Der Digitale Wandel - Magazin für Internet und Gesellschaft Q4.2014

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Q4 2014

DER DIGITALE WANDEL MAGAZIN FÜR INTERNET UND GESELLSCHAFT

EURODIG

Temquam voluptiae excea quibusam,

WIE DAS LEBEN OHNE NETZNEUTRALITÄT WÄRE Eine Analogie zum Wiener Stadthallenbad

BROADCAST WHOM?

Die neuen alten Selbstverständnisse im Youtube-Ökosystem

EINE GESCHICHTE ÜBER JESSICA

Wer trägt die Verantwortung für Sicherheitslücken im Internet


D E R D I G I TA L E WA N D E L

Inhalt

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Big Data

Sicherheit im Netz

Technik & Wirtschaft

Digital geht nicht mehr weg . . . . . . . . . .4

Kay Strasser – Das Geschäftsmodell – die fünfte Gewalt im Staate? . . . . . . .22

André Vatter – Deutsche Digitalpolitik ist nicht das Ergebnis von Dummheit, Ignoranz oder Verbohrtheit. Sondern Vorsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .5 Übersicht der Autoren . . . . . . . . . . . . . . .6 BIG DATA

SOzIALe NeTzwerKe GONe prOfeSSIONAL

Thomas petzold und woitek Konzal – Das schlagende Herz von YouTube . . .25

Dr. Anja Osswald – Digital infiziert –Das Wir im Netz . . . . .8

Lorenz Grünewald – Broadcast whom? . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Jürgen Geuter – Das Öffentliche hat keine Lobby . . . . . 12

Geert Lovink – Netzdiskurs in Europa: Soziale Medien zwischen Nutzen und Hegemonie. . . 28

SIcherheIT Im NeTz

Linus Neumann – Politische Lösungen für eine sichere Zukunft der Kommunikation . . . . . . . .14 Janina Gera – Ein Zitat zum Aufregen . . . . . . . . . . . . . 17 Kleinerdrei.org – Eine Geschichte über Jessica . . . . . . . .18 henning Tillmann – Wenn das Internet zur DVD wird – erneuter Fehlgriff beim Online-Jugendschutz . . . . . . . . . . . . . . 20

Stefan westphal – Was Radiojournalisten vom PodcastRekord Serial lernen können . . . . . . . 34 NeTzNeuTrALITäT

Illustration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .37 Jakob Steinschaden – Schwimmbad-Analogie: Wie das Leben ohne Netzneutralität wäre . . . . . . . . . 38 DIGITALpOLITIK 101

Der Digitale Wandel Weltweit . . . . . . 39

TechNIK & wIrTSchAfT

Ole wintermann – Daimler vs. Google: Nie waren PS und Länge so überflüssig wie heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 christian heise, christian herzog, Jan Torge claussen – Chronisch Untervorsorgt: Die netzpolitische Dimension des Breitbandausbaus . . . . . . . . . . . . . .47 Gerald Swarat – Smart Country – Mit der Digitalen Agenda in die Fläche . . . . . . . . . . . . . . .55 Termine . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .47 Über das collaboratory . . . . . . . . . . . . .57 Das editorial Board . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59


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Der Mensch vernetzt sich und Technologie wird Teil des Organismus #InternetOfThings #Cyborg

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Das Internet ist – rein technisch – ein gleichberechtigtes Netzwerk von Computern. Doch wer stellt die Regeln auf? #InternetGovernance #Regulierung #OpenGovernment

Digital geht nicht mehr weg. warum wir uns über Digitalisierung Gedanken machen müssen

Das Internet löst die Grenzen zwischen dem Privaten und Öffentlichen auf #Transparenz #Sicherheit #Überwachung

Soziale Netzwerke prägen unsere Kommunikation #Kultur #SocialMedia #Datenschutz

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Wir haben Zugang zu einer Masse an Informationen und produzieren immer mehr #InformationOverload #BigData #QuantifiedSelf

SMS

Der technische Fortschritt ist rapide, Wie können wir mithalten? #Medienkompetenz #Bildung

Martha Friedrich | CC-BY-SA-NC-4.0

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Vorwort

Netzneutralität ist nicht wie Bahnfahren Das Jahr 2015 wird für die Digitalpolitik besonders spannend. Über die Netzneutralität wird unter anderem im frühjahr entschieden. wollen wir ein Internet der Gleichberechtigung oder gibt es Überholspuren für Großkonzerne? Dabei ist Netzneutralität keine entscheidung über den Komfort – zum Beispiel wie beim Bahnfahren. es geht um einen gleichberechtigten wettbewerb und eine demokratische Infrastruktur. es geht um freie Kommunikation und meinungsfreiheit – kurz: den zugang zu einem diskriminierungsfreien und innovationsfreundlichen Internet. Genau das ist es, was das Internet zu dem gemacht hat, was es heute ist. für unsere Bundesregierung ist das bald ein Thema, im frühjahr möchte sie eine mehrheit finden, die sich gegen ein freies Internet ausspricht und Netzneutralität für Spezialdienste etabliert. Auch in den uSA ist diese Debatte aktuell Spitzenthema. Die Ökosysteme rund um die produktion von Onlineinhalten verändern sich. Die wirtschaft hat erkannt, dass es rentabel ist, sich in soziale Netzwerke wie YouTube einzubringen. Das ist großartig und führt zu neuen herausforderungen. Inhalte in sozialen Netzwerken zu vermarkten, stärkt diese. Doch welche Bedeutung hat dies für die zukunft von user-Generated-content? wie wir dies als Gesellschaft aushandeln, wird 2015 eine der wichtigen fragen sein.

Niemand zweifelt mehr daran, dass das Internet alle Bereiche unseres Lebens durchdringt. Die volle Tragweite haben wir dennoch nicht verstanden. wir sichern unsere haustüren und genauso müssen wir uns Gedanken über unsere digitalen zugänge machen. fragen um Grenzen zwischen privatheit und Öffentlichkeit sind schwammig und die Gefahr, dass personen verletzt werden, ist groß. wie das zu verhindern ist, diskutieren wir in dieser Ausgabe. Noch immer beschäftigen wir uns mit dem Breitbandausbau. Das größte Thema ist die erweiterung der technischen Infrastruktur, also dem leistungsstarken Internetzugang in ganz Deutschland. Dieser zugang ist nicht überall gegeben und gleich gut. Aber dieser zugang ist wichtig, insbesondere außerhalb von Ballungsregionen. Neben Smart city gilt es, sich auch weiterhin mit Smart country zu beschäftigen. fragen über fragen. Der Digitale wandel hilft diese zu klären – als plattform für kuratierte und originäre Texten zur Auseinandersetzung mit Internet, wirtschaft, politik und Gesellschaft. Das magazin will die Diskussionen über die zukunft einer globalisierten digitalisierten Gesellschaft antreiben. welche netzpolitischen Themen sind relevant und uns auf reaktionen. Schreiben Sie uns, was Sie bewegt.

Janina Gera Redaktion Paul Fehlinger, Hauke Gierow, Simone Jost-Westendorf, Julia Kloiber, Philipp Otto herausgeber

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Die Texte dieser Ausgabe sind kuratiert von folgenden Webseiten oder originär von folgenden Autoren

Dr. anja Osswald ist Kunst- und Kulturwissenschaftlerin. 2001 promovierte sie mit einer Arbeit über performative Strategien in der Videokunst an der fu Berlin. Nach Lehraufträgen zu medienästhetik und -Theorie an verschiedenen Kunsthochschulen ist Anja Osswald seit 2008 als Kreativdirektorin in den Bereichen Konzeption und Strategieentwicklung bei der Berliner Agentur TrIAD tätig. Auf connected.tante.cc veröffentlicht Jürgen Geuter wöchentlich seine technikpositive, politische, optimistische und trotzdem kritische Kolumne. Jürgen Geuter lebt unter dem Namen tante im Internet und beschäftigt sich vor allem mit der frage, wie das Internet, die Verfügbarkeit von Daten und die möglichkeiten der individuellen Vernetzung das Leben von menschen verändern. linus neumann ist einer der Sprecher des chaos computer clubs. Als Sachverständiger für IT-Sicherheit wurde er in im mai 2014 in den Bundestagsausschuss „Digitale Agenda“ geladen. Der hier veröffentlichte Artikel, der über die Inhalte seiner Stellungnahme hinaus geht, erschien im rahmen der Artikelserie „ÜBerwAchuNG, GeheImDIeNSTe & DemOKrATIe“ auf boell.de. Kleinerdrei.org steht für ein herz, eben ein <3. für die Autorinnen und Autoren repräsentiert es das, worüber sie schreiben: was ihnen am herzen liegt – und von politik bis popkultur. regelmäßig verfassen sie Artikel zu verschiedenen Themen gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen, alles, was das popkulturliebende herz höher schlagen lässt (sprich: Internet, film, fernsehen, musik), Alltagsporträts und medienkritik, Sexualität und Literaturempfehlungen oder Interviews. Auf henning-tillmann.de schreibt henning Tillmann – mitglied in der medien- und Netzpolitischen Kommission beim SpD-parteivorstand, Diplom Informatiker und Software entwickler – hauptsächlich zu netzpolitischen Themen. Dabei geht es meistens um Datenschutz oder technische Aspekte politischer entscheidungen. Publixphere.net ist eine Online-Beteiligungsplattform für politische Inhalte. Alle politik-Interessierten können sich hier – auch anonym – anmelden, eigene Diskussionen starten, Gedanken mit anderen teilen und wiederum kommentieren. Die plattform ist nicht-kommerziell, überparteilich und unabhängig. Die publixphere-redaktion recherchiert hintergründe zu den fragen, die aus der community kommen und stellt den Kontakt zu Akteuren aus wissenschaft, politik und zivilgesellschaft her. regelmäßig bringt des monats“ (#pxp_thema). Prof. Dr. thomas Petzold lehrt und forscht mit dem Schwerpunkt Innovation & soziale Technologien an der hochschule für medien, Kommunikation und wirtschaft, Berlin. er ist assoziierter forscher am centre for culture and Technology, perth, Australia sowie dem centre of excellence for creative Industries and Innovation, Brisbane, Australia. Dr. woitek Konzal ist Junior producer im ufA LAB Berlin – der digitalen produktionsunit und dem Innovationsbereich der ufA, ihres zeichens das größte unabhängige produktionsunternehmen der deutschen unterhaltungsindustrie. hier ist er unter Anderem involviert in Konzeption und umsetzung von transmedialen projekten wie „rLf“ und „Dina foxx 2,“ und von YouTube-Kanälen wie „eNtr berlin“ und aktuell „muNchIeS,“ einem Joint Venture mit VIce. lorenz grünewald, m.A., ist wissenschaftlicher mitarbeiter an der hmKw Berlin und promotionsstudent am IJK hannover. In seinem promotionsprojekt erforscht er den wandel von machtverhältnissen durch digitale medien anhand von marken. Als ausgebildeter Gitarrist mit einem master in medien- und musikmanagement erforscht er außerdem die rolle von medien in der entwicklung von management und wertschöpfung in der Kultur- und Kreativwirtschaft. er micro-bloggt unter @lorenzguitar.

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Ü B e r S I c h T Au TO r e N u N D w e B S e I T e N

Auf berlinergazette.de machen redaktion und herausgeber das wissen der Internet-eliten der digitalen mehrheitsbevölkerung zugänglich. es stehen jene Themen im mittelpunkt, die langfristig relevant sind. Die plattform lebt vom grenzüberschreitenden Austausch unter wissenschaftlichen Disziplinen, kulturellen Lebenswelten oder Altersgruppen. Auf dem Blog stefan-westphal.de setzt sich der Autor mit dem digitalen wandel der analogen medienwelt auseinander. Stefan westphal arbeitete 15 Jahre als Autor, Journalist und hörfunkmoderator, er ist Autor des Buches: „wie das radio im Netz überleben kann“, entwickelt digitale Kommunikationsstrategien und arbeitet als Dozent für digitales Storytelling und crossmedia. martha Friedrich – marthafriedrich.de – hat die illustrationen (S.4 &. S.37) für dieses magazin angesign für Kinder- und Jugendmedien und Informationsvisualisierung tätig. mit der zeitreisenden Gbr erstellt Sie seit 2015 Geschichte comics, die neue wege der Geschichtsdidaktik beschreiten und erlebte Geschichte(n) mit dem historischen Ort verknüpfen – die-zeitreisenden.de Die Autoren von netzpiloten.de sagen sie surfen oberhalb der wolkendecke. Seit 1998 wollen sie mit ihren Lesern entdecken, dass das web mehr zu bieten hat als bedruckte Seiten hinter Glas. Dabei wollen sie das Spannendste aus den Bereichen Social media, mobile, Lifestyle, Interviews, Linktipps und Technik präsentieren. Immer ohne Tech-Arroganz, dafür mit weitblick und leicht verständlich aufbereitet. Die Autoren von politik-digital.de veröffentlichen Texte zu politischer Kommunikation und neuen medien. es ist die webpräsenz von politik-digital e.V., einer Nichtregierungsorganisation, die eine demokratische und digitale entwicklung der europäischen Informationsgesellschaft fördern will. andré Vatter ist Journalist, Blogger und Social median aus hamburg. Gemeinsam mit marek hoffmann betreibt er hemd & hoodie - eine Agentur für multidimensionale Kommunikation mit Sitz in Köln. Auf seinem privaten Blog avatter.de beschäftigt er sich mit den entwicklungen im web 2.0, insbesondere

Ole Wintermann – @olewin – bloggt auf globaler-wandel.blogspot.de. er ist co-founder der menschenrechtsplattform Irrepressible Voices e.V. und der internationalen Blogger-plattform futurechallenges.

gov20.de. christian heise ist wissenschaftlicher mitarbeiter am centre for Digital cultures (cDc) an der Leuphana universität Lüneburg und promoviert zum Thema Open Science. Als ehrenamtliches Vorstandsmitglied der Open Knowledge foundation Deutschland e.V. und beim förderverein freie Netzwerke e.V. setzt er sich für die Öffnung von wissen und IT-Infrastrukturen ein. Dr. christian herzog ist wissenschaftlicher mitarbeiter im projekt Grundversorgung 2.0 am centre for Digital cultures an der Leuphana universität Lüneburg. er verfolgt forschungsschwerpunkte in den Bereichen medienpolitik, media Governance, medienregulierung und rundfunkgeschichte. Jan torge claussen ist Kulturwissenschaftler, Designer, produzent und musiker. er forscht und lehrt zu Themen wie user-Interface, Audio-Kultur, Social web und Digital Storytelling.Am cDc der Leuphana universität Lüneburg entwickelt Jan Torge claussen neue formate und web-Anwendungen für eine mediale Grundversorgung 2.0 Auf smartcountry.collaboratory.de

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chen raums. experten aus wirtschaft, wissenschaft, politik und zivilgesellschaft erarbeiteten empfehlungen und Best practice Beispiele, die illustrieren, wie internetbasierte Innovationen dazu beitragen der wertschöpfung zu initiieren und die Lebensqualität im außer-urbanen raum zu steigern.

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8 chadcooperphotos | https://flic.kr/p/gJQhJC | CC BY 2.0 | creativecommons.org/licenses/by/2.0/


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Das wir im Netz Virale phänomene in sozialen Netzwerken sind ein typisches merkmal der Kommunikationsstruktur, die das Internet schafft. Informationen verteilen sich rasant; wichtige elemente dabei sind Selbstinszenierung, gute Geschichten und der Schneeballeffekt bei der Verbreitung. Dr. Anja Osswald schaft. Sie ist u.a. Kreativdirektorin in den Bereichen Konzeption und Strategieentwicklung bei der Berliner Agentur TrIAD. Sie entwickelt dort Themen- und Kommunikationsräume, in denen zukünfte erforscht, diskutiert und erlebt werden können.

Virus - das klingt böse. Man denkt sofort an Herpes, an Grippe-Epidemien und ähnliche Bedrohungen der körperlichen Unversehrtheit. Spätestens mit der gefährlichen Ausbreitung des Ebola-Virus in West-Afrika ist der biologische Terminus zum Synonym einer kaum kalkulierbaren und im Zweifelsfall todbringenden Epidemie geworden. Auch Computer kennen Viren – als Fehlersoftware, die sich in Programme einschleust und diese infiziert. Im Idealfall ist ein digitales Gegengift zur Hand, das dem solcherart „erkrankten“ Datenmaterial auf den virtuellen Leib rückt und die befallene Software restauriert. Wer diesen zugegebenermaßen holzschnittartigen Analogien zwischen medizinisch-biologischen Wirklichkeiten und digitalen Realitäten weiter nachgeht, wird unweigerlich über eine weitaus interessantere Variante stoßen. Mit dem Viralen geistert nämlich ein verwandter Begriff durchs Netz, der sich von den negativen Bedeutungsimplikationen gänzlich abgekoppelt hat. Im Gegenteil, als Form der exponentiellen Informationsverbreitung im

Netz beschreibt das Virale den kybernetischen Kern des Digitalen: den auf Rückkoppelung basierenden Netzwerkeffekt. Die exponentielle Ausbreitung von Information führt zur Bildung von Netzwerken, deren Macht mit der Anzahl seiner Nutzer sprunghaft zunimmt. Das führt zu einer erstaunlichen Bedeutungsumkehrung. Wo der biologische Virus krank macht, gilt das Virale im WWW als Ausweis für Vitalität und Power (und dass das Autokorrekturprogramm meines Computers viral immer durch vital ersetzt, ist in diesem Zusammenhang schon fast symbolisch zu deuten…) Je dichter die virale Vernetzungsaktivität, desto stärker die Durchsetzungskraft des daraus entstehenden Netzwerks. Die sogenannte IceBucket-Challenge veranschaulicht diese Logik. Wir erinnern uns: das war diese Kampagne, die im vergangenen Sommer dazu führte, dass soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter überall auf der Welt überschwemmt wurden mit YouTube-Clips, in denen Menschen sich eiskaltes Wasser über den Kopf schütteten.

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Lady Gaga und Sigmar Gabriel, Bill Gates und Heidi Klum, Tante Caro und Facebook-Kumpel Fred - alle machten mit bei der Aktion, die als Unterstützungskampagne im Kampf gegen die Muskelkrankheit ALS gestartet war und innerhalb kürzester Zeit die Spendengelder weltweit um 1000% in die Höhe schnellen liess. Dieser unglaubliche Erfolg liegt sicherlich in der Verbindung aus guter Story und dem menschlichen Hang zur Selbstinszenierung begründet. Aber ein weiterer Aspekt sollte nicht vergessen werden: die Macht des Schneeballeffekts. Irgendwann begann sich die Geschichte zu verselbständigen. Spende? War da noch was? Wichtig wurde einzig, dabei zu sein, um sich in einer Community von coolen Leuten in einem heissen Sommer in mehr oder weniger gekonnt inszenierten Posen Eiswasser über den Kopf platschen zu lassen. Der Virus des Teil-Seins „Alle reden von Community. Alle reden von der Macht der Vielen. Alle reden von Partizipation.“ Wir sind infiziert vom Virus des TeilSeins. „Liken“ und „Sharen“ sind die zwei zentralen magischen Formeln, von denen die Kommunikationsrituale im WWW geprägt sind. In den Social Media nimmt die Interaktion zum Teil geradezu obsessive Züge an. Das Mit-Teilen impliziert das Teilen - von Informationen, Interessen, Aktivitäten und Produkten. Und in diesem Teilen vollzieht sich ein quasi alchemistischer Vorgang, die Verwandlung vom Ich zum Wir. Das individuelle Nutzer-Ich wird zum Teil einer Gruppe, wobei die Attraktivität der so entstehenden Communities darin besteht, dass sie über die jeweils geteilten Interessen oder Konsumvorlieben Identifikationsangebote schaffen. Als Nutzer einer Car-Sharing Plattform profitiere ich nicht nur von einem relativ preiswerten und auf meine momentanen Bedürfnisse zugeschnittenen Mobilitätsangebot, sondern werde automatisch Teil einer Interessen-Gemeinschaft, die durch eine gemeinsame ökologische Haltung verbunden ist. Als Reisende, die auf die klassische Hotelbuchung verzichtet und stattdessen die Angebote der Vermittlungsplattform Airbnb nutzt, bin ich Teil einer ständig wachsenden Gruppe von 10

Gleichgesinnten, die alternative Modelle des Reisens und der interkulturellen Kommunikation erprobt. Die Sharing-Ökonomie kann die Ökonomie des Eigentums und des Besitzes ablösen. Denn Mitmachen und Teilen funktionieren im Netz direkt und unmittelbar. Kultiviert wird eine quasi-anarchische Form der Gemeinschaftsbildung, die im Gegensatz zu den etablieren Beteiligungsritualen der politischen Kultur als authentisch und echt erlebt wird. Aus diesem symbolischen Mehrwert erklärt sich auch der Erfolg von Crowd Funding oder Mikrofinanzierungsplattformen: Die Partizipation garantiert die Teilhabe an einer Idee, die ungleich größer ist als das finanzielle Investment. Wir ist das neue Ich Das unaufhörliche kollektive Murmeln der Milliarden Stimmen im Netz hat sich zu einer kaum zu unterschätzenden wirtschaftlichen wie auch gesellschaftlichen Macht entwickelt. Wir ist das neue Ich. WeQ lautet die derzeit gehypte Formel, mit der dem IQ, dieser egogetriebenen und irgendwie altmodisch daherkommenden Intelligenzform, zu Leibe gerückt wird. WeQ stellt eine Art Sammelbegriff für all das dar, was mit der Sharing Economy in Verbindung steht: Tauschen, Gemeinschaft, Zusammenarbeit, Partizipation, ökologisches und soziales Unternehmertum. Anlässlich des Vision Summit vom Genisis Institut for Social Innovation, der im Herbst 2014 in Berlin stattgefunden hat, wurde WeQ gar als „die DNA des 21. Jahrhunderts“ ausgerufen. Sie bestimme die zentralen Trends der Gegenwart – angefangen von Social Innovation über Social Entrepreneurship bis Co-Laboration und Co-Creation – und leite eine neue Zivilisationsstufe ein, in der die piefige Egozentrik und einzelkämpferische Attitüde des 20. Jahrhunderts ersetzt würde durch die sozial, ökologisch und ökonomisch verträglichere Form des Zusammenlebens. „WeQ orientiert sich in seinen Zielen und Prozessen auf wir-bezogene Qualitäten, insbesondere auf gemeinwohl-orientierte Ziele und auf team-orientierte Prozesse“, schreibt Peter Spiegel, Vordenker der WeQ-Bewegung und Initiator des Summit in seinem Leitessay.

