Schlussbericht „Was bedeutet liberal heute?“ im MoneyMuseum Zürich, 12. September 2019

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Protokoll 12. September 2019

Was bedeutet liberal heute? Liebe Leserin, lieber Leser Wir schreiben den 12. September 2019. Der Gründer der Sunflower Foundation Jürg Conzett lädt in den neuen Saal des MoneyMuseums am Zürichberg zur Panelkiskussion mit dem Thema «Liberalismus heute». Bereits zum 171. Mal feiert die Schweiz an diesem Tag ihre von liberalen Strömungen erwirkte Bundesverfassung. Doch wie steht es aktuell um den Liberalismus? Bedeutet er noch etwas und wer setzt sich für ihn ein? Diese Fragen sind besonders relevant in Hinblick auf die kommenden Parlamentswahlen im Oktober. Sie finden zu einer Zeit statt, in der globale Themen wie der Klimawandel die politische Agenda bestimmen und liberale Ansätze entscheidende Beiträge liefern könnten. Auf dem Podium diskutieren Sarah Bütikofer (Institut für Politikwissenschaft, UZH), Franziska Barmettler (Vorstandsmitglied Operation Libero, GLP-Kantonsrätin ZH), Nicola Forster (Gründer Thinktank foraus, Co-Präsident GLP Kanton Zürich) und Andri Silberschmidt (FDP-Nationalratskandidat). Die anspruchsvolle Aufgabe der Moderation übernimmt der Publizist und ehemalige Lokalpolitiker Chris Zollinger. «Den Wohlfahrtsstaat verdanken wir nur dem Liberalismus.» «Es gäbe kein so grosses liberales Lager, wenn wir nicht so reich wären.» «Die Marktwirtschaft verliert an Spielraum.» «Bankensterben», «Überregulierung des Finanzbereichs», «Klimawandel». Sie sehen, liebe Leserin, lieber Leser, das Stichwort Liberalismus bringt nicht nur Zündstoff für anregende Diskussionen, der Begriff wird auch mit einer unfassbaren Tragweite an Problemstellungen in Verbindung gebracht. Und dies, obwohl sich ein Grossteil der Anwesenden, zumindest zu Beginn der Diskussion, als liberal einstuft. So versucht diese kurze Rezension mit Rückblick auf die lebhafte Paneldiskussion dem Liberalismus eine aktuelle Standortbestimmung zu gewähren. Die Politikwissenschaftlerin Sarah Bütikofer erklärt: «Im heutigen Abstimmungsverhalten ist zwar eindeutig zu sehen, dass grosse und mittelgrosse Städte sich im Vergleich zu vor 30 Jahren ins progressive liberal-linke Feld bewegen. Parallel dazu ist aber eine Verzettlung in der allgemeinen politischen Orientierung zu beobachten.» Seite 1/4


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Modernisierungsachse: Verteilung 1991 (Quelle: sotomo)

Ein konstantes liberales Lager lässt sich nicht mehr so leicht herausfiltern, da sich die gesellschaftlich relevanten Fragen heute als Querschnittsthemen verstehen. Die mit neuen Herausforderungen einhergehenden verstärkten Gegensätze können auch eine Chance für die Neupositionierung liberaler Parteien sein. Mit vier Thesen versucht sich die abendliche Gesprächsrunde liberaler Haltungen etwas anzunähern.

Gehören Liberalismus und die Marktwirtschaft zusammen?

Modernisierungsachse: Verteilung 2018 1 (Quelle: sotomo)

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Das tun sie. Dennoch wäre es aus mehreren Gründen falsch, sie einander gleichzusetzen: Erstens ist es die Aufgabe des Liberalismus, den Spielraum für die Marktwirtschaft zu schaffen und dabei die staatliche Rolle mitzudenken. Zweitens krankt die freie Marktwirtschaft dank der Globalisierung immer mehr an externen und internationalen Regulierungen. Da auch diese und die damit verbundenen Konflikte stets auf die Agenda des Liberalismus geschrieben werden, bedarf es einer neuen Definition des

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Wirkungsraums von Liberalismus. Die globalisierte Marktwirtschaft bringt drittens eine wirtschaftliche und kulturelle Entgrenzung nationaler Räume mit sich. Dieses Spannungsfeld erfordert eine rasche Neupositionierung der liberalen Denkweise. Der dritte Grund betrifft die Schweiz als politisch liberal-orientierte Demokratie noch mehr als andere. Wer den Liberalismus der Marktwirtschaft in diesem Kontext gleichstellt, geht von einem linear wachsenden Wohlstand ohne Ressourcenlimits aus. Jedoch ist auch da das allgemeine Verständnis von Liberalismus an eine Grenze gestossen, weshalb er sich mit seinen Botschaften erneut glaubhaft positionieren muss.

