CI-Magazin #44

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: EXTRTARIP

WOHNEN NEU DENKEN

SOU FUJIMOTO VERÄNDERT  DIE ARCHITEKTUR

N DESIG TOKIO

WENIG PLATZ, VIEL RAUM

COOLE SACHEN

DIE MÖBELNEUHEITEN  AUS MAILAND

WOHNEN + EINRICHTEN UND LEBEN + ARBEITEN

SOMMER 2018 14. JAHRGANG DEUTSCHLAND: 4,50 € SCHWEIZ: 8,– SFR EU-LÄNDER: 5,50 €

KREATIVE IDEEN FÜRS MICROWOHNEN


STANDPUNKT

individuelle Komfort­ zonen, ohne sich voneinander zu isolieren. Zwischen ihnen gibt es vielschichtige Schattierungen und Abstufungen der Verbundenheit. Äste, Blätter und Buschwerk ermöglichen das. In meiner Architektur ist es ähnlich. Statt Trennung schaffe ich Fragmentierung. Stellen Sie sich einfach Notenblätter vor, wo plötzlich die fünf Stablinien fehlen. Die Noten werden dann Schwärme. Abwechselnd verdichten, verdunkeln sie sich, um sich dann wieder zu verlieren und aufzuhellen. Es gibt keine klaren Begrenzungen mehr. Ähnlich ist es bei ,engawa‘, so nennen wir in Japan die Übergangszone zwischen Garten und Haus, nicht ganz draußen, nicht ganz drinnen. Seit Jahrhunderten haben Tischler und Zimmerer diese Zwischenzone berücksichtigt, in der Natur und Mensch versuchen, miteinander auszukommen – oder besser: in der der Mensch versucht, sich in der Natur bestätigt zu finden. Unsere Geschichte kennt „BÄUME HABEN

›Engawa‹ nennen wir in Japan die Übergangszone zwischen Garten und Haus, nicht ganz draußen, nicht ganz drinnen

Sou Fujimoto revolu­tioniert die Architektur. Er gilt als wichtigster japanischer Architekt der jüngeren Generation. Seine Entwürfe sind fragile Gebilde, zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Bewohner. Inspiriert von organischen Strukturen, lotet Fujimoto die Grenzen zwischen natürlicher und gebauter Umwelt aus. www.sou-fujimoto.net

keine Architekten. Wir hatten nur Handwerker, die Häuser und Tempel zimmerten und an den Außenwänden Terrassen, Lauben und Überdachungen anlegten. Dort übernahmen Gärtner die Verantwortung. Und so sehe ich auch meine Architektur: zum Beispiel mithilfe von ungewöhnlich platzierten Fenstern und Wandöffnungen die Welt draußen hereinzuziehen. Am Fenstersims sitzt man dann wie in einem ,engawa‘-Niemandsland. Links und rechts Wolken, Pflanzen, Computer, Möbel, Mond und Menschen. Eine Kreislaufarchitektur entsteht wie in Zeichnungen des holländischen Künstlers M. C. Escher, wo alles beginnt und nichts endet. Für mein Projekt ‚Mille Arbres‘ bin ich derzeit alle paar Wochen in Paris. Sitze ich im Café, wird mir immer bewusst, dass das Spiel der Proportionen und Harmonie immer bei mir selbst beginnen muss. Erst danach kann es weiter zur Tasse fließen. Und von dort zum Tisch, der zu ihm passt. Später zum Raum. Hinaus auf die Straße. Und so weiter. Wer weiß, vielleicht bald bis zu einem Flughafen auf dem Mond.“ MAGAZIN FÜR EINRICHTEN UND LEBEN

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STANDPUNKT

individuelle Komfort­ zonen, ohne sich voneinander zu isolieren. Zwischen ihnen gibt es vielschichtige Schattierungen und Abstufungen der Verbundenheit. Äste, Blätter und Buschwerk ermöglichen das. In meiner Architektur ist es ähnlich. Statt Trennung schaffe ich Fragmentierung. Stellen Sie sich einfach Notenblätter vor, wo plötzlich die fünf Stablinien fehlen. Die Noten werden dann Schwärme. Abwechselnd verdichten, verdunkeln sie sich, um sich dann wieder zu verlieren und aufzuhellen. Es gibt keine klaren Begrenzungen mehr. Ähnlich ist es bei ,engawa‘, so nennen wir in Japan die Übergangszone zwischen Garten und Haus, nicht ganz draußen, nicht ganz drinnen. Seit Jahrhunderten haben Tischler und Zimmerer diese Zwischenzone berücksichtigt, in der Natur und Mensch versuchen, miteinander auszukommen – oder besser: in der der Mensch versucht, sich in der Natur bestätigt zu finden. Unsere Geschichte kennt „BÄUME HABEN

›Engawa‹ nennen wir in Japan die Übergangszone zwischen Garten und Haus, nicht ganz draußen, nicht ganz drinnen

Sou Fujimoto revolu­tioniert die Architektur. Er gilt als wichtigster japanischer Architekt der jüngeren Generation. Seine Entwürfe sind fragile Gebilde, zugeschnitten auf die Bedürfnisse der Bewohner. Inspiriert von organischen Strukturen, lotet Fujimoto die Grenzen zwischen natürlicher und gebauter Umwelt aus. www.sou-fujimoto.net

keine Architekten. Wir hatten nur Handwerker, die Häuser und Tempel zimmerten und an den Außenwänden Terrassen, Lauben und Überdachungen anlegten. Dort übernahmen Gärtner die Verantwortung. Und so sehe ich auch meine Architektur: zum Beispiel mithilfe von ungewöhnlich platzierten Fenstern und Wandöffnungen die Welt draußen hereinzuziehen. Am Fenstersims sitzt man dann wie in einem ,engawa‘-Niemandsland. Links und rechts Wolken, Pflanzen, Computer, Möbel, Mond und Menschen. Eine Kreislaufarchitektur entsteht wie in Zeichnungen des holländischen Künstlers M. C. Escher, wo alles beginnt und nichts endet. Für mein Projekt ‚Mille Arbres‘ bin ich derzeit alle paar Wochen in Paris. Sitze ich im Café, wird mir immer bewusst, dass das Spiel der Proportionen und Harmonie immer bei mir selbst beginnen muss. Erst danach kann es weiter zur Tasse fließen. Und von dort zum Tisch, der zu ihm passt. Später zum Raum. Hinaus auf die Straße. Und so weiter. Wer weiß, vielleicht bald bis zu einem Flughafen auf dem Mond.“ MAGAZIN FÜR EINRICHTEN UND LEBEN

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INHALT

Cover: Ein offenes Haus auf knappstem Platz im wahrsten Sinne hat Sou Fujimoto mit dem House NA entworfen. Titelfoto: Iwan Baan

03 STANDPUNKT

NICHT DRINNEN, NICHT DRAUSSEN

Stararchitekt Sou Fujimoto über Zwischenzonen und Öffnungen

06 P ANORAMA Winzige Häuser, große Wirkung 12

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T RENDSCOUT

Kurz und knapp – modulare Kleinmöbel

36 36 DESIGNTRIP TOKIO

LOST IN PINK

16 MICROWOHNEN

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WENIG PLATZ, VIEL RAUM Mit Fantasie, der richtigen Einrichtung und ein paar Tricks lässt sich aus wenig ganz viel machen

Eine Tour d’Horizon durch die aufregendste Stadt der Welt zu einfach unvergesslichen Shops, Bars, Restaurants und Gebäuden

48 D ESIGNERPORTRÄT

SOU FUJIMOTO

Der Japaner revolutioniert die Architektur und schafft ein völlig neues Raumgefühl

26 HOMESTORY

EIN HAUS MIT DURCHBLICK

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V OR ZURÜCK VOR

Das House N hat nur 86 Quadratmeter Wohnfläche – und ist doch ein Wunder an Offenheit und Großzügigkeit

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Die Neuheiten der Saison schwanken zwischen Nostalgie und Innovativem

66 SERIE FAMOUS CHAIRS „Sherlock“ Benedict Cumberbatch auf dem Sessel LC2

34 DER KLASSIKER

TISCH JEAN

Eileen Gray entwarf diesen hochfunktionalen Klapptisch 4

35 T RENDSCOUT/ IMPRESSUM Ein 16-Quadratmeter-Apartment von Le Corbusier als Sammelobjekt MAGAZIN FÜR EINRICHTEN UND LEBEN

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Too much HomeWork, not enough play? Come play, explore and experiment with us! WorkHouse 02.06. – 15.07.2018, Berlin www.usm.com/homework #homework


WOCHENENDHAUS EINEN ORT ZUM ABSCHALTEN, Meditieren und Kräftesammeln suchte der Kunde des Prager Architekturbüros Uhlík – und fand ihn inmitten des Böhmerwalds. 2013 wurde dort für ihn ein Holzhaus errichtet, das sich wie von selbst in die Gegebenheiten der Natur zu schmie­ gen scheint. Auf 16 Quadratmetern ist Platz für zwei Personen und ver­ blüffend viel Stauraum. Das Haus ent­ stand aus dem Holz des umliegenden Walds, den Bau erledigten Handwerker aus dem nächsten Dorf – an ein paar Wochenenden.

WWW.UHLIKARCHITEKTI.CZ


PANORAMA



PANORAMA

TUNNELBLICK AUS EINER BETONWASSERLEITUNG erschuf das Büro James Law Cybertecture (Hongkong) das experimentelle, kosten- und platzsparende OPod Tube House. Die Röhre mit einem Durchmesser von 2,5 Metern kann ein bis zwei Bewohner beherbergen und bietet ihnen die Möglichkeit zum Arbei­ ten, zum Kochen und eine Nasszelle. Die Röhren haben 9,29 Quadratmeter Platz, sind mobil und stapelbar. Mit minimalem Aufwand ließe sich also eine ganze Siedlung errichten – und ebenso zügig wieder abbauen.