WeQ also als Grundlage für ein neues, post-kapitalistisches Gesellschaftsmodell? Wohl kaum. Hinter dem Anspruch, den Menschen zu einem sozialeren WirWesen zu machen, verbirgt sich eine äußerst effektive Ausweitung der Ökonomisierung des Sozialen. „Der Kapitalismus vollendet sich in dem Moment, in dem er den Kommunismus als Ware verkauft“ schreibt der an der Berliner UdK lehrende Philosoph Bjung-Chul Han und darin steckt viel Wahrheit. Die Sharing Economy stellt eine radikale Kapitalisierung aller Lebensbereiche dar. Der Mehrwert ist eben nicht nur symbolisch, sondern ganz reell ökonomisch. Auch mitten in der kollaborativen Ökonomie herrscht die harte Logik des Kapitalismus. Davon erzählt Dave Eggers in seinem aktuellen Roman. „Sharing is Caring“ lautet das Mantra der IT-Welt, mit dem The Circle auf die ideologischen Wirkmechanismen einer auf Transparenz und das Diktat der „Community“ gepolten New Economy verweist. Freie Selbstausleuchtung folgt derselben Effizienzlogik wie die freie Selbstausbeutung. Hinter dem Gebot der Offenheit und Transparenz verbirgt sich eine neue Kontrollgesellschaft, die das Ich als gefährliches autonomes Wesen mit - zumindest potenziellen - Geheimnissen bekämpfen muss. Sirenengesänge „Das Netz und alles, was damit zusammenhängt, ist eine gigantische Maschine zur Erzeugung, Verteilung und Kontrolle von Aufmerksamkeit“, schreibt Christian Schwägerl in seinem neuen Buch Die analoge Revolution. Die digitalen Architekturen schaffen dafür einen Rahmen. Sie kanalisieren die kollektive Aufmerksamkeit und sie entscheiden darüber, was gespeichert und was vergessen wird. Die Intelligenz des WeQ ist vor allem eine Intelligenz der Algorithmen. Sie entsteht durch enorme Agglomerationen von Daten, aus deren Informationen sich Rückschlüsse auf Kaufverhalten, Demographie, Einkommen bis hin zu sexuellen Vorlieben gewinnen lassen. Es mag vielleicht etwas übertrieben sein, der Software-Industrie zu unterstellen, sie befeuere diesen Hype um das WeQ, um damit den Datenoutput weiter zu optimie-


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ren. Dennoch lässt sich die Tatsache nicht verleugnen, dass die sozialen Netzwerke das Gebot des Teilens und Partizipierens fast schon mantrahaft vor sich hertragen. Im Netz ist alles auf ein WIR angelegt. Klassengegensätze sind abgeschafft zugunsten von Visibility. Je mehr Likes, desto sichtbarer wirst du für deine community - und desto wertvoller wirst du für die SoftwareUnternehmen. Viral sein bedeutet vitales Wir sein. Je mehr Nutzer sich vernetzen, desto größer ist der Nutzen für die „Sirenenserver“, wie der Netztheoretiker Jaron Lanier die großen Internetplattformen nennt. Denn während wir Informationen mit anderen teilen, werden wir permanent von einer Suchmaschine bewertet. Ob das Google ist oder Facebook, ein Marktforschungsinstitut oder Kreditunternehmen: mit jedem Like und jedem Share geben wir direkt oder indirekt Auskunft über unsere Lebens- und Konsumgewohnheiten. Und diese Daten sind das Kapital von Facebook, Google, Amazon und Co. Die Algorithmen der Suchmaschinen verwandeln die Informationen in hochprofitable Daten. Wir erfahren selten, wofür die Auskünfte, die wir Unternehmen im Netz erteilen, genutzt werden oder was mit unseren persönlichen Daten geschieht. Gegen die Gegensätze Es ist erstaunlich, dass sich trotz Dekonstruktion, trotz Poststrukturalismus und anderen Denkschulen eines post-dualistischen Zeitalters der Glaube an Gegensätze so hartnäckig hält. Warum soll denn das Wir besser sein als das Ich oder das Ich schlechter als das Wir? Gehört denn nicht beides immer schon zusammen und macht den Menschen als soziales Wesen überhaupt erst aus? Im Unterschied zu Fischen oder Vögeln, deren Schwarmintelligenz von Forschern gerne mit einer kollektiven Netz-Intelligenz in Verbindung gebracht wird, ist der Mensch ein intelligibles Wesen, das individuell UND kollektiv, instinktiv UND intellektuell, emotional UND rational handeln kann. Interessanterweise bleibt die WeQ Euphorie gerade in Deutschland bislang weitgehend unwidersprochen. Also ausgerechnet in dem Land, das den Geniekult und die Macht des Subjekts zentral mitgeprägt hat und dessen jüngere Ge-

schichte den Beweis angetreten hat, dass WeQ nicht Intelligenz nicht unbedingt potenziert, sondern, im Gegenteil, unter Umständen bis zur Schwundstufe verringern kann. Spätestens seit Elias Canettis Masse und Macht wissen wir um die zerstörerische Eigendynamik von Massen, die wesentlich daraus resultiert, dass in der Masse Individualität zugunsten einer kollektiven Idee oder Ideologie aufgegeben wird. Viele Ichs sind nicht unbedingt klüger sind als ein Ich oder, wie Heiner Müller einst weise formulierte: 100 Deutsche sind dümmer als ein Deutscher. Das WeQ ist ein gefährliches Wesen. Es ist tendenziell dumm. Das WeQ vertraut der Masse, der Macht, dem Kollektiv. Da es sich der Macht der Vielen verschreibt, bleibt es immer nur Durchschnitt. Wenn das „We“ das alleinseligmachende Prinzip wäre und all das, was mit „I“ zu tun hat aufgegeben würde, dann gäbe es keine Geheimnisse mehr, keine Alleinstellungsmerkmale, keine Schrullen und keine Besonderheiten. Die Welt wäre schwarz und weiss, Like und nicht-like. Das Wir braucht das Ich, das den Durchschnitt stört und sich querstellt, das die Perspektive verrückt, damit Verrücktheit möglich bleibt. Denn das Ich ist der Bug im System, ein kreativer Störfall. Freiheit Adorno hat die Kraft der Autonomie einmal beschrieben als die Kraft zur Reflexion, zur Selbstbestimmung, zum Nicht-Mitmachen. Dieser Geist des Nicht-Mitmachens prägte die Anfänge des Internet, das einmal Fluchtort für alternative Realitäten war. Das Silicon Valley entstand aus den utopischen Ideen eines „anderen Lebens“, die ebenso gespeist waren von der Hippie-Kultur des nahen San Francisco wie aus dem Ingenieursgeist der rings um Palo Alto siedelnden Firmen aus dem militärisch-industriellen Komplex. Die Software-Branche galt als Laboratorium der Zukunft, ihre Protagonisten als Architekten einer neuen Ökonomie, die mit Open-Source-Programmen eine andere Form der sozialen Organisation propagierte, in der die Begriffe von Macht, Freiheit und Privatheit neu gedacht wurden. Heute leben wir in einem Hyperkommu-

nikations-Raum, der ein „Außerhalb“ immer schwieriger werden lässt. Der analoge Raum ist dabei, seine Evidenz an den virtuellen Raum abzugeben. Diese Erfahrung macht jeder, der versucht, in seinem Alltag ohne digitale Geräte klarzukommen. Wir sind alle längst digitale Wesen, die sich durch Foren und soziale Medien pflügen und den eigenen Körper durch auslesbare Geräte kontrollieren lassen. Wieviel „I“ ist mit all den iPhones und iPads möglich? Welches „I“ konturiert sich in den digitalen Datenräumen und welche Konsequenzen hat dies für das Sein im analogen Raum? Vielleicht ist diese ganze Unterscheidung ja auch längst obsolet und wir müssten damit anfangen, die Kategorien von Innen und Aussen, Ich und Wir, digital und analog unter den Bedingungen einer digitalen Kultur neu denken. Also nicht das Digitale aus der Perspektive des Analogen zu betrachten, sondern umgekehrt, das Analoge aus der Perspektive des Digitalen. Vielleicht liessen sich daraus dann neue Formen der Kritik - oder des Nicht-Mitmachens - ableiten. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass jede Informationstechnologie im Grunde auf Entscheidungen darüber basiert, was gespeichert und was vergessen werden soll, dann könnte es durchaus lohnenswert sein, einmal nicht auf das zu starren, was im Netz gespeichert wird, sondern im Gegenteil, den Blick auf das zu richten, was nicht abrufbar ist, was vergessen wird und verlorengeht. Was bedeutet Freiheit im Netz? Was bedeutet „Ich“ unter den Bedingungen der Digitalisierung? Welche veränderten Konzepte von privat und öffentlich resultieren daraus? Welche Macht und welche Rechte an seinen Daten hat der Nutzer? Fragen fragen - das wäre der Anfang einer Art post-digitaler Aufklärung, die analoges und digitales Sein ins Verhältnis setzt und daraus Perspektiven entwickelt. Was wir brauchen, ist eine Kultur, die Räume jenseits des Digitalen neu vermisst, die analoge Chat-Rooms kultiviert und abseits von standardisierten Persönlichkeitsprofilen eine Vielfalt des persönlichen Ausdrucks lebt. Raus aus den alten Mustern und unter den Bedingungen weltweiter Vernetzung neue Synapsenverschaltungen zulassen. s Erstabdruck | CC-BY-NC-SA-4.0

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Das Öffentliche hat keine Lobby Jürgen Geuter kennen viele auch unter seinem pseudonym tante. Seine Kolumnen auf connected.tante.cc beschäftigen sich mit Technologie und Internet. In diesem Texte spricht er sich für einen angemessenen umgang mit der Öffentlichkeit aus. Denn das Öffentliche wird oft als Gegenpol des und Bedrohung für das privaten gesehen. Dabei bildet das private doch die Öffentlichkeit. Seine Analyse offenlegt eine wichtige Auseinandersetzung, die eine digitalisierte Gesellschaft führen muss.

Vor einigen Tagen unterhielt ich mich mit einer Freundin über einige Details der Datenschutzgesetzgebung (ja, ich bin wahnsinnig unterhaltsam, bucht mich für Parties und Familienfeiern!). Dabei ging es um öffentliche Daten und wer was wann und wie damit anfangen darf, für wen Ausnahmen existieren (institutionalisierte Wissenschaft und Staat) und insbesondere auch für wen eben nicht (irgendwelche Menschen außerhalb fester Strukturen wie Blogger o.ä.). In diesem Gespräch fiel dann irgendwann der folgende Satz:

„Das Öffentliche hat in Deutschland keine Lobby.“ Sicherlich gibt es auch in Deutschland viele ganz großartige Open Data Aktivitäten, Menschen und Projekte, die öffentliche Daten befreien, aufbereiten und durch Visualisierung oder die Umsetzung von Benutzungsschnittstellen verwendbar machen. Und wie fast alle am Gemeinwohl ausgerichteten Aktivitäten sind sie nicht nur chronisch unterfinanziert sondern müssen auch immer wieder gegen rechtliche oder organisationsstrukturelle Hemmnisse ankämpfen. Doch das Problem sitzt tiefer. Die Informationsfreiheit wohnt als ungeliebtes Stiefkind in den Datenschutzbehörden, deren Denkrichtung (Daten schützen, Datennutzung kontrollieren, Datenerhebung unterbinden) schon im Grundsatz mit der Idee der Informationsfreiheit kollidiert. Auch 12

die Szene der politischen NGOs konzentriert sich tendenziell eher auf den Ansatz Informationsfluss zu kontrollieren und gegebenenfalls zu unterbinden, anstatt auf die Interessen der Öffentlichkeit zu schielen. In den Reaktionen auf das Urteil des EUGH zum „Recht auf Vergessenwerden“ sprachen zwar insbesondere Journalisten und Journalistinnen ihre Kritik an dieser Neuausrichtung der Gesetzesauslegung 1 aus, aber leider zu selten mit Blick auf die breite Öffentlichkeit. Viel mehr sahen und sehen sie die Probleme, die diese Rechtsprechung dem Journalismus als gesellschaftlichem Korrektiv und Warner bringt, die Gefahren, die eine handlungsunfähige vierte Gewalt für eine demokratische Gesellschaft bedeutet. Institutionelle Wissenschaft, Staat, Unternehmen und Journalisten haben alle mehr oder weniger mächtige Werkzeuge, für ihre Interessen, ihren Zugang zu Informationen und ihr Recht, diese einzusetzen, zu kämpfen. Geld, Gesetzgebung, Öffentlichkeit. Doch eine sehr relevante Gruppe hat diese nicht obwohl auch sie ein Interesse an öffentlichen Daten hat: Wir „einfachen“ Menschen. Wir ohne große Institution in unserem Rücken, ohne besondere Reichweite und Ressourcen. 1 die Neuausrichtung war insbesondere das neu festgehaltene grundsätzliche Primat von Privatsphärendurchsetzung allem anderen Gegenüber

Dabei war ja der Zugriff auf die Informationen der Welt eine der großen Utopien des Netzes. Die Welt unter den eigenen Fingerkuppen. Für alle nicht nur kleine, mächtige und reiche Eliten. Warum findet sich so wenig Kampf dafür? Sicherlich ist die wahrgenommene Veränderung des Konzeptes und des Bereiches des Privaten Teil des Ganzen: Die bürgerliche Gesellschaft hatte sich entschieden, das Konzept des Privaten zum Wächter der Freiheit des und der Einzelnen zu machen. Das Internet mit seinen Möglichkeiten, sich dort miteinander zu verknüpfen und Informationen, die zuvor im Privaten versteckt geblieben wären, auszutauschen, setzt die Privatsphärenkonstruktion unter Druck. In dieser Weltsicht ist das Öffentliche der Gegenpol, der scheinbar automatisch zu lasten des Privatem ausgedehnt wird zur Kontroll- oder Transparenzgesellschaft. Das Öffentliche wird deshalb nicht als besonderer Wert der Gemeinschaft verteidigt sondern als Bedrohung abgelehnt. Aber es scheint noch tiefer zu gehen. Privatsphäre in der Bedeutung, die ihr die bürgerliche Gesellschaft zugewiesen hat, ist vor allem auch eine Konsequenz der bürgerlichen Tugenden. Tugenden wie Sparsamkeit, Bescheidenheit, Zurückhaltung, Pflichtbewußtsein, Ordnungssinn und Fleiß. Nicht auffallen durch Extravaganz, sich zurücknehmen und die Öffentlichkeit nicht belästigen. Der Wert des


Graeme Pow | https://flic.kr/p/otXYGN | CC BY-NC-SA 2.0 | creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/

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Lebens als Ergebnis der eigenen Arbeit (messbar in Geld, wie praktisch).2 Die bürgerlichen Tugenden prägen bis heute unsere gesellschaftlichen Debatten. „Warum schreibt er/sie sowas in der Öffentlichkeit? Das interessiert doch niemanden.“ ist heute immer noch ein scheinbar valides Argument um die Selbstveröffentlichung von personenbezogenen Informationen abzuwerten anstatt es als einen potentiellen Beitrag zu einer datenbasierten Öffentlichkeit zu begreifen. Wir gehen in Museen und lesen begeistert die Grußkarten Fremder aus dem 1. Weltkrieg und quengeln danach, wenn Menschen ihre Welt auf Facebook beschreiben. Anstatt für eine Sekunde darüber nachzudenken, wie also ein Museum des Jahres 2014 aussehen könnte, in dem nicht nur die Meinung derer repräsentiert wird, die diese in Zeitungen schreiben dürfen und können. Vieles scheint auf dem Missverständnis von „Öffentlichkeit“ und „Privat“ als Binär zu beruhen. Die Privatsphäre die zunehmend unter Druck steht und die 2 Der Autor verweist hier auf einen früheren Text auf seinem Blog. In „Der digitale Neobiedermeier“ bespricht er wie Isolation im digitalen Raum und Möglichkeiten und Chancen des Internets einschränkt.

zentral für das Gesellschaftsverständnis vieler ist muss gegen die Öffentlichkeit verteidigt werden. Dabei ist eine Gesellschaft ohne das gemeinsame, ohne geteilte Kultur und öffentliche Debatte, ohne gemeinsames Wissen und gemeinsame Daten ein ziemlich leeres Konstrukt. All die (partiellen) Öffentlichkeiten, in denen wir uns täglich bewegen sind nicht eine Seite eine Medaille, deren andere Privatsphäre oder Geheimnisse zeichnen. Es sind komplett unterschiedliche Facetten des Lebens, digital wie analog. Öffentlich hat viel mit der Idee der Teilhabe zu tun, mit der Möglichkeit, sich am gesellschaftlichen Diskurs zu beteiligen, Argumente abzuwägen und gegebenenfalls zu widerlegen. Und die Öffentlichkeit ist keineswegs weniger gefährdet als das Private: Selbst die Ergebnisse öffentlich finanzierter Forschung wandern in die Archive weniger Firmen und Institute. Öffentliche Debatten finden auf den Plattformen weniger kommerzieller Anbieter statt, auf die potentiell in wenigen Jahren kein Zugriff mehr besteht – die Menschen wandern weiter, geschichts- und archivlos. Zugriff selbst auf verhältnismäßig triviale Daten von Kommunen und Ländern besteht oft nur für die, die horrende Kosten tragen können.

Wir leben im Zeitalter des Individuums. Freiheit ist die Freiheit dieses Individuums, sich selbst irgendwie zu verwirklichen. Und irgendwie ist bei diesem Kindergeburtstag des Ich das Wir nicht eingeladen worden. Werden Urteile wie das des EUGH als Sternstunde der Privatsphäre bejubelt ohne über die Kosten für unsere Gesellschaft zu sprechen, in der der Zugriff auf und die Verwendung von öffentlichen Daten für einfache Menschen eh schon ziemlich beschnitten ist. Das Öffentliche, der Bereich, in dem Individuen zusammen kommen um ein oder mehrere irgendwie geartete „wir“s auszuhandeln, ist bedroht. Durch eine Übersteigerung des Rückzugsgedankens, durch die Privatisierung nicht nur der Infrastrukturen des Meatspace (Bahn, Strom, Abwasser, etc) sondern auch durch eine Privatisierung, eine Unöffentlichmachung des Öffentlichen. Dieses bedrohte Öffentliche hat eine Lobby verdient. Und wenn schon nicht diese, dann zumindest Raum in den Gedanken derer, die für Menschenrechte im Digitalen streiten. Kein Mensch ist eine Insel, wir sind immer Ich und Wir, nicht Ich oder Wir. Mehr Commonismus wagen. CC-BY-SA | https://connected.tante.

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Graeme Pow | flic.kr/p/9U3cTZ | CC BY-NC-SA 2.0 | https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/


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Politische Lösungen für eine sichere Zukunft der Kommunikation wie entstehen Sicherheitslücken? Linus Neumann ist ein Sprecher des chaos computer clubs – europas größtem Netzwerk an hackern, das zwischen technischen und sozialen entwicklungen vermittelt. Als Sachverständiger für ITSicherheit hat er dem Bundestagsausschuss Lösungen zum umgang mit Sicherheitslücken vorgeschlagen. Der folgende Text beruht auf seiner Stellungnahme „effektive IT-Sicherheit erhöhen“ auf ccc.de und erschien auch auf der webseite der heinrich Böll Stiftung boell.de.

Mit der Massenüberwachung durch Geheimdienste und das Bekanntwerden immer neuer, schwerwiegender IT-Sicherheitslücken, steigt der Druck auf die Bundesregierung wirksame Schutzmaßnahmen für sichere Kommunikation und Nutzung von Computern von Bürger/innen und Wirtschaft zu ergreifen. Dazu ist nötig zu verstehen, wie Sicherheitslücken zustande kommen und wie sie verhindert werden können. Aus diesem Verständnis heraus können die notwendigen politischen Weichenstellungen folgen, die weiter unten vorgestellt werden. Wie entstehen Sicherheitslücken und welche Typen gibt es? Der einfache Bug Die große Mehrheit von Sicherheitslücken in heutigen Software- und Kommunikationssystemen entsteht durch simple Programmierfehler (Bugs). Die komplexe Logik der Programme bildet sich in Millionen von Zeilen Programmcode ab, die von großen Teams geschrieben werden. Sie alle zu lesen und ihre gegenseitigen Abhängigkeiten und Referenzierungen vollständig zu durchdringen, ist Einzelpersonen kaum möglich. Einzelne Programmteile (Routinen) der Software verlassen

sich auf das korrekte Funktionieren anderer, bestimmte Vorbedingungen werden angenommen, aber an anderer Stelle nicht sichergestellt. So entstehen Bedingungen, die ein Angreifer durch vom Programm unerwartetes Verhalten auslösen, und so seine Integrität unterwandern kann. Häufig ist der notwendige „Fix“, also die Reparatur des Programms, nur das Löschen oder Hinzufügen einer einzelnen Zeile, wie der inzwischen berühmt gewordenen Zeile „goto fail;“ in Apples Implementierung der SSL-Verschlüsselung, die das gesamte Sicherheitsmodell in sich zusammenbrechen ließ. Backdoors und „Bugdoors“ Oft werden in Programme, Anwendungen und Apps auch absichtliche Hintertüren eingebaut, die den Entwicklern oder staatlichen Stellen eine Möglichkeit des Fernzugriffs (also die Umgehung aller Sicherheitsmaßnahmen) bieten sollen. Da immer auch mit dem Entdecken solcher Backdoors gerechnet werden muss, werden diese oft so gestaltet, dass ihre absichtliche Platzierung glaubhaft abzustreiten ist. Äußerlich ähneln sie daher nicht selten versehentlichen Bugs (Programmierfehlern), was den schönen Begriff der „Bugdoor“ geprägt hat.

Absichtliche Design-Schwächen Insbesondere in Kommunikationssystemen werden Angriffsflächen jedoch häufig schon spezifiziert (geplant), bevor überhaupt eine Zeile Programmcode geschrieben ist: Selbstverständlich ist jeder Telefonanbieter in der Lage, alle Telefonate aller Kunden abzuhören und selbstverständlich sind alle E-Mail-Anbieter in der Lage, alle E-Mails aller Kunden zu lesen. Das gilt natürlich ebenso für die Sicherheitsbehörden, mit denen der Anbieter kooperiert, wie für staatliche Stellen oder kriminelle Angreifer, die den Anbieter unterwandern. Da die Massenüberwachung möglich ist, findet sie auch statt. Doch das muss nicht so sein: Kommunikationssysteme, die ihre Nutzer auch vor dem Zugriff durch den Mail- oder Telekommunikationsanbieter schützen, sind zwar möglich, aber ihre Verbreitung von keiner Regierung dieser Welt wirklich gewünscht. Zu groß ist die Sorge, allen Menschen ein nicht überwachbares Kommunikationsmittel zur Verfügung zu stellen und die eigenen und freundschaftlich verbundenen Geheimdienste in ihrer Überwachung zu beschränken. 15


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Das System De-Mail, als „sichere Alternative zur E-Mail“ beworben, ist hierfür das beste Beispiel: Nicht nur bietet es keine sichere Verschlüsselung, es wurde zudem unter Beteiligung der gleichen US-amerikanischen Firma entwickelt, die auch an der Entwicklung des Staatstrojaners beteiligt ist, und in den USA einer der größten Zulieferer der NSA ist: Der Computer Sciences Corporation, kurz CSC. Sichere Kommunikation braucht politische Lösungen Um eine verlässliche und sichere Kommunikation zu ermöglichen, müssen alle drei Arten von Sicherheitslücken eingedämmt werden: Unabsichtliche Bugs, absichtliche Backdoors und schon im Design eingeplante Schwächen. Hierzu gibt es mehrere Ansätze, die eine Politik, die IT-Sicherheit und sichere Kommunikation fördern will, umsetzen sollte: 1) Open Source Software fördern Das Finden von Bugs und Backdoors ist eine sehr mühselige Arbeit, die enorm erleichtert wird, wenn nicht erst das fertige Programm geprüft, sondern sein zugrundeliegender Programm-Quelltext gelesen werden kann. Nur bei einer Software, deren vollständiger Quelltext1 offen liegt, besteht überhaupt die Basis für ein Vertrauen in deren Integrität. Denn wie wir alle wissen ist Vertrauen gut, aber Kontrolle besser. Genau diese öffentliche Kontrolle verweigern jedoch die meisten kommerziellen Anbieter, da sie das Abfließen ihrer Entwicklungen an die Konkurrenz fürchten: Wer den Quelltext hat, kann die Software weiterentwickeln, verbessern oder verändern. Das wäre zwar im Interesse der Allgemeinheit, nicht jedoch im Interesse des Anbieters. Hier gilt es, einerseits kommerzielle Anreize zur Open-Source-Entwicklung zu bieten, andererseits entsprechende Bedingungen für die Anbieter von sicherheitsrelevanter Software zu setzen: Auch heute noch operieren sie größtenteils frei von jeglicher Haftung für ihr intransparentes Produkt, und somit ohne Anreiz zur nennenswerten Qualitätssicherung. 1 http://de.wikipedia.org/wiki/Open_Source

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2) Den Schwarzmarkt trockenlegen Wer mit seiner Fähigkeit zum Finden von Sicherheitslücken den Lebensunterhalt bestreiten möchte, dem bieten sich heute zwei Möglichkeiten: Ein solides mittelständisches Auskommen hat, wer als Dienstleister Sicherheitsprüfungen bei Dienstanbietern und Software-Schmieden durchführt, und sich im Anschluss an seine Untersuchung den bürokratischen und firmen-politischen Diskussionen um die Behebung der entdeckten Probleme stellt. Wer ethisch flexibler ist, dem winken auf dem Schwarzmarkt sechsstellige Beträge für das Finden von großen Sicherheitslücken in weit verbreiteter Software. Die fürstliche Entlohnung entschädigt für die Gewissenbisse, weil die entdeckte Lücke künftig nicht geschlossen, sondern von Kriminellen und/oder Geheimdiensten ausgenutzt wird. Letztere sind dabei die treibende Kraft hinter den hohen Preisen auf diesem moralisch verwerflichen Markt. Hier gilt es, einen Riegel vorzuschieben: Die staatliche Subventionierung des Schwarzmarkts muss unterbunden, und alle staatlichen Stellen verpflichtet werden, beim Bekanntwerden von Sicherheitslücken kompromisslos auf ihre Beseitigung hinzuarbeiten – und nicht auf ihre Ausnutzung. 3) Eine offene Sicherheitskultur pflegen Natürlich werden Sicherheitslücken nicht nur wegen kommerzieller Anreize entdeckt. Eine weltweite Community begeisterter Hacker, Nerds und Sicherheitsforscher/ innen sucht, findet und beseitigt Sicherheitslücken ohne direkte monetäre Kompensation. Namentliche Erwähnungen in „Security Bulletins“, die Nutzer auf Lücken und erhältliche Updates hinweisen, sind oft der einzige Dank, der ihnen für ihre Dienste an der Gemeinschaft zuteil wird. Immer beliebter wird daher das Ausloben von „Kopfgeld“ („Bug Bountys“) auf Sicherheitslücken in kritischer Open-Source-Software: Wer einen Fehler definierter Schwere findet, wird dafür entlohnt. Vom entstehenden Wettkampf der Forschenden profitiert die Allgemeinheit.

