wir uns zurückwenden, dann müssen wir den ganzen Weg gehen – wir müssen zu Bestien werden« (267f.). Im fruchtbaren Widerspruch insbesondere zu Platon16 konnte 16  Im Folgeband, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. II. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen, baut Popper die Rechtfertigung seiner Kritik des Historizismus in die Philosophie des 19. Jahrhunderts hinein aus, m. E. ohne weitere zentrale Aspekte seines Verständnisses von ‚Offenheit’ hinzuzufügen, so dass auf eine detaillierte Darstellung hier verzichtet werden kann. In Kürze zusammengefasst verläuft Poppers Argumentation ausgehend von der Annahme eines Nachwirkens der Gedanken Platons wie folgt: Aristoteles erweitert Platons Historizismus geringfügig, aber wirksam um den Aspekt der Möglichkeit von Veränderung als »Fortschritt« (nicht wie bei Platon ausschließlich als Verfall oder utopisch: Rückbesinnung auf einen vergangenen Idealzustand) (vgl. Popper 1980, 9). Dieser optimistische Essentialismus wirke in der »Orakelphilosophie« Hegels, des »Vaters des modernen Historizismus«, fort (31). Hegel wird im politisch durch Preußen instrumentalisierten Widerstand gegen die Französische Revolution und gegen ihr geistiges Rüstzeug »der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit aller Menschen« verortet; die »Platonischen Ideen« als »Grundlage des ewigen Aufstands gegen die Vernunft und gegen die

Freiheit« kamen ihm da zupass (vgl. ebd. , 40f.). Popper vereint Platon, Friedrich Wilhelm III. und Hegel unter der Botschaft, »daß der Staat alles ist und das Individuum nichts« (41). Marx schließlich werden von Popper »Ähnlichkeiten« mit »der Hegelschen Linken und ihrem faschistischen Gegenstück« (102) bescheinigt; insbesondere war er ein glückloser »Prophet des Ablaufs der Geschichte« (104). Schwerer wiegt für Popper indes, dass Marx »zahllose intelligente Menschen«, die eigentlich »die offene Gesellschaft zu fördern wünschen« dazu »verführte, zu glauben, daß die wissenschaftliche Behandlung sozialer Probleme in der Aufstellung historischer Prophezeiungen besteht« (104). Im Unterschied zu seinem Urteil über Hegel billigt Popper dem Marxismus jedoch einen »humanitären Impuls« und das Unternehmen des »ehrlichen Versuchs« zu, »rationale Methoden auf die dringlichsten Probleme des sozialen Lebens anzuwenden«. Marx »öffnete unsere Augen und er schärfte unseren Blick für viele neue Fragen« (103). Einerseits rational auf der wertschätzenden Grundlage der Vernunft, hatte seine Lehre doch die Folge, »den rationalen Glauben an die Vernunft zu untergraben« (275). Platon, Hegel und Marx verknüpft Popper schließlich im Zusammenhang zwischen Holismus, Veränderungsvoraussage und folgendem »zentralisierten Planen« (vgl. 260) in Form eines »Kompromisses«: »Platons Wunsch, die Veränderung zum Stillstand zu bringen, führt, mit der Marxistischen Lehre ihrer Unvermeidbarkeit vereinigt, auf Grund einer Art Hegelschen ›Synthese‹ zur Forderung, daß die Veränderung, wenn sie schon nicht völlig zum Stillstand gebracht werden kann, zumindest ›geplant‹ und kontrolliert werden sollte, und zwar vom Staat, dessen Gewalten beträchtlich auszudehnen sind« (261).

19


CRITICA–ZPK I/ 2015

tungen herausgestellt werden.

haben damit im Unterschied zu Nancys gewissermaßen einen

Beide Autoren problematisieren die prinzipielle Unabge-

programmatisch zu nennenden Anteil.

schlossenheit bzw. Nicht-Vollendung von Handeln als Ermög-

Im unterschiedlichen Verhältnis zum ‚Operatorischen’ liegt

lichung kreativen Handelns. Die (insbesondere bei Popper

ebenso ein unterschiedliches Verhältnis zum ‚Politischen’ in

rational reflektierte) Möglichkeit steht damit einem generellen,

Verschränkung mit dem ‚Philosophischen’. Bei Popper muss

bei Popper v. a. geschichtlich bezogenen Determinismus bzw.

die Sicherung demokratischer Institutionen als das Politische

einer Bestimmung gegenüber, die beide verneinen.

im Sinne einer ‚Realisierung’ des Philosophischen verstanden

Ebenso begründen beide Autoren ihre Verneinung, wie ein-

werden, es hat insofern einen instrumentellen Charakter. Bei

gangs bereits angeführt, u. a. logisch:

Nancy hingegen ist das Politische umfassend in den Zusam-

– Nancy über die zwangsläufig fehlende Abgeschlossenheit

menhang seines Verständnisses von Dekonstruktion einge-

auf der Basis eines nicht existierenden Beginns und einer »In-

bettet: Gemeinsam mit Philippe Lacoue-Labarthe behauptet

kommensurabilität«, deren »Gemeinstätte« die Philosophie

Nancy den Rückzug bzw. den »Entzug des Politischen« (La-

ist,

coue-Labarthe/Nancy 1981, 1983, übers. zit. nach Marchart

– Popper über die Korrelation von Nichtbeurteilbarkeit des

2010, 88), der sich gerade durch das umfassende öffentliche

menschlichen Wissenszuwachses und daraus folgender Nicht-

Ereignis des Politischen ergibt: »›alles ist politisch‹« (Lacoue-

beurteilbarkeit einer zukünftigen geschichtlichen Entwick-

Labarthe/Nancy 1997, 97, übers. zit. nach ebd.) – mit der Folge

lung.

einer »Offensichtlichkeit«, die das Politische aber gerade »unoffensichtlich oder unscheinbar« machen würde (Marchart 2010,

Nancy wie Popper gehen davon aus, dass die Bedingungen des

91, Hervorh. i. Orig.). Die Dekonstruktion des Politischen wür-

sozialen Lebens vom Menschen hervorgebracht werden, also

de sich zudem in der Distanzierung »vom philosophischen

nicht ‚gegeben’ sind. Popper führt in diesem Zusammenhang

Begehren nach praktischer Realisierung« (ebd. , 89) angesichts

unter Rückgriff auf Kant die ethische Dimension von Freiheit,

eines so wahrgenommenen »öko-sozio-techno-kulturellen«

Verantwortung und Verbesserung ein, zudem die psychologi-

(Lacoue-Labarthe, 1983, 191, zit. nach Marchart 2010, 93)

sche des »Ertragens von Unvollkommenheit«. Ein ähnlicher

»Komplex[es]« (Marchart 2010, 93) zeigen, der im Zeichen

– indes nicht so eindeutig – psychologisierender Aspekt des

eines »›neuen Totalitarismus‹ […] der totalen Erfüllung und

‚Ertragens’ scheint in Nancys Feststellung einer »Erschöpfung

restlosen Herrschaft des Politischen« steht (Lacoue-Labarthe,

des Denkens des Einen und einer einzigen und einzigartigen

1983, 188, übers. zit. nach Marchart 2010, 93), der auch in »libe-

Bestimmung der Welt« auf. Das – auch in psychischer Hinsicht

ralen Demokratien« herrsche (Marchart 2010, 88).

erschöpfte – Ertragen des Unbestimmten lässt auch in Bezug

Es sei hier die These gewagt, dass es gerade diese umfassende

auf Nancy die bereits für Popper reklamierte Ambiguitätstole-

Politisierung des öffentlichen Lebens ist, die Ausdruck einer

ranz als wünschenswerte Qualität erscheinen.