WWW.JAMESLAWCYBERTECTURE.COM


PANORAMA


BAUKASTEN HAT DA JEMAND EIN HAUS stehen lassen? Genauso haben es die Architekten des Madrider Büros Ábaton beabsichtigt, als sie das ÁPH80 entwarfen. Es ist als mobiles Heim gedacht, das sich wie ein Container transportieren lässt. Trotz seiner übersichtlichen Maße von drei mal neun Metern hat es genug Raum für Wohnbereich, Küche, Schlafzimmer und Bad. Der gut isolierte Innenraum ist wohnlich mit Holz verkleidet, die Außenhaut besteht aus Beton. Bauzeit: ein Tag, Kostenpunkt: ab 32 000 Euro.

WWW.ABATON.ES


TRENDSCOUT MODULARE KLEINMÖBEL

Klein, leicht, praktisch, funktional, ausbaubar – und höchst ansprechend gestaltet. Unsere Auswahl kleiner Möbel für Menschen mit begrenztem Platz zeigt, dass die Quadratur des Kreises gelingen kann. Und weniger oft wirklich mehr ist

Gräshoppa Viel Licht auf dünnen Beinen (Gubi)

Pin Coat Eine minimalistische Garderobe par excellence (Moormann)

Trolley Alvar Aaltos berühmter Servierwagen ist und bleibt eine Legende (Artek) Storage Zierlicher und dezenter Designklassiker der Designheroen Ray und Charles Eames (Vitra)

Calvert Chess Der Bestseller-Beistelltisch in Doppelfunktion als Schachbrett (e15)

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TRENDSCOUT MODULARE KLEINMÖBEL

Roxxane Puristischer kann eine Schreibtischleuchte kaum gestaltet sein (Nimbus)

Uten.Silo Hier kann man alles aufbewahren, was sonst in der Gegend rumliegt (Vitra)

New Order Mit dem Systemregal hat Stefan Diez einen Verkaufsschlager für die Dänen gelandet (Hay)

Es Regale müssen immer gerade sein!? Dieses Regal beweist das Gegenteil (Moormann)

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TRENDSCOUT MODULARE KLEINMÖBEL

Shift Violette Schier endlos ausbaubar sind die Module, die es in immer mehr Farben gibt (Montana Collection)

Meta Multifunktionaler und witziger BeistelltischSe­kretär-Buchständer (New Tendency)

Tower Die Multitalente in verschiedenen Höhen eigenen sich als Barwagen genauso wie als Schreibtischcontainer (Wogg)

Satztische Immer wieder praktisch – die vielseitig nutzbaren Stahlrohrtische von Marcel Breuer sind Klassiker der Bauhausära (Thonet)

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TITELSTORY WENIG PLATZ, VIEL RAUM

Raum im Raum Mit dieser Idee schuf das Büro Ruiz Velázquez in Barcelona ein einzigartiges 40-QuadratmeterApartment (aus „Raumideen – Kreativatlas für Möbel und Einbauten“, Callwey-Verlag)

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TITELSTORY WENIG PLATZ, VIEL RAUM

MICROWOHNEN

PLATZ IST IN DER KLEINSTEN HÜTTE Es kommt nicht auf die Quadratmeter an, sondern darauf, was man daraus macht. Mit Ideen, ein paar von den Japanern abgeschauten Tricks und den richtigen Möbeln kann aus wenig Platz sehr viel Raum werden TEXT: Peter Würth

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TITELSTORY WENIG PLATZ, VIEL RAUM 01 Dünne Wände, verschachtelte Räume, leichte Treppen – wer Platz sparen will, muss Genüg­samkeit zur Tugend machen

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02 Das bisschen Grün kostet zwar Platz, verschafft aber optischen Freiraum, wie hier im House in Seya von Suppose Design

N

icht nur in den maximal verdichteten Megacitys der Zukunft, nicht nur in Metropolen wie Tokio, New York oder Shanghai, sondern auch in München, Hamburg und Berlin ist Platz ein knappes Gut. Zentrales Wohnen ohne lange Wege und zähe Pendlerstaus wird immer beliebter, und eine durch Landflucht, Immigration und internatio­nale Mobilität rasant wachsende Stadt­bevölkerung sorgt für explodierende Immobilienpreise und Mieten. Bereits drei Viertel aller Deutschen leben in (kleineren und größeren) Städten, in den Beneluxstaaten sind es fast 98 Prozent. Der Wettbewerb um Raum zum Wohnen ist längst auch in Kreisen angekommen, in denen es nicht in erster Linie ums Geld geht. Wenn großzügige Angebote schlicht fehlen, muss der knappe Platz durch Kreativität ausgeglichen werden. Das gilt fürs Studenten-WG-Zimmer genauso wie für die Fünfzimmerwohnung einer vierköpfigen Familie. Was nützt die vom Arbeitgeber eingeräumte Option für den Homeoffice-Tag, wenn zu Hause einfach kein ruhiges Eckchen zum Arbeiten zu 18

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02 04

finden ist? Wie wirken sich neue Wohnformen wie Co-Living Spaces aufs Einrichten aus? Kluge Raumkonzepte, intelligente, flexible Möbel, modulare Systeme und Smarthome-Technologien sind die Antworten, mit denen Innenarchitekten, Raumplaner, Ingenieure und Möbelproduzenten dem Paradoxon von steigenden Ansprüchen und stagnierenden oder gar sinkenden Quadratmeterzahlen begegnen. Wer wissen will, was das genau ­bedeutet und wie die Zukunft des urbanen Wohnens (auch) aussehen kann, sollte sich zuallererst in Japan, ins­ besondere in Tokio, umsehen. In dem dicht bevölkerten Land weiß man seit MAGAZIN FÜR EINRICHTEN UND LEBEN

05 03 Freier Blick in den Himmel im Moriyama House

04 Muster­beispiel für „engawa“ Drinnen und draußen gehen ineinander über

05 Ein Haus als Dorf Begrünte Außenflächen verbinden die einzelnen Wohnräume


TITELSTORY WENIG PLATZ, VIEL RAUM

06 Minimale Grundflächen sind für japanische Archi­tek­ten eine ständige He­rausfor­de­ rung – hier beim TowerMachiya-Haus vom Atelier Bow-Wow 07 Riesige Fenster lassen die Räume viel größer wirken

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08 Auch ­schmalste Häuser wie das Split Machiya House des Ateliers BowWow können luftig wirken 09 Grün ans Haus zu holen ist eines der Ge­ heimnisse, mit denen Japans Architekten ihren Häusern Luft verschaffen

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TITELSTORY WENIG PLATZ, VIEL RAUM

Über 150 Ideen für den ungewöhnlichen Umgang mit Räumen wie beim Apartment Origami des Architekten Ruiz Velázquez versammelt das Buch „Raumideen – Kreativatlas für Möbel und Einbauten“ (Callwey Verlag)

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MAGAZIN FÜR EINRICHTEN UND LEBEN


TITELSTORY WENIG PLATZ, VIEL RAUM

Langem mit wenig Platz raumgreifend umzugehen. Tokioter haben für ihre Einfamilienhäuser oft nur 30 Quadrat­ meter Fläche zur Verfügung. „Es kommt nicht allein darauf an, wie weit Wände voneinander entfernt sind, um Weite zu vermitteln. Wichtiger ist es, ein ­Gefühl des Unbekannten, des Fremden zu provozieren“, meint der Architekt ­Makoto Tanijiri von Suppose Design. „Wenn dir solche Elemente zur Ver­ fügung stehen, wirkt das Haus auto­ matisch größer.“ Japaner wenden diesen Trick schon seit Jahrhunderten an und nennen ihn „engawa“. Es ist jener diffuse, multi­ funktionale Bereich zwischen drinnen und draußen, der als Verbindungsele­ ment zur Natur gilt. „Wenn du zum Beispiel den Garten in die Wohnung hineinziehen kannst“, sagt Tanijiri, „dann ist das engawa und wirkt wie ein Fremdkörper mit illusorischer Weiten­ wirkung.“ In seinem 2011 gebauten House in Seya wachsen Kieselsteine und Pflanzen in den überdachten Wohnbereich hinein. Hinzu kommt Verschachtelung – ein weiterer Designkniff, den japani­ sche Jungarchitekten für sich entdeckt haben. So entsteht im Seya-Haus eine ausgeglichene Verwirrung aus unter­ schiedlichen Deckenebenen, zusam­ mengewürfelten Vorsprüngen und aufgehäuften Fensteröffnungen. Nie­

mand käme darauf, dass die Wohn­ fläche gerade einmal 48 Quadratmeter beträgt. Multifunktionalität hilft dabei, we­ nig Platz optimal zu nutzen. Ein Schlaf­ zimmer in Japan ist, nachdem morgens die Futons weggeräumt wurden, auch Arbeitsraum, Gästestube, Essbereich oder Kinderspielplatz. Bei der Innengestaltung beispiels­ weise des Split-Machiya-Hauses der Stararchitekten Yoshiharu Tsukamoto und Momoyo Kaijima vom Atelier BowWow dienen alle Elemente zur opti­ schen Vergrößerung – vom bewusst niedrig gewählten Mobiliar bis zur Sei­ tenwand der Treppe im hinteren Zwil­ lingsbau. Sie ist mit Kupferplatten aus­ gelegt, reflektiert den Garten und sorgt für weiches Licht. Um Kleinsträume optimal zu nut­ zen und größer erscheinen zu ­lassen, genügt es oft, die Wände zu halbie­ ren. Dann sind weiße Wände plötz­ lich nur noch hüfthoch, um Funk­ tionsbereiche anzudeuten. Wo Boden, Wand und Decke in Material und ­Far­be scheinbar ineinander übergehen,

Mut zum Eigensinn.

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01 /02 Ein Kleinchalet aus Kiefernholz haben Jean-Claude Frund und Antonio Gallina bei Neuchâtel in der Schweiz gebaut – fast ohne abgetrennte Räume und mit vielen Durchblicken

PANAMA automat s1, RB17 SA Kalbsleder Spessartgrün

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Aufmerksamkeit durch puristisches, klares Design. Unaufdringliche Eleganz und stilsicheres Auftreten, dazu die Freude, dieses Kleinod entdeckt zu haben.