Um dies zu stärken, könnte das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI), sich an der Finanzierung dieser „Bug Bountys“ beteiligen und so Open Source Software sicherer machen. 4) Eine unabhängige Sicherheitspolitik ermöglichen Mit dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) verfügt die Bundesregierung über eine Institution, die aktuell viele Möglichkeiten ungenutzt lässt, auf den überfälligen Paradigmenwechsel in der IT-Sicherheit hinzuwirken. Dem Verantwortungsbereich des Innenministeriums unterliegend, kann das BSI in seinen Empfehlungen, Spezifizierungen und Zertifizierungen nie wirklich frei agieren. Das mit einer staatlichen Abhörschnittstelle versehene und zusammen mit einem NSA-Dienstleister entwickelte DeMail-System ist mit Fug und Recht zur Blamage für das BSI geworden. Solange das BSI dem Innenminister untersteht, ist trotz aller Lippenbekenntnisse nicht damit zu rechnen, dass dort künftig Spezifikationen ohne absichtliche DesignSchwächen entwickelt werden. Ein starkes, unabhängiges BSI mit unzweideutigem Sicherheitsauftrag – und zwar auch gegen staatliche Angreifer – ist der einzige Weg, das notwendige Vertrauen im Bereich der IT-Sicherheit aufzubauen und Sicherheitsversprechen auch halten zu können. 2008 formulierte das Bundesverfassungsgericht das Grundrecht auf Gewährleistung Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, das so genannte Computergrundrecht. Bisher haben staatliche Stellen nur halbherzige und unglaubwürdige Schritte zu seiner Sicherung unternommen. Das schockierende Ausmaß der Snowden-Enthüllungen ist eine direkte Folge der bisherigen Politik und ein weiteres Warnsignal an die Bundesregierung, die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger in Sachen Computernutzung und Kommunikation nicht unnötig der vermeintlichen Sicherheit des Staates zu opfern. CC-BY-SA | http://ccc.de/system/uploads/149/ original/StellungnahmeDigitaleAgenda.pdf | http://www.boell.de/de/2014/08/06/ politische-loesungen-fuer-eine-sicherezukunft-der-kommunikation


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Ein Zitat zum Aufregen Die Redaktion von Der Digitale Wandel regt sich auf – über Aussagen zur Digitalisierung. wir manche worte berühmter personen sind dabei hinderlich. zum Beispiel diese:

Warum wir uns aufregen müssen: „The Fappening“ bezeichnete im September 2014 den Skandal um Nacktfotos aus gehackten Apple-Benutzerkonten. Prominente Schauspieler hatten (wie viele andere User auch) den Cloud-Service von Apple genutzt, um Bilder zu speichern. Hacker fanden Sicherheitslücken bei iCloud und konnten so auf private Bilder zugreifen und sie veröffentlichen. Nach diesem Angriff bekam das Thema Datensicherheit eine nochmals breitere mediale Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt die Frage: Wer haftet, wenn private Fotos ohne Zustimmung der Inhaber veröffentlicht werden? Täter sind logischerweise die Hacker. Aber tragen die Inhaber der Fotos eine Mitverantwortlichkeit? Die Personen, die sie hochgeladen haben? Oder der Anbieter des Dienstes? Die Rechtslage ist nicht geklärt. Günther Oettinger hat bei einer Rede im EU-Parlament diese Frage trotzdem beantwortet: Kompromisslos und vorschnell erklärte er die Opfer dieses Hacker-Angriffs für mitschuldig. Muss seine Kompetenz als Verantwortlicher für die Weiterentwicklung und Verbreitung von Informations- und Kommunikationstechnologien im Europäischen Parlament deshalb in Frage gestellt werden? Ja, den Kern des Problems hat er nicht erkannt. Denn technische Sicherheitslücken

European Parliament | https://flic.kr/p/9r1p7t CC BY-NC-ND 2.0 | creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

„Wenn jemand so blöd ist und (als Promi) ein Nacktfoto von sich selbst macht und ins Netz stellt, hat doch nicht von uns zu erwarten, dass wir ihn schützen“

Günther Oettinger, EU Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft bei einer Anhörung im EU-Parlament September 2014

und das Vertrauen von Kunden in kommerzielle Angebote sind ausschlaggebend. Mit seiner Aussage empfiehlt Oettinger, sich von der Technik zu distanzieren und Cloud-Services nur mit Einschränkung zu benutzen. Anstatt also zu versuchen, auf die fehlende Sicherheit beim Umgang mit Online-Diensten hinzuweisen, lädt er die Verantwortung auf den Nutzer. Das Internet ist dynamisch, innovativ und stellt Politik, Wirtschaft, Technik und private Nutzer vor komplexe Herausforderungen. Keine Lösungen und Antworten auf all die Fragen zu haben ist problematisch, aber ein noch viel größeres Problem ist es, voreilig Aussagen zu treffen, die die Opfer zu Tätern machen und die Angst vor neuen Medien schüren. Außer Frage steht, dass die Hacker hier die Privatsphäre verletzt und sich strafbar ge-

macht haben. Natürlich muss man auch den Nutzer betrachten: Hat er die technische Kompetenz, um die Zuverlässigkeit von ITProdukten zu beurteilen? Bei welcher Art von Fehlverhalten ist man „selbst schuld“? Es muss aber vor allem der Anbieter technologischer Dienste zur Verantwortung gezogen werden: Hat ein Produkt eine Fehlfunktion, liegt es dann nicht auch in der Verantwortung des Anbieters, das Produkt zu verbessern und für entstandenen Schaden zu haften? Digitale Dienste brauchen dieselbe Aufmerksamkeit wie Toaster, Autos oder Flugzeuge und demnach auch adäquate Sicherheitsprüfungen. Digital geht nicht mehr weg. Alle Beteiligten müssen lernen, mit neuen technischen Möglichkeiten umzugehen – noch sind wir dabei herauszufinden, wie. Janina Gera | CC-BY-NC-SA-4.0

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Pekka Nigrus | https://flic.kr/p/pBcnAB | CC BY-NC-SA 2.0 | creativecommons.org/ licenses/by-nc-sa/2.0/

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eINe GeSchIchTe ÜBer JeSSIcA wer ist verantwortlich für die Sicherheit im Netz und wie viel kann man dem Nutzer zutrauen? Am Beispiel eines 17-jährigen mädchens zeigt der folgende Text sehr deutlich, wo das problem liegen kann. Kleinerdrei.org hat „A story about Jessica.“ auf dem tumblr SwiftOnSecurity ent-

Ich möchte, dass ihr euch eine Person vorstellt. Ihr Name ist Jessica und sie ist 17 Jahre alt. Sie lebt mit ihrer Mutter in einer Zweizimmer-Wohnung und benutzt einen alten Laptop, den sie von einem der Ex-Freunde ihrer Mutter bekommen hat. Mit diesem ist sie auf Seiten unterwegs, die sie über ihren Freundeskreis aus der High School auf dem Laufenden halten. Ihre Sorgen drehen sich um Jungs und Liebe und um die nächste Miete, mit der sie und ihre Mutter in ihrem Apartment bleiben können. Für einen neuen Laptop hat sie kein Geld. Sie hat auch kein Geld, um ihn aufzurüs18

ten. Sie weiß nicht mal, wie das geht. Sie hat andere Interessen, zum Beispiel Biologie. Sie macht sich dafür Sorgen, wie sie einen College-Besuch bezahlen könnte. Wenn ihre Noten gut genug bleiben, kann sie vielleicht irgendwie ein Stipendium bekommen. Sie kennt nur eine Person, die Ahnung von Computern hat, und das ist Josh aus ihrem Englischkurs. Sie weiß, dass sie ein Antiviren-Programm braucht, also fragt sie ihn. Er erzählt ihr von einem, das 50 Dollar pro Jahr kostet. Als er merkt wie unwohl ihr bei dem Gedanken wird, erwähnt er aber netterweise auch noch ein kostenloses Antivirus-Programm. Zuhause lädt sie

es runter und installiert es. Erst erscheint es ihr aufwänding und kompliziert und es kostet einige Zeit, aber danach taucht ein vertrauenserweckendes neues Icon in der rechten unteren Ecke ihres Bildschirms auf, das „Geschützt“ anzeigt, wenn sie mit dem Mauszeiger darüber fährt. Jessica hört in den Nachrichten dauernd von Firmen, die gehackt, und Fotos, die gestohlen werden. Sie hört auf CN N, dass man ein komplexes Passwort mit Sonderzeichen darin haben soll, also richtet sie eines ein. Zumindest auf ihrem FacebookAccount – sie interessiert sich nicht genug dafür, um herauszufinden, wie sie all ihre


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anderen Passwörter ändern könnte. Es klingt sehr aufwändig, und sie hat schon genug damit zu tun, sich für den MatheUnterricht abstrakte Folgen von Gleichungen zu merken. Sie möchte sich nicht auch noch für Passwörter abstrakte Folgen von Nummern und Buchstaben merken. Davon abgesehen ist sie ein Teenager und noch nicht so gut darin, alles im Voraus zu planen oder sämtliche Risiken abzuwägen. Sie hat schon mal von so etwas wie einem Passwort-Manager gehört, aber sie lädt sich nicht einfach Dinge aus dem Internet herunter. Sie weiß nicht, was vertrauenswürdig ist. Einmal klickte sie auf den „Jetzt Herunterladen“ Button für ein Programm, über das sie in den Nachrichten gehört hatte, und landete auf einer ganz anderen Website. Sie hat keine Bekannten, die sie um Rat fragen könnte. Und abgesehen davon versucht sie gerade herauszufinden, was sie am Samstag zu ihrer Verabredung mit Alex anziehen soll. Jessica fragt sich, ob er sie noch mögen wird, wenn er sie näher kennenlernt und sie zum ersten Mal Zeit zu zweit verbringen. Sie fragt sich auch, ob er wohl ihr Herz brechen wird, so wie die Anderen. Manchmal erhält sie Aufforderungen, ihre Software zu aktualisieren. Aber als sie einmal etwas namens Java aktualisierte und danach auf das blaue E klickte, mit dem sie zu Facebook gelangt, erschien dort eine neue Reihe von Icons. Sie ist sich nicht sicher, ob es einen Zusammenhang gab, aber sie ist etwas misstrauisch. Der Computer funktioniert ja immer noch, und sie möchte nichts kaputt machen beim Versuch, das herauszufinden. Sie kann es sich nicht leisten, einem Computerreparaturdienst 200 Dollar zu bezahlen. Das ist nervig, aber es funktioniert ja noch alles. Bei der nächsten Aufforderung zum Update wird sie auf „Nein“ klicken. Sie braucht keine neuen Features, schon gar keine, die das Facebook-Fenster kleiner machen. Und wenn die Updates so wichtig wären, würden die sich nicht automatisch installieren? Warum wird überhaupt danach gefragt? Es ist 19:42 Uhr. Sie muss jetzt los zu ihrem Date. Eines Tages erhält Jessica eine E-Mail mit einem Räumungsbescheid. Die Absender-Adresse ist tennantcommu-

nication@hud.gov. Sie kennt das HUD von den Formularen, die ihre Mutter für Mietunterstützung ausfüllen muss. Aber sie hat auch davon gehört, dass man unbekannte E-Mail-Anhänge nicht einfach öffnen soll, also spielt sie Detektivin. Sie tippt „hud.gov“ ein und es erscheint das „U.S. Department of Housing and Urban Development“, so wie sie dachte. Sie surft über die Seite, und es sieht nicht so aus, als hätte das jemand in Russland geschrieben. Also öffnet sie den Anhang. Der Adobe Reader wird geöffnet, aber in der E-Mail steht nur, dass sie nichts zu befürchten hat, wenn das Dokument leer ist. Sie versucht auf die nächste Seite zu scrollen, aber es gibt keine. Na gut. Sie erzählt ihrer Mutter lieber nichts davon. Sie möchte nicht, dass diese sich Sorgen macht. Was Jessica nicht weiß: der weiße Lichtpunkt, der seit diesem Tag an ihrem Laptop zu sehen ist, zeigt an, dass die eingebaute Kamera aktiviert wurde. Sie wusste nicht mal, dass er eine Kamera hat. Doch diese Kamera fing an, Aufnahmen von ihr zu machen. Und die Software, die die Kameraaufnahme startete, begann außerdem ihr Display aufzuzeichnen. Auch jene Fotos, die sie von sich machte und an Alex schickte, nachdem sie sich in in verliebt hat. Wenigstens Passwörter erscheinen nur als kleine schwarze Punkte, wenn sie sie eintippt. Selbst wenn jemand hinter ihr stehen und sie beobachten würde, würde man so das Passwort nicht sehen. Sie weiß aber nicht, dass auch ihre Tastatureingaben aufgenommen werden. Nichts hat darauf hingedeutet. So wie nichts ihr verraten hat, dass die Kamera an ist. Oder das Mikrofon. Manchmal fährt sie mit der Maus über das „Antivirus“-Icon. Es zeigt „Geschützt“ an. Das muss stimmen. Schließlich hat Josh ihr diese Software empfohlen. Was ist Jessicas Vergehen in dieser Geschichte? War es, dass sie sich nicht über die Vorteile der Open-Source-Philosophie informierte und über die Benutzung von Linux, das ja kostenlos ist? War es, keine Freund_innen oder Familieangehörige zu haben, die sich mit Computern auskennen und die sie um Rat hätte fragen können? War es, sich nicht mit Josh anzufreunden? Lag es daran, dass sie andere Prioritäten im Leben hat? Oder auch daran, nicht zu wissen, dass die Firmen ihr nicht nur Updates

zur Verfügung stellen, sondern ihr auch Schund-Software andrehen wollen, und sie das Häkchen dafür entfernen muss – jedes Mal? Daran, nicht zu wissen, in welchen Zeiten SMTP1 enwickelt wurde und, dass es keine Echtheit garantiert? Warum hat sie ihre Webcam nicht abgeklebt? Warum hat sie nicht ihren Laptop auseinandergenommen, um das Mikrofon auszubauen? Vielleicht liegt es daran, dass ComputerSicherheit für eine Durchschnittsperson nicht aus einer Abfolge einfacher Schritte und unumstößlicher Wahrheiten besteht. Dass diese nicht lediglich verworfen werden, um eine nerdige Unterschicht zu ärgern, sobald jene ihre ach so weisen Ratschläge äußert. Vielleicht liegt es schon allein am Design des Universalrechners. Und wer hat diese Welt voller Freiräume gebaut? Eine Welt, die der 17-jährigen Jessica so gute Dienste erwiesen hat? Ihr wart das. Wir waren das. Wer ist also schuld? CC-BY-4.0 | http://kleinerdrei.org/2014/10/ eine-geschichte-ueber-jessica/ und http://swiftonsecurity.tumblr.com/ post/98675308034/a-story-about-jessica

1 http://de.wikipedia.org/wiki/Simple_Mail_ Transfer_Protocol

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wenn das Internet zur DVD wird – erneuter fehlgriff beim Online-Jugendschutz wie können wir Kinder und Jugendliche vor nicht jugendfreien webseiten schützen? 2014 wurde ein neuer entwurf des Jugendmedienschutzvertrages vorgelegt. Henning Tillmann erklärt, dass die Novellierung den herausfordeurngen des Internets nicht genügen kann und unrealistisch sei. Dieses Thema rein technisch zu lösen würde sich negativ auf die wertvollsten Bereiche des Internets auswirken. Auf seiner webseite henning-tillmann.de schreibt er zu netzpolitischen Themen, meistens zu Datenschutz oder technischen Aspekten politischer entscheidungen.

Man kennt es von DVDs: Diese sind ohne Altersbeschränkung, ab 6, 12, 16 oder 18 Jahren freigegeben. Dieses Prinzip soll nun auch für Websites gelten. Diese (unsinnige) Idee gab es bereits 2010 und scheiterte damals krachend. Jetzt versucht man einen erneuten Anlauf. Internetseiten sollen mit dem Label „ab 6“, „ab 12“, „ab 16“ oder „ab 18“ versehen werden. Diese Idee existiert auch Ende 2014 noch im neuen Entwurf des Jugendmedienschutzstaatsvertrags. Der Staatsvertrag über den Schutz der Menschenwürde und den Jugendschutz in Rundfunk und Telemedien (kurz: Jugendmedienschutz-Staatsvertrag oder JMStV) enthält Regelungen, die den Schutz von Kindern und Jugendlichen bei der Nutzung von Angeboten in Rundfunk und Telemedien sicherstellen sollen. Es handelt sich dabei um einen intraföderalen Staatsvertrag, der von allen 16 Bundesländern im entsprechenden Landesparlament bestätigt werden muss. 20

2010 gab es den Versuch einer Novellierung. Diese sah vor, dass (deutsche) Websites eine verpflichtende Alterskennzeichnung erhalten sollten. Die Einstufung sollte von dem Inhalteanbieter selbst durchgeführt werden, der sich aber natürlich auch bei bestimmten Einrichtungen Hilfe hätte holen können. Im Netz formierte sich großer Widerstand, da es an dem Entwurf viel zu kritisieren gab. Der damalige JMStV-E scheiterte kurz vor knapp an den Landesparlamenten in NRW (und später auch Schleswig-Holstein). Da ein (oder mehrere) Landesparlamente den Vertrag nicht ratifizierten, trat dieser nicht in Kraft.1 Vier Jahre nachdem der letzte Entwurf des Jugendmedienschutzstaatsvetrag krachend gescheitert ist, hätte man annehmen können, dass eine grundsätzliche Neuausrichtung des Jugendschutz im Internet 1 Ein ausführlicher Blogpost zu dem damaligen Blog des Autors „Kritische Betrachtung des Entwurfs zur Novelle des JugendmedienschutzStaatsvertrages 2009/2010“.

stattgefunden hätte. Der neue Entwurf sollte besser sein – er sollte auch interaktiver sein. Denn: Man hat es vielleicht gar nicht mitbekommen, es gibt aber eine Website, auf der man den aktuellen Entwurf kommentieren kann (konnte). Dieser Prozess endet am heutigen Montag2. Ich habe mich also in die Untiefen des Internets begeben (Dark Web) und eben jene Beteiligungsplattform aufgesucht – wirkliche Beteiligung ist anscheinend nicht gewünscht. Der Grundtenor bleibt: die Klassifizierung des deutschen (?!) Internets – 6, 12, 16 und 18 Jahre oder „ohne Altersbeschränkung“ (§ 5 Absatz 1). In Verbindung mit Absatz 3 ist von einer de-facto Kennzeichnungspflicht auszugehen. Dabei verkennt dies erneut die Grundlage des Internets, und 25 Jahre nach „Erfindung“ des World Wide Webs dessen Prozesse: das Internet ist nicht statisch. Es verändert sich permanent und Inhalte sind häufig 2 das war der 17. November 2014


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eben nicht von einer Redaktion oder einer überschaubaren Gruppe von Personen erstellt worden. Ein Blog oder ein soziales Netzwerk ist ein Sammelsurium von Inhalten – die, egal welcher Altersklassifizierung sie unterliegen – stets nach oben oder unten abweichen werden. Es ist eben kein Film, dessen Inhalt dauerhaft identisch bleibt. Grundlage der technischen Altersklassifikation soll der age-de.xml Labelstandard sein, dessen Spezifikation unzureichend ist. Mit Blick auf internationale Bemühungen der Standardisierung von Jugendschutz-Empfehlungssystemen, wie PICS oder ICRA, wird der vorgeschlagene Label-Standard faktisch gesehen keine Chance der internationalen Verbreitung finden. Obwohl PICS-Labels bereits durch den Microsoft Internet Explorer 3.0 (erschien am 13. August 1996) interpretiert werden konnte, der Internet Explorer zeitweise einen Nutzungsanteil von ca. 90% aufwies, und PICS ein durch das World Wide Web Consortium verabschiedeter Standard ist, konnte es sich nicht nachhaltig durchsetzen. Die geforderte Regelung betrifft vor allem die vielleicht wertvollsten Bereiche des Internets negativ, sowohl im soziokulturellen aber auch im wirtschaftlichen Bereich. Websites, die von Privatpersonen oder kleineren Unternehmen betrieben werden, können eben nicht jene Mechanismen nutzen, wie es große Player im Netz können, um den Anforderungen dieses JMStV-Entwurfs gerecht werden zu können.

Der Entwurf im Ganzen betrachtet Jugendschutz im Internet erneut ausschließlich technisch. Medienpädagogische Konzepte fehlen völlig. Die technische Klassifizierung setzt zwingend Software voraus, die auf den Endgeräten der Kinder und Jugendliche vorhanden sein müssten. Da der Zugang zum Internet aber eben nicht mehr nur über den klassichen PC stattfindet, ist der technische Jugendschutz theoretisch der Wunsch nach der eierlegenden Wollmilchsau, in der Praxis verpufft der Ansatz insbesondere bei Kindern ab 8 oder 10 Jahren aber völlig.

UPDATE 15:20: Der Begriff des Anbieters in § 5 Absatz 1 ist, ähnlich wie 2010, nicht klar definiert. Dies kann im Falle des Internets wieder einmal Access-, Host- und ContentProvider bedeuten. Es könnte dann sogar so gelesen werden, dass auch Netzsperren wieder Thema wären. CC-BY-SA | https://www.henning-tillmann. de/2014/11/wenn-das-internet-zur-dvd-wirdjmstv/

Somit ist festzuhalten, dass sich der Entwurf den Herausforderungen des Internets nicht stellt und Betreiber von Website bürokratische und unrealistische Regelungen umsetzen müssen. Vier Jahre, in denen realistischer Jugendschutz für das Internet hätte entwickelt werden und echte Beteiligung hätte stattfinden können, wurden vertan. Dies schadet vor allem einer Gruppe von Menschen: den Kindern und Jugendlichen von morgen. Schade. 21


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Das Geschäftsmodell – die fünfte Gewalt im Staate? Im November veröffentlichte Kay Strasser auf publixphere.net seine reaktion auf das Thema „Überwachte welt“ Als Teil des Innovationsraums d.collective arbeitet Kay Strasser an Konzepten in den Bereichen lebenslanges Lernen, zivilgesellschaft, intuitives projektmanagement, methodisch-anarchistisches hacking und communitybuilding. zudem ist er als kommerzieller fotograf u.a. für das Berlinale filmfestival sowie für die Berliner fashionweek tätig Die vollständige

Spätestens seit dem NSA-Skandal ist die Datendebatte in aller Munde. Erschreckende Begrifflichkeiten wie staatliche Überwachung und Cloudspionage laufen mit verführerischen Phrasen zu Onlineshopping und Sozialmedien um die Wette. Es ist eine wahre Lust zu skypen, zu tindern und zu twittern – und gleichzeitig überfällt uns plötzlich ein tiefes Misstrauen in alles Digitale. Hilflos kleben wir unsere Webcams ab und hoffen insgeheim, dass doch nicht alles ganz so schlimm ist. Aber womöglich hinkt die aktuelle Diskussion über Datensicherheit und die Risiken und Chancen von Big Data den Gegebenheiten schon längst hinterher. Denn mittlerweile gilt es nicht nur das Gewaltmonopol des Staates im Auge zu behalten – mit seinem oft widersprüchlich wahrgenommenen Bestreben nach mehr oder minder kontrollierter Freiheit – sondern eben auch Unternehmen wie Google oder Facebook, die unter dem Radar jeder gesetzlichen Kontrolle fortwährend Mechanismen in unserer Gesellschaft installieren, welche aufgrund ihrer vordergründigen Attraktivität nur noch ansatzweise hinterfragt werden. Wem ist schon bewusst, dass der bequeme Zugang zu allseits wie allzeit verfügbaren Dokumenten in der Cloud nicht nur bequem, sondern auch weit problematischer ist, als es jede Volkszählung oder gar die jahrzehntelange Überwa22

chung durch die Staatssicherheit in der DDR je hätte sein können? Problematisch nicht nur, weil man sich hier gegen böswillige Hacker schützen muss, die womöglich unsere selbstgefertigten Nacktbildchen aus dem großen Teich der persönlich reproduzierten Eitelkeiten fischen könnten. Sondern eben auch, weil diese Entwicklung die grundsätzliche Frage aufwirft, wem die Daten und Informationen eigentlich gehören, rechtlich aber auch faktisch. Und wem sie nützen. Diese Entwicklung legt einen Finger in jene Wunde, die schon lange vor der Datendebatte prophylaktisch blutete: die des geistigen Eigentums. Knapp ein Jahrhundert lang haben wir versucht, alle Schöpfungen und Entwicklungen in unser Raster des Besitzstanddenkens einzuordnen. Haben sie mit Urheberrecht, in Patentämtern und vor Gericht zu verteidigen versucht und damit große Apparate an Schutzmechanismen aufgebaut, die spätestens seit der digitalen Revolution immer mehr versagen. Erst traf es die gesamte Musikindustrie, die sich mit einer technischen Erfindung wie der mp3-Datei bis zur restlosen Erschöpfung verausgabte, dann stolperte die Film- und Spieleindustrie im selben Zuge über exponentiell steigende Datenübertragungsraten unserer Netze – und nun stehen womöglich selbst dem produzierenden Gewerbe wie beispielsweise der Textilindustrie mit der

Etablierung von 3D-Druckern ähnliche Herausforderungen bevor. Von Kopien und Plagiaten erst gar nicht zu reden. Und es sind keinesfalls die Bastler und die Garagenvisionäre, die den Status Quo derart massiv in Frage stellen, sondern ausgerechnet gewachsene Giganten wie Apple oder Amazon, die nun mit dem Dateneigentum ihrer Kunden virtuos experimentieren. Ganz unscheinbar bauen sie sich als eine Art fünfte Gewalt in unserem Staate auf und werden so nicht nur im internationalen Steuerrecht zu einem einflussreichen Machtfaktor, der so in unserem Gewaltenteilungsmodell aus Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung eigentlich gar nicht vorgesehen war. Sondern sie rivalisieren nun auch mit jener Pressefreiheit, die sich nicht ohne Grund über die vergangenen Jahrzehnte hinweg als kontrollierende Instanz und vierte Kraft noch mit in dieses Modell hineingearbeitet hatte. Doch was sind Firmen wie Google oder Amazon eigentlich? Sie sind in erster Linie Geschäftsmodelle: während der einstige Suchmaschinendienst bis heute behauptet, er würde nicht ausschließlich, aber eben auch im Dienste der Weltgesellschaft stehen, macht der einstige Bücherhändler gar keinen Hehl daraus, dass er vor allem Geld verdienen möchte. Die Wertschöpfung dieser Unternehmen besteht schon lange nicht mehr nur im Sammeln von Daten, sondern viel schlauer in ihrer


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ergiebigen Vernetzung. Und diese Bündelung ist nicht nur dauerhaft und lukrativ, sondern damit eben auch ein erheblicher Machtfaktor, der weit über jene in der klassischen Kapitalismuskritik betrachtete Konzern- und Bankenmacht hinausgeht. Tagtäglich können wir unsere Volksvertreter dabei beobachten, wie sie sich ratlos wie wir selbst oder zuweilen auch mit kurzsichtigem Eigennutz dieser Dynamik fügen und damit vermutlich unzähligen ähnlichen Geschäftsmodellen auch künftig das Feld überlassen werden. Wollen wir das wirklich? Und was kann die pluralistische Gesellschaft, als die wir uns nach wie vor verstehen, dem entgegensetzen? Wollen wir unsere Daten mit den selben Mechanismen schützen, die andernorts nicht nur von der NSA längst ausgehöhlt sind? Hier lohnt es sich zu erinnern, dass Technologien niemals Einbahnstrassen waren. Jedes strategisch entwickelte Produkt ließ sich mit entsprechend kreativer Kraft irgendwann auch im gegenteiligen Sinne nutzen – sofern die Gesellschaft ein Gespür dafür zu entwickeln vermochte. Das Digitale ist gut und böse zugleich. So wie sich kein System der Welt vor Missbrauch schützen kann, so ist auch keines resistent dagegen, sinnvoll auf den Kopf gestellt zu werden. Die so genannten ‚Facebookrevolutionen‘ im verpufften arabischen Frühling geben nur eine blasse Ahnung davon, was möglich wäre, wenn man sich systematisch damit auseinandersetzen würde. Und auch die jungen Musiker haben sich längst darauf besonnen, dass die Essenz ihres Schaffens und Einkommens nicht eine kleine silberne Scheibe ist, sondern der aktive Dienst am Publikum: auf Konzerten, in Fangruppen und nicht zuletzt gerade in dezentralen, aber ehrlichen Crowdfundingaktionen. Eventuell müssen wir uns daran gewöhnen, dass Schöpfungen wie Daten im digitalen Zeitalter nicht mehr exklusiv sein können – und würden wir sie so frei geben wie sie eigentlich schon längst sind, dann ließe sich mit ihrem Besitz auch nicht mehr so viel Geld verdienen. Im Gegenzug könnten wir innovative Mechanismen entwickeln, tatsächlich verantwortlich und gegebenenfalls auch zivilgesellschaftlich mit diesem Phänomen umzugehen – hier gäbe es genug zu forschen und zu verstehen für Universitäten

AuSzÜGe AuS Der KOmmeNTArSpALTe akaba: Ich kann Deiner Idee des positiven Hackings viel abgewinnen. Das Versprechen hinter all dem Big Data ist ja am Ende doch, dass sich Staaten und Unternehmen darauf verlassen können. (...) Abgesehen davon, dass hier schon eine unendliche Hybris zum Ausdruck kommt – nicht umsonst verloren die USA den Vietnamkrieg obwohl sie mit der Einführung des ‚Bodycounts‘ auf ‚Big Data‘ setzten – in dem Moment, wo wir das System verwirren, zerstören wir es. (...) Überraschen wir die Maschinen, enttäuschen wir ihre Erwartungen. Bis da lauter Möchtegern-Mächtige sitzen, die plötzlich merken, dass ihre ganze Datensammlung, ihr „Gold“ und „Öl“ des 21. Jahrhunderts nichts als ein maßlos überschätzter, riesiger Haufen Mist ist, auf dessen „Weisheit“ sich niemand bei Verstand verlassen würde.

luiscarlos123: Würde ein offener Umgang mit persönlichen Daten, mit dem Ziel den Marktpreis für diese Daten zu senken und somit den Global Players im Bereich Big Data die Geschäftsgrundlage zu entziehen nicht das Gegenteil bewirken? Daten wären frei zugänglich (was zwar, mit Abstrichen, für die Branchenriesen de facto zum jetzigen Zeitpunkt der Fall ist) und könnten viel einfacher auf den Menschen „vorm Datenschatten“ zurückgeführt werden. Ich kann mir schwer vorstellen, dass du soetwas im Sinn hast.