offenen Gesellschaft im Sinne Poppers ist. Wäre damit nach

Beide Autoren verneinen die Angemessenheit einer tribalis-

Popper die Abwesenheit von Totalitarismus festzustellen, ist

tischen Haltung, Popper explizit und Nancy über die Feststel-

im Sinne Nancys gerade dadurch ein Charakter des Totalitären

lung, dass ein Volk »immer seine eigene Erfindung« sei.

gegeben. Dieser Widerspruch ließe sich durch eine Differen-

Im Sinne einer unterschiedlichen Perspektivenwahl nimmt

zierung des Begriffs ‚Totalitarismus’ wohl lösen17, er verweist

Nancy weniger Rücksicht auf die operatorische gesellschaft-

indes auf die im folgenden Fazit behauptete Inkommensurabi-

liche Sicherung von Offenheit. Ihm geht es um die eher me-

lität zwischen den beiden Autoren.

taphysisch-philosophische Begründung von Unabgeschlos-

Ohne der Vokabelwahl zu viel Bedeutung beimessen zu wollen,

senheit, aber auch um die situative Benennung konkreter

sei noch auf Nancys Behauptung von »anarchischen […] und

gesellschaftlicher Herausforderungen (z. B. Nicht-Beherrsch-

atelischen Prinzipien und Zwecken« (s. o.) hingewiesen. Abge-

barkeit der Atomtechnologie).

sehen davon, dass Nancy im Unterschied zu Popper auf Para-

Demgegenüber denkt Popper von sozialen und demokrati-

doxien fußt (z. B. zielloser Zweck, Produktion von Zweck ohne

schen Institutionen aus. Folglich bindet er die ‚Institution’

Zweck, ‚singulär plural’), die die Komplexitätssteigerung in-

Institution ‚technisch’ ein, um demokratischen Normen gemäß

kommensurabler Bezogenheiten gewissermaßen illustrieren,

ihre eigene Offenheit, einschließlich der eigenen Kritikfähig-

würde wohl Popper den Ausdruck »anarchisch« nicht in syno-

keit, und den Schutz gegen Totalitarismus zu gewährleisten.

nymisierender Verwandtschaft zu »atelisch« gebraucht haben.

Entsprechend nennt Popper einen operatorischen Begriff: die »Sozialtechnik der Einzelprobleme«, die auf wissenschaftlicher Basis der Falsifikation zu verfolgen ist. Poppers Thesen

20

17  Etwa auch unter Rückgriff auf Nancys Anschluss an den Hegel’schen Begriff der »Aufhebung« unter dem Fokus einer »Verwirklichung des Wirklichen«, die »dieses Wirkliche nie gesetzt, vollendet oder gegeben« vorfindet (Nancy 2011, 11).


CRITICA–ZPK I/ 2015

Sein Denken ist auf schrittweise Entwicklung und Verbesse-

Popper einen programmatischen, empiriebezogenen Zusam-

rung, nicht auf Regellosigkeit, gar anarchische Widersetz-

menhang stiftet, während Nancy hier die Bedingung und Be-

lichkeit gerichtet. (Dass er Sokrates’ Widersetzlichkeit hoch

dingtheit einer Inkommensurabilität der Welt erkennt.

geschätzt hat, liegt in ihrem Ethos der Verantwortung für die

Die Behauptung von und das Werben für Offenheit und Unab-

‚Wahrheit’ begründet.) Sicher plädiert auch Nancy nicht für

geschlossenheit als unabweisbare Gegebenheit und Heraus-

das ‚Anarchische’ im gesellschaftlichen Zusammenhang –

forderung des Lebens mit der Folge, diese sowohl ertragen als

sehr wohl aber für einen Aspekt der Dekonstruktion des Po-

auch gestalten zu müssen, hat m. E. einen sehr gegenwärtigen

litischen im Sinne einer gewissen Entlastung des Philosophi-

und dringlichen Wert, der sowohl Popper als auch Nancy als

schen von der Verantwortung der Empirie (s. o.).

(immer noch) relevant erscheinen lässt.

Bei Popper steht mit einem starken empirischen Einschluss

Politische bzw. kriegerische, zudem tribalistisch untermal-

die immer neu zu überprüfende, konstruktiv zu kritisieren-

te Konflikte – wie für uns aktuell am nächsten die Ukraine-

de und zu sichernde Stabilität einer pluralen Gesellschaft im

Krise und die Konfrontation mit einem Russland, das »einen

Zentrum (mit zweckbezogen sozialem Handeln), während

allmächtigen Staatsapparat« und »allumfassende Kontrolle«

sich Nancy vor dem Hintergrund eines ‚atelischen Zwecks’

auf Basis von »Informationskontrolle und Manipulation des

dem Empirischen eben vergleichsweise schwächer zuwendet

öffentlichen wie privaten Bewusstseins« (Reitschuster 2006,

(vgl. Marchart 2010, 96ff.). Holzschnittartig ließe sich behaup-

42) errichtet hat – und religiöser utopistischer Ausschließlich-

ten, dass sich Popper mit der ‚Philosophie’ operatorisch bzw.

keitsanspruch, häufig als Überbau oder Dreingabe von poli-

durch das Operatorische begrenzt der ‚Politik’ in einem eher

tischen bzw. ethnischen und territorialen Konflikten, lassen

administrativen, (stückwerk)technologischen Sinne zuwen-

immer wieder das Thema einer utilitaristischen Behauptung

det, während Nancy sich mit dem metaphysisch entgrenzten

von Bestimmung und monochromem Kollektiv zuungunsten

‚Philosophischen’ dem ‚Politischen’ als weniger empirisch bzw.

von Möglichkeit und Vielfalt erkennen.

eher abstrakt zuwendet (vgl. Marchart 2010, 94, 96f.).

In diesem Sinne klagt etwa Friedrich Wilhelm Graf in der FAZ: Die »Fixierung auf Ordnung und Struktur macht (religiöse

5  Fazit und Ausblick

Riten) gewaltanfällig. Denn wenn die gegebene, durch diffuse

Um abschließend Nancys Terminologie für eine Meta-Ebene

Vieldeutigkeit, Widersprüche und bleibendes Elend geprägte

zu benutzen, möchte ich die Positionen Poppers und Nancys

Welt als eine verderbte Gegenwelt zur wahren, gottgewollten

als ‚inkommensurabel’ bezeichnen; dies in dem Sinne, dass sie

Ordnung erlitten wird, entsteht für die Schöpfungsfrommen

durch die Logik ihres jeweiligen Zugangs keine direkte Über-

der Zwang, die Welt, so wie sie leider ist, auf die ideale und

setzung ermöglichen. Dennoch wirken beide Ansätze auch

ursprüngliche Ordnung Gottes hin zu überwinden. Gewalt-

über die größere zeitliche und ab Kant wohl auch philosophie-

bereitschaft für Gott, genauer: für den je eigenen Gott, ist der

geschichtliche Distanz hinweg als gegenseitig differenzierend

Versuch, die erlittene kognitive Dissonanz […] zu überwinden«

und komplexitätsvergrößernd. Sie wirken gegenseitig als das/

(Graf 2014, 9).