Rainer Brand fertigt Kleinserien in bester hand­ werklicher Tradition. Präzise Zeitmesser, klassisch inspiriert, heutig in der Gestaltung, zeitlos in ihrer Ästhetik.

www.rainerbrand.de • info@rainerbrand.de • Friedenstrasse 9 63872 Heimbuchenthal • Telefon 06092/5372 • Fax 06092/6903

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TITELSTORY WENIG PLATZ, VIEL RAUM

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03 Schwitzen im Wohnzimmer Saunaspezialist Klafs hat eine ausziehbare Kabine für knappe Platzverhältnisse entwickelt

01 Das Home­ office im Flur wird durch den Flatmate von Müller Möbelwerk­ stätten möglich

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02 Kleine Elektro­ motoren in den beweglichen Möbeln von Clei sorgen fürs bequeme Verstellen

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e­ ntsteht ein Gefühl von Weite und Großzügigkeit. Überhaupt ist es eines der großen Geheimnisse des „creative use of ­space“, Wohnbereiche mehr oder weniger ineinanderfließen zu lassen und allenfalls die einzelnen Wohnzonen durch – bestenfalls veränderbare – Möbel zu definieren. So entstehen auf knappem Raum multifunktionale Wohn-Ess-­ Arbeitszimmer. Schmale Flure werden etwa durch den Flatmate-Sekretär von Müller Möbelwerkstätten zum Home­ office, Raumnischen wandeln sich­ wie bei Clei zu aufklappbaren Komfortschlafzimmern, Apothekerschränke nutzen schmalste Lücken und offene Regale werden zu Raumteilern. Ausgeklügelte mechanisierte Möbel setzen auf die Hilfe kleiner Motoren und machen aus schwer erreichbaren Ecken sinnvoll nutzbaren Stauraum oder verändern gleich den kompletten Raum je nach Nutzung. Möbeltechnik als Innovationsmotor. Selbst eine ausziehbare Sauna wird angeboten. 22

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Aber selbst wer Platz genug für ein eigenes Wohn-, Arbeits-, Schlafzimmer und eine Wohnküche hat, besinnt­ sich zusehends auf die Kunst der­ Reduktion, wie sie im pragmatisch-­ puristischen Skandinavien schon lange üblich ist. Cocktail- statt Loungesessel, intime Zweisitzer oder gar­ gepolsterte Sitzbänke wie Arteks Kiki-Sofa statt XXL- Couches verknüpfen die notwendige Beschränkung mit dem Ange­nehmen.

04 Millimeter­ genau vermessen und augenzwinkernd jeden Kubik­ meter genutzt: Arteks Bühne auf dem Salone del Mobile 2018

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Der finnische Hersteller Artek­ hat auf dem Salone del Mobile in Mailand gerade daran erinnert, dass man bereits seit den 30er-Jahren clevere Lösungen für kleinere Räume anbietet: intelligente Designklassiker mit multiplen Funktionen wie das Wandregal Kaari mit integrierter Schreibplatte oder ­A lvar Aaltos Stool 60, der ebenso als Beistelltisch wie als Hocker dienen kann. Im Moriyama House von Ryue­ Nishizawa in Tokio leben acht Menschen auf 130 Quadratmetern in zehn versetzten Kuben mit groß­z ügigen Fenstern und freiem Blick zum Himmel. Noch einmal 130 Quadrat­meter Außenfläche machen aus dem Haus eine Art kleines Dorf im Wald, das deshalb weit mehr ist als eine raffinierte Ausnutzung des knappen Platzes: Es ist eine neue Art zu leben, eine ebenso kommunikative wie soziale Wohnform, die der japanischen Kultur des Miteinanders entspricht, aber in ähnlichen Formen inzwischen weltweit praktiziert wird.


ADVERTORIAL 02 01 Auf knappem Raum ent­ stan­den unter­ schiedliche Wohnkonzepte

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MINI LIVING

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GUTE IDEEN FÜRS WOHNEN VON MORGEN

© MINI

Die Installation BUILT BY ALL beim „Fuorisalone“ in Mailand stellte den Menschen als aktiven Gestalter in den Mittelpunkt des Designprozesses – und lud die Besucher ein, kreativ zu werden Die Inszenierungen von MINI in Mailand sind immer ein Highlight. Entsprechend lang sind die Schlangen der Neugierigen, die auch bei 29 Grad im Schatten geduldig auf Einlass warten, wissen sie doch, dass sich das Anstehen lohnt. In einer Werk­ statthalle präsentierte MINI in diesem Jahr BUILT BY ALL, ein visionäres Wohnkonzept der Initiative MINI LIVING, in deren Rah­ men sich die Marke mit architektonischen Lösungen für urbane Lebenswelten der Zukunft kreativ auseinandersetzt. Die Münchner haben längst erkannt, dass es nicht mehr genügt, aufregende Autos zu bauen, sondern es für das Leben in den Städten von morgen unabdingbar ist, sich Gedanken um urbane Mobilität und auch neue Wohnformen zu machen. MINI LIVING – BUILT BY ALL zeigte neben vier beispielhaften Wohnraum­kon­ zep­ten öffentlichen Raum, etwa eine Ge­ mein­schaftsküche oder einen Outdoor-Fit­ nessraum: eine eigene Mikronach­barschaft im Inneren eines ansonsten leeren Gebäu­ des. Das Konzept hinter der Installation,

entwickelt in Zusammenarbeit mit dem Lon­ doner Designbüro Studiomama, ermöglicht

eine enge Zusammenarbeit zwischen ­Bewohnern und Architekten und kann so besonders gut auf die Bedürfnisse des Einzelnen eingehen. Es hinterfragt kon­ ventionelle Designprozesse und zeigt, wie Architektur kreativ auf immer knapper werdenden Wohnraum und begrenzte Res­ sourcen im urbanen Umfeld reagieren kann.

03 Das Konzept für BUILT BY ALL haben sich Nina Tolstrup von Studio­ mama und Oke Hauser, Crea­tive Lead MINI LIVING, gemeinsam ausgedacht

02 Individualität versus Parti­ zipation – das Thema von BUILT BY ALL

MINI LIVING – BUILT BY ALL zeigt eine neue Facette von visionären Lösungen für die architektonischen Herausforderungen in Großstädten – Architektur zum Mit­ machen. Damit werden die Fokusthemen der Initiative MINI LIVING, wie der krea­ tive Umgang mit geringer Wohnfläche, um das Prinzip der Partizipation erweitert. Die Menschen mit ihren individuellen Bedürf­ nissen und Vorstellungen rücken mehr als bisher in den Mittelpunkt. „Der aktuell standardisierte Wohnungs­ markt bildet nur bedingt die Bedürfnisse des Einzelnen ab. Wir stellen daher mit unserer Installation den Menschen als ak­ tiven Gestalter zurück in den Mittelpunkt des Designprozesses. Unserer Ansicht nach entscheidet sich die Qualität von Wohn­ raum an der Identifikation der Bewohner mit ihrem Zuhause“, so Oke Hauser, ­Creative Lead MINI LIVING. Neben der Installation bot der Erleb­ nisraum der MINI LIVING FACTORY OF IDEAS den Besuchern die Möglichkeit, ihre Wohnraumvisionen in Form von Mo­ dellen selbst zu erstellen. Dabei ent­standen fantasievolle Kreationen, die mit ganz be­ grenzten Mitteln Hunderte von Varianten für die Nutzung eines minimalen Raums entstehen ließen.

04 Zahlreiche attraktive Elemente standen zum Entwerfen zur Auswahl 05 Wohnraum­ visionen en miniature – entworfen von den Besuchern der FACTORY OF IDEAS

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MAGAZIN FÜR EINRICHTEN UND LEBEN

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01 Auf 13 Qua­dratmetern hat Studiomama in Londons wahrscheinlich kleinstem Haus ein komplettes Apartment samt Bad und Küche untergebracht

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Mit solchen neuen Wohnformen für urbanes Leben beschäftigt sich ­beispielsweise die Marke MINI in ihrer Initiative MINI LIVING. Dabei setzt sich MINI seit 2016 mit architektonischen Lösungen für urbane Lebenswelten der Zukunft kreativ auseinander. Neben Projekten in London oder New York zeigte MINI LIVING bereits in den vergangenen Jahren in Mailand visionäre Konzepte des geteilten und kollaborativen Wohnens, Lebens und Arbeitens in der Stadt. 2018 präsentierte MINI während des Salone del Mobile BUILT BY ALL, ein Wohnkonzept in einer innerstädtischen Halle – eine eigene Mikronachbarschaft im Inneren eines ansonsten leeren Gebäudes (siehe auch Seite 23). Zu den neuen, an Communitys ausgerichteten Wohnformen gehört auch das Studentenwohnprojekt Cubity in Frankfurt. Private Kammern zum Schlafen und Arbeiten gruppieren sich um großzügige Gemeinschaftsräume – alles in einem großen Kubus mit milchiger, abends leuchtender Kunststofffassade. Die Keimzelle einer neuen Zeit. Was bei den Frankfurter Studenten teils aus schlichter Notwendigkeit entstand, ist für internationale Krea­tive ein besonderer Kick. Viele von ihnen kommen aus digitalen Communitys, wollen nicht mehr alleine leben und nutzen zu Preisen von rund 2000 Dollar im Monat luxuriöse Co-Living-­ Angebote von Unternehmen wie Krash, WeLive, Pure House oder Roam, um individuelles Wohnen mit Gemeinschafts­ leben in üppigen Lounges, Wohnküchen und Sharings-Spas zu verbinden. 24

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02 Kleine Schlafkammern gruppieren sich beim Cubity-Projekt um großzügige Gemeinschaftsbereiche 03 Minimaler privater Platz bleibt den CubityBewohnern

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04 Sunset for all Im RoamHaus auf Bali genießen die Bewohner zusammen den Feierabend

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Die Wohnräume übernehmen sie möbliert, schließlich geht in ihrer Welt Nutzen vor Besitzen. Überhaupt ist eine Renaissance des möblierten Wohnens zu beobachten. Pendelnde Manager, zeitwohnende Job-Hopper oder mobile Expats haben keine Lust, sich aufwendig selbst einzurichten, wollen aber auch nicht in kargen ­Wohnzellen leben. Der Trend geht deshalb hin zu rundum perfekt ausgestatteten, funktionalen Wohn­suiten, zu edlen Vorzeigeprojekten mit wandelbaren Möbeln für jeden Zweck und ­Anspruch.