Kay Strasser: Ich stelle fest, dass wir in vielen Bereichen tagtäglich unbewusst, aber viel zu oft auch freiwillig mehr Preis geben, als wir gemeinhin behaupten dies zu wollen. Dieses asymmetrische Verhalten führt meiner Beobachtung nach zu einer dramatischen Machtverschiebung in Bereiche, die wir noch gar nicht kennen – selbst beispielsweise passieren, wenn wir als Individuen uns diesen Mechanismen bewusster würden als bislang und das entstehende System mit dem fütterten, was nur uns in den Sinn kommt? Ich denke da an so etwas wie Datenkunststücke, kreative Verschleierungsstrategien, unsinnige Dinge in einem menschlich betrachtet eigentlich unsinnigen System, Ironie wie im politischen Kabarett vielleicht... wenn technologischer Wahnsinn heutzutage möglich ist, dann muss technologische Ironie auch drin sein. Digitale Systeme haben keine Emotionen. Wir schon. Damit bleiben wir unberechenbar, wenn wir das denn wollen.

paul: Ich denke zwar, dass die sehr grundsätzlichen gesetzlichen Verwerfungen, die Spionage und Datenmissbrauch so mit sich bringen, politisch gelöst werden müssten – nur offensichtlich fühlt sich dazu bisher niemand in der Lage. Vielleicht auch, oder gerade weil die daran anhaftenden Vorstellungen eines freien Marktes völlig neu überdacht werden müssten. Das Prinzip emanzipierter Selbstverwaltung halte ich in ich selbst kann täuschen und fremde Waffen zu meinen machen. Nur, ist das ein Ansatz für breite Reihen der (derzeit weitgehend inhaltsleeren) Zivilgesellschaft?

und wahre Humanisten. Hier könnten wir uns schließlich selbst trainieren, Geschäftsmodelle gemeinschaftlich und konstruktiv zu verändern, sei es als Partner, Mitwirkende oder auch als Konsumenten. Mit der gleichen Lust, mit der wir skypen, tindern und twittern, könnten wir auch diese Herausforderung betrachten: wenn wir begreifen, dass dieses Internet unser

Internet ist. Denn eventuell sind solche Formen des positiven Hackings ja die einzige Chance, die wir als Menschen im digitalen Strom noch haben? CC-BY-NC-4.0 | https://publixphere.net/i/ publixphere-de/proposal/1113-Das_ Gesch%C3%A4ftsmodell__die_f%C3%BCnfte_ Gewalt_

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Das schlagende herz von YouTube Soziale Netzwerke werden mehr und mehr professionalisiert – das betrifft die produktion von Inhalten wie die monetarisierung. Doch was ist, wenn Inhalte dieser plattformen mit hilfe von Algorithmen zugunsten zahlender Akteure organisiert werden? und welche Konsequenzen hat das für die Dynamiken sozialer Netzwerke? Thomas Petzold und Woitek Konzal schreiben, dass das offene Internet, wie

m rkt | https://flic.kr/p/5DiTEC | CC BY-NC-ND 2.0 | creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

nicht als gleichwertige Grundlagen für langfristigen erfolg verstehen. Thomas petzold lehrt und forscht mit dem Schwerpunkt Innovation & soziale Technologien. woitek Konzal erforscht bei Gelegenheiten wie diesen Themen, die ihn persönlich und privat bewegen - andernorts ist er Junior producer im ufA LAB Berlin.

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Die digitalen Inhaltemärkte pulsieren, denn unsere Gesellschaften erzeugen innerhalb weniger Stunden so viele Informationen wie zuvor in der gesamten Menschheitsgeschichte. Dabei sind diese digitalen Aktivitäten geprägt von zwei Dingen: erstens von der neuen kulturellen Produktivität, d.h. der Beteiligung zahlreicher Menschen an der Produktion von Inhalten, und zweitens – um die aus dieser Produktivität resultierende Masse an Inhalten handhabbar zu halten – von Algorithmen und intelligenten Analysemethoden, die eine Automatisierung von Prozessen ermöglichen. Diese beiden Komponenten spielen auch bei YouTube eine tragende Rolle, denn sie stellen dessen Pulsschlag dar und machen es zu einer Institution öffentlichen und finanziellen Interesses. Wettbewerb in all seinen positiven und negativen Ausprägungen bestimmt dabei, welche Inhalte auf YouTube erfolgreich sein können und welche nicht. Einige Inhalte werden von Millionen von Menschen angesehen, andere sind de facto unsichtbar. Derzeit prägen sich zwei Kernphilosophien der Generierung neuer digitaler Inhalte auf YouTube aus. Einerseits die der organischen YouTuber, die sich über gemeinsame Interessen eine eigene Fanbase und ein informelles Netzwerk mit anderen YouTubern aufgebaut haben bzw. aufbauen wollen und damit den stetig gewachsenen Erfolg von YouTube über die letzten Jahre stark geprägt haben. Diese YouTuber bauen über Jahre ihre Communities auf und wissen genau, dass dies eine Grundvoraussetzung für ihren weiteren Erfolg darstellt. Ohne Community bist Du ein Niemand. Andererseits die großen formalisierten Multi-Channel-Netzwerke (MCNs), die unterschiedliche Rezepte zur raschen Vermarktung von neuen YouTubern anbieten und eher einer symbiotischen Duldung durch Google unterliegen. Hier ist das Wort Community zu einem Buzzword der Branche verkommen. Auch hier wird verstanden, dass ohne eine solche ein Erfolg unmöglich ist. Jedoch werden hier keine Jahre investiert, sondern das Konzept ist es, Communities über das Netzwerk schnell und intensiv zusammenzutrommeln. Der tatsächliche Zusammenhalt einer solchen Community ist leider oft zumindest fragwürdig. Die Philosophien auf dem größten digitalen Inhaltemarkt könnten also unterschiedlicher

nicht sein. Allein am Begriff der „Community“ erkennt man die immense Diskrepanz im Weltbild der Inhaltemacher. Es stellt sich daher die Frage, wie das schlagende Herz von YouTube langfristig finanzielles und soziales Interesse austariert. Automatisierte, rechenbetonte Vorgänge – eine Kernkompetenz von Google – nehmen dabei eine ganz besondere Rolle ein. Denn durch diese müssen Videos nicht erst den Umweg einer langwierig aufzubauenden Community gehen, sondern können sehr schnell hohe Viewzahlen erreichen. Ein obskures, aber von YouTube empfohlenes Video – sei es in der Seitenleiste, auf der Startseite oder am Ende eines anderen Videos – wird in großen Mengen angeklickt, während ein obskures nicht von YouTube empfohlenes Video auch gerne Mal bei 3 Views verharrt. MCNs und andere größere Institutionen würden nun gerne von Google’s Algorithmen bevorzugt behandelt werden. Ein einfaches, praktisches Beispiel war z. B. die Zeit der YouTube Original Channel Initiative, durch welche große Medienkonzerne auf die Plattform gelockt wurden, um professionelle Inhalte für neue Kanäle zu produzieren. Diese Kanäle wurden ein Jahr lang von Google (nicht den Medienhäusern) finanziert, hatten also nicht viel Zeit, organisch Communities aufzubauen, spürten aber großen Erfolgsdruck von verschiedenen Seiten. YouTube half also ein wenig aus, indem es (außerhalb der Plattform) intensiv Pressearbeit betrieb und den Kanalbetreibern mit Rat und Tat zur Seite stand, und (innerhalb der Plattform) einzelne Videos dieser Kanäle temporär bevorzugt behandelte. Sprich: Sie wurden von den Algorithmen nicht wie jedes andere Video behandelt, sondern besser. Die Views eines solchen Videos konnten dann gerne um das 20-fache und höher liegen als nicht bevorzugt behandelte Videos. Für die Kanalbetreiber aber machte es keinen Sinn, dass nicht alle ihre Videos so behandelt wurden, denn immerhin hatte Google mehrere hunderttausend bis Millionen Euro je Kanal investiert. Das Geld mussten sie doch wieder einspielen wollen? Anscheinend nicht, denn Google sah genau, dass diese Videos zwar hohe Viewzahlen erreichten, aber nicht viel dahinterstand. Engagement, Audience Retention und wahrscheinlich Session Time (wahrscheinlich, weil nur Google diese messen konnte) waren

im Keller – das Video also nicht erfolgreich in YouTube’s Sinne. Denn selbst wenn bevorzugt behandelte Videos mehr Abonnenten generierten, steht doch immer zur Debatte, ob das Gesamtergebnis der Plattform nicht eher schadete. Warum? Abgesehen von der Diskussion, ob es überhaupt solche „Premium“-Kanäle auf YouTube geben sollte, hatten die Algorithmen bei diesen Videos genau das nicht mehr getan, was eigentlich ihre Hauptaufgabe ist: Usern die für sie interessantesten Videos vorzuschlagen. Für YouTube macht es überhaupt keinen Sinn, ein Paar Euro aus der Original Channel Investition wieder einzuspielen oder hohe aber leere Views als Erfolg zu verkaufen. Diese Investition war lediglich dazu gedacht, existierende Medienkonzerne auf die Plattform zu locken. Das hat funktioniert und war alles investierte Geld wert. Erfolg für YouTube ist es aber, Nutzer langfristig an die Plattform zu binden. Und das geht nun Mal am besten über jene Kanalbetreiber, die ihre Community ernst nehmen, für sie Inhalte produzieren und dadurch ein langfristiges symbiotisches Verhältnis mit ihr eingehen. Auch wenn dies bedeutet, dass eher junge YouTuber als etablierte Konzerne gefördert werden müssen. Und damit schließt sich der Kreis und wir kommen zurück auf das eingangs erwähnte Spannungsfeld zwischen finanziellen und sozialen Interessen, in dem sich YouTube bewegt. YouTube ist eine profitmotivierte Unternehmung, jedoch ist es gleichzeitig auch zu einer sozialen Unternehmung geworden. Die Plattform dominiert weiterhin den Online-Video-Markt, und würde es seine Neutralität aufgeben, würde das offene Internet, wie wir es kennen und lieben, einen herben Rückschlag erleiden. Ob eine solche Argumentationslinie bei Google langfristig bestand hat, ist schwer abzuschätzen. Glücklicherweise sind die Effekte der finanziellen Motivation Googles im Moment auf einer Linie mit dieser sozialen Verantwortung, derer sich das Unternehmen durchaus bewusst zu sein scheint. Hoffen wir, dass dies so bleibt. Und streiten wir dafür (indem wir Communities ernst nehmen und gute Inhalte produzieren), dass Google keinen Grund sieht, das zu ändern. Erstabdruck | CC-BY-NC-SA-4.0

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Broadcast whom? Die neuen alten Selbstverständnisse im YouTube Ökosystem. Sind multi-channel-Networks die neuen Sender? wenn sich YouTube als Anbieter von audiosiduellem material am Selbstverständnis von traditionellen fernsehsendern orientiert, fokussiert das Netzwerkmedium nicht mehr das, was en antreibt: den Nutzer. eine Kooperation mit multi-channel-Networks (mcNs) bedeutet auch, dass ungleichheiten in dem sozialen Netzwerk gefördert werden. Lorenz Grünewald erklärt diese entwicklung. er ist wissenschaftlicher mitarbeiter an der hochschule für medien, Kommunikation und wirtschaft Berlin und Doktorand am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in hannover.

Im neuen Digitalisierungsbericht der Medienanstalten schreibt der Medienwissenschaftler und Blogger Bertram Gugel, dass wir bei der Beobachtung der MCNs „momentan die Wiederholung der Geschichte des Fernsehens“ erleben1. Der Titel seines Artikels „Sind YouTube-Netzwerke die neuen Sender?“ und der dazugehörende Diskurs um Multi-Channel-Networks sind Ausdruck eines alten Verständnisses von Medien und Mediennutzung, das noch aus dem Zeitalter der Massenmedien stammt und das den demokratischen Möglichkeiten neuer digitaler Medien wie YouTube nicht mehr gerecht wird. Ein solches Verständnis und insbesondere die Selbstverständnisse der Multi Channel Networks (MCNs) verdecken das demokratisierende Potential eines Mediums, in dem jeder mit einer Kamera und einem Internetanschluss frei Nachrichten und Unterhaltung produzieren kann. MCNs sind Unternehmen, die YouTuber unter Vertrag nehmen, ihre Kanäle vernetzen und deren Werbepotential maximieren. Das größte deutsche MCN Mediakraft präsentiert auf seiner Website den Slogan „Wir machen Online-TV“. Dies verweist auf eine Rollenverteilung, die wir aus dem Fernsehen kennen: Die asymmetrische Beziehung zwischen TV-Machern und Zuschauern, zwischen Sender und Empfänger2. Tatsächlich lässt sich MediakraftChef Christoph Krachten im neuen Wired Germany damit zitieren, dass Mediakraft die Möglichkeit habe, „größer als große

Fernsehanstalten zu werden“3. Der aktuelle Diskurs um YouTube konzentriert sich dabei vor allem auf den Konflikt zwischen MCNs und größeren YouTubern, die sich in den Optimierungsprozessen und der Formatentwicklung der MCNs in ihrer künstlerischen Freiheit beeinflusst sehen. So sagte es kürzlich der YouTuber LeFloyd zu Stefan Niggemeier4. Die Diskussion um YouTube muss jedoch weiter gehen, denn die Selbstverständnisse im YouTube Ökosystem und das Sender/Empfänger-Modell deuten ein tiefer liegendes Problem an.

1 http://goo.gl/zQOqMz

3 http://goo.gl/9WzrRH

6 http://goo.gl/S0q57E

2 http://goo.gl/ajOctJ

4 http://goo.gl/no4m1N

7 http://goo.gl/hKU00G

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Broadcast Yourself: Strategisch genial, kulturell unerreicht. Auch YouTubes Selbstverständnis ist im Wandel. Im November 2014 kündigte das Unternehmen den neuen StreamingDienst YouTube Music Key an. Natürlich per Video. Das Video zeigt die Evolution YouTubes anhand der Menschen, die dort etwas mit Musik gemacht haben. Es beginnt mit ‚Two Chinese Boys‘, die bereits kurz nach YouTubes Start im Februar 2005 die Backstreet Boys coverten und endet etwa mit Pharrell Williams Hit-Single‘ Happy‘ aus 2014. Das zeigt die Geschichte vom User-Generated-Content, also den Inhalten derer, von denen einige zu YouTubern wurden bis hin zum Einzug der Profis, der Stars und der Netzwerke. Aber – und das ist für YouTubes Selbstverständnis bezeichnend – das Video zeigt auch, wie im Wandel der YouTube Website der Slogan ‚Broadcast Yourself‘

verschwindet5. Stattdessen nennt YouTube auf seiner Google+-Seite ein Motto, das nicht empowert, sondern ebenfalls auf passive Empfänger verweist: „Bringing you the best of YouTube videos and channels, worldwide.“ 6. Dass der Slogan von der Startseite verschwindet ist deshalb so verwunderlich, weil er das Medium YouTube, so wie es jetzt ist, erst möglich gemacht hat. ‘Broadcast Yourself ’ ist die perfekte Repräsentation, ja sogar der perfekte Imperativ dafür, dass wirklich jeder, der über einen Internetanschluss und eine Kamera verfügt, seine Botschaft verbreiten kann. YouTube hatte anfangs nur das Selbstverständnis, diejenigen zu empowern, die vor der Röhre sitzen: YouTube. Broadcast Yourself. Konkretere Ziele, so lässt es ein Portrait der ersten Generation von YouTubern aus Wired UK vermuten, hatte YouTube in der Start-up-Phase überhaupt nicht7. So konnten neue Ideen davon entstehen, was es heißt, ein Künstler zu sein, ein Journalist, ein Entertainer, ein Aktivist. Die Rolle des YouTubers entstand und einige von ihnen wurden Stars wie in Deutschland LeFloyd oder Gronkh. Diese informieren und unterhalten und ihre Videos werden oft öfter gesehen als eine durchschnittliche Folge von TV Total. ‚Broadcast Yourself‘ ist ein strategisch genialer Gedanke, der die Diversität von Leuten, die ein Medium nutzen können ins bisher Ungesehene gesteigert hat. Die Zahl und die Unterschiedlichkeit derer, die auf YouTube aktiv sind, reicht vom 5 http://goo.gl/rSwVv5, ca. bei 00:44


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Briefmarkensammler über religiöse Prediger, von Unternehmenskommunikation zu Barack Obama und weit darüber hinaus. Mit Vine, einer Art Twitter für Videos von sechs Sekunden, taucht jetzt ein weiterer Stern am Video-Himmel auf. Hier konstatiert The New Yorker: „Vine didn’t really take off until April, 2013, when it introduced a front-facing camera for selfies: it turned out that people would rather broadcast themselves than their surroundings.“8 Das Problem steckt schon im Begriff des Senders Das Verständnis von Netzwerken als Sender und von YouTube als etwas wie dem Fernsehen vergleichbaren, verweist damit auf eine grundsätzlichere Veränderung im YouTube-Ökosystem. Denn mit dem Twist zurück zu TV-inspirierten Selbstverständnissen wird auch ein altes Verständnis der YouTube-Nutzer impliziert, das gegen vieles spricht, was wir aus den Medienwissenschaften über Netzwerkmedien wie YouTube wissen. ‚ ‘ hat nicht nur dazu geführt, dass eine bisher unbekannte Diversität von Leuten und Akteuren auf YouTube zum Sender wurde. Die Teilung von Sender und Empfänger wird bei Medien wie YouTube heute aufgelöst. Jeder, der Videos sehen kann, kann diese auch kommentieren, bewerten, teilen, Playlisten erstellen oder eben ein eigenes Video hochladen. „Passives Konsumieren wird zur aktiven Entscheidung“, wie die Huffington Post es kürzlich zu YouTube formuliert hat 9. So entsteht eine reiche Kultur, in der sich YouTuber gegenseitig referenzieren, beurteilen, parodieren, covern, und verreißen. Es entsteht aber auch eine Kultur, in der Gesellschaft stattfindet. Das reicht von Interviews mit Flüchtlingen in Deutschland, die über ihre Lage berichten bis hin zu Aufnahmen von Polizeigewalt oder schlimmerer Dinge, wie dem Suizid von Mohamed Bouazizi, dessen Verbreitung auf YouTube und Facebook nach Meinung vieler ein Auslöser für die tunesische Revolution waren. Muss es nun ein Problem sein, dass sich Netzwerke als Sender für ihre mehr oder weniger passiven Empfänger betrachten und dass YouTube sein Selbstverständnis hin zum neuen Fernseher entwickeln könnte? Nicht, 8 http://goo.gl/dzFjIy 9 http://goo.gl/33X5BH

solange weiterhin jeder über ähnliche Möglichkeiten verfügt, auf YouTube aktiv zu werden. Derzeit ist dies auch weiterhin der Fall. Die Entwicklung von YouTubes Geschäftsmodell, das auch die MCNs ermöglichte, zeigt aber, dass sich dies auch ändern kann. Verschiebt sich die Balance im Ökosystem? Die enorme Diversität an Menschen und Organisationen, die YouTube nutzen, liegt darin begründet, dass YouTube, wie die meisten Internet-Start-ups, ohne ein Geschäftsmodell startete. Auch Google tat sich nach der Akquise von YouTube zunächst schwer, ein Geschäftsmodell zu entwickeln. Mit dem Partner-Programm, das es einzelnen YouTubern erlaubt, ihre Videos mit Werbung zu versehen und an den Einnahmen mit zu verdienen, glaubte man, eine Erlösmöglichkeit gefunden zu haben, die den Zugang zu den Potentialen von YouTube nicht einschränkte. Niemand musste für seinen Broadcast Geld verlangen; aber wer wollte, der konnte. Um den Effekt des neuen Geschäftsmodells zu maximieren, begann man Deals mit neuen Partnern wie Medienkonzernen einzugehen sowie Lizenzen an MCNs zu vergeben. Hierdurch rücken Unternehmen näher an YouTube heran, als das für einzelne Nutzer möglich ist. Zum Beispiel durch erweiterte Zugänge zu YouTubes Verwaltungs-System für Urheberrechte, genannt Content-ID, aber auch durch durch besondere Analytics-Systeme und erweiterten Support. Auch durch ihr Wissen, ihr Kapital und das Einbinden der Reichweite von YouTube-Stars haben beispielsweise MCNs einen größeren Spielraum im Umgang mit YouTube als andere. Natürlich haben sie es auch leichter, auf die Startseite zu kommen. Nicht nur in den Selbstverständnissen von MCNs und von YouTube zeichnet sich also ab, dass neue Quellen von Ungleichheit im Bezug darauf entstehen können, wer etwas mit Medien machen kann. Noch ist es nicht so weit. Aber es ist nicht absehbar, was mit ‘Broadcast Yourself ’ passieren wird, falls YouTube als Unternehmen ernsthaft beginnen sollte, sein Empowerment hin zu den Profitmaximierenden zu verschieben. Andere Unternehmen wie Yahoo, die einigen Meldungen zufolge ei-

nen eigenen Videodienst planen, für den sie erfolgreiche YouTube-Stars abwerben wollen, oder Video-Start-ups wie getvictorious.com oder vessel.com, die sich explizit an YouTuber mit bestehender Reichweite richten, planen scheinbar zunächst gar keine Upload-Funktion für den gewöhnlichen Nutzer ein. Damit gehen sie weit hinter das zurück, was YouTube schon erreicht hat10. Wer Fernsehen denkt, geht hinter bereits Erlangtes zurück Wer, wann, wie Unterhaltung und auch Geschäftsmodelle schaffen kann und wer mit ihnen wahrgenommen werden kann oder wer mit YouTube politische Diskurse schaffen und beeinflussen kann, das darf nicht zu sehr von Werbetauglichkeit und/ oder dritten Institutionen wie MCNs abhängig sein. Ganz zu schweigen von den unzähligen Videos, die auf YouTube stattfinden aber nicht monetarisiert werden können, weil sie als Remixe, Übersetzungen oder Mash-ups Urheberrechtsansprüche verletzen würden. Vieles deutet darauf hin, dass YouTube sich um Balance bemüht. Zum Beispiel experimentiert YouTube mit einem System, das einfaches Verteilen kleinerer Geldbeiträge an die Produzenten von YouTube Content ermöglicht, ohne dass MCNs oder Werbetreibende ins Spiel kommen müssen 11. Aber falls YouTube doch zum neuen Online-TV wird, was passiert dann mit denen, die einfach nur ‚Broadcast Yourself‘ machen wollen? Muss sich der Diskurs nicht auch um uns alle, um das You im YouTube kümmern als nur um MCNs und YouTuber? Um die Leute, die mit Rollen, Formaten und Inhalten experimentieren? Dass es zu alten Selbstverständnissen besser nicht kommen sollte sagt auch Betram Gugel: „Es ist für Netzwerke also essentiell, dass sich YouTube auch in Zukunft als Enabler und nicht als Medienunternehmen sieht.“ Der letzte Satz aber, den YouTube in seinem Music Key Video zeigt, lautet: „From the beginning you have been making music better. Now it‘s our turn“. Erstabdruck | CC-BY-NC-SA-4.0 10 http://goo.gl/iuAO4F 11 http://goo.gl/vVukqg

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Netzdiskurs in europa: Soziale medien zwischen Nutzen und hegemonie IT-Giganten wie facebook dominieren soziale medien und somit die Gesellschaft. Der kritische Netzdiskurs in europa reagiert darauf unzureichend. wie können wir Soziale medien mit machtfragen in Beziehung setzen? wie verändert unser zeitalter den Begriff „sozial“? Geert Lovink ist medientheoretiker und Netzkritiker. Seit 2004 ist er professor an der hogeschool van Amsterdam, wo er ein eigenes Institut für kritische Netztheorie, das Institute of Network cultures – networkcultures.org – gründete. er traf den medienkritiker César Rendueles in madrid zum Interview. Das Gespräch erschien zuerst in berlinergazette.de

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n letzter Zeit habe ich mich mit der Frage nach europäischen Antworten auf die techno-liberitären Angriffe des Silicon Valleys beschäftigt. Warum sind so viele Europäer blind für die monopolistischen Strategien neuer Akteure wie Amazon, Google, Facebook aber auch Microsoft und begrüßen deren Onlineservices ohne weitere Gedanken? Wo ist unsere digitale Intelligenzija, die Intellektuellen, die mit dem Internet großgeworden sind? Es gibt eine Menge von Anwendungsmöglichkeiten und die Statistiken für Europa sehen nicht schlecht aus. Außerdem gibt es viele Bedenken bezüglich Privatsphäre und der Strom an Hackern- und WhistleblowerSkandalen reißt nicht ab. Aber für eine informierte Perspektive, die weiter geht als die Berichte von Journalisten, brauchen wir etwas anderes. Was fehlt sind nicht die Nerds oder Businessjournalisten, sondern die Philosophen, die nicht nur das technische Fachwissen, sondern auch Wissen über die politische Ökonomie des Netzes mitbringen, um in der Debatte selbstbewusst auftreten zu können. Wo sind die Kontroversen, die konzeptionelle Überlegenheit, die Leidenschaft und