der inkommensurable Andere, als sich sinnhaft dekonstruie-

Hier scheint wieder die an Popper und Nancy anschließende

rend und gleichzeitig ko-konstruierend. Insofern lässt sich das

Herausforderung der Ambiguitätstoleranz auf: Menschlicher

Fragezeichen der vorangehenden Kapitelüberschrift nun in

Ehrgeiz kann sich von der Mikroebene des Einzelnen in sei-

ein Ausrufezeichen verwandeln. Ja, auf eine inkommensura-

nem direkten Umfeld bis zur gesellschaftlichen Makroebene

ble Art und Weise liegen hier zwei verschiedene Perspektiven

nachdrücklich konstruktiv nur darauf richten, nicht Eindeu-

auf ein Problem vor.

tigkeit zu schaffen, wo eben keine zu haben ist, kein statisches

Meine Anfangsthesen seien in diesem Sinne wie folgt wieder

Ideal zu verfolgen, sondern Offenheit und Mut zu zeigen für

aufgenommen bzw. modifiziert:

immer wandelbare und überprüfungsoffen gestaltete Mög-

– Die sozialtechnische Ausrichtung Poppers auf Institutionen

lichkeiten (wobei in der Bestimmtheit dieser Aussage bereits

und seine logisch und ethisch fundierte Kritik am Historizis-

wieder eine zum Inhalt logische Widersprüchlichkeit liegt).

mus können im Sinne Nancys als prinzipielle Offenheit und

Dieses Bemühen wird immer eine Beziehungsarbeit sein – Be-

Unabgeschlossenheit des Handelns beim einzelnen Menschen

ziehungen, sowohl im Heidegger‘schen als auch im ganz all-

wie auch beim Menschen an sich einerseits in ähnlicher Be-

täglichen Sinne, machen eben Mühe, und diese Mühe kann

deutung gestützt werden, müssen andererseits jedoch in der

uns kein Ideal ersparen. Der Weg, wohin auch immer, wird

jeweiligen Sinnhaftigkeit inkommensurabel genannt werden.

dann, wie oben zitiert, mit Habermas das »spannungsvolle

– Bedeutung und Sinn von Offenheit und Unabgeschlossenheit

Gegeneinander von strategischer und kommunikativer Rati-

lassen sich für beide Autoren graduell differenzieren, insofern

onalität« sein.

21


CRITICA–ZPK I/ 2015

Nachdem in diesem Beitrag Gemeinsamkeiten und Differen-

von Hegel noch die Freiheit als »Notwendigkeit, an und für

zierungen in Bezug auf die Konzepte von Offenheit und Un-

sich zu sein, losgelöst von jeder Fixierung, jeder Bestimmung«

abgeschlossenheit bei Nancy und Popper untersucht worden

bzw. prozessual gedacht als »Loslösen von jeder Bestimmt-

sind, wäre es im Rahmen einer möglichen Folgestudie auf-

heit« identifiziert, verweist wohl auf jenen Umstand, den Nan-

schlussreich, die herausgearbeiteten unterschiedlichen Per-

cy freimütig als Herausforderung einräumt: »Das hegelsche

spektiven und Gewichtungen für beide Autoren detaillierter

Denken der Freiheit ist das schwierigste, weil es die Aporien,

ihrem philosophiegeschichtlichen Hintergrund zuzuordnen

deren geometrischer Ort der Begriff der ›Freiheit‹ ist, verbin-

bzw. sie u. U. aus diesem erklärbar zu machen. Während Pop-

det und verknüpft« (228).

per sich mit Ausnahme von Kant vor allem negativ, abgren-

Es möchte wohl sein, dass diese »Aporien« mit zu Poppers

zend philosophisch einreiht (wobei sich wohl auch positiv

grundsätzlichem Urteil19 – weniger einer Herausforderung als

die Einbettung in eine hegelkritische Linie darstellen ließe),

einer vernichtenden Problemanzeige – beitrugen: »[…] nichts

ist Nancy grob in die Entwicklungslinie Hegel, Husserl, Hei-

konnte mit so geringem Aufwand an Denken und mit so we-

degger und dessen französische Rezeption einzuordnen. Der

nig […] wissenschaftlicher Kenntnis zu einer imponierenden

Bezug auf Heidegger ließe sich noch differenzieren, insofern

Schaustellung scheinbarer Wissenschaftlichkeit führen als die

er bei Nancy durchaus zwischen Anlehnung und Abgrenzung

Hegelsche Dialektik […]« (Popper 1980, 37, Hervorh. i. Orig.).

changierend zum Tragen kommt (vgl. Marchart 2010, 87, 90, 94). Da Kant sowohl Popper als auch Nancy als – wenn auch unterschiedlich gewichtete18 – Basis von Offenheit und Unabgeschlossenheit dient, wäre der widersprüchlich auf Kant basierende Hegel-Bezug beider Autoren als Scheidelinie im Sinne von Inkommensurabilität genauer zu untersuchen. Während Popper Hegel als intellektuelle Quelle für Totalitarismus in der Nachfolge Platons zitiert und auslegt, die zudem Kant korrumpiert, dient Hegel Nancy als philosophiegeschichtlich fruchtbare direkte und indirekte Quelle einer Offenheit durch vielfältige interdependente Wechselbezüge, die erst Kants ‚formaler’ Konstruktion eine ‚produktive Macht’ zugesellen. Nancy selbst ist sich der opponierenden Hegel-Lesarten bewusst. So nimmt er Hegel, wie oben bereits angemerkt, gegen den Vorwurf des »Systems einer inhumanen Mechanik des Absoluten« in Schutz und verteidigt ihn als hellsichtig für die Gefahr einer naiven Freiheitsbehauptung des Menschen: »Indem ich affirmiere, dass ich frei bin, hänge ich weiterhin der Position eines Ichs an, das ›Herr im eigenen Haus‹ ist: und eben dadurch habe ich mich bereits der Freiheit entzogen«. Hegel wende sich damit mit Spinoza gegen die »illusorische Freiheit der Menschen, die Herren ihrer Handlungen zu sein scheinen, weil sie ihre tatsächlichen Bestimmtheiten nicht kennen« (Nancy 2011, 227). Sicher will Nancy mit diesen »tatsächlichen Bestimmtheiten« (die angesichts prinzipieller Offenheit und Unabgeschlossenheit wundern müssten) nicht jenem Determinismus das Wort reden, den Popper kritisiert. Dass er diese Bestimmtheiten aber affirmierend aufruft, während er eine Seite zuvor anhand 18  Nancy versteht Kant bei aller Wertschätzung als lediglich formalkonstruktiv und entsprechend u.a. mit Hegel um eine »produktive Macht« erweiterungsbedürftig (vgl. Nancy 2011, 10), während Popper in Kant als bahnbrechend die Verantwortung des Menschen »für die Freiheit seiner Entscheidung« aufruft.