thomasbiswanger.de

TITELSTORY WENIG PLATZ, VIEL RAUM

MAGAZIN FÃœR EINRICHTEN UND LEBEN

www.thonet.de

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LEBEN IM HOUSE N

EIN HAUS MIT   V OLLEM DURCHBLICK

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HOMESTORY HOUSE N

Strahlendes Weiß, enorme Transparenz und trotzdem viel Privatheit für ein Ehepaar samt Hund: Das House N ist ein absolutes Meisterstück neuer japanischer Baukunst, die mit sehr wenig Platz sehr viel anzufangen weiß. Das einzige Problem der glücklichen Bewohner ist der alte ­dunkle Wohnzimmertisch TEXT: Roland Hagenberg FOTOS: Iwan Baan

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HOMESTORY HOUSE N

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ie Stadt im Süden Japans ist groß genug für einen eigenen Flughafen, aber doch so überschaubar, dass Busfahrer zwischen den Stationen anhalten, wenn jemand winkt und mitfahren will. In Tokio wäre das undenkbar, doch die Metropole ist eineinhalb Flugstunden entfernt, und so biegt man sich die Regeln zurecht, bis sie für einen Küstenort wie Ōita passen. Jeder kennt hier jeden – und auf die berühmtesten Söhne der Stadt sind alle stolz. Auf Tomiichi Murayama etwa, Japans Premierminister in den 90er-Jahren, oder den Architekten Arata Isozaki. Dass sich aber Journalisten vom anderen Ende der Welt auch für ihn und sein Haus interessieren, will Terumasa Nogiri nicht so recht in den Kopf. Der pensionierte Angestellte des Hauptpostamts deutet auf einen Packen japanische Architekturblätter. „Immer wieder unser Haus! Und alles wegen unserer Tochter!“ Listig lacht der Hausherr und bescheiden seine Frau Harumi. Sie ist eine ehemalige Krankenschwester. Zum sechsten Geburtstag hatte sie ihrer Tochter einen Bausatz geschenkt. „Von da an war mir klar, dass Yumiko einmal Architektin werden würde.“ Tatsächlich arbeitete sie später in Tokio im Atelier von Sou Fujimoto, Japans neuem Star. Alte Hasen wie Toyo Ito und Terunobu Fujimori haben ihn gepusht, gefordert und gefördert. Beiläufig fragte Yumiko eines Tages ihren Chef, ob er an einem Hausprojekt in Ōita interessiert sei. Mit dem ersten Entwurf konnten ihre Eltern zunächst wenig anfangen. „Doch Fujimoto-san hat alles so nett erklärt“, sagt Mutter Harumi. „Schritt für Schritt konnte ich mich hineindenken, fühlte mich in Gedanken da drinnen sehr schnell wohl!“ House N, wie der weiß gestrichene Bau heißt (nach dem Namensinitial der Besitzer), steht dort, wo sich früher, dunkel und beengt, das traditionelle Holzhaus der Familie befand. Die Wohnfläche fällt mit 86 Quadratmetern kleiner aus als vorher, wirkt aber ungleich großzügiger und erfüllt vollkommen das japanische Bedürfnis nach Privatheit. Diesen scheinbar paradoxen Effekt erzeugt der Architekt, indem er an wohlkalkulierten Stellen Decken und Wände zur Umgebung hin öffnet. Grundlage all seiner Konzepte ist die Höhle-Nest-Theorie, die ­Fujimoto – als er noch Professor an der Universität Kyoto war – entwickelt hat. „Das Rohe und Robuste einer Höhle inspiriert mich. Ohne jede Künstlichkeit ist sie der Ausgangspunkt für räumliche Entdeckungen. Wenn sich langsam Emotionen mit ihr verbinden, wächst sie über die Schutzfunktion hinaus. Sie wird praktisch und wohlig und schließlich ein Nest!“ Tradition und Platzmangel haben die Japaner dazu erzogen, sich zu verschanzen. Nachbarbauten verstecken sich hinter grauen Steinmauern, kaum einen Meter von der Hauswand entfernt. Direkt 28

01 Einsicht in Hüfthöhe Esszimmer und Vorraum ergänzen sich

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DAS HOUSE N ERFÜLLT VOLLKOMMEN DAS JAPANISCHE BEDÜRFNIS NACH PRIVATHEIT davor verläuft die Straße. Erhöhte Gehwege gibt es kaum. Überall sieht man kleine vergitterte Fenster aus Milchglas, zwischen den Dächern hängen Dutzende Kabel, denn hier wird nichts unter der Erde verlegt. Fujimotos ungewöhnliche Konstruktionen heben sich schon aus der Ferne von dem verwaschenen Umfeld ab. Entsprechend groß sind die Erwartungen beim Eintreten in einen Bau des Architekten. Im House N zum Beispiel rollt das Tor aus Holz leise auf kleinen Metallschienen zur Seite. Kiesel knirschen unter den Schuhen, und schon steht man innerhalb der ersten weißen Schale, die das Grundstück überspannt. Hier ist genug Platz für ein Auto, zwei Fahrräder, zwei Scheinkamelien sowie eine Holzterrasse, gesäumt von zarten Japanischen Kirsch-


02 Der poetische Leitsatz eines Architekten ­Draußen ist drinnen ist draußen 02

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HOMESTORY HOUSE N

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01 Nicht nur Regen fällt durchs Dach, bald kommt der Mond 01

02 Hundeleben mit Stil Meditieren auf Tatami-Matten

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HOMESTORY HOUSE N

DIE WÄNDE DER INNERSTEN SCHALE MIT IHREN GROSSEN AUSSCHNITTEN OHNE GLAS DEUTEN ZURÜCKHALTEND FUNKTIONSZONEN AN 32

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HOMESTORY HOUSE N

Kontrastprogramm Japanische Familienhäuser sind meist von Mauern umgeben

bäumen. Sieben Meter über dem Kopf öffnen sich quadratische Ausschnitte im Dach. Abwechselnd sind durch sie Wolkenfetzen und Blau zu sehen, als stünde man in einem Gemälde von de Chirico. Erst danach gelangt man ins eigentliche Haus. Seine weißen Mauern sind ebenfalls von riesigen Fenstern durchbrochen, diese jedoch wurden mit Glasscheiben versiegelt. Drinnen steht man auf geheizten Böden aus Kiefernholz und bemerkt, dass hier ein mit verglasten Ausschnitten versehenes weiteres Flachdach eingezogen ist. Es beginnt zu regnen, das leise Prasseln hat einen beruhigenden Rhythmus. „Ich bin im Norden aufgewachsen, in Hokkaido“, erklärt Sou Fujimoto. „Da gab es nur Berge und Wälder. Deren vielschichtiges Ast- und Blätterwerk habe ich immer als natürliche Architektur gesehen, mit Lichtfragmenten von oben.“ Architektenlegende Toyo Ito sagte einmal über Fujimotos Bauten, man erlebe sie, als kletterte man in einen Baum. Und der Architekt und Historiker Terunobu Fujimori, der mit Baumhäusern berühmt wurde, nennt Fujimoto seinen „kohai“ – eine lobende Bezeichnung für Schüler, die ihrem „sempai“, dem Lehrmeister, in Ehrfurcht zugetan sind. Die Wände der innersten Schale mit ihren großformatigen Ausschnitten ohne Glas deuten zurückhaltend Funktionszonen an. Außer im Bad kann man überall von außen gesehen werden – solange man steht. Sitzt oder liegt man jedoch, bleibt die eigene Welt geschützt. Es gibt einen Schlafbereich, ein Wohnzimmer, den für japanische Häuser unverzichtbaren Tatami-Raum und eine flurartige Nische für die Küche. Ganz toll findet dieses kreative Schachtelwerk auch ein Nogiri-Mitbewohner mit dem Namen Ko­ lala. Der Dachshund will ständig Verstecken spielen. „Fast könnte man glauben, das Haus wäre extra für ihn gebaut worden“, sagt die Frau des Hauses und zögert einen Moment. „Alles ist hier so perfekt designt – bis auf eine Sache!“ Sie deutet auf den klobigen dunkelbraunen Wohnzimmertisch. „Von dem hab ich mich einfach nicht trennen können. Der stammt noch vom alten Haus. Wenn sich Fotografen ankündigen, verstecken wir ihn. Denn tun wir das nicht, ist es eine Qual, hören zu müssen, wie sie uns schonend beibringen, dass sie ihn nicht im Bild haben wollen!“

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DESIGN DER KLASSIKER # 13

TISCH JEAN VON EILEEN GRAY

„DIE VILLA ZEIGT UND VERBIRGT GLEICHZEITIG“ EILEEN GRAYS ausziehbarer Tisch Jean führt mitten hinein in einen ebenso komplexen wie mysteriösen Ort. Die irischstämmige Designerin entwarf den zierlichen, jedoch sehr robusten Tisch im Jahr 1929 für die Ausstattung ihres spektakulär modernen Domizils E.1027 in ­Roquebrune-Cap-Martin an der Côte d’Azur. Der Name Jean ist eine ­Widmung an ihren Geliebten und Mitarbeiter, den rumänischen ­Architekten Jean Badovici (1893 bis 1956), von dem sie allerdings zu jener Zeit bereits wieder getrennt war. Badovici erhielt das Haus samt Mo­biliar sozu­sagen als „Abschiedsgeschenk“. In jedem Zimmer stand ein Exemplar des Tisches: „Sie können zugleich als Schreibtisch dienen“,

schrieb ­Eileen Gray, „für Empfänge faltet man alle Tische auseinander, und d ­ araus ergibt sich ein sehr großer ­Esstisch, der zwar leicht, aber ­äußerst stabil ist.“ Die Beziehung zu Badovici ist in der weißen Villa über dem Meer auf vielfältige Weise do­ kumentiert, nicht zuletzt durch die ­gleiche Bezeichnung, die der höhenverstellbare Tisch erhielt: E.1027 ist die Verschlüsselung einer Liebesgeschichte. Das E steht für ­Eileen, die Ziffern 10 und 2 für Badovicis Initialen im Alphabet und 7 für G wie Gray. Die Autorin J­ ennifer Goff re­ sümiert in ihrer Eileen-Gray-Biografie: „Die Villa ist ein Haus voller Geheimnisse, verborgener Schrank­ fächer, Paravents und Schiebetüren – sie zeigt und verbirgt gleichzeitig.“

Der Tisch mit der faltbaren Platte ist 70 Zentimeter lang (aus­geklappt 130), 73 Zentimeter hoch und 70 breit.