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Wut? Wo ist Europas Jonathan Franzen? Wie können wir das unausgesprochene Ressentiment überschreiten? Die kulturelle Elite Europas befindet sich noch in der Phase des Leugnens, in der Hoffnung, der digitale Sturm werde vorbeiziehen und wir kehrten zur Normalität der guten, alten Zeitung und Tagesschau um Acht zurück. In einem Zeitalter, in dem Amazon das Veröffentlichen von Büchern neu definiert, Netflix das Fernsehen aufmischt, Airbnb den Mietmarkt zerstört und Uber das Taxigeschäft in Angriff nimmt, wie sollte die Antwort des kulturellen Sektors Europas aussehen? Wir können uns über die Rücksichtslosigkeit der Kapitalhaie beschweren und von Brüssel erwarten etwas gegen die neuen Monopole zu unternehmen. Zum Beispiel in Bereichen des Buchvertriebes, Recherche und Social Media. Aber wo sind denn die neuen europäischen StartUps, Kurse in Universitäten und kritische Ansätze in der Berichterstattung? Kleine und unterfinanzierte Netzwerke wie www.eurozine.com geben ihr Bestes einen europäischen Austausch zwischen Kulturmagazinen und Autoren herzustellen. Doch sie erleben dieselben finanziel-


Anne Helmond | https://flic.kr/p/7NK3jA | CC BY-NC-ND 2.0 | https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

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the-cocktail.com | http://the-cocktail.com/blog/posts/la-sociofobia-de-cesar-rendueles-la-productividad-de-alberto-pena-y-la-revista-don-de-javier-moya

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len Kürzungen wie jeder andere auch. Vor zwanzig Jahren, als Pit Schulz und ich die Nettime Initiative gestartet haben, malten wir uns einen transatlantischen Dialog zwischen Europa und Nordamerika aus, um eine Agenda für die „Kulturpolitik fürs Netz“ zu formulieren. Die Idee war die Beziehungen innerhalb Europas nach dem Fall der Berliner Mauer zu stärken. Dies sollte nicht nur durch Treffen, Online Debatten, Kollaborationen und Freundschaften passieren, sondern auch durch Crowdsourcing. Dies alles sollte als „gegenseitige Hilfe“ im Kontext der „freien Kooperation“ geschehen. Selbstkritik und Konsequenzen: Ein Interview! Auf einer Konferenz in Barcelona im Juni 2014 begegnete ich dem Medienkritiker César Rendueles aus Madrid, der mir von dem Erfolg seines Buches „Sociofobia, El cambio politico en la era de la utopia digital“ in der spanisch sprechenden Welt erzählte. Auf dem Cover steht: „Die Ideologie des Netzwerks garantiert verminderte soziale Realität“. Ich würde Rendueles‘ Ansatz als geradeheraus akademisch charakterisieren, verstärkt durch noch klarere populistische Forderungen (von Lateinamerika inspiriert), um die wichtige öffentliche Infrastruktur zu renationalisieren. In diesem Falle den Mix aus Telecom, Wissensproduktion, Bildung und Medien. Diese südeuropäische Tendenz des „Cybersozialismus“ steht im Kontrast zu dem Blair’schen „Dritten Weg“, entstanden in Nordwesteuropa. Dieser akzeptiert limitierte Interventionen des Staates in ökonomischen Besitztümern und spricht dagegen von „Commons“, regiert von einer nicht identifizierten Koalition von Akteuren in der sowohl Einfluss von Staat als auch von Monopolen verdeckt sind. Warum wurde Sociofobia noch nicht übersetzt? Natürlich kann man die europäische Politik dafür verantwortlich machen. Mit ihrem überholtem Copyright-System und einem mangelndem Subventionsprogramm für Übersetzungen ausschlaggebender, kultureller Texte, behindert sie den freien kulturellen Austausch innerhalb Europas. Wie können italienische Leser von den lebendigen „Post-Snowden“-Debatten in Berlin erfahren? Soll ich mich der Selbstkritik unterziehen, zugeben dass ich einst das sanfte Italienisch dem harschen Spanisch vorzog und nun die Konsequenzen tragen muss? Es ist

Zeit für ein Interview – auf Englisch. Worum geht es in Sociofobia? Mich fasziniert und verwirrt der Titel gleichermaßen. Was wäre Socialfobia im Zeitalter der Sozialen Medien? Seit vielen Jahren interessiere ich mich für Autoren, die die Schwächung sozialer Bindungen im postmodernen Kapitalismus analysieren: Richard Sennett, Robert Castel, Jacques Donzelot, Guy Standing und Karl Polanyi und Christopher Lasch. Sie bringen alle verschiedene Ideen ein, aber stimmen in zwei Punkten überein: Erstens, wir leben in mehr und mehr individualisierten Gesellschaften, charakterisiert durch schwache Bindungen, die viele psychologische, ethische, kulturelle und politische Probleme hervorrufen. Und Zweitens, soziale Schwäche hängt mit dem Prozess des Unternehmergeistes zusammen. Wettkampf zerstört die soziale Fabrik, die anthropologische Basis für das Überleben jeder Menschengruppe. Wie Robert Putnam empirisch nachwies, wurde die Einführung der neoliberalen Agenda der 70er Jahre mit massivem Untergraben der Zivilgesellschaft assoziiert. Mein Beitrag zu dieser theoretischen Tradition war es, die Beziehung zwischen dem Prozess der Schwächung und emanzipatorischen politischen Projekten, zu analysieren. Die politische Linke hat gezeigt, dass Demokratie und soziale Gerechtigkeit institutionelle Bedingungen – Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit – sowie materielle Bedingungen voraussetzen: wenn du ein Analphabet bist, der in einer Mülltonne in Managua lebt, erscheint dir das Recht auf freie Meinungsäußerung wie ein schlechter Witz. Ich denke, Emanzipation hat auch soziale Bedingungen. Demokratie, Gleichheit und Freiheit sind unmöglich in der sozialen Einöde des Neoliberalismus. Es ist wichtig zeitweise soziale Verstäubung nicht mit Freiheit als komplexes Projekt, das Kooperation und gleichwertige Unterstützung benötigt, zu verwechseln. So habe ich angefangen die politischen Rolle von sozialen Medien zu hinterfragen. Ich finde es überraschend, dass der derzeitige Prozess der sozialen Schwächung mit einer technologischen Ideologie koexistiert, die Kooperation und Gemeinschaft in höchsten Tönen lobt. Zum Beispiel, im

Baskenland liegt eines der größten Kooperative der Welt. Die Mondragón Gruppe, welche 80.000 Leute beschäftigt. Jedoch hat es bisher wenig akademische Aufmerksamkeit bekommen. Die Medien setzen es als überholtes Model herab und es wurde angedeutet, es habe Verbindungen zum baskischen Terrorismus. Kleine Projekte mit nur wenigen involvierten Personen bekommen jedoch enorme Aufmerksamkeit und über ihre Fehler und Versagen wird tendenziell hinweggesehen. Ich denke das hegemoniale Verständnis der sozialen Medien fördert die Generalisierung eines Institutionenmodells ähnlich dem des Marktes. Es involviert soziales und politisches Misstrauen, welches Gemeinsamkeiten zum ökonomischen Liberalismus hat. Liberale glauben, dass es in komplexen Gesellschaften unmöglich ist, oder jedenfalls ziemlich anstrengend, einen Konsens durch politische Überlegungen zu erreichen. Wenn wir versuchen Übereinkünfte in großen Gesellschaften zu treffen, riskieren wir immer gewaltsame Konflikte oder Unterdrückung von Minderheiten zu provozieren. Dies ist der Grund warum man denkt, es sei besser die Kommerzialisierung der höchsten Anzahl sozialer Bereiche zu fördern. Dies sollte die Bildung spontaner Koordination ermöglichen, die keine Diskussion oder Zustimmung benötigen, aber ist das Ergebnis von Interessenverdichtungen durch die Mechanismen Nachfrage und Angebot. Ich denke der Enthusiasmus für soziale Medien reagiert auf einen ähnlichen Impuls: ein tiefes Misstrauen in die Möglichkeiten der demokratischen Überlegungen und deswegen Engagement für spontane Harmonisierung. Wir fühlen uns nicht in der Lage zusammen zu denken und Institutionen zu gründen. Deswegen sehnen wir uns nach technologischen Mechanismen, die uns vereinigen ohne zu einem Konsens zu gelangen. Wir glauben nicht, wir können Dinge zusammen erledigen; aber die Technologie erlaubt uns sie zur gleichen Zeit zu erledigen. Kann ich deinen Ansatz als einen soziologischen beschreiben? Arbeitest du an einer politischen Ökonomie der sozialen Medien? Wären das die Begriffe, die du verwenden würdest? 31


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Eigentlich ist mein Hintergrund zuerst einmal ein philosophischer. Allerdings arbeite ich in einer Hybridgruppe zwischen Erkenntnistheorie und Soziologie. Mein Fokus ist in dieser Hinsicht ziemlich klassisch, nah an den Traditionen heterodoxer Marxisten wie Polanyi. Im Grunde glauben wir, dass die ökonomische Tradition weniger wichtig sein sollte und deshalb sprechen wir zwanghaft über Ökonomie. Der Punkt ist, dass in kapitalistischen Gesellschaften der Markt permanent den Umfang demokratischer Interventionen limitiert. Das Gleiche gilt für die Technik. Eine Gesellschaft, dessen Wirtschaft auf dem Streben nach privatem Profit basiert, ist zu einem suboptimalen Gebrauch vieler Technologien verdammt. Ein Dilemma welches sich in Sozialen Medien nur noch vertieft hat. Es gibt Tests in denen man nicht nur den Widerspruch des Kapitalismus beobachten kann, sondern auch den von denen die ihm entgegenwirken. Das Internet bringt die Beschränkungen des Marktes ans Licht um eine Umgebung des Überflusses zu übernehmen, aber auch die Beschränkungen einiger ziemlich grober Anti-Institutionen Kritiken. Die Netzwerke bieten immense politische Möglichkeiten, aber um diese zu realisieren müssen wir entscheiden, wie viel Kooperation, Konkurrenzkampf und Public Intervention wir benötigen. Ich denke, um beides, die Fehler des Marktes und der gemeinschaftlichen Spontanität, zu überwinden, brauchen wir mehr öffentliche – nicht zwingend staatliche – institutionelle Interventionen. Das ist ein ziemlich klassischer Vorschlag, doch viele Leute finden ihn radikal oder sogar provokativ. Der Grund ist, dass viele technische Diskurse, inklusive Antagonisten, auf einer neoliberalen Ära begründet wurden. Einige Aktivisten des Open Movement haben eine eher spartanische Attitüde gegenüber Arbeitern der kulturellen Industrie angenommen. Sie sagen: „Verleger, Kinos, Zeitungen und Büchereien müssen sich anpassen oder sterben.“ Als sei dies das Urteil irgendeines technischen Darwinismus. Dies scheint nicht nur grausam, es ist auch kontraproduktiv für die freie Kultur. Um den Vorteil der gemeinschaftlichen Möglichkeiten der Technik zu nutzen, brauchen wir legale Mittel, die es uns erlauben 32

Inhalte zu teilen, aber auch tiefgreifende institutionelle Veränderungen, die die Schaffung und Schlichtung schützen. Eine großangelegte, allgemeine Intervention in diesem Bereich könnte brisante Effekte haben. Copyleft1 benötigt einen Marshall Plan um spontane Kollaborationen und kommerzielle Aktivitäten zu ergänzen. Die Copyright Krise kann von einem Problem zu einer Lösung werden, wenn wir öffentliche Investmentprogramme entwickeln, um die Vorteile digitaler Technologien zu vergesellschaften, ohne Autorenrechte zu verletzen. Es ist möglich. Vor einiger Zeit war wissenschaftliche Forschung nur für einige Reiche zugänglich. Wir haben den Zugang zu Forschung demokratisiert, indem wir es zum Beispiel mit öffentlichen Institutionen wie Universitäten verbunden haben. Die Definition von „Sozial“ scheint auf eine „Gruppe von Freunden“ beschränkt zu sein. Wäre es möglich den Ausdruck „Soziale Medien“ neu zu definieren? Was ist überhaupt das Soziale? Die Wörter „Gesellschaft“ und „sozial“ wie wir sie heute kennen verbreiteten sich schon während der Anfänge des Kapitalismus. Sie waren Teil eines verzweifelten Suchens nach Mitteln, die auf ein Verstehen der dramatischen historischen Transformationen, die zu der Zeit von statten ginge, abzielten. Der Begriff „sozial“ bezeichnet die Art von Beziehungen, die entstanden, als die ehemaligen Gemeinden, die dem geteilten Leben einst einen Sinn gaben, verschwanden. Das Paradoxe war, dass die Effekte sozialer Interaktionen in der neuen industrialisierten und individualisierten Welt viel radikaler waren, als in der Vergangenheit. Diese große Umwälzung war unnatürlich, aber hatte seinen Ursprung beim Menschen: Finanzkrise, Arbeitslosigkeit…. Der Unterschied war, dass man mehr tun konnte als nur zu Beten. Es war möglich andere zu mobilisieren, um zu versuchen die Dinge zu ändern. In diesem Sinne war der Begriff „Sozial“ ein politisches Schlachtfeld. Adam Smith hat „Gesellschaft“ apophatisch, durch Verhandlungen, definiert: Gesellschaft ist die Abwesenheit von Aggression zwischen Individuen. Die politischen Eliten Zentraleuropas ver1 https://www.gnu.org/copyleft/copyleft.de.html

suchten, soziale Konflikte durch autoritäre staatliche Interventionen zu verhindern. Die antikapitalistische Sichtweise war komplexer und widerspruchsvoll. Auf der einen Seite haben die Linken die Zerstörung traditioneller Ketten des gesellschaftlichen Lebens begrüßt. Der berühmteste Ausdruck für die Ablehnung der Vergangenheit ist die Passage aus dem Kommunistischen Manifest, in der Marx und Engels den Kapitalismus anpreisen. Der Gedanke ist, dass Kapitalismus bereits die halbe Arbeit erledigt hat indem er die Unterdrückung zerstörte, die individuelle Freiheit begrenzte. Auf der anderen Seite lehnen Antikapitalisten modernen Individualismus, den Rückgang der Solidarität und das Aufkommen der Massengesellschaft ab. Das ist eine wirkungsvolle Einsicht: wie Terry Eagleton sagte: Ein individueller Mensch zu ein ist nicht dasselbe wie ein individueller Pfirsich zu sein, aber ein Projekt, dass wir gemeinsam bewältigen müssen. Diese Doppeldeutigkeit stellt ein ethisches Dilemma für die politische Linke dar. Wir wollen freie Individuen sein und gleichzeitig Teil eines Netzwerkes mit tiefgreifender, echter Solidarität. Wir wollen eine effiziente Wirtschaft, die es uns erlaubt zwischen verschiedenen Tätigkeiten zu wählen und Talente fördert. Aber wir wollen keinen Arbeitsmarkt, der von uns verlangt miteinander zu konkurrieren. Das gleiche passiert mit uns als Touristen. Wir reisen um tolle Orte zu entdecken und sie wären auch unberührt, gäbe es nicht all die anderen Leute, die dieselben Orte besuchen. Im derzeitigen Technikdiskurs wird das Wort „Gesellschaft“ basierend auf einer Annahme, tiefgreifender als Konflikt und politische Dilemma, gebraucht. Die Gesellschaft ist kompatibel mit liberaler Skepsis über das „Soziale“. Als Margaret Thatcher sagte: „there is no such thing as society“ haben viele gedacht, dies sei ein Statement ontologischen Individualismus. Eigentlich war es ein politisches Programm. Was sie meinte war, dass sie anstrebte den Konsens der Nachkriegszeit zu zerstören, der durch ein besonderes Verständnis von Gesellschaft ausgedrückt wurde. Soziale Mainstream-Medien sind mit diesem Projekt völlig vereinbar als Resultat der Logik von Präferenzen: Meine Identität als Internetuser ist meine


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Browserhistory, das ist, was ich in diesem Moment bevorzugt habe. Meine soziale Identität ist dazu im Vergleich auf beides, meine Präferenzen und meine Verpflichtungen bezogen. Zum Beispiel finde ich die weitverbreitete Idee, wir wählten unsere Partner mit denen wir unser Leben teilen. In welchem Katalog haben wir gesucht, um solch eine Entscheidung zu treffen? Das Charakteristische tiefer, sozialer Bindungen ist, dass es weder Zwang – wie Zwangshochzeiten – noch einfach Ausdrücke von Vorzügen gibt. Das Gleiche gilt für ein paar Erfahrungen, die wir als wertvoll und charakteristisch für ein gutes Leben betrachten. Niemand steht gerne nachts auf, nur um einem Neugeborenen die Flasche zu geben. Niemand zieht es vor an langweiligen Politveranstaltungen teilzunehmen. Niemand geht gerne morgens im Regen mit dem Hund spazieren. Ich würde sogar sagen, dass niemand lieber Proust lesen würde, anstatt Big Brother im Fernsehen zu schauen. Wir müssen sozialen Nutzen von Technologie in eine kritische Gesellschaftstheorie einbauen und die dominierenden Motive hinterfragen, die die ganze Zeit verwendet werden. Es gibt nun einen Diskurs amerikanischer Autoren, die Meisten keine Akademiker, die dem Silicon Valley kritisch gegenüberstehen und die sich zu dominierenden Internetkulturen und Kooperationen wie Google, Facebook, Microsoft, Amazon, Apple, Yahoo und Twitter äußern. Wir denken da an Nicolas Carr, Andrew Keen, Eygene Morozov, Jaron Lanier und Sherry Turkle. Ich glaube in der spanisch sprechenden Welt werden Theorien üblicherweise durch Übersetzungen, Reden auf IT-Konferenzen und so weiter importiert. Was findest du diese Intellektuellen und ihren Ansichten? Ich weiß ihre Arbeit sehr zu schätzen. Ich denke, es war ein wichtiger Schritt den dominanten Konsens in der Technologie herauszufordern. Was ich jedoch in ihren Theorien vermisse ist eine schärfere politische Kante. Das ist ein Fehler, den jemand wie Michael Bauwens nicht gemacht hat. Es ist nicht genug, die Überschätzung der politischen und sozialen Rolle der Technologie und der Macht großer Korporationen zu verunglimpfen. Wir müssen darüber hi-

naus verstehen, wie diese Dynamiken als Teil sozioökonomischer Prozesse in Bezug stehen zu Kapitalakkumulation in den vergangen Jahrzehnten, zum Beispiel, zwischen der sogenannten „Knowledge Economy“ und globaler Financialization. Der kritische Netzdiskurs in Europa ist schwach. Was hält Europäer noch davon ab mitzumachen? Das Internet gibt es nun schon seit zwei Jahrzehnten, auch in Spanien. Geht es dabei auch um Labels und Marketing? In der Welt der Philosophie ist es ganz natürlich, dass zwischen analytischen Philosophen (Angelsachsen) und kontinentalen (Europäern) ein Gegensatz besteht. Meiner Meinung nach, eine groteske und kontraproduktive Einteilung. Europäische Sozialwissenschaftler sind einer zügellosen Träumerei verfallen. Wir haben keine Anstalten gemacht klare und verständliche Sprache zu nutzen. Ich denke, damit waren wir auf Technikanalysen nicht gut vorbereitet, die ein begriffliches Esperanto benötigen, um mit Leuten aus verschiedensten Disziplinen zu kommunizieren. Das war aus zwei Gründen sehr negativ. Erstens, das theoretische Erbe Europas ist mächtig und hat in diesem Bereich viel beigesteuert. Zweitens, europäische und lateinamerikanische politische Traditionen ermöglichen es uns Veränderungen in Technologie von einer anderen Perspektive als der angelsächsischen zu beobachten. Entschuldigen Sie die Neugierde, aber haben Sie Kollegen in der Spanischen sprechenden Welt? Wo entwickeln sich kritische und künstlerische Praktiken in Spanien? Wir kennen Lorea, und alles was danach kam, und das Media Lab Prado …

Jahre der spanischen Wohnbaublase ein Aufblühen künstlerischer und kultureller Institutionen, die sich für freie Kultur interessierten, aber immer aus sehr formaler und elitärer Sicht. Seit 2008 haben sich die Dinge verändert. Heutzutage gibt es starke soziale Bewegungen, die politische, soziale und ökonomische Demokratie fordern. Das wird in unserem Verständnis von gemeinschaftlicher Technologie reflektiert. Ich sage normalerweise, dass das 15-M und die Occupy-Bewegung gezeigt haben, dass die Technik sehr gut funktioniert, wenn Leute auf die Straße gehen, aber sie funktioniert viel schlechter, Leute dazu zu bringen, auf die Straßen zu gehen. Spanische Bewegungen haben uns gelehrt, was wir von der Technik erwarten können, wenn wir die politische Umgebung ändern. Parteien wie Podemos benutzen Technologie, um politische Überlegungen zu beschleunigen und zu verbessern im Kontext volkstümlicher Bevollmächtigung. Ich bin sehr zuversichtlich was in Lateinamerika passieren könnte. Länder wie Bolivien, Ecuador und Venezuela haben Jahre damit verbracht, ihren Demokratisierungsprozess zu vertiefen. Und in diesem Kontext kann das Engagement für Free Knowledge ausschlaggebende Effekte haben. Digitale Mittel haben eine komplett andere Bedeutung an einem Ort, der sich für soziale Gerechtigkeit geöffnet hat, nachdem er Jahrzehnte unter neoliberalen Angriffen gelitten hat. CC-BY-SA | http://berlinergazette. de/netzdiskurs-in-europa-sozialemedien/#comment-78197

Ich habe mich für das spanische Open Movement während seiner Anfänge interessiert, aber ich habe mich davon entfernt. Ich denke, es hat viel gemein mit dem hegemonialen politischen und sozialen Diskursen. Zum Beispiel, die Dominanz von Initiativen der Free Software hat zu einer Missachtung der Probleme von Kulturarbeitern geführt. Viele der behandelten Vorschläge erschienen mir klassisch und ohne Bezug auf die spanische Realität. Tatsächlich gab es während der goldenen 33


Casey Fiesler | https://flic.kr/p/qt5a94 | CC BY 2.0 | https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

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was radiojournalisten vom podcast-rekord Serial lernen kรถnnen

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Stefan Westphal deutlich, welche Kraft soziale Netzwerke haben, Informationen zu verbreiten – in diesem Fall die Geschichte eines vermeintlich unschuldigen Gefängnis-Insassen. Der Podcast ist auf Abdirekt und online. Stefan Westphal war selbst Hörfunkmoderator und beschäftigt sich auch auf seinem Blog stefan-westphal.de mit dem digitalen Wandel der analogen Medienwelt.