22

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KÜNSTLERPOSITIONEN


CRITICA–ZPK I/ 2015

DAVID ALTMEJD Der 1974 in Montreal geborene David Altmejd studierte Bil- bar unmöglich. dende Kunst an der Université du Québec in Montreal und der

Columbia University. Seit seinem Abschluss 2001 (MFA) kre- Altmejd fordert in seinen Werken traditionelle materielle iert der heute in New York lebende und arbeitende Künstler Konventionen heraus. In seinen jüngsten Serien großräumi-

hoch detailreiche Skulpturen und Installationen, die von der ger, halbfigurativer Skulpturen nutzt er vermeintlich zufällige Vereinigung des Gegensätzlichen leben. Motiviert durch die Objekte wie Fäden, Drähte, Styropor, Wachs, Knetmasse, Haaunsichtbaren Welten, die oft nur hinter der Oberfläche von re und Glaskristalle und webt aus diesen Gebilde, die er dann Dingen existieren, offenbart der kanadische Künstler die ver- in Glasvitrinen ausstellt. Es entstehen 3D-Zeichnungen, deren steckten Strukturen in seinen eigenen Werken durch negati- Achsensymmetrie man nur in der Frontalansicht erkennt. Im ve Räume: Spalten, Risse und mit Kristall gefüllte Öffnungen Gang um die Vitrine verschwindet das erste Bild, Form kehrt sind ein immer wiederkehrendes Motiv. Die Unterscheidung sich ins Ungeformte. Was eben noch kitschig wirkte, wird nun zwischen Innerem und Äußerem, Oberfläche und Struktur, in Sachlichkeit aufgelöst. So auch in der Installation Le guide: Repräsentation und Abstraktion verschwimmt, wird schein- ein Schwanenkopf neigt sich in schönster An- und Demut dem

La chambre d´hôte, Plexiglas, Metalldraht, Faden, Acryl, 76,84 x 60,96 x 60,96 cm, 2010 Foto: Allard Bovenberg (Amsterdam) Courtesy: Künstler und Xavier Hufkens, Brüssel

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CRITICA–ZPK I/ 2015

Le Guide, Plexiglas, Kette, Metalldraht, Faden, Acrylfarbe, Acrylgel, epoxy clay, Epoxy Kleber, 2010 Foto: Kristien Daem (Gent) Courtesy: Künstler und Xavier Hufkens, Brüssel

Betrachter zu. Doch sein Plastikschnabel klebt an ihm wie ein

hatte Ausstellungen u.a. in dem Brant Foundation Art Study

Abszess. Das Schöne und das Abstoßende, auch sie sind bei

Center, der Vanhaerents Art Collection in Brüssel, der Nati-

Altmejd Geschwister.

onal Gallery of Canada, Ottawa, dem New Museum und dem

Altmejd vertrat Kanada 2007 auf der Biennale von Venedig. Er

Solomon R. Guggenheim Museum.

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Semicircular Mirror Labyrinth II, 6 halbrunde Elemente, hochpolierter rostfreier Stahl, Aluminium, 220 x 830 x 875 cm, Unikat, 2013 Courtesy Johann König, Berlin, 303 Gallery, New York & Galleri Nicolai Wallner, Kopenhagen Foto: Andreas Omvik

Der gebürtige Däne Jeppe Hein studierte bis 2003 an der Kö-

In der permanenten Outdoor-Installation Semicircular Mir-

niglich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen und lebt

ror Labyrinth II von 2013 nutzt er wie so oft in seinen Werken

heute in Berlin. Eines der zentralen Themen des Künstlers ist

reflektierende Materialien. Auf einer Grünfläche in Ordrup-

die permanente Infragestellung der Allgegenwart des White

gaard stehen sich sechs Halbkreise aus Spiegel-Lamellen in

Cube und der Beziehung zwischen Öffentlichkeit und Privat-

seitenverkehrter Position gegenüber. Die verspiegelten Ober-

heit. Er bindet den Besucher der Ausstellung in zum Teil spie-

flächen reflektieren nicht nur die Betrachter und deren Umge-

lerische, interaktive Abenteuer ein, die sowohl im wörtlichen

bung, sondern auch die benachbarten Spiegel. Der real-existie-

Sinn als auch in symbolischer Weise die Konstanz der Einheit

rende Raum ist dadurch nur noch in den Lücken zwischen den

Raum – Kunstwerk – Betrachter herausfordern.

vertikalen Lamellen sichtbar und zwischen die Spiegelbilder


CRITICA–ZPK I/ 2015

JEPPE HEIN

Semicircular Mirror Labyrinth II, 6 halbrunde Elemente, hochpolierter rostfreier Stahl, Aluminium, 220 x 830 x 875 cm, Unikat, 2013 Courtesy Johann König, Berlin, 303 Gallery, New York & Galleri Nicolai Wallner, Kopenhagen Foto: Anders Sune Berg

eingefügt. Die facettenreiche Reflektion produziert somit eine liert. Er war bereits in mehr als siebzig Ausstellungen rund um fragmentierte Sicht des Raums. Der Betrachter ist von einem den Erdball zu sehen, u.a. im Tate Modern in London, zwei Mal fremdartigen, die Orientierung nehmenden Umfeld umgeben bei der Biennale di Venezia, in der Galerie für zeitgenössische – ähnlich dem eines Labyrinths.

Kunst Leipzig und beim Kunstverein Frankfurt.

Jeppe Hein ist längst in der internationalen Kunstszene etab-

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CRITICA–ZPK I/ 2015

Instant Gratification, Bronze, 345 x 190 x 2 cm, 2012 Courtesy der Künstler und Xavier Hufkens, Brüssel, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015 Foto: HV-studio, Brüssel

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MICHEL FRANÇOIS

Scribble, Metall, Kugelschreibertinte, 127 x 170 x 70 cm, 2011 Courtesy der Künstler und Xavier Hufkens, Brüssel, © VG Bild-Kunst, Bonn 2015 Foto: Vincent Everarts

Die Arbeiten des 1956 in Belgien geborenen und dort lebenden

terial seiner Kunst begreift und diese alternierend zwischen

Künstlers sind vor allem durch dessen Teilnahme auf der Do-

Destruktion und Konstruktion different zu realisieren sucht.

cumenta 9 (1992) und der Biennale in Venedig (1999) bekannt

Die abgebildeten Werke „Scribble“ und „Instant Gratification“

geworden. Mittlerweile hat der Objektkünstler, der sich so gut

lassen sich beide als Raumintervention verstehen. Das erste,

wie allen künstlerischen Medien bedient, um mit Hilfe von Fo-

die Übersetzung einer Zeichnung ins Dreidimensionale, ist

tografie, Skulptur, Malerei und Video die von ihm rezipierte

als Interpretation der Fragilität von Bedeutung aufzufassen.

Welt zu begreifen und zu formen, in fast ganz Europa ausge-

Instant Gratification, eine spitzenstoffartige Wandskulptur,

stellt. Trotz seiner Teilnahme auf der Documenta in Kassel war

ist das Ergebnis einer thermischen Reaktion, die durch das

der Künstler in Deutschland bisher hingegen eher selten zu se-

ausgießen von geschmolzener Bronze auf kaltem Untergrund

hen. Francois arbeitet biografische, philosophische und spezi-

entsteht. Die Arbeiten des Künstlers geben nicht die hinter ih-

fisch künstlerische Faktizitäten in einer dialektischen Art und

nen stehende Methodik preis, sie sind aber dazu angedacht,

Weise auf, um sie dem Betrachter in sinnlich-äthetisierenden

den Betrachter zum Nachdenken über das Verhältnis zwischen

Art neu zugänglich zu machen. Er versteht sich als Bildhauer,

künstlerischem Agieren und dem Zufall im Produktionspro-

der die Phänomene seiner Wahrnehmung als formbares Ma-

zess anzuregen.

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CRITICA–ZPK I/ 2015

ZUR VISUELLEN ÖKONOMIE DER MODULGESTALT Heijo Hangen in der Galerie Geiger, Konstanz 31.01. bis 28.02.2015 von Julia-Constance Dissel

Vor allem Liebhaber der konkret-konstruktiven Kunst wissen

gen von Zahl und Maß sowie dem Prinzip der methodischen

das Werk Heijo Hangens als auch seine Person zu schätzen.