EILEEN GRAY (1878–1976) stammte aus einer irischen Adelsfamilie. Entscheidend ge­prägt wurde sie von der Pariser Avantgarde der 20er- und 30er-Jahre. Das von ihr entworfene Haus E.1027 galt lange als ein Werk Le Corbusiers, da er sich dort mit Wandmalereien verewigt hat.

Der Stuhl Roquebrune mit Lederbespannung entstand ebenfalls für die Innenräume der Villa E.1027.

Das Gestell besteht aus verchromtem Stahlrohr, die Tischplatte aus weißem Melamin mit massivem Buchenumleimer.

Die Urform des Stuhls Roquebrune stammt aus dem Jahr 1927 und war mit Segeltuch bespannt.

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TRENDSCOUT JUBILÄUM

16 QUADRATMETER HISTORIE

STUDI-BUDE ZUM SAMMELN DAS MAISON DU BRÉSIL in Paris entstand 1959 im Auftrag der brasilianischen Regierung. Die ­Einrichtung für das 16-Quadratmeter-Studenten­ apartment entwarfen Le Corbusier und Char­lotte Perriand. Ein Schrank trennt Eingangsbereich und Sanitärblock vom Schlaf- und Studier­be­ reich. Die minimalistischen Möbel sind überwiegend aus Massivholz mit farbigen Kunststoffschub­laden ­gefertigt. Cassina bietet das Set zum 60. Jubiläum als ­originalgetreue Re-Edition in ­einer streng limitierten Auflage zum Sammlerpreis an.

Keine Ablenkung Wer im Maison du Brésil studierte, konnte sich voll auf seine Bücher konzentrieren. Nur die farbigen Plastikschub­ laden lockern die minimalistisch-strengen Möbel auf

Impressum HERAUSGEBER CI – creative inneneinrichter GmbH & Co. KG, Spreestraße 3, 64295 Darmstadt VERANTWORTLICH Steffen Schmidt (V.i.S.d.P.) OBJEKTLEITUNG Sandra Gotha VERLAG UND ANSCHRIFT DER REDAKTION HOFFMANN UND CAMPE X, eine Marke der HOFFMANN UND CAMPE VERLAG GmbH, ein Unternehmen der GANSKE Verlagsgruppe, Harvestehuder Weg 42, 20149 Hamburg,

Tel. +49 40 44188-239. Amtsgericht Hamburg, HRB 81308 Sitz: Hamburg GESCHÄFTSFÜHRUNG Dr. Ingo Kohlschein, Alexander Uebel CHEFREDAKTION Peter Würth CREATIVE DIRECTION Tobias Zabell ART DIRECTION Nora Luther GRAFIK Claudia Knye KEY ACCOUNT MANAGEMENT Kaja Eilers PROJEKTMANAGEMENT Simone Wippern BILD­REDAKTION Holger Riemenschneider REDAKTIO­NELLE MITARBEIT Wolf-Christian Fink, Roland Hagenberg, Sophie Ortner SCHLUSSREDAKTION Ursula Junger HERSTELLUNG Claude Hellweg LITHO PX2@ Medien GmbH & Co. KG DRUCK Ernst Kaufmann GmbH & Co. KG, Druckhaus, Lahr ABONNEMENTS, VERTRIEB UND ANZEIGENVERANTWORTUNG Sandra Gotha (info@creative-inneneinrichter.de) ANZEIGEN Werner Fischer – Tellus Corporate Media GmbH, Hammerbrookstraße 93, 20097 Hamburg, Tel.: +49 40 280868-87 Fax: +49 40 280868-20, E-Mail: w.fischer@tellus-corporate-media.com. Es gilt die Anzeigenpreisliste gemäß den Media­daten 2017 REDAKTIONSBEIRAT Frank Anger-Lindemann, Wilfried Lembert, Klaus Seydlitz. Dieses Magazin und alle in ihm enthaltenen Beiträge, Entwürfe, Abbildungen, des Weiteren die Darstellung der Ideen sind urheberrechtlich geschützt. Mit Ausnahme der gesetzlich zugelassenen Fälle ist eine Verwertung einschließlich Nachdruck ohne schriftliche Einwilligung des Verlages strafbar. Es wird nur presserechtliche Verantwortung übernommen.

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LOST STAUNEN IN TOKIO

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01 Kawaii Monster Café Servieren im Manga-Outfit 02 „Lost in Translation“Ausblick vom Shinjuku Park Tower aus

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DESIGNTRIP TOKIO

Wer in Tokio auffallen will – und das wollen alle, um im Getöse der Megacity nicht völlig unterzugehen –, verbündet sich mit den weltbesten Designern und Architekten. Sie sorgen dafür, dass Geschäfte, Bars und Restaurants schon beim ersten Eindruck unvergesslich bleiben. Eine Tour d’Horizon durch die aufregendste Stadt der Welt TEXT UND FOTOS: Roland Hagenberg

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IN PINK MAGAZIN FÜR EINRICHTEN UND LEBEN

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tillgestanden! An der beleb­ testen Kreuzung der Welt, an der Shibuya Station mit­ ten in Tokio, warten ge­ duldig einige Tausend Men­ schen. Angestellte in dunkel­blauem Anzug, Schüler in Uniform, Mädchen in pinkem Manga-Outfit, Mütter im Designerdress. Anders als im Westen schalten hier alle Ampeln gleichzeitig auf Grün, geben den Weg frei in jede Richtung, kreuz und quer, für eine Million Fußgänger täglich. Die Pas­ santen fixieren ihr Smartphone, träu­ men zur Musik aus ihren Designer­ kopfhörern oder starren ausdruckslos vor sich hin. Der digitale Feuersturm rundum lässt alle kalt. Scheinbar unbemerkt pumpen die hauswandgroßen LEDScreens, die pompösen Plakate und pulsierenden Lautsprecher ihre Bot­ schaft in den japanischen Alltag. Jede freie Nische ist eine Herausforderung für die Architektur. Denn um zu über­ leben, müssen Geschäfte, Firmensitze und Restaurants unvergesslich blei­ ben – schon beim ersten Eindruck. Sie locken mit Gediegenheit, Witz oder Erhabenheit, sie machen uns nostal­ gisch, neugierig oder sehnsüchtig.

Und in allem haben sie die Geschich­ te ihrer Brand, ihrer Marke, verpackt und sich dabei mit den besten De­si­ gnern und Architekten des Landes verschworen. Mitunter kommt es dann zu einer geballten Zusammenarbeit wie beim 21_21 Design Sight im Bezirk Midtown. Hier hat Modelegende Issey Miyake ein Museum errichten lassen – von niemand anderem als Tadao Andō. Der Flachbau des Meisters postminimalis­ tischen Betons ist angelegt wie Miyakes Label Pleats Please: gefaltet und ge­ presst. Wechselausstellungen widmen sich dem Design des alltäglichen Ge­ brauchs und wie es uns in die Zukunft begleiten könnte. Kuratorischen Bei­ stand leisten der Chefschneider des Miyake-­Imperiums Naoto Fuka­sawa und Grafiker Taku Satoh. FLUT AN EINDRÜCKEN

Gegenüber, im Midtown-Kaufhauskom­ plex, hat sich die Bierbrauerei Suntory einen anderen Star geangelt: Kengo Kuma, er errichtet gerade das Stadion für die Olympiade 2020 in Tokio (nach­ dem Zaha Hadids Entwurf gestrichen wurde). Das Suntory Museum of Art mit der für Kuma typischen Lamellenfas­

01 Vulkan mit Bäumen Empfangshalle des SayamaFriedhofs von Hiroshi Nakamura 02 21_21 Design Sight Tadao Andōs Museum für Issey Miyake 02 Galerie, Office und Café Artless von Art­director Shun Kawakami

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Bauten das traditionelle japanische Bewusstsein zugrunde liegt. Etwa bei Ryue Nishizawas House and Garden, einem vier Meter breiten, vierstöckigen Wohngebäude aus Betonplatten, ein­ gezwängt zwischen Bürotürmen, die sich jedoch nicht berühren, denn in Japan ist der Mindestabstand schul­ terbreit. Die widerspenstige urbane Kreation des Pritzker-Preisträgers Nishizawa ist ein typisches Beispiel für Tokioter Design: Aus Platzmangel sind Treppenaufgänge oft außen an den Gebäuden montiert, führen von der Straße direkt zum Rooftop, ohne Tür und Gitter. So bieten sich immer wieder traumhafte Aussichtspunkte an, neben oder gegenüber von Sehens­ würdigkeiten.