Wie lautet die Haltung des heutigen Liberalismus gegenüber sozialer Spaltung und Ungleichheit? Laut der Vertreterin von Operation Libero, Franziska Barmettler, steht die Bekämpfung der Ungleichheit an oberster Stelle der liberalen Agenda. So richtig nimmt ihr das Publikum diese Worte nicht ab. FDP-Nationalratskandidat Andri Silberschmidt schlägt indessen mit seinem Wahlkampfslogan ein neues Verständnis von Chancen in der heutigen Gesellschaft vor: «Eine realistische Chancenvielfalt statt einer unnahbaren Chancengleichheit.» Der Liberalismus habe die Macht, Chancen für alle zu schaffen, heutzutage jedoch nicht die Möglichkeit, Werte wie Chancengleichheit zu garantieren. Der Liberalismus hat die Macht? Nehmen wir uns eine Minute Zeit und fragen uns: Sprechen wir allgemein dem Liberalismus selbst eine Art «agency» zu? Gemeint ist eine unabhängige Handlungsmacht, womit das Konzept Liberalismus auch ohne Wählerinnen und Wähler seine Werte in das Alltagsgeschehen einfliessen lässt. Doch sollten wir den Liberalismus nicht vermehrt als eine von Menschen gemachte Strömung wahrnehmen? Silberschmidt plädiert für Letzteres und meint, eine Mini-Revolution sei nötig, damit Wählerinnen und Wähler ihr Potenzial im Mitwirken erkennen und den Liberalismus als Zugkraft einer progressiven Politik gestalten. Doch wie kann der Liberalismus einen Aufschwung erleben, wenn er laufend mit anderen starken Strömungen der modernen Politlandschaft konfrontiert wird?

Wie hast du es mit dem Populismus, lieber Liberalismus? Populismus – ein aufgeladenes Thema, wobei Panelvertreter der GLP und FDP eloquent versuchen, die Anschuldigungen des Publikums abzufangen. Ja, es ist wahr: Die Liberalen sprechen nicht über die Strukturen, die durch das Propagieren der Freiheit entstehen. Menschen werden gleich gehandelt wie Güter und können dank der Personenfreizügigkeit und der Freihandelsabkommen nach Belieben importiert und exportiert werden. Thinktank-Gründer und GLP-Vertreter Nicola Forster wendet ein, dass die liberale Ansicht im Gegensatz zum Populismus keine Grenzen, keine menschliche Werteskala bauen will. Jedoch ist niemandem im Raum so klar, wie genau die Position der Liberalen gegenüber dem rechtskonservativen Flügel lautet, der zurzeit einen stolzen Anteil von 29%

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der Schweizer Wählerinnen und Wähler ausmacht. Unser Proporzwahlsystem zwingt die Parteien nicht, sich stärker an der Mitte zu orientieren, um Wählerstimmen zu maximieren, und lässt so einen höheren Polarisierungsgrad zu. Alle Podiumsteilnehmenden sind sich dabei einig, dass die Parteien keine zeitgemässe Antwort auf den rechtspopulistischen Megatrend liefern. Die Links-rechts-Debatte scheint zur unfruchtbaren Sackgassen-Diskussion geworden zu sein. Die Gesprächsrunde fragt sich: Wäre es nicht eine liberale Haltung, davon wegzukommen? Und kann ein zeitgemässer Liberalismus den Charme aufbringen, ein neues Narrativ für die Neuorientierung zu setzen? Ja, das kann und das muss er. Vielversprechend sind die kommenden Parlamentswahlen und die Jungpolitikerinnen und -politiker, die sich dabei zur Wahl stellen. So hat Forster kürzlich mit Mitmachpolitik.ch eine Plattform ins Leben gerufen, mit der die Chancen einer digitalen direkten Demokratie genutzt werden sollen. Parteiübergreifend können sich Parlamentarierinnen und Parlamentarier auf dieser Plattform einschreiben und sich mit der Zivilgesellschaft austauschen sowie diese über Schwerpunkte in ihrer Agenda abstimmen lassen.

Sind Lab-orientierte Ansätze eine Chance für den Liberalismus? Sowohl Publikum als auch Panel sind sich in einig, dass neu aufkommende politische Bewegungen, wie zum Beispiel Operation Libero, bezüglich populistischer Phrasen Abhilfe schaffen können. Die grossen Herausforderungen unserer Zeit wie Klimawandel, Globalisierung oder Finanzkrisen und die fehlenden Lösungen erfordern ein neues Denken und erhöhen den Druck auf einen Systemwandel. Bewegungen wie Operation Libero und die Mitmachpolitik bieten niedrige Eintrittsschwellen, schnelle Resultate und themenbezogene Agenden. Sie können auch Nichtstimmberechtige und Nichtwählende erreichen, was den alten Parteien heute nicht gelingt. Nichtsdestotrotz sind Parteien nach wie vor die einflussreichsten Politikformulierer, Interessenaggregatoren und Repräsentanten zwischen Politik und Bevölkerung. Lab-orientierte Ansätze können indessen eine Möglichkeit für neue liberale Einflüsse sein, indem sie die politische Teilnahme fördern und dadurch Meinungs- und Chancenvielfalt ermöglichen.

Fazit Gesprächskultur Das Publikum blickt nach neunzig Minuten auf einen sehr unscharfen, vielseitig interpretierbaren Begriff zurück. Es ist sich jedoch einig, dass eine Förderung der Gesprächskultur ein für alle zugängliches Mittel ist, partizipativ gestaltete und zukunftsfähige Lösungen zu etablieren.

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