Teilung und flächenstrukturalen Überlagerung experimen-

Das liegt nicht zuletzt an der unnachahmlichen Stringenz

tierte, begann ab den 1960er-Jahren zu einer Bildmatrix zu

und Kontinuität mit der der 1927 in Bad Kreuznach geborene

forschen, deren Basis das Formmodul bildet – ein wiederkeh-

Künstler sein Oeuvre seit nunmehr über 60 Jahren mit fach-

rendes und anbaufähiges Grundelement, vollendet in Gestalt

licher Präzision und dem Anspruch an Erklärbarkeit und Au-

einer verschobenen Diagonalteilung des Quadrats.

thentizität vorantreibt. Die Galerie Geiger in Konstanz wid-

Für den Künstler, den die Unverwechselbarkeit der eigenen

met dem medienscheuen Künstler nun eine Einzelausstellung.

Formensprache und die Teilnahme bei der Documenta 6 im

Dieser war nicht nur – zum ersten mal nach über zehn Jahren –

Jahre 1977 international bekannt gemacht hat, birgt die Kon-

zur Eröffnung persönlich anwesend, sondern entwickelte das

zentration auf das Modul dabei heute wie früher eine Form

Ausstellungskonzept für die Galerie maßgeblich selbst. Es ba-

von Aktualität und nicht zuletzt auch ein Befreiungsmoment:

siert auf einer modulgebundenen Kombinationsmöglichkeit

Tatsächlich stellt das Modul eine funktionale Universalie dar, deren Bedeutung im Sinne ihrer Ökonomieleistung nicht erst im Zuge des 20. Jahrhunderts offenbar wurde, denn schon die Meister der klassischen Antike wußten sie als baulich erleichterndes Grundmaß sehr zu schätzen. Nichtsdestotrotz tritt die Gegenwartsnähe und Relevanz dieser Erfindung gerade heutzutage hervor, sofern nämlich die Möglichkeiten der technischen Enfaltung wie sie sich uns präsentieren – allem voran im Zusammenhang der Computertechniken – mit dem Prinzip “Modul” in Verbindung zu bringen sind. Vor diesem Hintergrund lassen sich sowohl die älteren als auch jüngeren Arbeiten Hangens als konsequenter Kommentar zu unserer Zeit und der Entwicklung unserer post-postmodernen Gesellschaft

Heijo Hangen, Ausstellungsansicht 2015 Courtesy Galerie Geiger, Konstanz

interpretieren. Das Charakteristische von Modulen ist seither, dass sie ihre je spezielle Funktionalität erst in der Möglichkeit ihrer Ver-

konstruktiver Formsysteme und läßt zudem den Blick auch

fielfältigung erschließen lassen. Aus künstlerischer Sicht eta-

auf anfängliche Arbeiten zu, die dazu dienen, die malerische

bliert dies einen immerwährend offenen Raum neuer Kom-

Entwicklung des Künstlers über die Jahrzehnte nachvollzie-

binationsmöglichkeiten, deren relevanter und gerade auch

hen zu können.

emotionaler Wirkungsträger bei Hangen spätestens seit Be-

Heijo Hangen, der bereits ab den 1950er Jahren mit abstrakten

ginn der 1970er-Jahre die Farbe ist. Mit seiner Hinwendung

Bildformen noch in supremativer Ordnung, Bildübersetzun-

zur standardisierten geometrischen Subjektivform – wie der

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CRITICA–ZPK I/ 2015

Künster das Modul auch nennt – generiert er eine Art visuelle

sei für das Vertrauen in den Künstler und dessen Präzision bei

Bildökonomie, die methodisch bei der Befreiung von traditio-

der Raumgestaltung gedankt. Es kann nur zu hoffen sein, dass

nellen Formfindungs- bzw. Kompositionsproblemen anzuset-

weitere Ausstellungshäuser diesem Vorbild folgen werden

zen versucht, um auf diese Weise die Bildforschung auf die je

und sich auf die Vorschläge Hangens einlassen, dessen Arbeit

veränderbaren Dynamiken der Modulgestalten durch Farben

nunmehr nämlich auch darin besteht, Kombinationskizzen

fokussieren zu können.

vorhandener Module für potentielle zukünftige Ausstellun-

Hervorzuheben ist dabei unbedingt, dass die “Interaktion der

gen anzufertigen. Auch das ist Ausdruck eines nicht nur be-

Farbe” bei Hangen innerhalb ihrer modularen Formung ein für

harrlich strebsamen, sondern lebensnahen und der Wahrheit

den Künstler wie auch Beobachter erfahrungsbasiertes, zeit-

verpflichteten Geistes und beeindruckend wenn man bedenkt,

lich entgrenztes Engagement bedeutet. Wie die Ausstellung

dass das Eingeständnis der eigenen Endlichkeit in anderen

in der Galerie Geiger auf anregende Weise deutlich macht,

Fällen doch so oft von der Verflachung künstlerischen Pathos

liegt die Pointe des Modularprinzips gerade darin, dass alte

geprägt ist.

Arbeiten mit sehr viel jüngeren gekoppelt werden und der Be-

Die Einzelausstellung zu Heijo Hangen ist eine, von deren

wegungsablauf der Modulgestalten so durch die Farbkombi-

Art man gerade heutzutage gerne mehr sehen möchte, nach-

nationen über zeitliche Geschmäcker verschiedener Epochen hinweg und durch Verbindung dieser untereinander zu ganz neuen, sehr lebendigen Farbwirkungen führen, die ein Ausmaß potentieller ästhetischer Wahrnehmungen erst erahnen lassen. Die unkonventionelle, aber bestechend intelligente Hängung

Heijo Hangen, Ausstellungsansicht 2015 Courtesy Galerie Geiger, Konstanz

vollziehbar und gleichsam orginell, äußerst kraftvoll in der ästhetischen Wirkung auch hinsichtlich Farbwahl- und kombinationen. Vor allem Letzteres verdankt sich natürlich auch Heijo Hangen, Ausstellungsansicht 2015 Courtesy Galerie Geiger, Konstanz

der malerischen Arbeiten mit ihren relativen und doch innerhalb der gesamträumlichen Komposition nie willkürlich daherkommenden Anknüpfungspunkten vermag es auf ihre Weise die Zeit zu überbrücken; Ort bzw. Raum und Zeit werden bei Hangen zwecks des Prinzips der Kombination zu einer zeitgeschichtlich entrückten, sich dennoch gegenseitig bedingenden Einheit, was fast schon an das Einsteinsche Prinzip erinnert, das nach persönlicher Aussage des Künstlers auch irgendwie immer mitschwingt. Das Hängekonzept der Ausstellung in der Galerie Geiger ist bis auf den Zentimeter genau vom Künstler durchdacht und bereits im Vorfeld auf einer Mo-

dem technischen Können Hangens, dem der Veweisungszusammenhang von Form, Inhalt und Wahl der künstlerischen Mittel anders als vielen seiner jüngeren Künstlerkollegen noch etwas zu bedeuten scheint. Von der feinlinearen Abtrennung der Farbbereiche im Stile der 60er Hard Edge Malerei bis hin zur Verwendung von dicht matter Acrylfarbe auf feinporigem Nessel scheint die Ausarbeitung der Werke ihrer primären Absicht äußerst angemessen, die Wirkung der reinen Farben in ihren Gegenüberstellungen als genuinen Inhalt erfahrbar werden zu lassen. Auch das ist eine Form von Ökonomie – eine Adäquation, die Wissen voraussetzt, welches vielleicht, so muss man fast vermuten, nur noch Altmeister wie Heijo Hangen in die künstlerische Realität einzuholen vermögen.