Es geht um den Mord an Hae Min Lee. Als sie 17 Jahre alt war, wurde sie erwürgt. Das war im Januar 1999 in Baltimore. Kurze Zeit später wurde ihr Ex-Freund für das Verbrechen verurteilt. Das Gericht stützte sich dabei lediglich auf die Aussage eines einzelnen Belastungszeugen. Die Hörfunkjournalistin Sarah Koenig rollte den Fall im Herbst 2014 wieder auf. In insgesamt zwölf Teilen einer Serie ermittelt sie selbst. Koenig und ihr Team erfanden dabei so ganz nebenbei das Geschichten-Erzählen mit Hilfe von Audio neu. Für die t.a.z. ist Serial die wichtigste Audioveröffentlichung seit dem legendären Krieg der Welten-Hörspiel von Orson Wells. Damals, 1938, wurden nahezu die ganzen USA in Panik versetzt, weil im Radio vom Angriff Außerirdischer berichtet wurde. Hintergründe dazu gibt es im hörenswerten Kalenderblatt der Deutschen Welle zum Thema: Krieg der Welten und die Folgen Tatsächlich wiederholt sich bei Serial einiges aus der Orson Wells-Zeit. Auch wenn Serial im Gegensatz zum Krieg der Welten keine Fiktion ist. Stichtag Anfang Dezember 2014 wurden die bis dahin veröffentlichten Serial – Folgen rund 20 Millionen mal runtergeladen. Noch nie gab es

seit dem Krieg der Welten eine so große Aufmerksamkeit für eine nicht – musikalische Audioproduktion. Und, wie schon 1938: Das Thema verbreitet sich per Mund zu Mund-Propaganda. Der Unterschied ist lediglich, dass man 1938 vermutlich noch in Persona zum Nachbarn rübergelaufen ist, um von den Marsianern zu erzählen. Heute nutzt man soziale Netzwerke. Doch wie ist der Erfolg zu erklären? Warum wird ausgerechnet das von vielen so belächelte Audiogenre zur Mediengattung einer der wichtigsten journalistischen Veröffentlichungen des Jahres 2014. Das Storytelling von Serial Sarah Koenig nutzt das spätestens seit Sir Arthur Conan Doyle’s Sherlock Holmes bekannte literarische „Whodunnit“ – Prinzip. Der Leser wird im Unklaren darüber gelassen, wer das Verbechen begangen hat. So wurde man im Laufe der Detektivgeschichte Teil der Ermittlungen. Auch bei Serial wird der Hörer Teil der Ermittlungen. Die Ausgangslage: es gibt zwar einen Verurteilten, die Beweise gegen ihn waren aber – um es vorsichtig zu sagen – dünn. Ob er wirklich schuldig ist oder nicht lassen die Autoren von Anfang an offen. Übrigens nicht nur für den Hörer. Sarah Koenig sagt selbst, sie will sich erst

ganz am Ende der zwöfteiligen Serie selbst ein Urteil darüber bilden. Sie lässt dem Hörer den Freiraum für ein eigenes Urteil. Die Story wird nie in die eine oder andere Richtung erzählt. Sarah Koenig berichtet (in der aus deutscher Journalismus-Sicht ungewöhnlichen „Ich“ - Form) eigentlich nur von ihren Recherche-Erlebnissen und den ständigen Zweifeln, die in ihr aufkommen. Das macht sie vertrauenswürdig für den Hörer. Diesen Umstand verwendet das Serial – Team auf einer zweiten Kommunikationsebene – und das führt uns direkt zum zweiten Erfolgsfaktor, denn Serial nutzt die Interaktivität als Basis Bemerkenswert ist, dass die zwölf SerialFolgen nicht von vornherein fertig produziert wurden. Das Team setzt sich dem Stress aus, einzelne Folgen von Woche zu Woche unter Umständen völlig neu zu produzieren. Denn sie bauen bewusst mit ein, wie sich ihre Hörer zu dem Fall austauschen. Allerdings nicht oberflächlich, mit Moderationen wie „User XY schreibt …. „ – die bislang übliche Umsetzungsform von Social Media im Radiokontext. Die Einflussnahme ist eher unterschwellig, eher Teil des Bauchgefühls des Serial Teams. 35


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Auf Reddit 1 ist eine extrem lebendige Community entstanden, die sich meist ernsthaft, manchmal humorvoll, und nur sehr selten unqualifiziert (wie man es aus den Kommentarspalten vieler anderer Onlinemedien kennt) mit dem Fall auseinandersetzen. Das hat einen wichtigen Grund, wie ich vermute: Serial gelingt die Gratwanderung zwischen Seriösität und Emotionalisierung Man kennt es aus den üblichen langweiligen Reportagen des deutschen Fernsehens, aus Onlineauftritten ehemals seriöser Nachrichtenmagazine (focus.de) und natürlich aus der BILD Zeitung. Da werden Geschichten dramatisiert, was das Zeug hält. Schließlich will man den Nutzer bei der Stange halten. Und für den, der es immer noch nicht kapiert hat, immer schön Redundanzen (also, Wiederholungen der Fakten) einbauen. Ein paar extrem dominante Effekte schaden auch nicht … Sarah Koenig und ihr Team verzichten auf all das. Die Journalistin selbst erzählt die Geschichte so, wie man sie einem Freund erzählen würde – unaufgeregt, mit nur seltenen starken Betonungen. Dabei baut sie immer wieder alltägliche, jeden Hörer betreffende Geschichten mit in den Text. Ein Beispiel dafür ist schon der Auftakt der Serial – Serie, in dem sie von ihrem Sohn und seinen Kumpels erzählt, die sich kaum daran erinnern können, was sie vor ein paar Tagen so getrieben haben (die dahinter stehende psychologische Eigenschaft von Menschen spielt im Verlauf von Serial noch eine große Rolle…). Auch Cliffhanger, wie man sie aus diversen Fernsehserien kennt, fehlen bei Serial. Die Geschichte selbst ist spannend genug, emotional genug, ergreifend genug. Eine weitere Einschaltmotivation braucht man nicht. Aus deutscher Sicht ist auch der extrem sparsame Einsatz von O-Tönen auffällig. Koenig selbst hat als Erzählerin den mit Abstand größten Wortanteil in den Serial – Folgen. Stilmittel wie der Einsatz von Sounds oder Geräuschen fehlen ebenfalls. Das stützt die Seriösität. Klingt minimalistisch und damit leicht realisierbar? Falsch, denn: 1 reddit.com/r/serialpodcast

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Serial ist extrem aufwendig – und das merkt der Hörer Jeder, der schon einmal als (Hörfunk-) Journalist gearbeitet hat, kann sich beim Hören von Serial vorstellen, wie viel intensive Recherchearbeit in der Produktion steckt. Es geht nicht nur darum, die Protagonisten ausfindig zu machen. Die O-Töne sprechen die deutliche Sprache, dass es zwischen dem Serial-Team und den Protagonisten ein echtes Vertrauensverhältnis gibt. Da wurde nicht mal eben schnell schnell ein Interview arrangiert – da wurde sehr viel Zeit in den Aufbau eines persönlichen Zugangs gesteckt. Und das merkt auch der Hörer. Ganz im Sinne eines transmedialen Ansatzes ist für Serial auch ein eigener Soundtrack komponiert worden. Musik, die sich nie in den Vordergrund spielt und nicht dramatisiert, aber trotzdem Stimmungen zur Geschichte transportiert. Dieser Aufwand kostet viel Geld. Richtig. Diese Wertschätzung spüren aber auch die Hörer. Das macht das Projekt um so erfolgreicher. Und um vielen deutschen Medienmanagern das noch besonders unter die Nase zu reiben (Online kann man kein Geld verdienen, hochwertige Audioproduktionen rechnen sich nicht usw…), genieße ich besonders die Erkenntnis: Serial ist ein überwältigender finanzieller Erfolg Von Beginn an hatte das Projekt einen Werbepartner – und zwar einen, der in absolut keiner Weise mit der Geschichte zu tun hat. Das US-StartUp Mailchimp hat sich schon vor Start der Serie den Platz des Sponsors gesichert. Der Mailchimp CMO beweist damit ein sehr glückliches Händchen. Laut Financial Times zahlt Mailchimp zwischen 25 $ und 40 $ pro tausend Abrufe. Das macht bei 20 Millionen Downloads zwischen 500.000 $ und 800.000 $ Einnahmen nur aus dem Hauptsponsoring (wenn man keine Deckelung des Betrags vereinbart hat, was ich allerdings vermute). Wegen der hohen Abrufzahlen standen gleich noch einige weitere finanzstarke Werbepartner auf der Matte. Und um dem Erfolg noch die Krone aufzusetzen hat Serial eine zweite Staffel mit einem neuen Thema nach einem simplen Aufruf in einer

Folge durch Spenden der Hörer vorfinanziert. Und Mailchimp will auf jeden Fall auch wieder mitmachen. Serial nutzt den richtigen Distributionsweg Die Serie läuft auch im klassischen linearen Radio. BBC Four hat sich für Großbritannien die Rechte gekauft – wegen des großen Onlineerfolgs. Allerdings funktioniert das Serials Prinzip in Wahrheit nur auf Abruf. Nur, wenn man On Demand (oder Podcast) als Distributionskanal nutzt, kann ein Hörer auch später noch in die Serie einsteigen. Und das ist extrem wichtig. Die Viralität, die die Geschichte erzeugt, wird nur so nutzbar. Wenn zum Beispiel angesehene Websites wie Business Insider anfangen, die Spekulationen der Hörer über den wahren Hergang des Verbrechens in eigenen Artikeln zusammenzufassen, wie sollte jemand, der so von Serial erfährt, in die Geschichte mit einsteigen, wenn nicht alle bisherigen Folgen sehr leicht auf Abruf zur Verfügung stünden? Außerdem gibt es im Onlinebreich noch einen weiteren Vorteil: die einzelnen Episoden sind so lang, wie sie sinnvoll lang sein sollten. Da wird nichts künstlich gestreckt, um die üblichen 50 Minuten Längen eines Radiofeatures voll zu machen. Und da wird auch nichts Förderliches weggelassen, nur um nicht zu lang zu werden. Dazu gehört natürlich auch, die von Zahlenakrobaten so gern zusammengerechneten angeblichen Ideallängen von audiovisuellen Medien im Onlinebereich (ca. 30 Sekunden) zu ignorieren. Stattdessen glaubte das Serial Team an die Wirkung der Story. Auch wegen ihrer eigenen Erfahrung aus fast zwanzig Jahren Produktion der Serie „This American Life“2. Zum Glück. CC-BY-NC-SA-4.0 | stefan-westphal.de/ journalismus/was-radiojournalisten-vompodcast-rekord-serial-lernen-koennen/

2 thisamericanlife.org


LO r e m I p S u m

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N e T z N e u T r A L I TäT

Schwimmbad-Analogie: wie das Leben ohne Netzneutralität wäre mobilfunker und Netzbetreiber wollen die Gleichbehandlung aller Daten im Internet beseitigen – die Netzneutralität abschaffen. wie sich das anfühlt, hat Jakob Steinschaden im wiener Stadthallenbad erfahren und auf netzpiloten.de veröffentlicht. er arbeitet als Journalist und hat Bücher mit den Titeln „phänomen facebook - wie eine webseite unser Leben auf den Kopf stellt“ (2010) und „Digitaler frühling - wer das Netz hat, hat die macht?“ (2012) veröffentlicht. In seinem Blog „Jakkse.com“ schreibt er über die menschen und ihr Internet – von Social media über Netzaktivismus bis zu Start-ups.

Ein Besuch im Wiener Stadthallenbad hat mir kürzlich gezeigt, wie ein Internet ohne Netzneutralität aussehen würde. Während sich Firmen Premium-Bahnen für ihre Mitarbeiter kaufen können, mussten sich die normalen Badegäste auf den anderen Schwimmbahnen drängen – obwohl sie alle schon Eintritt bezahlt haben. Das droht auch dem Netz: Wer viel Geld hat, kann sich die Überholspur leisten, die anderen müssen sich damit begnügen, was an Bandbreite für sie übrig bleibt.

geht), kein besonderer Spaß ist, weil es dann schnell zu stauen beginnt. Besonders ärgerlich ist aber, dass ich zwar schon vollen Eintritt für die Tageskarte bezahlt hatte, damit aber offensichtlich trotzdem ein Gast zweiter Klasse war, der auf eine überfüllte Schwimmbahn ausweichen musste, weil sich eine Firma ihre eigene Strecke reserviert hatte.

„Sind Sie von der XYZ-Bank?“, fragte mich kürzlich ein Herr mittleren Alters, als ich im Wiener Stadthallenbad meine erste Länge schwamm und gerade am Ende des Beckens für Länge Nummer 2 umdrehen wollte. „Nein, wieso denn?“, fragte ich wassertretend. „Weil die Bahn für die XYZ-Bank reserviert ist. Also schwimmen Sie bitte woanders“, bekam ich als Antwort. Etwas überrumpelt verließ ich die reservierte Bahn und spulte meine Längen auf der daneben ab, während der Ärger in mir wuchs. Auf der für die Bank reservierte Bahn waren nur zwei Schwimmer unterwegs, während sich auf den anderen bis zu zehn Schwimmer drängten, was (wie jeder weiß, der gerne Schwimmen

Die Situation erinnert mich unweigerlich an die Diskussion um die Netzneutralität, die seit geraumer Zeit durchs Netz wogt. Sie besagt, dass im Internet alle Daten gleich behandelt werden müssen – so, wie im Wiener Stadthallenbad eigentlich alle zahlenden Schwimmgäste alle Strecken nützen können sollten. Wenn viel los ist, dann kommen nach dem Prinzip der Netzneutralität alle Daten gleich langsam voran, genauso, wie wenn viele Schwimmer zur selben Zeit im Hallenbad sind und sich über die Bahnen verteilen. Und umgekehrt: Wenn Kapazitäten da sind, sind alle Daten gleich schnell, egal ob es nun ein E-Mail des Bankdirektor ist oder ein YouTube-Video auf dem Smartphone

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Unterwegs auf der Premium-Bahn

eines Jugendlichen (oder gerade nur wenige Schwimmer da sind). Was Firmen nun wollen, ist eine Überholspur. So, wie sich die erwähnte Bank eine Premium-Spur im Stadthallenbad kaufte, damit ihre Mitarbeiter ungestört vom Rest der Badegäste ihre Längen schwimmen können, wollen Internetanbieter anderen Firmen ebenfalls Premium-Verbindungen verkaufen. Wer einen Aufpreis bezahlt, der darf seine Daten schneller durchs Netz schicken. Die Deutsche Telekom etwa würde Unternehmen gerne so genannte „specialised services“ verkaufen, denen eine bessere Leitung garantiert wird. Argumentiert wird oft, dass etwa telemedizinische Anwendungen (ein Arzt operiert, indem er aus der Ferne eine chirurgischen Roboter steuert) oder selbstfahrende Autos als solche Spezial-Dienste behandelt werden sollen. Klar: Wenn es um Gesundheit, Sicherheit und Leben von Menschen geht, dann soll natürlich bestmögliche Qualität dafür bereitgestellt werden. Einige europäische Politiker sehen die Abschaffung der Netzneutralität als Möglichkeit, die hiesigen Telekomunternehmen und Mobilfunker stärken zu können, weil ihnen so eine neue Einnahmequelle beschert wird.


N e T z N e u T r A L I TäT

Allerdings, so Kritiker wie NetzpilotenKolumnist Nico Lumma auf Bild.de, könnten auch andere Anwendungen priorisiert werden. YouTube, Netflix, Spotify, WhatsApp oder Facebook sind heute so genannte „Over the top“-Dienste (OTT), die von Milliarden Menschen genutzt werden, ohne dass die Firmen, die sie anbieten, jemals Infrastruktur aufbauen mussten. Google und Co. sind quasi einfach ins Schwimmbad gegangen und haben dort die Massen begeistert, ohne selbst ein Schwimmbad bauen zu müssen. Den Netzbetreiber (also die, „Schwimmbäder“ wie Internetleitungen und Mobilfunkmasten teuer gebaut haben) schwebt nun vor, extra Eintritt von Google, Facebook oder Netflix zu verlangen, wenn diese auf einer schnellen Bahn unterwegs sein wollen. In Österreich etwa zahlt der Musik-Dienst Spotify dafür, dass er unbegrenzt im Mobilfunknetz von Drei streamen darf – auch dann, wenn der Nutzer seine im Tarif inkludiert Datenmenge eigentlich schon aufgebraucht hat. Den er wähnten Firmen wie Netflix schmeckt ein Ende der Netzneutralität natürlich nicht, weil sie dann zur Kasse gebeten werden können. Google, Facebook und Netflix allerdings dürften das nötige Kapital haben, um in bester Qualität weiter ihre Dienste anbieten zu können. Wenn aber eine, sagen wir, junge europäische Firma auch einen großen Internet-Dienst aufbauen will, dann könnte das zu teuer für sie sein, weil in Europa viel weniger Risikokapital für Startups da ist als in den USA. Die Befürchtung: Das Ende der Netzneutralität könnte die Position der führenden US-Netzriesen zementieren, zum Nachteil der Innovationskraft der EU. Ein Parlamentsbeschluss, der die Netzneutralität in der EU bekräftigt hat, liegt derzeit beim europäischen Ministerrat. Doch viele Zugeständnisse seitens von Politikern gibt es derzeit nicht, die Netzneutralität auch abzusegnen.

(z.B. beim erwähnten Mobilfunker Drei), bei denen nur die teure Deluxe-Klasse vollen Internet-Speed bekommt, während die anderen Klassen gedrosselt werden. Deals zwischen Internetanbietern und ServiceAnbietern könnten auch zur Folge haben, dass nur in teureren Tarifen reibungsloses Musik- oder Video-Streaming gibt – quasi ein „Highspeed-YouTube-Paket“ oder ein „Premium-Facebook-Tarif“. Es wäre dann wie heute im Wiener Stadthallenbad: Man zahlt ohnehin Eintritt, so wie man eine monatliche Gebühr fürs Internet bezahlt. Wenn man aber auch der schnellen Premium-Bahn schwimmen will, dann zahlt man noch einmal oben drauf. Und da muss ich sagen: Ich hätte gerne ein Internet und ein Wiener Stadthallenbad zurück, in dem alle gleich viel für die gleiche Leistung zahlen. CC-BY-NC-SA-4.0 | http://www.netzpiloten.de/ schwimmbad-analogie-wie-das-leben-ohnenetzneutralitaet-waere/

Alle Rechte vorbehalten | Jakob Steinschaden

Überholspur für Google, Netflix und Facebook

Wird das Internet für Konsumenten teurer? Auch die Konsumenten könnten ein Ende der Netzneutralität deutlich zu spüren bekommen. Schon jetzt gibt es Tarifmodelle 39


Der digitale Wandel erfasst den gesamten Globus und hinterlässt nachhaltige Spuren. Doch die Welt wird nicht im Gleichschritt digitalisiert. Politik-Digital.de blickt auf einzelne Länder und die Folgen der digitalen Revolution. So zeigen sie die Bedeutung des Live-Charakter von Twitter in der Türkei oder Online-Behördengänge in Österreich. In London durchwächst die Digitalisierung die öffentliche Infrastruktur, während Japan mit Apps gezielt seine Bewohner und Besucher vor Erdbeben warnt. Estland ist der Streber auf dem Weg zum Online-Staat, hier ist der Internetzugang ein Grundrecht und das Land komplett anhängig vom Internet. Und auch Dänemark zeigt sich wie die öffentliche Verwaltung mehr und mehr digitalisiert wird. Politik-Digital.de wird 2015 laufend weitere Artikel im Dossier Digitaler Wandel weltweit veröffentlichen. Alle Texte bis S. 46: CC-BY-SA | http://politik-digital.de/category/ themen/digitaler-wandel-weltweit/

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Heruman | https://flic.kr/p/of6SBB | CC BY 2.0 | https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

WELtWEit


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Türkei: Das Imperium schlägt zurück. VON LUKAS BÖHM

Die Türkei kommt auch über ein Jahr nach den Gezi-Protesten wegen des autoritären Führungsstils der AKP-Regierung nicht zur Ruhe. Ob der digitale Wandel den Widerstand in der alles andere als klar. Der unfall in ermenek, bei dem mindestens 18 minenarbeiter infolge eines wassereinbruchs am 28. Oktober gestorben sind, belebt ein verhängnisvolles zitat präsident erdogans vom mai wieder. er kommentierte den Soma-unfall mit dem Satz, dass „solche Dinge nun mal geschehen“ und unfälle zur „Natur der Arbeit“ gehörten. was unfassbar anmutet, ist faktisch richtig: Tödliche unfälle sind in der türkischen wirtschaft auf bizarre weise normal. Die „neue Türkei“ Im Jahr 2003 ist der AKp das fast unmögliche gelungen: eine dezidiert islamische partei eroberte die regierungsmehrheit und vereinnahmt seitdem alle ebenen des Staates. Ihr programm lässt sich dabei auf folgende formel bringen: eine unheilige Allianz aus Islamismus und unbekümmertem Neoliberalismus. Da beides recht dehnbare Kategorien sind, rechtfertigt das eine stets das andere. wer den wirtschaftlichen Aufschwung mit hinweis auf presse-, rede- oder irgendeine andere freiheitsform in frage stellt, gilt der regierungstreuen presse schnell als Islamfeind oder extremist. Die türkische Nachtwächterfrau soll wegen eines Bildes, auf dem sie mit ihren high heels auf einen Koran steigt, wegen religiösen hasses verurteilt werden. wegen präsidentenbeleidigung drohen einem Karikaturisten neun Jahre haft, weil er den damaligen ministerpräsidenten erdogan als Aufseher

über die grassierende Korruption darstellte. Bei der Korruptionsaffäre wurden dagegen alle Verfahren eingestellt. Stell dir vor, es ist Revolution und CNN zeigt Pinguine Die Türkei ist kein rechtsstaat. und seit den ziellen bemühten sich, die tagelangen massiven proteste, die sich am geplanten Abriss eines parks am Taksim-platz entzündeten, als vom Ausland gesteuerten putschversuch abzutun. Doch wenn ich die größte einkaufsstraße der Türkei hinunter laufe, dann treffe ich nicht nur auf einsatzbereite wasserwerfer, sondern auch auf mindestens 30 gelangweilte polizisten, die sich mit dem Vergleich ihrer maschinen- und Tränengaspistolen die zeit vertreiben. Die innenpolitischen Spannungen nehmen zu, und über 30 menschen bei Demonstrationen in der Türkei ums Leben gekommen. Gerade jetzt will die regierung jedes Aufbegehren im Keim ersticken, um nicht wieder, wie im Sommer Taksim-platz war gut organisiert und bunt gemischt: Linke, umweltschützer, Vertreterinnen der frauenbewegung und Gewerkschaften, Nationalisten, reform-muslime, Kurden und die Istanbuler hooligans. Als die staatlich kontrollierten medien, wie cNN Türk, statt der proteste eine pinguin-Dokumentation zeigte, wurde Twitter zum medium der Opposition.

Selbstschutz: Die protestierenden informierten sich per Smartphone über fluchtwege, tränengasfreie Bereiche und provisorische Lazarette – und über fragen wie „how to deal with teargas?“. Twitter ist nicht nur schwer zu kontrollieren - es ist vor allem live. Twitter wurde zu einem erkennungsmerkmal dessen, was hier als „türkischer frühling“ verstanden wird. Noch heute ziert in Istanbul der Twittervogel mit Gasmaske einige hauswände. Ohne das Netzwerk und seine massenhafte Verfügbarkeit hätten die proteste diese Dynamik nie erreicht. Ist der türkische Frühling schon vorbei? Das Internet verändert und bestärkt den zivilen ungehorsam. Gezi zu einer Art Geburtsstunde des widerstands zu stilisieren, ist aber nur die halbe wahrheit. Denn: Das Imperium schlägt zurück. Die Digitalisierung konnte in der Türkei einen ungeahnten widerstand organisieren, aber dieser wurde mit Gewalt erfolgreich beendet. Auch der Überraschungseffekt war monate nach Gezi wurden Twitter und YouTube für einige wochen gesperrt. Schließlich gab es einen Deal mit dem Staat: Die vermeintlich verleumderischen Accounts sind in der Türkei gesperrt – Twitter aber nicht.

Twitter gegen Tränengas? Twitter diente den Demonstrierenden untereinander zur Kommunikation und zum

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iDentifikation per Smartphone? Der österreichische Weg. VON JOHANN EGGERT

Ein europaweit als vorbildlich geltendes eGovernment-Gesetz feiert in diesem Jahr bereits seinen zehnten Geburtstag und sorgt unter anderem dafür, dass immer mehr Menschen zwischen Innsbruck und Wien ihre Behördengänge per Smartphone erledigen. wer sich auf die expedition in Anwendungsgebiete bürgernaher digitaler Verwaltung begibt, dessen reise endet bereits unmittelbar hinter der deutschen Grenze im Süden. Denn im Vergleich mit den übrigen 27 mitgliedsstaaten in der europäischen union nimmt Österreich bereits seit über einer Dekade eine europaweite Vorreiterrolle bei der praktischen umsetzung des Themas eGovernment ein. Das entsprechende Gesetz vom märz 2004 feierte dort in diesem Jahr bereits seinen zehnten Geburtstag – in der sich stetig selbst beschleunigenden zeitrechnung des Digitalzeitalters beinahe schon eine halbe ewigkeit. Dass Österreich bei der Nutzung und zufriedenheit von eGovernment-Diensten im innereuropäischen Vergleich weiterhin einen Spitzenplatz einnimmt, wurde in der jüngst veröffentlichten Ausgabe des deutschen eGovernment monitors ein weiteres mal bestätigt. Die sogenannte „handysignatur“ leistet technisch mehr als die bloße persönliche IdenDie TAN-basierte handysignatur ist neben dem einsatz in Behörden auch für die Abwicklung des kommerziellen Geschäftsverkehrs von größtem Interesse. Deutschlands neuer Personalausweis – Österreich hat die „Bürgerkarte“ Bei den Nachbarn im Süden sind OnlineBehördengänge bereits seit dem Jahr 2003 zur überaus zeitsparenden digitalen (Verwaltungs-)

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Behördengänge werden dort mittels der „Bürgerkarte“ bereits online erledigt, wenn auch mit Anschaffungskosten für entsprechende Lesegeräte und der Installation zusätzlicher Software verbunden. Die „Bürgerkarte“ darf man sich dabei keinesfalls als haptische Karte vorstellen, handelt es sich dabei lediglich um die Bezeichnung für das übergeordnete Verfahren, in dessen rahmen sich der Nutzer mittels der eigentlichen eKarte Dieser weg erscheint nicht nur aus der Außenperspektive zunächst kompliziert, die umständliche Karten-Variante verliert auch mittels Smartphone heißt also das Gebot der Stunde und scheint, was angesichts der stetig wachsenden Verbreitung von Smartphones kaum verwundert, dem prinzip der eKartenbasierten Bürgerkarte in Österreich bereits den rang abzulaufen. Von inzwischen über 20.000 monatlichen Neuanmeldungen zur Nutzung der handysignatur berichtete die österreichische Technikwebsite futurzone.at bereits im märz dieses Jahres. Seit mitte des Jahres 2010 ist es den österreichischen Smartphone-Nutzern möglich, ihre Anträge gegenüber der öffentlichen Verwaltung optional auf mobilem wege zu signieren und sich digital durch ein mTAN-basiertes System auszuweisen. Grundsätzliche einschränkungen für die Nutzung der verschiedenen eGovernment-Dienste gibt es hierbei – neben einer österreichischen mobilfunknummer – formal zudem wenige. Kritik Selbstverständlich bleibt, nicht nur vor dem hintergrund der staatlichen Datensammelexzesse, Kritik an der österreichischen eGovernment-praxis nicht aus. So berichtete

„heise online“ bereits im Jahr 2009 von lange zurückliegenden erfolgreichen Trojanereinsätzen, mit denen das österreichische Bürgerkarten-System und damit die digitalen Signaturen von Nutzern missbraucht und ihnen gefälschte Daten untergeschoben wurden. wie weit ist es also wirklich mit der Substitution des portemonnaies? Auch wenn der jüngst vorgestellte Bezahldienst Applepay oder entsprechende Systeme eingeführt werden und sich der funkstandard Nfc zur sicheren (?) Übertragung von Daten in einigen Jahren durchsetzen sollte: die Beantragung der handysignatur läuft für die Bürgerinnen und Bürger in der Alpenrepublik zumindest vorerst noch auf vergleichsweise klassischem wege ab. Voraussetzung ist, wie es in auch hierzulande bekannter Behördensprache heißt, die Vorlage eines „amtlichen Lichtbildausweises“ durch den „Signator“.