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SHOWROOMS ALS ARBEITSOASEN

sade wirkt zwar modern, stellt aber vor allem traditionelle japanische Kunst aus, pflegt auf diese Weise das Image des Sponsors. Kumas Idee für den tai­ wanesischen Ananaskuchenhersteller SunnyHills wäre beim konservativen Bierbrauer nicht durchgegangen. Wie bei einem Mikadospiel ließ Kuma dort überdimensionale Stäbchen fallen und türmte weitere darauf auf. Erst beim zweiten Hinsehen entpuppt sich der Bau als eine stachelige Ananas. Drinnen im Teehaus ist jeder willkommen, Ge­ tränke und Kuchen sind gratis, man fühlt sich geborgen wie in einem Nest. Das Interiordesign ist so exquisit, dass allein die Toilette einen Besuch wert ist. Wenn Reisende aus dem Westen drei bis vier Tage in Tokio bleiben, glauben sie hinterher, drei oder vier Wochen in der Stadt gewesen zu sein, so überwältigend ist die Flut an Ein­ drücken und Gegensätzen. Bei moder­ ner Architektur täuscht der erste Ein­ druck oft darüber hinweg, dass den

Die japanische Seele lebt auch im Otemachi-Wolkenkratzerviertel weiter. Kerry Hill Architects haben die Lobby des Hotels Aman im 33. Stock wie ­eine Papierlaterne designt, und zwar sechs Stockwerke hoch. Felsen, ein Teich und Düfte machen sie zur idealen ­Oase fürs Verschnaufen. Keine andere Stadt hat ihre Cafés, Restaurants und Hotellobbys für Off-­ Office-Arbeit so attraktiv gestaltet wie Tokio, mit Internet- und Stroman­ schluss, breiten Tischen und ohne Zeitlimit. Selbst Autohersteller sind

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04 Aman Hotel Die japanische Seele in der ­Moderne bewahren 05 House and Garden von Ryue Nishizawa – Blumentöpfe als Vorhänge

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03 01 SunnyHillsTeehaus Holzananas als Markensymbol von Kengo Kuma

02 Café Mid Arbeiten bis Mitternacht; nebenan die Case Gallery von Toshiki ­Yukawa

03 Spinne von Louise Bourgeois vor dem Mori Tower mit Mori Museum

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WENN REISENDE AUS DEM WESTEN DREI BIS VIER TAGE IN TOKIO BLEIBEN, GLAUBEN SIE HINTERHER, DREI ODER VIER WOCHEN IN DER STADT GEWESEN ZU SEIN, SO ÜBERWÄLTIGEND IST DIE FLUT AN EINDRÜCKEN UND GEGENSÄTZEN

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06 Spiral Hall von Fumihiko Maki mit Shops, Restaurants und Event-Halle

dazu übergegangen, ihre Showrooms in Arbeitsinseln zu verwandeln. Bei Mercedes in Midtown etwa und bei BMW neben der Tokyo Station, wo die Coffee-Workspaces bis spätabends für jedermann zugänglich sind. Das Café Mid in Yoyogi Hachiman schließt erst nach Mitternacht. Bei gedimmtem Licht, cooler Musik und japanisch-westlicher Fusionküche lassen Workaholics am Laptop den Tag Revue passieren, beantworten die letzten Mails. Nebenan zeigt Toshiki Yukawas ­Case Gallery modernes Textildesign. Auch dieser Bau ist ein gutes Beispiel dafür, wie auf winzigem Baugrund, in diesem Fall dreieckig, etwas Großartiges entstehen kann – genial und zum Kopfschütteln. Konzipiert hat die Galerie mit dem grauen Schmetterlingsflügel als Schrägdach Kenichiro Niizeki. Gleich davor führt die Durchfahrtsstraße Yamatedori hinauf nach Shin-

juku. Die drei Türme des Park Tower mit dem Hyatt-Hotel, wo einst Sofia Coppola „Lost in Translation“ drehte, weisen den Weg. Von der Lobby mit dem Bambuswäldchen im 43. Stock aus fällt der Blick auf die untergehende Sonne über dem Fujiyama und die Wolkenkratzer im Osten, die bei Erdbeben schwingen wie – ja, wie ein Bambuswald. Park Tower war das letzte Projekt des Nachkriegsarchitekten Kenzō Tange – drei Monolithen, die Japans Wirtschaftspower signalisieren sollen. Inzwischen wurde das Sonnenreich aber von China überrundet und die Symbolik ruiniert. Der romantischste Spot der Stadt oben im 43. Stock hat aber seine Anziehungskraft behalten, samt seinem „Lost in Translation“-Mythos. Hier sollte man am letzten Reisetag mit einem Cocktail „sayonara“ sagen. Der Großraum Tokio hat 35 Millio­ nen Einwohner. Familien leben zwi-

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01 Yakumo Saryo Spartanisches Edelrestaurant von Shinichiro Ogata 02 Cibone Shop mit erlesenen Designobjekten 03 Iguaneye Schuhwerk, den AmazonasIndianern abgeschaut

schen Bürofestungen in einem Häusermeer aus Holz, in zweistöckigen Bauten, die sich an Nudelsuppenbuden schmiegen, an Designer- und Gemüseläden, Tempel und Architektur­ extravaganzen. Ein Kunterbunt, das täuscht. Zwar verändert sich nach außen ständig alles, doch die inneren traditionellen Werte bleiben. Wie in Harajuku, noch so einem Dorf in der Stadt, in dem man das Gefühl hat, nur eine bestimmte Altersgruppe anzutreffen mit entsprechendem Dresscode. Drängeln sich in Shibuya Japaner zwischen 20 und 30, die in Discos übernachten und sich die neueste Mode gönnen, so sind in Harajuku Teenager mit dem Taschengeld von den Eltern unterwegs – oft in Schuluniform oder im Outfit ihrer Anime-Helden. Beliebter Treffpunkt ist das Kawaii Monster Café, mit jungen Kellnerinnen, die der neues­ten Manga-Story entsprungen zu sein scheinen. Zum Anziehen ihrer Kostüme brauchen sie Stunden. „Ka-

Am Anfang war

das Leder w w w . d e s e d e . c h

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waii“ bedeutet auf Japanisch so viel wie „cute“, lieblich. LSD-Papst Timothy Leary hätte bei der poppigen Innen­ einrichtung des Caférestaurants Pate stehen können. SHOPPEN, SHOPPEN, SHOPPEN

Auf der Omotesando, sie wird auch als Tokios Champs-Élysées bezeichnet, reihen sich die internationalen, von Stararchitekten gebauten Flag­shipStores: Dior (SANAA), Louis Vuitton (Jun Aoki), Benetton (Kishō Kurokawa), Omotesando Hills (Tadao Andō), Tod’s (Toyo Ito) und Prada (Herzog & de ­Meuron) – shoppen, shoppen, shoppen.


01 Monorail mit Rainbow Bridge Fahrerlos die Skyline erleben

02 Maison Mihara Boutique des Puma-Sneakerdesigners ­Yasuhiro Mihara

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„ICH BIN PERFEKTIONIST, UND DA MUSS ICH AUFPASSEN, DASS SCHÖNHEIT NICHT IN DER PERFEKTION ERSTICKT“ SHINICHIRO OGATA DESIGNER

Dabei ist schon manchem Designer oder Bauherrn – wohl unbewusst – ein symbolisch-sarkastisches Statement entglitten. Den Eingang zum Kaufhaus Tokyu Plaza Omotesando Harajuku hat Jungstar Hiroshi Nakamura wie einen riesigen Rachen aus Spiegeln gestaltet, der die Konsumenten verschlingt. Beim Mori-Building-Komplex in Roppongi wiederum grüßt im Eingangsbereich eine gigantische Spinne der französisch-US-amerikanischen Künstlerin Louise Bourgeois – Gott sei Dank ohne Netz. Und immer wieder eingestreut: kleine Läden wie Designbonbons. Kunstvoll-knifflig in der Wahl von Ma44

terial, Proportionen und Licht erzählen sie ihre Produktstory. Im Maison Mihara sind es quer verlaufende Holzbohlen und schweres Leder, das an Spring­böcke und Gymnastikmatten erinnert. In einem Schaukasten wird die Nähe zur Marke demonstriert: Vor aller ­Augen wird gemessen, geschneidert und genäht. Modestar Yasuhiro Mi­hara ist vor allem bekannt für seine Sneakerdesigns für Puma. Ganz anders die Räucherstäbchenboutique Lisn. Welches Material entspricht der Leichtigkeit eines Dufts, fragte sich Papierkünstlerin Eriko Horiki aus Kyoto. Natürlich Papier. Handgeschöpft. Und so sind bei Lisn die bestimmenden

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03 Teeset von Osamu Saruyama bei Time & Style Midtown 04 Lisn 1000 Düfte im PapierEnvironment von Eriko Horiki

Designelemente hängende Papierleuchtwände. Auf Glastischen präsentieren sich Stäbchen in Hunderten Farbschattierungen. Man kann sie testen und stellt fest, dass sich der Duft auch im kleinen Raum angenehm zurückhält. Liebevoll verpackt und federleicht sind sie ideale Mitbringsel. Klein ist auch der Verkaufsraum von Iguaneye, wo Soichi Mi­zutani Schuhe präsentiert, die den Amazonas-Indianern abgeschaut sind. Um ihre Füße zu schonen und den Erd­boden dennoch unmittelbar ertasten zu können, tauchten sie die Sohlen in Kautschuk. Das computergenerierte Innendesign bei Iguaneye erinnert sowohl an die weiße Farbe des Naturgummis als auch an dessen Form­barkeit. „Ich bin Perfektionist, und da muss ich aufpassen, dass Schönheit nicht in der Perfektion erstickt“, sagt Shinichiro Ogata. Er designt fast alles: ­Möbel, Räume, Essen, Geschirr,

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WOHNEN amantokyo.com casedepon.com lisn.co.jp timeandstyle.com KUNST UND KULTUR 2121designsight.jp craft-teaandcoffee.com mori.art.museum spiral.co.jp suntory.com/sma/ DESIGN UND SHOPPING iguaneye.jp miharayasuhiro.jp sunnyhills.com.tw/ omohara.tokyu-plaza.com/en/ ESSEN UND TRINKEN kawaiimonster.jp www.mid.vc hyatt.com yakumosaryo.jp/e/

01 Olympiastadion von Kenzo Tange im Yoyogi Park

Bücher, Stimmungen. Und er ist getrieben von der Obsession, im Auftrag japa­nischer Einzigartigkeit zu handeln – wie alle seine Kollegen im Kaiserreich. Der Perfektion im Beruf nicht gerecht zu werden, das wäre die schlimmste Schmach. Und dennoch – das Unperfekte eines Materials kann sehr wohl Ausdruck absoluter Perfektion sein. So sind sie, die Japaner, in ihrer zweideutigen Offenheit. In Ogatas Restaurant Yakumo Saryo (ein Dinner für zwei kostet über 500 Euro) ist der Steinboden stellenweise abgetragen, manchem Europäer mag das schäbig vorkommen. Sprünge 46

in einer Vase sind gekittet – allerdings mit Gold. Die hölzerne Ausstattung erinnert an eine Mönchsklause. Einzig erlaubte Opulenz: die sprießende Natur im Fenster. Ogata erklärt, dass bei ihm die Tischhöhe genau 65 Zentimeter betrage, das ist etwas niedriger als im Westen. Damit entsteht unter dem Ellbogen mehr Bewegungsspielraum beim Halten von Reisschale und Stäbchen. Wäre der Tisch höher, müsste man die Arme stärker heben, und das würde sie unnötig belasten, vom Eigentlichen ablenken: vom besinnlichen Betrachten der Speise, des Geschirrs, des Mobiliars – und natürlich vom Essen.