dellskizze arrangiert worden; einzig deshalb entfaltet sich die Ausstellung als auhentisches Zeugnis der Arbeitsweise dieses beeindruckenden Künstlers. Dem Galeristen, Stephan Geiger,

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CRITICA–ZPK I/ 2015

ZWISCHEN REALITÄT UND ANSPRUCH Die neue Kunstmesse Frankfurt: eine verpatzte Chance? von Danièle Perrier

Der Gedanke, wieder einmal Anlauf zu

des horror vacui dicht an dicht präsen-

werden von der Pariser Galerie Younike

nehmen und eine neue Kunstmesse in

tiert – hier muss sich der Besucher Zeit

mit einer One-Man-Show bedacht. Das

Frankfurt zu initiieren, scheint an sich

nehmen, um den Blick von einem zum

Beiratsmitglied Ottmar Hörl bespielt

begründet. Frankfurt ist die deutsche

anderen Kleinod schweifen zu lassen,

weiterhin im Alleingang den gesamten

Hauptstadt des Kapitals und hat eine

Galerien hingegen versuchen jedem

Skulpturenpark mit einer Fläche, die ein

hohe Reputation in Bezug auf Kunst: Mit

Kunstwerk Platz einzuräumen, damit es

Viertel einer Allee einnimmt. Man fragt

der Städelschule ist sie Schmiede junger

einzeln betrachtet werden kann. Diese

sich, ob das Programm oder vielleicht

Talente, sie verfügt über unglaublich

diversen Strategien sind dazu prädesti-

nur eine Notlösung ist?

viele hochkarätige Museen, öffentliche

niert, besonders die ungeübten Augen so

Leider vergebens sucht man nach nam-

Sammlungen und namhafte Galerien.

mancher Besucher zu überfordern, was

haften, geschätzten Frankfurter und

Entsprechend gibt es auch viele Sammler

problematisch ist, scheint eine solche

deutschen Galerien. Diese sind ge-

und ein wissbegieriges Kunstpublikum.

Gemischtwaren-Messe doch gerade an

Umso schwieriger ist es natürlich, eine

ein solches Publikum adressiert zu sein.

auf diese Konstellation abgestimmte

Einiges also ist bei dieser Messe schief

Messe ins Leben zu rufen, ganz beson-

gelaufen. Ursprünglich, so hieß es in der

ders im Rückblick auf zwei nicht unin-

Ankündigung, sollte es 200 Aussteller ge-

teressante frühere, jedoch gescheiterte

ben. Es sind letztendlich rund 65 gewor-

Versuche. Die Veranstalter haben sich

den. Klar, dass der hochkarätig besetzte

darauf

geeinigt, ein allumfassendes

Beirat mit Jean-Christophe Ammann,

Programm zu bieten. Dementsprechend

Klaus Gallwitz und Ottmar Hörl für

gibt es Werke von der Antike bis

moderne und zeitgenössische Kunst so-

zur zeitgenössischen Kunst, Bilder,

wie Hans Ottomeyer für ältere Gemälde

Skulpturen,

da

Möbel,

Außereuropäische

Kunsthandwerk,

kaum

Handlungsmöglichkeiten

Teppiche

hatte. Das spiegelt sich in der schein-

wohnt, ihr Programm lange im Voraus

und sogar Oldtimer. Ein erster Blick

bar kaum vorhandenen Selektion der

zu planen und wollen selbstverständ-

reicht, um die ungleiche Gewichtung

Galerien:

aus

lich Garantien in Bezug auf Qualität.

zwischen alter Kunst, Antiquitäten

der Provinz, ein paar Erstaussteller,

Diese, so muss man rückblickend leider

und Außereuropäischer Kunst mit 13

aber zugleich eine starke Präsenz der

feststellen, fehlt weitgehend in diesem

Ständen und der modernen und zeitge-

Veranstalter. Manfred Möller, der die

Sammelsurium an Kunst und Kitsch in

nössischen Kunst, vertreten mit rund

Messe ins Leben gerufen hat und de-

der zeitgenössischen Kunst. Die weni-

50 Galerien, festzustellen. Dies mag

ren Geschäftsführer er ist, ist zugleich

gen guten Galerien, die sich hier verirrt

einer nicht einmal sechsmonatigen

Inhaber

Möller.

zu haben scheinen, sind zu Recht unzu-

Vorbereitungszeit geschuldet sein, in

Letzterer ist mit zwei großen Ständen

frieden. Es ist kaum nachzuvollziehen,

der sich die Veranstalter bemüht haben,

an prominenter Stelle im Hauptgang

welchen Eindruck diese Messe bei den

diese Messe auf die Beine zu stellen.

vertreten. Als Blickfang, gleich beim

wenigen ausländischen Galerien hin-

Hinzu tritt eine vollkommen unter-

Eingang, der Kunstraum Dreieich von

terlassen haben wird, die einen weiten

schiedliche

Eric

Weg nach Frankfurt auf sich genommen

Art

Kunst,

Ottmar Hörl „Skulpturenpark“, Messe Frankfurt 2015, Foto: Danièle Perrier

der

Präsentation:

Antiquitäten werden nach dem Prinzip

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Vorwiegend

des

Decastro,

Galerien

Kunsthandels

dem

künstlerischen

Direktor der Messe. Dessen eigene Bilder

haben.


CRITICA–ZPK I/ 2015

Der Bereich der zeitgenössischen Kunst

besser getan, denn im Meer durch-

ten zahlenden nur mit einer Doppelseite.

ist zwar kaum ermunternd, wer aber

schnittlicher und kitschiger Werke ver-

Aussteller wie die Galerie Wolfstädter

suchte, konnte hier und da doch fün-

lieren auch solche guter Künstler, etwa

tauchen im Katalog erst gar nicht auf.

dig werden: Überzeugend waren etwa

von Bea Emsbach und Corinna Mayer,

Was hat man sich hierbei nur gedacht?

die Arbeiten von Margret Wibmer und

an Attraktivität.

Ob bei einer solch mittelmäßigen und

Sandra Mann beim Kunstraum Dreieich,

Nur wenige Stände sind der klassi-

in ihrer Konzeptualisierung auch visi-

die lebensgroßen Fotografien von Iwajle

schen Moderne gewidmet und das

onslosen Messe die Rechnung für die

Klinke bei der Galerie Voss, Julio Rondo

meiste lässt den großen Wurf ver-

Aussteller aufgegangen ist, sei dahinge-

bei Binder und die One-Man-Show

missen:

ist

stellt. Die Veranstalter selbst jubeln über

mit Werken von Tjarke Ihmels bei der

der

von

ihre Verkäufe und manche Frankfurter

Galerie Greulich. Sehr eindrucksvoll

Max Beckmann bei Möller sowie je-

Händler scheinen so froh über die

auch Christos Collage Reichstag/Berlin

ner der jungen Münchner Galerie

Perspektive der Wiederbelebung ei-

bei Art Edition Fils, Galerie im Stilwerk.

Kronsbein mit namhaften Künstlern

ner Messe, dass sie sich mit Kontakt-

der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, u.

anbahnungen schon zufrieden geben.

a. Otto Piene, Günter Uecker, Andy

Die Stadt Frankfurt könnte aber besser,

Warhol und Fernando Botero. Bei Walz

sie benötigt keine Kunstmesse, bei der

Kunsthandel sind erstaunlicherweise

das Publikum schon am ersten öffent-

Drucke von Goya zu sehen und beacht-

lichen Tag ausbleibt. Ob ein zweiter

liche Zeichnungen von Käthe Kollwitz.