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Bye-bye Icons, Hello Cameras? – London im digitalen Wandel VON ANNE KORN

rote Telefonzellen und schwarze Taxis gehören zu London wie Big Ben. Doch die Taxis sind in Gefahr, und die Telefonzellen sterben aus –so wie die privatsphäre der Londoner. Verantwortlich sind Smartphone-Apps, mit denen das kontaktlose Bezahlen in Bus, Taxi und u-Bahn möglich ist. fortschritt oder erschreckende Veränderung? Im Sommer 2014 brach in London Streit aus: zwischen den fahrern der ikonischen Black cabs und uber, jenem ethisch fragwürdigen Technologiekonzern aus Kalifornien, der mit seiner App Taxifahrenden das Leben leichter machen will. Die App erlaubt es Nutzern, ihr Taxi zu bestellen, zu bezahlen und dabei den besten Deal zu bekommen – bei festgelegtem preis ohne Trinkgeld. Die fahrer der ohnehin zunehmend gefährdeten Black cabs wollten sich einen „uber-griff“ auf ihr Jahrhunderte altes, speziell reguliertes Geschäftsmodell nicht

Denn cabbies üben ihren Beruf mit Stolz aus, für einige hat er gar eine romantische Komponente, die weit über den Kultstatus ihrer schwarzen Autos hinausgeht. So kennen die fahrer London wie ihre westentasche, eignen sich Jahre lang umfassende Kenntnisse aller Straßen in der hauptstadt an, belegt in mehreren Tests. Dafür genießen die cabbies privilegien: Sie dürfen in Busspuren fahren, man kann sie von der Straße aus heranwinken, und sie haben fest installierte Taxameter. uber, so beschweren sich die cabbies, umgehe das Gesetz, da eine App eben nicht fest im fahrzeug installiert ist, aber wie ein Taxameter funktioniert. Die BBc berichtete im vergangenen Juni zudem, dass zumindest Sorgen über das Thema Datenschutz nicht ganz unbegründet seien, denn uber-Angestellten ist es angeblich möglich, den Aufenthaltsort von Kunden zu verfolgen.

Bequemlichkeit vs. Datenschutz: Kontaktlos bezahlen in der U-Bahn Der fall uber zeigt, dass nicht alle Aspekte des digitalen wandels bei Betroffenen auf Gegenliebe stoßen. Dabei wirkt sich dieser schon seit Langem auf die Londoner reisegewohnheiten aus. u-Bahn (Tube) und Bus sind für Londoner das fortbewegungsmittel der wahl. Da erscheint die Digitalisierung des Bezahlvorgangs eine gute Idee, ist sie doch unkompliziert und zeitsparend. Seit 2003 gibt es die sogenannte Oyster-card: eine kreditkartenförmiges Stück plastik mit eingebautem mikrochip, das man entweder nach bestücken kann. Am eingang zur Tube oder beim einsteigen in den Bus hält man die Oyster einfach auf einen Scanner und der computer zieht automatisch das fahrgeld ab. Seit 2014 hat Oyster Konkurrenz. „contactless payment“ heißt eine neue funktion vieler Kreditkarten, die ganz ähnlich funktioniert: draufhalten, bezahlen, fertig. Datenschützer sollte contactless alarmieren: reise- und Abrechnungsdaten registrierter Karten werden zwölf monate lang gespeichert, damit Kunden stets den Überblick über ihre zahlungsaktivitäten haben. „CCTV is in operation“: Die überwachte Stadt Ob nun mit Bus, Tube oder Taxi, contactless oder Oyster, auf jeden fall wird man bei seiner reise durch London jederzeit von den massenhaft installierten Überwachungskameras beobachtet. Sie gehören genauso unausweichlich zum Stadtbild des zunehmend digitalisierten London wie die Leuchtreklame am piccadilly circus. Schätzungen reichen von zwei über 4,5 bis hin zu 5,9 millionen Kameras, also eine Kamera auf 32, beziehungsweise 14, beziehungsweise 11 menschen.

Die in Deutschland umstrittene automatische Nummernschilderkennung ist in London ebenfalls an der Tagesordnung. und das, obwohl chung schon 2010 als „fiasko“ bezeichnet haben soll. Die schiere flut an Bildern sei schlicht nicht zu bewältigen, zumal nur ein Bruchteil wirklich für die Verbrechensaufklärung relevant sei. Somit ist das Ganze unter Datenschützern höchst umstritten. Die rote Telefonzellen wird zur grünen solarbetriebenen Ladestationen für Handys It’s not all Doom and Gloom: Rettet die Telefonzellen! Im Gegensatz zu den Überwachungskameras verschwinden rote Telefonzellen mehr oder weniger still und leise aus London. Denn wer braucht im zeitalter des Smartphones noch öffentliche fernsprechgeräte? harold craston und Kirsty Kenney, zwei Studenten der London School of economics, nahmen sich den Verlust der weltbekannten roten Kästen offenbar zu herzen. Sie gründeten das Startup-unternehmen Solarbox und wandeln jetzt rote Telefonzellen in grüne solarbetriebene Ladestationen für handys um. 365 Tage im Jahr kann man hier kostenlos sein handy über mini-/micro-uSB oder iphone-Anschluss mit finanziert wird das Ganze durch werbung (zum Beispiel für ubers Taxi-App) und ist daher für Nutzer kostenfrei. Bedenken, die zellen würden eventuell heimlich Nutzerdaten abgreifen, weist craston zurück. Grüne Telefonzellen werden vielleicht ein erstes, sichtbares zeichen nicht nur eines zunehmend digitalen, sondern auch ökologischeren London. Dennoch wird das Verschwinden der roten Telefonzellen das Stadtbild ebenso nachhaltig verändern wie das der schwarzen Taxis.

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Digitalisierung in Japan: Mobile Erdbebenwarnung per App VON FRANZISKA WIESNER

Seit Langem besticht Japan mit digitalem Ideenreichtum. eine erdbeben-warnapp überrascht deshalb nicht, ist aber in ihrer Ausgereiftheit weltweit vorbildlich – und demonstriert, in welchem maße die Digitalisierung in Japan lebenswichtig ist. erdbeben-warnapps gibt es in vielen Versionen. Die japanischen erdbeben-Apps sind jedoch wohl am ausgeklügelsten und variieren von wetter-Apps, die neben der wetteranzeige vor Naturkatastrophen warnen, bis hin zu speziellen erdbeben-frühwarn-Apps. Vor allem nach dem Tohoku-erdbeben im märz 2011, besser als fukushima-erdbeben bekannt, ist die Anzahl der Nutzer von warn-Apps sehr stark gestiegen. „Yurekuru call“ ist eine solche frühwarn-App. Sie informiert per push-Notierrechneter seismischer Stufe. Sie kann sogar nach Intensität und Gebiet personalisiert werden. Da die warnungen nur wenige Sekunden Vorwarnzeit geben, sollte man bei Alarm sofort Schutz suchen. Die App als logische Weiterentwicklung Diese entwicklung ist die logische folge eines langen prozesses im Bereich der Katastrophenwarnung. Die App zur erdbeben-frühwarnung konnte jedoch erst mit den Smartphones ihre eller player in der warnung vor Katastrophen wie schwerem regen, Vulkanaktivitäten, Tsunamis und erdbeben spielt das Japanische wetteramt mit den täglich aktuellen warnungen auf seiner homepage schon lange eine wichtige rolle. Seit 1995 wird das Netz aus Seismographen in und um Japan ausgebaut. zunächst hatte das wetteramt über TV, radio und eigens dafür gebaute Geräte warnungen

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verbreitet. Im Oktober 2007 veröffentlichte es ein erdbeben-frühwarnsystem, und schon im selben Jahr wurde eine erste Ausstattung japanischer mobiltelefone mit einem direkten zugang zur erdbebenwarnung angedacht. heute werden die warnungen des wetteramtes automatisch an die Smartphones weitergeleitet und machen sich durch einen schrillen Signalton bemerkbar, auch bekannt als Area mail. Damit wird der Alarm nur an die in den betroffenen Gebieten georteten Geräte geschickt, die von Auswirkungen des Bebens betroffen sind. Die Anwendung ist kostenlos und auf japanischen Geräten vorinstalliert. Das weltweit fortschrittlichste Frühwarnsystem Japan ist führend in der erdbeben-frühwarnung, dank eines ausgeklügelten Systems von rund 1.000 seismischen Sensoren, die um und vor Japan verteilt sind. Dadurch, dass schon die schwächeren wellen eines erdbebens von Seismographen erfasst werden, können Sekunden gewonnen werden. Die Lokalisierung des epizentrums ermöglicht die Berechnung der reichweite, sodass nur personen in den betroffenen Gebieten gewarnt und die entsprechenden Schutzmaßnahmen für diese region eingeleitet werden können. Die automatisierten warnungen haben eine weitreichende wirkung: Schnellzüge werden angehalten, fahrstühle gesichert, maschinen heruntergefahren und Gaszufuhren gestoppt. mit der automatischen weiterleitung an mobile endgeräte bzw. Smartphones ist die frühwarnung umso effektiver. Potential und Grenzen des Warnsystems In Japan hat das frühwarnsystem bereits viele Leben gerettet, aber auch das hat seine

Grenzen. problematisch ist zum Beispiel die unterschätzte Ausbreitung des erdbebens, wenn personen nicht rechtzeitig gewarnt werden, weil das Ausmaß falsch eingeschätzt wurde. weniger fatal sind falsche Alarme, da die Sensoren sehr sensibel sind. höchst problematisch ist, dass sehr nah am epizentrum gelegene regionen keine frühzeitige warnung erhalten können, da das erdbeben dort zeitgleich mit den warnungen ankommt. für nicht japanischsprachige Touristen gibt es mit SafetyTips auch eine warn-App auf englisch, Koreanisch und chinesisch. Ausgestattet mit einer Liste der letzten erdbeben, einer evakuierungsanleitung und praktischen Sätzen auf Japanisch für den Notfall bietet sie eine hilfe für ausländische Besucher. und die Technik entwickelt sich weiter. um nur ein Beispiel zu nennen: 3D-projektoren können bei Katastrophen der Orientierung dienen, indem sie im Straßenbild mobile warnhinweise geben. Die Nutzung von digitalen errungenschaften ist in Japan also aufgrund der vorhandenen Gefahren weit verbreitet und viel mehr als ein praktischer Luxus. Sie kann im Notfall Leben retten.


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Estland – Europas Digitalisierungs-Streber auf dem Weg zum Onlinestaat VON JULIA RIEDER

Estland ist die europäische Vorzeigenation, wenn es um digitale Infrastruktur geht. In 20 Minuten ein Unternehmen gründen, Behördengänge abwickeln, vom Arzt ein Rezept bekommen – all das ist dort online möglich. Nun sollen auch Ausländer von den innova-

anzulocken, die von der reduzierten Bürokratie

führt als erstes Land weltweit die virtuelle Staatsbürgerschaft ein.

Stichwort Bürokratieabbau: eine Steuererklärung zu machen dauert in estland kaum mehr als 15 minuten. Damit das möglich wird, werden bei den Steuerbehörden alle einkünfte einer person gespeichert. Das finanzamt kalkuliert auch gleich Steuernachlässe mit ein, denn Informationen über Ausgaben für Spenden oder laufende Kredite werden von Banken und gemeinnützigen Organisationen ebenfalls automatisch übermittelt. So müssen die Bürger die Angaben in ihrem Online-formular nur noch überprüfen, bei Bedarf ergänzen und auf „Senden“ klicken. Steuerrückerstattungen erfolgen innerhalb von 48 Stunden – natürlich ebenfalls online.

In Deutschland wird seit monaten darüber diskutiert, wer die Kosten für den Breitbandausbau tragen soll und ob es nicht an der zeit wäre, durch die Abschaffung der Störerhaftung freie wLAN-hotspots zu fördern. Aus Sicht eines esten muss das grotesk wirken, denn in dem baltischen Staat ist ein kostenloser Internetzugang ein in der Verfassung festgeschriebenes Grundrecht. mit hilfe eines elektronischen Ausweises, dem eID, können estnische Bürger große Teile ihres Alltags online abwickeln. mit dem eID lassen sich nicht nur Bankgeschäfte online erledigen und Verträge digital unterschreiben, er dient auch als reisepass, Ticket für Verkehrsmittel und Gesundheitskarte. und auch vor der politik macht der digitale wandel nicht halt: Die estnische regierung arbeitet papierlos, im Parlament wird per Mausklick abgestimmt, und seit dem Jahr 2005 kann sogar online gewählt werden.

der in estland ansässigen firmen bis 2025 verdoppeln wird. Der Preis der Effizienz

was zunächst sehr praktisch klingt, hat auf den zweiten Blick unbehagliche Dimensionen, denn dafür bedarf es einer enormen Bündelung von Daten in staatlicher hand. was, wenn diese Daten in die falschen hände geraten? In Deutschland wäre eine derart totale Vernetzung und preisgabe persönlichster Informationen undenkbar, in estland hingegen blieben größere Datenschutzdebatten bisher aus.

Von dieser einzigartigen digitalen Infrastruktur indem sie die virtuelle Staatsbürgerschaft beantragen. Die „e-residents“ erhalten eine elektronische ID-Karte, mit der sie die gesamte fülle an Online-Dienstleistungen nutzen können. Nur zur Teilnahme an wahlen und dem permanenten Aufenthalt im Land berechtigt die virtuelle Staatsbürgerschaft nicht. Vorrangiges ziel ist es, damit ausländische unternehmen

Der Angst vor Big Brother versucht die estnische regierung mit hohen Sicherheitsstandards und Transparenz zu begegnen. Der eID arbeitet mit einer hochentwickelten Verschlüsselung, und zur Nutzung der Karte werden jeweils zwei pIN-Nummern benötigt. um Datenmissbrauch zu verhindern, können Bürger anders als in Deutschland jederzeit nachvollziehen, wann und von wem ihre Daten abgerufen wurden.

Dass die Abhängigkeit vom Internet nicht risikolos ist, wurde im Jahr 2007 deutlich. Damals legten hacker tagelange websites von regierungsbehörden, Banken und medien und damit auch einen Großteil der staatlichen Infrastruktur lahm. Doch auch davon ließ man sich in estland nicht irritieren und verstärkte lediglich die Bemühungen um die cybersicherheit. Ein Modell für Deutschland? Natürlich sind die Voraussetzungen in estland nicht mit denen in Deutschland vergleichbar. Der baltische Staat hat gerade einmal 1,3 millionen einwohner und musste seine staatlichen Strukturen nach 50 Jahren Sowjetherrschaft komplett neu aufzubauen. In dieser besonderen Situation entschied man sich dazu, setzen, um die öffentliche Verwaltung mögin der Bevölkerung unterscheidet sich eklatant. während in estland die digitale Infrastruktur wie selbstverständlich und ohne große Aufregung genutzt wird, dominiert hierzulande Angst die Debatte. Natürlich lässt sich darüber diskutieren, ob das estnische modell für uns überhaupt wünschenswert wäre. Solche Debatten sind richtig und wichtig. was wir von estland jedoch lernen können, ist, dass eine innovative Gestaltung der Digitalisierung ohne eine grundsätzliche Offenheit der Bevölkerung und eine riege engagierter politiker, die sich kompetent und vorurteilsfrei mit den chancen und risiken des digitalen wandels auseinandersetzen, nur schwer möglich sein wird.

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Dänemark digital VON BIRGIT STÖBER

Dänemark ist nicht nur europäischer Spitzenreiter beim Ausbau des Breitbandnetzes, sondern auch Pionier in der digitalen Verwaltung. Seit November dieses Jahres versenden dänische Behörden ihre Post nur noch in digitaler Form – eine Schlüsselrolle kommt dabei der Telemedizin zu. Der rentenantrag, die Baugenehmigung, der Antrag auf wohngeld oder auf ehescheidung – für all diese Aktivitäten bedarf es in Dänemark keines Behördengangs mehr, sondern allein des zugangs zu einem computer und einer digitalen Identitätsregistrierung. Seit der ersten Digitalisierungsstrategie aus dem Jahr 2001 wird in Dänemark stetig auf den umbau der analogen zur digitale Verwaltung hin gearbeitet. So versenden dänische Behörden seit dem 1. November 2014 keine formulare oder sonstige post in papierform mehr, vielmehr

digitalen Briefkasten. waren Anfang Dezember insgesamt 4,2 millionen Nutzer registriert (89,5 prozent der dänischen Bevölkerung), gab es nur knapp 500.000 einwohner, die von der Teilnahme an der e-post befreit waren. Gründe für die Nichtteilnahme am digitalen postverkehr sind nicht etwa datenschutzrechtliche Bedenken, sondern in erster Linie nachweisbare Schwierigkeiten, zugang zu einem computer mit ausreichender Internetverbindung zu haben. Die aus Deutschland bekannten Bedenken sind in Dänemark wenig verbreitet. Den dänischen Behörden wird insgesamt ein recht hohes Vertrauen entgegengebracht, die gesammelten Daten verantwortungsvoll zu verwalten. und bis auf kleinere – von der nationalen Datenschutzbehörde veröffentlichte – Verstöße scheint dies auch gerechtfertigt.

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Digitale Wohlfahrt durch digitale Lösungen e-post ist eine konkrete Initiative der dänischen Digitalisierungsstrategie, die von der regierung, den Kommunen und regionen gemeinsam getragen wird und zwar mit dem ziel, den dänischen wohlfahrtsstaat zu modernisieren und die öffentliche Verwaltung zu effektivisieren. zu den wesentlichen eckpunkten gehören neben der papierlosen Kommunikation eine effektiver, digitale zusammenarbeit der Behörden sowie der fokus auf digitale wohlfahrt durch den einsatz digitaler Lösungen. es wird darauf gesetzt, dass die Behörden die Digitalisierung und die neuen Technologien dazu nutzen, effektiver zu arbeiten und wissen zu teilen. So heißt es in der“Strategie für digitale wohlfahrt 2014-2020“ von 2013. Insgesamt sieben Bereiche umfasst diese Strategie: Neben der Verwaltung wird auf die Bereiche auf Telemedizin, Ausbildung, digitale Lehre und – als entscheidende Voraussetzung – eine bessere Breitbandabdeckung und verstärkte ziel ist es, mithilfe digitaler Lösungen allen Dänen zu ermöglichen, selbst zur wohlfahrt beizutragen und aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Schlüsselrolle Telemedizin In Bezug auf den Bereich Telemedizin, auf den mit Nachdruck gesetzt wird, heißt es in der Strategie, dass mit hilfe der Digitalisierung wohlfahrt auf neue, effektivere Art bereitgestellt werden kann. Dabei wird der Telemedizin bei der Lösung von zukünftigen Gesundheitsleistungen eine Schlüsselrolle zugesprochen. Dass die erfolgreiche umsetzung dieser pläne stark von einer funktionieren digitalen

Infrastruktur abhängt, steht außer frage. Vor diesem hintergrund beabsichtigt die dänische regierung bis zum Jahr 2020 sicherzustellen, dass landesweit Breitbandverbindungen mit 100 mbit/s (download) beziehungsweise 30 mbit/s (upload) verfügbar sind. Bisher haben „nur“ gut 70 prozent aller dänischen haushalte und unternehmen einen Breitbandzugang mit einer Geschwindigkeit von 100 mbit/s (download). Breitbandausbau: Paradiesische Zustände Verglichen mit dem ziel der im August 2014 in Deutschland vorgelegten „Digitale Agenda 50 mbit/s verfügbar zu machen, mögen die dänischen digitalen Infrastrukturpläne für Deutsche paradiesisch wirken. zweifellos gehört Dänemark bereits zu den Spitzenreitern beim Ausbau des Breitbandnetzes. Diese Situation resultierte jüngst beim web Index der world wide web foundation in einer platzierung Dänemarks auf dem ersten platz. Dass die Digitalisierung und mit ihr wohlfahrttechnologische Innovationen zukünftig ein wichtiges element bei der Aufrechterhaltung und weiteren Gestaltung des dänischen wohlfahrtstaats sein können, bezweifelt in Dänemark kaum jemand. Doch werden Stimmen und Altenfürsorge, aber auch in Ausbildung und Lehre rücksicht auf die Besonderheiten und Komplexität des einsatzesgebietes genommen werden sollte. Bei aller digitaler euphorie müsse der wert direkter, sozialer Beziehungen berücksichtigt werden.


SAVE tHE DAtE – 2015 Relevante Veranstaltungen für internet und Gesellschaft

21.-23.01.2015

Computers, Privacy & Data Protection 2015, Brüssel Internationale Datenschutz-experten tauschen sich auf der multidisziplinären Konferenz über die DatenschutzGrundverordnung der europäischen union aus. Sie ist der wegbereiter für die rechtliche, regulative, wissenschaftliche und technologische entwicklung von privatssphäre und Datenschutz im Internet.

19.-21.02.2015

re:publica | flic.kr/p/egY6A6 | CC BY-SA 2.0 | creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

4. internationale Arbeitskonferenz „Digitalisierung des Alltags“, Frankfurt/ Main Auf der dreitägigen Tagung werden die Dynamiken des Internets aus einer senschaftlichen perspektive beleucht. mehr als 30, wissenschaftliche referenten sprechen auf der kostenlosen und offenen Veranstaltung.

23.-27.02. 2015

23.-28.03.2015

Social Media Week Hamburg 2015, Hamburg

#LiMA15: De-Fragmentierung, Berlin

zu vierten mal bietet die Social media week hamburg eine woche lang programm zu Social media, Digital und Tech – in form von panels, interaktiven workshops und spannenden Vorträgen.

In über 20 Seminarräumen und großzügigen hörsälen bietet die LimA an der hochschule für Technik und wirtschaft Berlin über sechs Tage mehr als 100 weiterbildungsveranstaltungen an

12.03.2015

05.-07.05.2015

Welttag gegen Internetzensur, Internet

re:publica 2015, Berlin

reporter ohne Grenzen (rOG) ruft zum siebenten mal zum „welttag gegen Internetzensur“ auf. 2009 wurde der Tag initiiert, um auf die weltweit zunehmende Internet-zensur und repressionen gegen Blogger und Internetnutzer

Die re:publica ist das festival der digitalen Gesellschaft. für die besondere Atmosphäre und Stimmung der re:publica sorgt dabei der heterogene mix der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, der für eine Technologie-inspirierte Konferenz weltweit einzigartig ist.

aufmerksam zu machen. Gesamt 2015 23.-24.03.2015

OWL-Digital

reCampaign 2015 – Strategien für die digitale Zivilgesellschaft, Berlin

In der region Ostwestfalen (OwL) hat sich jetzt eine digitale community auf den weg gemacht, um vor Ort den Austausch von wirtschaftsvertretern, Kommunalpolitik und Vereinen zu digitalen fragen und Strategien voran zu bringen.

Die recampaign ist das Branchentreffen für Online-campaigner/innen aus zivilgesellschaft, Stiftungen und der Kommunikationsbranche. Analysen, Tipps und Diskussionen rund um die erfolgreiche Kampagnenarbeit im Netz

Alle Veranstaltungstipps finden Sie unter > blog.collaboratory.de/netzpolitischer-kalender 47


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Deutsche Digitalpolitik ist nicht das ergebnis von Dummheit, Ignoranz oder Verbohrtheit. Sondern Vorsatz. André Vatter schreibt über eine Generation, der wir vorwerfen, dass sie nicht mit der Digitalisierung umgehen kann. Er kommt zu dem Schluss, dass es Netzinnovationen in Deutschland schwer haben. Denn Politik und Wirtschaft orientieren sich an Modellen, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, aber den dynamischen Strukturen des Internets nicht mehr genügen. Seine Analyse erschien auf seinem Blog avatter.de, auf dem er sich als Social Median & Digital Anthropologist vorstellt.