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Freiraum für das Besondere moll unique

03 02 Tokyu Plaza Omotesando Harajuku Verspiegelter „Eingangsrachen“ zur Shopping­mall von Hiroshi Nakamura

03 Haus mit Baumfassade Omotesando Branches in ­Shibuya von Sou Fujimoto

04 Kawaii Monster Café Psychedelisches wie bei „Alice im Wunderland“

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Ein ganzheitliches Möbelkonzept, das sich jeder Arbeits-, Wohn- und Lebenssituation anpasst – das ist moll unique. Ob für Tätigkeiten im Sitzen oder im Stehen: Die Kombination aus ausgezeichnetem Design, Ergonomie und Komfort führt zu einer Kollektion, die grenzenlose Freiheiten ermöglicht und ein Leben lang erfreut.

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DESIGNER-PORTRÄT SOU FUJIMOTO

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RADIKALE MODERNE

DIE WAHRE GRÖSSE ZEIGEN Sou Fujimoto gilt als genialer Andersdenker, als revolutionärer Geist. Er hat nicht nur der ­Archi­tektur in Japan neues Leben eingehaucht. Längst ist er zum internationalen Star avanciert, der 2017 sogar den Serpentine Pavilion gestalten durfte. Seine raffinierten Tricks, um Kleines groß erscheinen zu lassen, stehen ganz in der Tradition der japa­ni­schen Baukunst

01 Multifunktional Im NA House sind Regale gleichzeitig Sitzflächen, Treppen und Tische 02 Sou Fujimoto in seinem Serpentine Pavilion in London

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TEXT: Roland Hagenberg

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DESIGNER-PORTRÄT SOU FUJIMOTO

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01 Raffinierte Durchblicke nehmen dem Tokyo Apart­ ment Haus jegliche Schwere 02 Treppen wären im Tokyo Apartment Platzver­ schwendung

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um Stararchitekten gelangt man über den Aufzug ­des Buchbinders. Rasselnd öffnet sich die Metalltür. Es riecht nach Druckerschwärze. Dann eine steile, schulterschmale Treppe hoch, und wir stehen im Atelier. An abgekratzten Betonwänden kleben verstreut Kacheln – schwer zu erkennen, ob gewollt oder notgedrungen. Unmissverständlich dagegen das Schweigen der Mitarbeiter. Gedrängt und konzentriert sitzen sie vor Bildschirmen, verteidigen an kleinen Tischen, was ihnen an Privatsphäre geblieben ist, mit Styroporblöcken, Modellteilen und Pappschachteln. Willkommen in der kreativen Welt von Tokio. Willkommen in der Architekturwerkstatt von Sou Fujimoto.

Als könnte er Gedanken lesen, erklärt der großgewachsene Japaner gleich bei der Begrüßung, dass Privatsphäre ein Konzept der Amerikaner sei. „Unsere traditionellen Bauten kannten keine Barrieren, die Türen waren aus Papier, jeder konnte jeden hören, sehen, fühlen. Sich zurückziehen, sich abkapseln war uns fremd. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das eingeschlichen.“ Wir nehmen Platz vor einem Holzmodell, das bis zur Decke reicht. Wie die meisten seiner Kreationen hat der 47-Jährige auch diese mit Buchstaben gekennzeichnet, und zwar mit den Initialen des Auftraggebers: NA House. „Der Baugrund war typisch japanisch, ein kleiner Erdfleck im urbanen Wirrwarr“, sagt Fujimoto. „Die Besitzer, ein junges Ehepaar, lebten zuvor in klar definierten Bereichen: Küche, Vorraum, Wohn- und Tatami-Zimmer. Dem wollten sie entkommen. Kojen und Buchten, lose verbunden, verteilt auf verschiedenen Ebenen – das war meine Lösung.“ In den aufgestapelten Glasboxen des NA House können die Bewohner je nach Laune die passende Ecke finden, zum Lesen, Essen, Schlafen, Arbeiten oder Musikhören. Ständig wechseln Nischen, Fluchten und Winkel ihre Funktion, ermöglichen ein transparentes Leben im Fluss, im Transit – so wie Tokio.

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03 Tokyo Apartment ist Fujimotos ironische Antwor­t auf den noto­­ri­schen Platz­mangel in der Stadt

04 Nach diesem Holzmodell entstand das Tokyo-Apartment-Haus von Sou Fujimoto

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„UNSERE TRADITIONELLEN BAUTEN KANNTEN KEINE BARRIEREN. SICH ZURÜCKZIEHEN WAR UNS FREMD“ SOU FUJIMOTO ARCHITEKT

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DESIGNER-PORTRÄT SOU FUJIMOTO

01 Fujimotos Erstlingswerk Final Wooden House in Kumamoto

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02 Die Außenwände im Final Wooden House dienen auch als Mobiliar

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Dass die Metropole keinen zentralen Stadtkern aufweist, treibt sie erst recht an. Im 35-Millionen-Großraum ragen gleich mehrere Zentren mit Wolkenkratzern in den Himmel, verbunden durch ein Häusermeer – aus Holz. Die meisten der zwei- bis dreistöckigen Familienbauten haben eine Lebensspanne von nur 30 bis 40 Jahren. Danach werden sie abgerissen, machen den Weg frei für eine neue Generation. Oft sind die Erben zahlungsunfähig, denn die Erbschaftssteuer ist hoch, deshalb verkaufen sie Grundstücksanteile. So werden die Fundamente in Japans Städten immer kleiner und bizarrer. Es ist also nichts Ungewöhnliches, wenn der zwölfstöckige Bau nur vier Meter breit ist und in der Länge auch noch spitz ausläuft.

Diesen Raummangel müssen ja­ panische Architekten durch Kreativität wettmachen. Beim Tokyo Apartment hat Fujimoto fünf Minihäuser so arrangiert, als hätten Kinder sie beim Spielen aufeinandergestapelt. Jede Einheit besteht aus einem Zimmer, erreichbar über eine Metalltreppe im Freien. Besser und humorvoller hätte man die Lebensdichte der Stadt visuell nicht ausdrücken können. Im Durchschnitt wohnen hier 13 300 Menschen auf einem Quadratkilometer. Zum Vergleich: In München sind es 4300. Und trotzdem empfinden Japaner ihre Hauptstadt als Dorf, als ein nach außen gekehrtes Gemeinschaftswohnzimmer. Aufgewachsen ist Fujimoto am anderen Ende Japans, auf der nördlichen Insel Hokkaido, in unberührter Natur. Sein erster großer Wurf gelang ihm vor zwölf Jahren mit dem Final Wooden House. Scheinbar durcheinander hat er 35 Zentimeter dicke Zedernblöcke aufgestapelt und ein Gebäude geschaffen, bei dem sich die Funktionen von Wand, Boden und Möbel austauschen lassen, je nachdem, wo man steht und liegt und was man tut. „Wie in Urzeiten, in Höhlen, als es noch keine Designer und keine Architekten gab.“ Zwölf Jahre nach Fertigstellung ist der Blockbau auf der Insel Kyushu eine beliebte Fallstudie für Schulbücher.

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03 Sou Fujimoto ist in der gebirgigen Region Hokkaido aufgewachsen

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DESIGNER-PORTRÄT SOU FUJIMOTO

„WIR KÖNNEN NICHT MEHR DASITZEN UND WARTEN, DASS DIE LÖSUNGEN VON SELBST AUF UNS ZUKOMMEN!“ SOU FUJIMOTO REVOLUTIONÄRER ARCHITEKT

01 Das Leben ist offen, frei und uneinsehbar wie in einer Baumkrone 02 L’Arbre Blanc in Montpellier hat Fujimoto mit einem internationalen Architektenteam entwickelt. Wohnungen lassen sich wie Mo­dule verändern

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Auch Fujimoto unterrichtet. Seinen Studenten gibt er Hausaufgaben, das heißt, Themen, über die sie sich den Kopf zerbrechen sollen. Ihre Vorschläge, Pläne und Lösungen beurteilt er nicht als gut oder schlecht, sondern sucht nach Ansatzpunkten, an denen sein Unterricht bereits Wurzeln geschlagen hat. Von da an wird diskutiert, ausprobiert und revidiert. Für den Professor ist das mehr Training als Arbeit, und er hat Spaß dabei – den er ebenfalls versucht, an die Studenten weiterzugeben. „Dabei kam ich zur Überzeugung, dass man Architektur unter einem breiteren Blickwinkel sehen sollte und nicht so engstirnig nur aufs Häuserbauen bezogen. Die ganze Stadt gehört dazu. Ich denke, japanische Architekten – und dazu gehöre ich auch – sind immer noch nicht ganz erwachsen in Bezug auf Großraumplanung. Ich möchte, dass meine Studenten zu den Kollegen im Ausland aufholen, denn die sind viel besser, wenn es um komplexe Lösungen für die Stadtplanung geht.“ In seinem Buchmanifest „Primitive Zukunft“ verteidigt er als Architekt den Ur-Raum des Menschen, die Höhle. Sie ist roh und robust und ohne jede Künstlichkeit. Ein idealer Ausgangspunkt für räumliche Entdeckungen und Alternativen. Erst wenn sich allmählich Emotionen mit ihr verbinden, wächst sie über ihre pure Schutzfunktion hinaus. Dann wird sie praktisch und wohlig und schließlich ein Nest. Daran dachte er auch, als er in Hokkaido ein Krankenhaus für behinderte Kinder baute. „Ich stellte fest, dass sie Ecken brauchen, in die sie sich zurückziehen können, wenn sie Probleme haben, aber so, dass sie von ihrem Versteck aus die Welt draußen verfolgen können. Das gilt eigentlich für

alle Menschen, nur geben es Erwachsene nicht gern zu.“ Unsere Höhlenherkunft bezeichnet Fujimoto als Embryonalstadium der Architektur, die wir im Hinterkopf behalten müssen, wenn wir die Zukunft planen. Und er glaubt fest daran, dass sein Beruf die Gesellschaft bereichern und die Lebensqualität steigern kann – selbst in Zeiten, in denen wirtschaftliches Wachstum gefährdet ist. „Ich möchte dazu beitragen, dass es in Japan wieder mehr revolutionäre Konzepte gibt. Das alte ökonomisch-ökologische System bricht zusammen. Wir können nicht mehr dasitzen und warten, dass die Lösungen von selbst auf uns zukommen!“

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TRENDSCOUT NEUHEITEN 2018

WAS UNS AUFGEFALLEN IST

VOR ZURÜCK VOR

Beim großen Treffen der Einrichtungsbranche in ­Mailand, dem Salone del Mobile, gibt es schon lange nicht mehr den einen Trend zu entdecken. Immer sind es mehrere, manchmal durchaus gegenläufige Strömungen. Mitunter ist es vielleicht auch nur Zufall, dass einige wichtige Hersteller zur selben Zeit auf eine ähnliche Idee gekommen sind. Wir haben uns für Sie umgesehen und ein paar interessante Themen registriert, etwa Vitras einzigartig coole Re-Installation der Achtziger – übrigens nicht der einzige Trend, der die Zukunft in der Vergangenheit sucht. Voilá!