Anlauf möglich ist, wird die Zukunft

Besondere Aufmerksamkeit verdienen

zeigen. Fest steht jedoch, dass ein solcher

ihr Selbstportrait und das Plakat „Nie

nur unter Zuhilfenahme ideenreicher

wieder Krieg“, dem Wut, Ohnmacht und

und professioneller Köpfe erfolgreich

Leidenschaft geballte Energie verleihen.

sein wird. Frankfurt darf kein Plagiat

Auch Gildens Arts Gallery London bietet

von Köln oder Karlsruhe werden und so-

ein profundes Spektrum an Graphiken

fern man sich konzeptionelle Ziele setzt,

der klassischen Moderne.

wie die Mischung von Alt und Neu - die

Ebenso unübersichtlich allerdings wie

mitunter bereits den Anspruch einiger

die Messe selbst ist auch der Katalog.

Kunstmessen wie z.B. der in Maastricht

Man hat vermutlich versäumt, die

widerspiegelt - gilt es diese mit beson-

Aussteller wie auf der Titelseite gelistet,

ders hervorragender Qualität zu reali-

nach Sachgebieten „Antike, Alte Kunst,

sieren. Eine Messe für Frankfurt muss

Die beiden eingeladenen Frankfurter

Außereuropäische

Klassische

letztendlich vor allem auch eines, sie

Institutionen, der Frankfurter Verein für

Moderne und zeitgenössische Kunst“ zu

muss die wichtigen Frankfurter Galerien

Künstlerhilfe e. V. und der Kunstverein

unterteilen – was faktisch auch bei der

zur

Familie Montez, stehen repräsenta-

Standverteilung übersehen wurde. Die

man es, diese Ansprüche umzusetzen,

tiv für das wechselbadige Ausmaß des

Aussteller sind theoretisch nach dem

wird eine Kunstmesse Frankfurt sicher

Angebots zeitgenössischer Kunst auf

Alphabet genannt. Ärgerlich ist, dass

auch eine Chance auf internationale

dieser Messe. Der Frankfurter Verein

die Namensnennung allerdings keiner

Beachtung finden.

für Künstlerhilfe e. V. überzeugt mit ei-

stringenten Richtlinie folgt: Manche

ner Koje, in der die geförderten Künstler

Galerien firmieren unter Galerie, an-

vor einer wandfüllenden Fotografie

dere unter dem Namen, was eine ge-

von Martin Liebscher Paradiso wie in

zielte Suche fast unmöglich macht.

freier Landschaft sitzen und bei Wein

Der Hallenplan auf der letzten Seite

und Bretzel die Gäste zum Gespräch

weist nur Standnummern auf, nicht

einladen.

die Namen der Aussteller.

Meesestandansicht Galerie Binder Foto: Danièle Perrier

Der

Kunstverein

Familie

Erwähnenswert

Stand

mit

jedoch

Zeichnungen

Kunst,

Teilnahme

engagieren.

Schafft

Auch die

Montez zeigt in Petersburger Hängung

ungleiche Behandlung der Aussteller

Masse statt Klasse. Eine performative

fällt empörend auf. Die Kunsthandlung

Installation mit Eventcharakter hätte

Möller wirbt mit drei Doppelseiten, die

dem Ansehen ausgewählter Künstler

Mitveranstalter mit zwei und die meis-

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CRITICA–ZPK I/ 2014

BÜCHER KUNST PHILOSOPHIE

Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit -Helmut Lethen

Kunst, die Grenzen übertritt Sind die Trauben echt oder gemalt? Sitzt hier wirklich eine Fliege auf dem Bild? Warum bewegt sich das Ehepaar auf der Bank dort drüben seit Stunden nicht? Vom Surrealismus über den Hyperrealismus bis hin zu optischen Illusionen: Kunstwerke, die den Verstand des Betrachters herausfordern und seine Wahrnehmung pointiert in Frage stellen, zeugen seit dem Altertum von dem Können eines Malers und gehören deshalb durch alle Epochen zu den populärsten ihrer Zeit. Die Kunst der Augentäuschung, das verwirrende Spiel mit den Sinnen, hat für die Schöpfer wie für die Adressaten bis heute nichts von seinem Reiz eingebüßt. In dem vorliegenden Buch wirft Céline Delavaux einen ebenso unterhaltsamen wie informativen Blick auf die verschiedensten Möglichkeiten optischer Täuschungen in der Kunst. In fünf Kapiteln bieten insgesamt über sechzig Künstler und Werke, die unterschiedlicher kaum sein könnten, einen herausragenden und Genre übergreifenden Einblick, wie die Kunst unsere Welt wahrnimmt, widerspiegelt, verfremdet und ad absurdum führt. Das Spektrum der Künstler reicht dabei von Trompel’oeil-Darstellungen aus vorchristlicher Zeit bis hin zu den lebensechten Figuren Duane Hansons, Verwirrspielen von M. C. Escher oder Graffiti von Banksy.

Das Foto eines vertrauten Menschen kann uns berühren « wie das Licht eines Sterns » (Roland Barthes); die Bilder flüchtender Kinder führen die Schrecken des Krieges geradezu schmerzhaft vor Augen. Wie kommt es, dass Fotos eine so ungeheure Wirkung auf uns haben? Wie viel Wirklichkeit steckt in oder hinter den Bildern? Der in Wien lebende und lehrende Kulturwissenschaftler Helmut Lethen geht diesen Fragen auf einem Streifzug durch die Kunst- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts nach. Bewusst autobiografisch und subjektiv erzählt er den „Entwicklungsroman“ des eigenen Bildkonsums mit zahlreichen Anekdoten nach und bezieht sich dabei ausdrücklich auf Roland Barthes, den Autor seines „Leib- und Magenbuchs“, „Die helle Kammer“ (1980) und Siegfried Kracauers „Theorie des Films“ (1960). Anders als der Titel des Buches suggeriert, hat Lethen jedoch mitnichten ein Buch über Fotografie vorgelegt. Der Untertitel „Bilder und ihre Wirklichkeit“ ist schon etwas aufschlussreicher, denn Lethens Buch enthält eine Schule des Sehens, die sich mit den verschiedensten Arten von Bildern befasst. So zeigt Lethen am Beispiel der berühmten Fotografien Robert Capas von der Landung in der Normandie, wie aus Bildern Geschichtszeichen werden; folgt er gebannt den Performances von Künstlerinnen wie Marina Abramović und Vanessa Beecroft, in denen Kunst und Wirklichkeit verschmelzen; vertieft er sich in das ironische Zeichenspiel des Konzeptkünstlers Bruce Nauman, das jede Realität dahinter verschwinden lässt und entdeckt er in idyllisch anmutenden Bildern jene totale Verlassenheit, die ihn bereits als Kind erschreckte. Lethen erläutert, was Bilder sind und was sie vermögen, ohne dabei die Wirklichkeit hinter ihnen preiszugeben. Ein eindringliches Plädoyer und eine Schule des Sehens in einer unübersichtlichen Zeit.

Prestel Verlag • 192 Seiten • EUR 25 ISBN 978-3-7913-4776-9

Rowohlt Berlin • 272 Seiten • EUR 20 ISBN 978-3-87134-586-9

Das Museum der Illusionen. Die Kunst der Augentäuschung -Céline Delavaux

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Elemente einer realistischen Philosophie Aus dem Französischen von David Espinet

Der neue Realismus –Hrsg.: Markus Gabriel

-Jocelyn Benoist

Die Definition eines realistischen Verhältnisses zur Realität der Dinge kennzeichnet die Arbeit von Jocelyn Benoist, dem französischen Philosophen und Essayisten schon seit Längerem. In einer seiner jüngsten Publikationen „Elemente einer realistischen Philosophie – Reflexionen über das was man hat“ (Originalausgabe 2011), geht es dem Autor in erster Linie um eine Weiterentwicklung und Teilkritik eigener früherer Ideen, die er u.a. 2010 in seinem Essay „Concepts“ zugänglich gemacht hatte. Im Zusammenhang der vorliegenden Veröffentlichung ringt der Autor um eine genauere Definition der Natur und der Formen des so genannten „Habens“. Das Haben wird dabei, als ein an Scheler angelehnter Begriff, in Absetzung zur Frage nach dem Zugang zur Realität und damit auch jenseits metaphysischer oder „akontextueller“ Realismen einer genaueren Bestimmung zugeführt. Wenn wir die Dinge schon haben, so der Autor, brauchen wir uns nicht mehr zu fragen, wie es möglich ist, einen Weg zu ihnen zu finden. Im Kontext mehrerer Studien – von der Untersuchung des Repräsentationsverständnisses über das Konzept der Intentionalität, der Wahrnehmung und des Denkens hin zur politischen und gesellschaftlichen Dimension – analysiert Benoist, wie der Realitätsbegriff primär Verwendung findet und stellt vor, was es bedeutet, die Dinge zu haben. Die Untersuchung ist dabei als Kritik seiner früheren Gedanken etwa zur Phänomenalität als Selbstgegebenheit oder zum Begriff des Vor-Repräsentationalen Kontakts zur Realität angelegt. In seinem neuen Buch plädiert Benoist nicht mehr für ein Haben als ein allen Repräsentationen vorgängiges Erfahren und Wahrnehmen der Dinge, sondern für ein Reales, in dem der Mensch immer schon ist und indem er sich (vor-)findet, ohne dass dieses durch Repräsentationen erschlossen werden müsste oder dieses sich selbst in einer Selbstpräsentation dem Menschen aufzeigen müsste. Die Habe entpuppt sich demnach als nichts was der Mensch besitzen könnte, sondern vielmehr als eine Präsenz der Realität selbst – keine Gegebenheit zu der wir uns Zugang verschaffen, oder die sich uns legitimieren müsste, sondern Selbstheit. suhrkamp taschenbuch wissenschaft • 180 Seiten EUR 14 • ISBN 978-3-518-29700-1

Neuer Realismus, so nennt sich eine jüngste Bewegung innerhalb der Philosophie, mit der sich Philosophen nun wieder vermehrt der Frage nach der Realität zuwenden, und zugleich Meinungen aus früherer Zeit, etwa zum Begriff des naiven Realismus, der lange die Forschung zum Thema vereinnahmt hatte, überdenken. Es geht in diesem Realismus weder darum, die externe Welt als unabhängige sicherstellen zu wollen, noch darum, die geistigen Fähigkeiten des Menschen, sein Erkenntnisvermögen behaupten zu müssen. Vielmehr setzt das Buch und all seine Beitragenden bei der Überzeugung an, dass das menschliche Erkenntnisvermögen ebenso real ist wie die Entitäten, die wir gemeinhin als Wirklichkeit, Welt, Natur oder Realität bezeichnen. Eine Pointe des neuen Realismus scheint darin zu liegen, die Realität nicht gleich mit einer Außenwelt gleichzusetzen, was soviel heißen soll wie, man muss kein Naturalist sein, um Realist zu bleiben. Hinterfragt wird in dem Buch vor diesem Hintergrund besonders auch die erkenntnistheoretische Fundierung unseres zeitgenössischen „weltanschaulichen Dogmas“, auf das wir uns in Rückbindung an die Naturwissenschaften in, so die These, nicht minder metaphysischer Weise, berufen. Die weitere Pointe liegt in der Überzeugung begründet, dass die Realismusfrage alleine im Rekurs auf die Debatte um Bewußtseinsab- bzw. unabhängigkeit nicht angemessen gelöst werden kann. So wird etwa bei Manfred Franck, einem der insgesamt 17 Beitragenden des Bandes, in einer Reflexion auf die Struktur des Selbstbewußtseins aufgezeigt, dass wir einem Sein bedürfen, das nicht in irgendeiner Form vom Bewußtsein konstruiert ist. Interessant sind besonders auch die Überlegungen Lewis Gordons zum Begriff der Intentionalität, die als nicht in unserem Geist exstierend vorgestellt wird, sofern Gordon Intentionalität selbst als real erweisen will. Einige der Beiträge ergänzen sich thematisch, andere wiederum sind, wie der Herausgeber selbst sagt, als „relativierende Manöver“ aufzufassen. Der Sammelband diskutiert den Realismus nicht nur im Kontext der bestehenden Ansätze der theoretischen Philosophie, die neben den bereits genannten Autoren u.a. auch solch prominente wie Hilary Putnam, John Searle oder Jocely Benoist zusammenbringen, sondern auch im Umfeld der praktischen Philosophie der Gegenwart. Hier zeigen Akeel Bilgrami, Paul Boghossian und Dieter Sturma, dass die Annahme

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CRITICA–ZPK I/ 2014

eines moralischen Realismus durchaus angemessen ist und die Rede von mysteriösen moralischen Qualitäten unzureichend. Selbst Überlegungen zur Kunst kommen in diesem umfassenden Werk nicht zu kurz, so spricht sich etwa Umberto Eco in seinem Beitrag „Gesten der Zurückweisung“ für einen negativen Realismus aus, in dessen Kontext er auch die Begrenztheit der Deutungsspielräume von Kunstwerken darlegt, was soviel bedeutet wie, Artefakte können zu sehr vielen, aber nicht zu allen Zwecken verwendet werden. Wir müssen in Peircianischen Termini von endlichen falliblen Standpunkten ausgehen, was unseren Kontakt zur Realität jedoch nicht unterbindet. Das Buch stellt eine empfehlenswerte und längst überfällige Lektüre zu den aktuellen Debatten um den Realismus dar. Dieser stand lange genug unter Generalverdacht bei allen, die das spezifisch Menschliche für eine konstruierte Nebensache hielten und damit auch das aufs Spiel setzen, was im Namen von Emanzipation und Wahrheit über die Jahrhunderte hart erkämpft wurde. suhrkamp taschenbuch wissenschaft • 422 Seiten EUR 18 • ISBN 978-3-518-29699-8

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IM PR ESSU M H ERA U S G EB ERI N Dr. Julia-Constance Dissel C H EF REDA K T I O N Ferdinand Schwieger Julia-Constance Dissel REDA K T I O N Maria Rudolf Claudia Gaida LEKTORAT Maria Rudolf REDAKTIONSASSISTENZ Luisa Döderlein AU T O REN/A U T O RI NNEN Elize Bisanz Christoph Kammertöns Marc Peschke Danièle Perrier Julia-Constance Dissel KÜNSTLER/KÜNSTLERINNEN David Altmejd Jeppe Hein Michel François GESTALTUNG BASISLAYOUT European School of Design, Frankfurt Ferdinand Schwieger VERKAUF Direktvertrieb Printausgabe: 8€ (DE)/ 10SFR (CH) E-Book (open-access): critica-zpk.net bestellung@critica-zpk.net REDAKTIONS- & VERWALTUNGSSITZ CRITICA–ZPK Postfach 10 04 32 78404 Konstanz (Germany) COPYRIGHT CRITICA–ZPK © 2015, die Autoren und Künstler, wenn nicht anders im Inhalt angegeben Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ISSN 2192-3213 www.critica-zpk.net



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