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01 Klassiker mit Glamourfaktor Die Chrome-Variante von Verner Pantons S Chair ist zwar erst 2018 entstanden, passt aber perfekt in die Eighties

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02 Gesamtkunstwerk Die VitraInstallation in Mailand feierte die Achtziger unter anderem mit Beistell­tischen mit verzinkter ­Oberfläche und einem ­Mariposa-Sofa in neuem Stoff

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MICROWOHNEN Dieser Trend ist kein Trend, sondern eine logische Notwendigkeit und Ausdruck einer gesellschaftlichen Entwicklung. Die Verstädterung verknappt den Platz in den Metro­polen, und neue Wohnformen ent­stehen. Gefragt sind deshalb kleine, mobile, modulare Möbelstücke, die den knappen Raum optimal und flexibel nutzen. Da gibt es viel Neues – bis hin zum Schreibtisch aus Japan, der zum Herd mutieren kann.

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TRENDSCOUT NEUHEITEN 2018 04 01 Couchtische ISO-A und ISO-B Optische Täuschung durch Überlagerung (Petite Friture)

03 Modulares Sideboard QUARK Anordnen nach eigenem Gusto (MDF Italia)

02 AC 01 Wenn der Bambussekretär zur Küche wird (Sanwa Company)

04 Wandregal String Pocket Kultregal aus Schweden (String Furniture)

05 Sofa Silhouette High Backed Eleganz durch die hohe Rückseite (Hay)

06 Hocker Butler Damit kann man im Mikro­ apartment alles erreichen (Hay)

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MARMOR

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01 Pli Table Spektakuläre Maserungen, Farben und eine verblüffende Geometrie hat Victoria Wilmotte hier vereint (ClassiCon) 02 Coffee Table Square – Black base Vom Designerduo GamFratesi ent­wor­ fener, schwerer Marmortisch (Gubi)

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TRENDSCOUT NEUHEITEN 2018

Marmor is back. Geölt, matt oder glänzend poliert – schon seit ein paar Jahren taucht das klassisch-edle Naturmaterial wieder verstärkt auf, ob bei Accessoires oder, vor allem, bei Tischplatten, ob rund oder eckig, klein oder groß. Marmor signalisiert Stärke und Unvergänglichkeit, und spätestens wenn er so sensibel und ästhetisch behandelt wird wie beim Tisch Tense von MDF Italia mit seinen feinen hellen Intarsien­ linien, ist Marmor in der zeit­ge­ mäßen ­Luxusklasse angekommen.

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06 Tisch Tense Attraktive Platte aus Marmorstaub mit Intarsien (MDF Italia) 07 Moon Coffee Table Nicht nur optisch ein Schwergewicht ist dieser Marmortisch mit einem Fuß aus dunklem Holz, entworfen von Space Copenhagen (Gubi)

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08 Coffee Table Cookies Pietro Russo designte diesen dreibeinigen Tisch mit viel Liebe zum Detail (Gallotti&Radice)

03 /04 Accessoires von Louise Roe Neben klassischem weißem rückt jetzt grüner und schwarzer Marmor ins Rampenlicht 05 Runder SaarinenEsstisch Der elegante Klassiker mit der markanten Marmorplatte fügt sich in jeden Einrichtungsstil ein (Knoll International)

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01 Fiberglass Side Chair Die Eames-Ikone ist bald wieder im Originalmaterial erhältlich (Vitra)

02 Stuhl .03 Jetzt in neuen Farben zu ordern (Vitra)

03 Bertoia Full Cover Diamond Chair Jetzt in neuen Stoffen verfügbar (Knoll International)

04 Sofa Maralunga Maxi Beliebter Klassiker nun in weichem Samt (Cassina)

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05 Tisch Alanda Neu aufgelegt wurde der bei Samm­lern begehrte Couchtisch von Paolo Piva (B&B Italia) 05

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Möbelstücke werden nur dann zum Klassiker, wenn sie mit der Zeit gehen, sich immer wieder behutsam verändern und weiterentwickeln. Andernfalls werden sie zu Museumsstücken. Und die verstauben irgendwann im Depot. Wir haben Klassiker gefunden, die gerade ein neues Leben erhalten haben: durch neue Bezugsmaterialien, neue Farben oder die Tat­sache, dass es, wie bei den Fiberglass Chairs von Ray und Charles Eames, doch möglich ist, das Original­ material gefahrlos zu verarbeiten.


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01 Sessel BAY Diese Kollektion ist vor allem für den Außenbereich ge­ dacht (B&B Italia)

02 Stuhl Aërias Traditionelles Flecht­werk in modernem Design (ClassiCon)

03 C-Chair Von Marcel Gascoin 1947 ent­ worfener, eleganter Stuhl, jetzt neu aufgelegt (Gubi)

04 Sessel Basket Nun wieder in der Origi­ nalversion von 1950 erhältlich (Kettal)

05 Sofa Curry Be­ queme Outdoor­ couch von Piero Lissoni (Porro)

06 Stuhl 118 Schlichter Neoklassiker von Sebastian Herkner (Thonet)

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Handwerkskunst macht den Unterschied beim Einrichten 2018. Möbel, denen man ansieht, dass sie von engagierten Menschen gefertigt wurden, vermitteln einfach mehr Gefühl. Das gilt auch und gerade, wenn es um die Flechtkunst geht. Geflochtenes Material ist indi­viduell, hat Seele und Leben. Darüber hinaus vermittelt Gefloch­ tenes Leichtigkeit, Flexibilität und Transparenz – wahre Werte fürs 21. Jahrhundert.

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DIE GOLDENEN  TWENTIES

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In schwieriger werdenden Zeiten er­­ innert man sich gerne an eine schein­ bar bessere Ära. Wenn diese Küchen­ psychologie stimmt, ist es nur logisch, dass die angeblich so goldenen Zwanzi­ gerjahre fröhliche Urständ feiern: gedeckte F ­ arben, wertige Materialien wie Messing, viel Hand­arbeit, feines Kristall, orga­nische Formen und grafi­ sche Muster lassen eine durchästhe­ tisierte Welt auferstehen, die lange verschwunden zu sein schien.

01 Gläser und Vasen von Louise Roe Feiner skandinavischer Purismus aus Kopenhagen 02 Stay Sofa Das schlichte und ­gemütliche Sofa passt auch in einen opulenten Rahmen (Gubi) 03 Hängelampe Eris Perfekt verarbeitete, edle LED-Pendelleuchte (Gallotti&Radice)

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05 10 Pacha Lounge Chair Stilvolles Trio mit Spiegel F.A.33 und Stehleuchte Multi-Lite im Palazzo Serbelloni (Gubi)

10 04 Multi-Lite Pendelleuchte Vielfältig verstellbar – und immer mit Style (Gubi) 05 Eulero Outline Handgear­­­ beiteter Wollteppich von Elena Salmistraro (cc-tapis)

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06 Tischleuchte 5321 von Paavo Tynell Wiederaufgelegte Leuchte aus Messing mit einem Schirm in Blattform (Gubi)

07 Wandschirm Chloé Paravent aus Messing, Seide und Spiegeln mit Marmorfüßen (Gallotti&Radice)

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08 Beetle Lounge Chair Der perfekte Lounge-Stuhl im Zwanziger­ jahre-Stil (Gubi)

09 Glaskunst von Louise Roe Glasaccessoires auf einem Hirche-Bar­wagen (Richard Lampert)

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FAMOUS CHAIR #13

WIE BEI SHERLOCK HOLMES ZU HAUSE IN DER ERSTEN „SHERLOCK“-STAFFEL aus dem Jahr 2010 berät sich Golden-Globe-Preisträger Benedict Cumberbatch (42) alias Sherlock Holmes am liebsten in Le Corbusiers Sessel LC2 mit seinem Partner Watson. Der LC2 gehört zu den erfolgreichsten und stilprägendsten Möbelstücken der Bauhausära. Kaum zu glauben: Die Designikone stammt aus dem Jahr 1928. Bis heute wirkt sie so aktuell, dass sie aus unzähligen Entrees, Foyers, Lobbys und Lounges dieser Welt nicht mehr wegzudenken ist. Alles an Sherlocks Lieblingssessel vermittelt Modernität: die geo­metrische kubische Form, das Fehlen von „Verzierungen“ und die Wahl klassischer, alterungsbeständiger Materialien wie Leder und Edelstahl. Der auf den ersten Blick einfache Entwurf verdankt seinen Sitzkomfort vielen raffinierten und teils versteckten Details – typisch für Le Corbusier.

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Le Corbusier, eigentlich Charles-Édouard Jean­neretGris, 1887 bis 1965, war ­ einer der einflussreichsten und zeit seines Lebens umstrittensten Architekten des 20. Jahrhunderts. Allein 17 seiner Gebäude zählen heute zum Weltkultur­erbe. Legendär ist auch sein ­Möbeldesign, darunter der Sessel LC2 oder die Chaiselongue LC4.



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The Original comes from Vitra


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