Der Sven Kunze („Die schamlose Generation“) kann ja schon vom Leder ziehen! Da war der 72-jährige Journalist letztens bei „Hart aber fair“ und referierte trocken zum Thema „Altenrepublik Deutschland – werden die Jungen ausgeplündert?“. Er bejahte, ohne zu Zögern. Seine Generation sei „schamlos“, „egozentriert“ und „unbelehrbar“. Er hingegen schäme sich stellvertretend für seine Altersgenossen. Für das ruinierte Klima, für die fehlende Kinderzahl, den Atommüll, den Schuldenberg und die Dominanz des Marktes.

versaut habt? Unsere Autonomie, unsere selbstbestimmte Zukunft.“ Die Generation der Baby Boomer kann zu Recht stolz auf das Geleistete sein. Die Errichtung einer brummenden Wirtschaft, Deutschland ist Europas ökonomischer Vulkan, wir sind knapp Exportweltmeister: „Made in Germany“ – deutsche Qualität! Sie haben aus dem Land eine Marke gemacht, die sich überall Respekt verdient hat. Zu Recht. Aber das ist jetzt Jahre her. Die alte Generation setzt sich zur Ruhe, nimmt den Flieger in die Sonne, der wohlverdiente Lebensabend klopft an. Und ich bin der Letzte, der es ihr nicht gönnt. Ganz ehrlich. Aber jetzt lasst uns bitte unsere eigene Zukunft formen. „Meine Fresse!“

„Hört! Hört!“, prostete ich ihm zu. Was für ein Eingeständnis! Ich überlegte ein paar Minuten: „Aber wir haben ihnen auch viel zu verdanken, den Alten!“ Immerhin haben sie Deutschland wiederaufgebaut und dann war da ja Ost und West, der kalte Krieg. Okay, dafür hatten sie Ludwig Erhard, das Wirtschaftswunder, Jobsicherheit und immerhin noch Renten. Und dann war war mir plötzlich klar, dass Kunzes Liste an dieser Stelle noch nicht zu Ende ist. „Weißt du, Kunze, was ihr wirklich 48

Wer hin und wieder hier mitliest, weiß, dass ich der deutschen Politik – und damit auch der Mehrheit ihrer Wähler im demographischen Wandel – gerne Trägheit, Dummheit oder Ignoranz in Sachen Digitales vorwerfe. Aber neben mir schütteln eben nicht wenige Leute zwischen zwanzig und vierzig Jahren bei Berliner Entscheidungen in diesen Dingen ebenso mit dem Kopf: „Meine Fresse!“, wird dann gerufen. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Und dann ist die nächste Wahl und es ist wieder wahr. Wir schütteln weiter mit dem Kopf und verfluchen die Prokrastinationspolitik. Doch ist es wirklich Dummheit, Ignoranz oder Verbohrtheit der Alten? Nein, Anbetracht des „Generationenkonfliktes“ (ein Euphemismus für den Kampf – nicht nur zwischen zwei Generationen, sondern

Welten) fällt einem das Wort „Methode“ ein – besser noch: „Vorsatz“. Und das ist auch verständlich, denn die digitale Zukunft ist eine handfeste Bedrohung für die Wirtschaft 1.0. Für das, was bislang erschaffen, aufgebaut wurde. So, wie es bisher funktionierte? Wird es künftig halt nicht mehr gehen. Doch was läuft eigentlich falsch, zumindest in den Augen der Jungen? Was stimmt nicht im digitalen Deutschland? Schauen wir uns das einmal an … Das Netz als Luxusgut Nun, die Computerkenntnisse deutscher Schüler sind unter EU-Durchschnitt – jeder fünfte braucht mittlerweile Nachhilfe für das Bedienen des Internets. Das ist auch kein Wunder, wenn selbst die Lehrer die digitale Ausstattung ihrer Schulen im Jahr 2014 noch als „mittelalterlich“ bezeichnen. Die Deutschen gaben in einer Eurostat-Umfrage mittlerweile freigebig zu, gerade mal über Basis-Kenntnisse in Sachen Internet zu verfügen – eines der schlechtesten Ergebnisse in der EU. Das öffentliche Internet ist quasi nicht existent. „Sechs Euro die Stunde hier am Düsseldorfer Flughafen“, polterte Neelie Kroes (EU-Kommissarin für die digitale Agenda) Anfang des Jahres1 im Zuge eines WLANAusrasters. „Dagegen sieht Roaming billig aus!“ Cafés, Restaurants, – selbst Hotels – scheuen sich vor offenen WLAN-Netzen. Nur ein Bruchteil der Bahnflotte ist mit Hotspots ausgestattet. Der Breitbandausbau in Form von Kabel, Glasfaser oder Funk stockt auf Rekordniveau und es gibt bis heute keine tragfähige Lösung. Die Netzneutralität ist in ständiger Gefahr. Im vergangen Jahr ging noch rund ein Drittel aller deutschen Unternehmen über „einen ISDN-Anschluss oder analoge Telefonverbindung“ ins Netz (Destatis, 20132). Jedes fünfte Unternehmen hatte nicht einmal eine eigene Website. Die Startup-Förderung ist am Boden, so dass deutsche Jungunternehmen in Sachen Netzinnovationen oft China nacheifern und im weltweiten Vergleich zu den digi1 2014 2 PDF: bit.ly/1aQWSZ8


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talen Copycats der Erde avancieren. Mobile Payment, sicherer E-Mail-Verkehr, digitale Identität, E-Government und Open Government, (Linked) Open Data, Open Access, Citizen Science, Crowdfunding: all diese Sachen boomen – aber nicht in Deutschland. Derweil werden drei Netzlegastheniker damit beauftragt, eine Digitale Agenda für Deutschland aus dem Boden zu stampfen. Ein Plan für die Zukunft, der mehr Allgemeinplätze und Interpretationsspielräume lässt, als die Bibel. Zur selben Zeit kämpft ein nach Brüssel abgeschobener Günther Oettinger, EUKommissar für Digitale Gesellschaft und Wirtschaft, mit der Entscheidung, welcher Lobbyisteneinladung er denn jetzt folgen soll. Sein jüngster Vorschlag in Sachen Breitbandausbau besteht darin, endlich die Zweijahresverträge abzuschaffen. Und Nutzer dafür für fünf Jahre zu verpflichten. Im Vergleich mit anderen Industrienationen ist das ein Armutszeugnis. Und so doof kann man doch nicht sein. Ergo: Vorsatz. Subventionen für die Wirtschaft 1.0 Jede ausbleibende Investition in die Zukunft ist eine neu geschaffene Subvention der Tradition. Seit Jahren setzt Berlin alles daran, den Status Quo zu halten, was per Definition bei einer konservativen Regierung auch nicht weiter überrascht. Anstatt den Umschwung zu fördern, werden Methoden entwickelt, um ebenso traditionelle wie überkommende Geschäftsmodelle in einer völlig veränderten Wirtschafts- und Konsumwelt kompromisslos zu bewahren. Anstatt dem Druck der Digitalisierung nachzugeben, die Unternehmen in die zu Pflicht nehmen, sich den neuen Bedingungen des Marktes anzupassen, werden die bereits heute spürbaren Auswirkungen der Zukunft verleugnet und vor die Tür gesperrt. Man verschließt die Augen vor dem Neuen und macht halt weiter so. Stagnation statt Innovation. Es gibt keine Klarheit beim Datenschutz im Internet Die Verleugnung der aktuellen Entwicklungen geschieht zweifach: entweder durch simples Abwarten und das Ziehen der Notbremse in Form einer gesetzlich

sanktionierter Zukunftseindämmung. Vom „Abwarten“ können deutsche Gerichte heute ein Lied singen – ein ziemlich lautes und dissonantes. Aufgrund fehlender politischer und juristischer Vorgaben werden seit Jahren unweigerlich entstehende Streitereien bis zum Blitzherpes von Anwälten und Staatsanwälten vorgetragen. Es gibt schlichtweg keine Gesetze, welche die digitalisierte Welt abbilden, und so bleibt nur übrig, neue Sachverhalte auf alte Paragraphen zu münzen. Es gibt keine Klarheit beim Datenschutz im Internet, beim Filesharing und Streaming, bei der Störerhaftung, bei der Netzneutralität. Aber eben auch nicht bei allem, was sich davon ableiten lässt. Der Begriff „juristische Grauzone“ existiert nur im Deutschen. Im Englischen heißt das verwandte Wort „Loophole“ – und das impliziert, dass es zumindest so etwas wie einen gesetzlichen Rahmen im jeweiligen Kontext gibt.

Die Error-404-Blase Doch wie lange kann das noch weitergehen? Ein Blick nach Amerika und Asien genügt, um zu sehen, wie weit wir bereits zurückgefallen sind. Deutschland lebt in einer künstlichen Zeitschleife, in einer von Verdrängung geprägten Gesellschaft, angeführt durch die Baby Boomer und ihre gewählte, konservative Politik. Das kleine Selbstschutzschneckenhaus Deutschland, das panisch bis hysterisch reagiert, wenn irgendetwas passiert, das zuvor noch nicht da war.

Zukunftsverbot per Gesetz Während der Gesetzgeber mit entschuldigenden Floskeln wie „Trends“, „Beobachten“ und „Neuland“ abwinkt, hat Ridesharing-Anbieter Uber mit Gesetzen zu kämpfen, die in den 1960er Jahren (sic!) geschrieben wurden. Und solange die Besitzstandswahrer und ihre politischen Beschützer nicht reagieren, werden derlei innovative und wettbewerbsfördernde Dienste eben nicht etabliert – da kann man ein noch so millionenschweres Lobbying auffahren. Tragischer als diese Form der passiven Zukunftsverleugnung ist allerding das aktive Zurückdrängen der Digitalisierung. Nonsens-Gesetze wie das Leistungsschutzrecht oder auch das von der EU hastig verabschiedete „Recht auf Vergessen“ sind Bekenntnisse an die Vergangenheit; den Entwicklungen des Neuen – der Nutzer und Anbieter bereits folgen – wird in letzter Sekunde aktiv der Riegel vorgeschoben. Diese Art von Subventionen der Wirtschaft 1.0 ist nicht nur juristischer Natur, sondern kann auch Formen finanzieller Vergünstigungen annehmen: Anstatt Verleger den Innovationsdruck aushalten zu lassen, werden dann mal eben Zeitungszusteller vom Mindestlohn ausgeklammert. Die Tradition, der Brauch, das Papier haben wieder einmal ein, zwei Jahre dazu gewonnen.

Zur Jahrtausendwende platzte die Dotcom-Blase. Zwanzig Jahre später wird allerdings die Error-404-Blase platzen – nämlich die einer Wirtschaft, die den digitalen Anschluss verpasst hat. Im vollglobalisierten Informationszeitalter wird das Land nicht mehr wettbewerbsfähig sein. Und dann sitzen wir da: auf unseren verpassten Chancen, unseren 1 MbitLeitungen und einem Haufen bedruckten Papiers. Die Leidtragenden werden nicht mehr unsere Eltern sein. Sondern wir, die Vertreter der Generationen X, Y, Z, denen ein giftiges Erbe hinterlassen wurde. Willy Brandt hat einmal gesagt: „Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie selbst zu gestalten.“ Die Frage ist, wie diese Zukunft aussehen soll. Und wer überhaupt in diesen Tagen ein Interesse an ihr hat. CC-BY-NC-SA-4.0 | http://www.avatter.de/ wordpress/2014/11/deutsche-digitalpolitik-istnicht-das-ergebnis-von-dummheit-ignoranzoder-verbohrtheit-sondern-vorsatz/

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Daimler vs. Google: Nie waren pS und Länge so Sind Daimler & co. das neue minolta? Am Beispiel der Auto-Industrie erklärt Ole Wintermann wie die Digitalisierung tradierter unternehmen funktionieren kann. Die Verlinkung mit der IT bezeichnet er als einen Übergang in eine fremde Industrie. Tradierte unternehmen schwimmen entweder mit oder haben problem ihren erfolg zu halten. Dafür muss Online mehr als ein zusätzliches werkzeug sein. Ole wintermann baute in den letzten Jahren die internationale Bloggerplattform www.futurechallenges.org auf, er ist co-founder der menschenrechtsplattform Irrepressiblevoices.org und arbeitet seit 2002 bei der Bertelsmann-Stiftung. Der folgende Text erschien auf seinem privaten Blog globaler-wandel.eu.

Wird es die deutsche Auto-Industrie in 10 Jahren noch geben? Schaut man sich verschiedene ehemalige große Player in einer Industrie-Bereich kurz vor der Digitalisierung an - Minolta, Kodak, Agfa – so muss diese Frage gestellt werden dürfen, ob nicht die tradierte Auto-Industrie vor denselben Entwicklungen steht. Werden die PS-verliebten Ingenieure fähig sein zu begreifen, dass die Menschen - wie auch in der PC-Industrie in den letzten Jahren zu beobachten – immer weniger die Hardware interessiert sondern vielmehr die Funktionalität der Software in den Vordergrund rückt? Was aber könnte die Software im Falle des Autos sein? Vor Jahren hatte ich die Gelegenheit, Lawrence Lessig in Stockholm bei einer Konferenz hören zu können. Die Firma Cisco hatte zu einem Event eingeladen. Lessig schilderte in bemerkenswerter Weise die Fehler der Content-Industrie bei der Anpassung an das digitale Zeitalter. Eine Bemerkung, die sich auf Innovationsfähigkeiten von tradierten Industriesektoren bezog, ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Es sei immer der Übertritt einer Industrie in einen anderen eigentlich „fremden“ Industriebereich, der innovative 50

Brüche hervorbringe. Diese Beobachtung, die wahrscheinlich originär nicht Lessig zugeschrieben werden kann, muss zur der Frage nach der Zukunftsfähigkeit der deutschen Auto-Industrie führen. Wenn man sich gerade die informelle politischwirtschaftliche Koalition und ihre Abwehrschlacht gegen Google anschaut, bekommt man eine Ahnung, welches Argument die Auto-Vertreter schon bald gegen Google ins Feld führen werden - den „Schutz“ gegen Datensammeln. „Wirtschaftswoche“: Indikatoren erfolgreicher Digitalisierung? Dass die Auto-Industrie nicht allein vor der Herausforderung steht zu verstehen, was Digitalisierung für sie bedeutet, zeigt eine aktuelle Studie zum digitalen Darwinismus. „Wer mitschwimmt, kann weit kommen, wer sich sträubt oder in die Gegenrichtung möchte, läuft Gefahr, unterzugehen“ heißt es dazu in der aktuellen Wirtschaftswoche. Virtuelles Geld, die Steuerung der Heizung per Algorithmus, neue appbasierte Fahrdienste in Berlin sind Folgen der Digitalisierung, auf die tradierte Unternehmen bisher sehr schlecht vorbereitet sind.

Wenngleich ich den in der Wirtschaftswoche vorgestellten digitalen Index für unvollständig halte, da er nur oberflächliche Indikatoren der Digitalisierung erfasst, ohne nach der nachhaltigen Auswirkung auf Prozesse zu fragen, gibt es doch in der Summe des Berichts einige Punkte, anhand derer Erfolg oder Misserfolg tradierter Unternehmen in Zukunft prognostiziert werden kann. R5 Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass es ein bedeutende Rolle spielt ob, R5 die Unternehmensführung selbst digitale Medien im Alltag nutzt und damit ein Verständnis für digitale Logiken aufbringt, R5 die Brücke zwischen IT-Spezialisten und anderen Fachexperten geschlagen werden kann, R5 die digitale Infrastruktur intergriert genutzt wird oder aber fälschlicher Weise nur als zusätzliches Tool begriffen wird, R5 die Unternehmen ihre potenziellen Kunden als Menschen oder nur als Umsatzbringer sehen Als absoluter Nachzügler wurde in der Studie auch die digital basierte Aktivität der Bundesregierung dargestellt. Zu


Recht. Während inzwischen selbst in Autokratien wie dem Iran Politiker Twitter und Facebook nutzen, um ihre Meinung kundzutun, schafft es die Bundesregierung noch nicht einmal, über die Funktion eines Regierungssprechers hinaus mit den Menschen in Kontakt zu treten.

Firmen-Videos von Google und Daimler über ihre jeweiligen selbstfahrenden Autos, die so unglaublich viel über die unterschiedliche Kultur der beiden Firmen - hier das traditionelle IndustrieUnternehmen, dort der gerade erwachsen gewordene Internet-Konzern.

Grau melierte Führungskräfte vs. engagierte Nerds

Im Daimler-Video präsentiert eine in die Jahre gekommene seriöse grau melierte Führungskraft das Ergebnis ihres „Teams“, auf die Führungskraft so stolz ist. Als Auto dient, so explizit auch verbal hervorgehoben, ein S 500. Das Auto fährt die „historische“ Route der Bertha Benz. Die Bilder sind optisch absolut hochqualitativ, das Ganze wird mit orchestrierter Musik erhaben unterlegt. Insgesamt dauert das Video geschlagene 5 Minuten und wird von viel Marketing-Sprech begleitet. Man merkt dem Video an, dass es der Selbstdarstellung von irgendwelchen Führungskräften dient und Eitelkeiten bedienen muss.

Am Ende zeigt aber auch diese Studie, dass damit nicht weit genug gedacht wurde. Digitalisierung erschöpft sich doch gerade nicht im Facebook-Auftritt, der Twitter-Erreichbarkeit oder der Möglichkeit, Produkte auch online zu bestellen. Google zeigt mit den Experimenten zum selbstfahrenden Auto mal wieder sehr schön, was eine integrierte Nutzung von Big Data für einen Auto-Hersteller bedeuten könnte: „Es geht nicht darum, ein Auto zu bauen sondern einen intelligenten Roboter“. Nicht mehr der Hubraum und die Länge (sic!) des Autos ist entscheidend für die Nutzung sondern die Erzeugung und Verwertung von Daten. Und nein, Herr Zetsche, es geht nicht um PR, die man von Google lernen kann. Umgekehrt gefragt: Sind die deutschen Auto-Hersteller bisher als Datenexperten aufgefallen? Sind sie bisher jemals durch eine smarte Darstellung der wenigen Medien-Potenziale im Cockpit aufgefallen? Statt das Auto revolutionär neu zu denken, fallen ihnen nur diskretionäre Änderungen wie automatisierte Einparkhilfen ein. Das erinnert doch stark an die Bemühungen von Nokia, das Handy dadurch neu zu erfinden, dass es eine vollständige Tastatur bekam. Wir wissen, wie jämmerlich Nokia damit gescheitert ist. Absolut sympthomatisch sind die beiden

Im Google-Video berichtet irgendeine Testfahrerin mit dem Namen Prescilla von den Erfahrungen des Teams mit dem Google Auto. Der Auto-Typ wird nicht näher benannt und sieht nach einem durchschnittlichen japanischen Stadt-Auto aus. Die gezeigte Route liegt irgendwo in Mountain View. Die Qualität des Schnitts und der Bilder hätte jeder zweitbeste Amateur-Filmer mit iMovie erreichen können. Musik gibt es nicht. Die Bilder sind geprägt von abstrakten Pixel-Graphiken. Insgesamt dauert das aubergine Video, das weder einen besonderen Einspieler noch einen Abspann hat, noch nicht einmal 2 Minuten und konzentriert sich auf das Wesentliche und nicht auf eitle Selbstdarstellung. Das Daimler-Video hat 43.000 Klicks, das Google Video hat 1.300.000 Klicks erhalten. Liebe Leute von Daimler, merkt ihr was? Nie waren PS, Status und Länge so nutzlos wie heute. CC-BY-SA | http://globaler-wandel.blogspot. de/2014/05/daimler-vs-google-nie-waren-psund.html

smoothgroover22 | https://flic.kr/p/p1FYTd | CC BY-NC-ND 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

The Plate Market | https://flic.kr/p/6s8C1K | CC BY-NC-ND 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

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chronisch untervorsorgt: Die netzpolitische Dimension des Breitbandausbaus Christian Heise, Christian Herzog und Jan Torge Claussen erklären den zusammenhang von Netzpolitik, Breitbandausbau und Netzneutralität. Deutschland hat 2014 eine Digitale Agenda vorgestellt. Die Bundesregierung debattiert um den Ausbau der technischen Infrastruktur. Doch dabei besteht Gefahr, dass wir Strukturen schaffen, die das freie Internet gefährden. Der Text von netzpolitik.org.

Erkannt hat die deutsche Bundesregierung die Wichtigkeit des Breitbandausbaus schon lange. Drei Bundesminister, Thomas de Maizière, Alexander Dobrindt und Sigmar Gabriel beschäftigen sich mit dem Thema. Zusammen haben sie die Digitale Agenda der Bundesregierung veröffentlicht. Darin wird die Bedeutung „flächendeckend verfügbarer leistungsstarker Breitbandnetze [...] für gleichwertige Lebensverhältnisse und eine umfassende Teilhabe an den Chancen der Digitalisierung“ hervorgehoben.1 Auch die Bedeutung von Breitband für die bisher unterversorgten ländlichen Regionen wird betont.2 Bisher sind das nicht viel mehr als Lippenbekenntnisse, vor allem im ländlichen Raum herrscht nämlich nahezu Funkstille. Im Zeitalter von Cloud-Computing, VideoStreaming und Social Web verfügen nur 5,5 Prozent der Deutschen zum Anfang des Jahres 2014 über einen Internetanschluss mit mindestens 30 Mbit/s.3 Die BRD nimmt damit Platz 13 der 26 europäischen Mitgliedsstaaten bei der Verfügbarkeit von neuen Zugangstechnologien4, 1 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, Bundesministerium des Innern, Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (Hrsg.) (2014) Digitale Agenda 2014–2017, S. 3. 2 Vgl. Digitale Agenda 2014–2017, S. 10. 3 Vgl. EU Kommission (2014) Digital Agenda Scoreboard. Online: http://ec.europa.eu/digitalagenda/en/digital-agenda-scoreboard. Abruf 24.11.2014. 4 Vgl. Bundesministerium für Verkehr und digitale

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allerdings nur Platz 17 bei der Verbreitung schneller Internetzugänge ein. Laut einem aktuellen Bericht der global agierenden Firma Akamai, einem Anbieter für die Auslieferung von Online-Inhalten, erreicht Deutschland mit einem Durchschnitt von 8,7 Mbit/s nur den 31. Platz weltweit. Das ist weit unter Mittelmaß und führt dazu, dass Privatpersonen, sowie kleine und mittlere Betriebe in ländlichen Regionen, von der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung abgeschnitten sind – ein Armutszeugnis für Deutschland. Was hier versäumt wird, kann netzpolitisch anderswo nicht mehr aufgefangen werden. Der Plan: Subventionierter Ausbau auf Kosten der Netzneutralität und Frequenzverkauf Im Oktober 2014 hat die erst im März desselben Jahres gegründete Netzallianz einen Plan für den flächendeckenden Breitbandausbau vorgelegt. Bereits 2015 sollen dafür acht Milliarden Euro ausgegeben werden, insgesamt sind laut TÜVStudie5 20 Milliarden Euro nötig um bis 2018 das Ziel einer flächendeckenden Verfügbarkeit von schnellem (50 Mbit/s) Internet zu gewährleisten. Allein die Kosten Infrastruktur (2014) Kursbuch Netzausbau, S. 4.

nicht mit mindestens 50 Mbit/s versorgten Regionen. Studie im Auftrag des BMWi.

für die Erschließung der letzten 5 Prozent der Haushalte summieren sich auf knapp 8 Milliarden Euro. Eine Möglichkeit diese Lasten zu schultern, stellt die bundesweite finanzielle Förderung im Rahmen verfügbarer Haushaltsmittel über die Einrichtung eines Sonderfinanzierungsprogramms durch die größte nationale Förderbank die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) dar. Das gilt aber nur für den Anschluss an das Internet. Den Ausbau von Mobilfunknetzen muss der Markt weiterhin selber finanzieren, dafür werden in Deutschland keine Fördermittel an unterversorgte Kommunen bereitgestellt. In Großbritannien wird ein Teil des ländlichen Breitbandkabelausbaus – so eine Auflage aus der letzten Festsetzung der Rundfunkgebühren – von der BBC bezahlt. Parallel beteiligen sich die Kommunen. Allgemein gilt, dass es sich in ländlichen Gebieten ob der weiten Wege und wenigen Kunden für Kabelbetreiber nicht lohnt den Breitbandausbau voranzutreiben. Um dies zu bewirken, bedarf es entweder positiver Regulierungsanreize oder Auflagen. Immerhin – so eine EURichtlinie zum Breitbandausbau – sind bis zu 30 Prozent Kostenersparnis zu erzielen, wenn vorhandene Infrastruktur und Leerrohre genutzt werden sowie zukünftige Bauvorhaben den Ausbau berücksichtigen.6 6 Vgl. Council of the European Union (2014)


gaheilon | https://flic.kr/p/euShY2 | CC BY-NC-SA 2.0 | https://creativecommons.org/licenses/by-nc-sa/2.0/

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Ihren hehren Zielen zum Trotz begegnet die Bundesregierung eigenen Investitionen beim Breitbandausbau bisher eher verhalten. Stattdessen privilegiert sie Kabelanbieter mit weniger Regeln zur Einhaltung der Netzneutralität. So wird im Gegenzug für die privatwirtschaftlichen Investitionen in den ländlichen Breitbandausbau ein essentielles Grundprinzip des Internets neu ausverhandelt: Die Netzneutralität. Man stelle sich vor, auf einer vielbefahrenen öffentlichen Straße gäbe es eine Überholspur, die nur von den Menschen benutzt werden dürfte, die dafür extra zahlten. Ist das fair, wenn doch alle durch Ihre Steuern für klassische Daseinsvorsorgepflichten der öffentlichen Hand – also die grundlegende Versorgung der Bevölkerung mit wesentlichen Gütern und Dienstleistungen durch den Staat – bezahlt haben. Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, wie weit oder eng Daseinsvorsorge ausgelegt wird. Im Rahmen einer weiter gefassten Auslegung, wie sie mitunter von den Autoren vertreten wird, ist das Prinzip der Netzneutralität zentral. Es über Bord zu werfen, würde die Chancen für die Entwicklungen in Deutschland durch den Breitbandausbau konterkarieren. Grundlage für NetzCouncil adopts new measures to cut broadband costs, 8 May, 9499/14. Brussels.

neutralität ist ein offenes Netz und offene Infrastruktur insgesamt. Offen muss es für das größtmögliche Angebot an Medien und Diensten sein, aus denen der Internetnutzer wählt – und nicht der EndkundenProvider aufgrund seiner Schlüsselposition.7 Die Hürden: Technologie-Mix, politische Versäumnisse und Störerhaftung Die letzte große Verkabelung in der Bundesrepublik fand unter Bundespostminister Christian Schwarz-Schilling (1982-1989) statt. Damals ging es um parteipolitische Differenzen. Die Konservativen wollten private Rundfunkveranstalter zulassen und die SPD suchte dies zu verhindern beziehungsweise zu verzögern, um die Frequenzknappheit und damit das öffentlich-rechtliche Rundfunkoligopol aufrechtzuerhalten. Schwarz-Schilling setzte damals gegen viele Widerstände durch, dass rund 21 Milliarden DM in den Ausbau eines Kupferkoaxialkabelnetzes investiert wurden.8 Ein gewichtiger Einwand 7 Vgl. Eumann, Marc Jan und Lischka, Konrad (2014) Wir müssen über Peering reden – sieben Thesen zur Netzneutralität. Online: https:// netzpolitik.org/2014/wir-muessen-ueberpeering-reden-sieben-thesen-zur-netzneutralitaet/. Abruf 24.11.2014. 8 Vgl. Deutscher Bundestag (1984)

gegen diese Investition bestand damals darin, dass die Nachfrage ungeklärt war. Niemand konnte verlässlich sagen, ob Kabelfernsehen ein Erfolg werden würde und damit die Nachfrage privater Haushalte nach den Kabelverbindungen die Investitionen des Bundes refinanzieren würde. Ironischerweise garantieren heute eben diese Leitungen für das Kabelfernsehen mancherorts Übertragungsgeschwindigkeiten von 100 Mbit/s, während veraltete Telefonleitungen nur geringe Bandbreiten liefern können. Dies liege – so ein Mitarbeiter der Telekom zu einem der Autoren – am geringen Kabeldurchmesser sowie an der Entfernung zum nächsten Knotenpunkt. Bei den Möglichkeiten für den Ausbau wird zwischen kabelgebundenen und funkgebundenen Maßnahmen unterschieden. Die zum Einsatz kommende (Glasfaseranschluss-)Technologie unterscheidet an welcher Stelle das Signal über Glasfaser auf die vorhandene Telefonnetz (Kupferinfrastruktur) übertragen wird z.B. direkt am Stenographischer Bericht, 10. Wahlperiode, 78. Sitzung. Bonn, Freitag, den 29. Juni 1984, S.5734–5736; Potschka, Christian (2012) Towards a Market in Broadcasting: Communications Policy in the UK and Germany. Basingstoke: Palgrave Macmillan, S. 189–190.

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Haus, in der Wohnung oder wie am häufigsten eingesetzt zum jeweiligen Hauptverteiler. Eine weitere Option anstelle der Verwendung der Kupferleitungen stellen die rückkanalfähigen Kabel-TV-Netze dar. Da diese in ländlichen Regionen oftmals nicht vorhanden sind, bleiben nur Funktechnologien als letzte Alternative gegenüber der Verkabelung. Dabei werden über Richtfunk Verbindungen zwischen einem bereits mit Glasfaserkabel versorgten Verzweiger zu einem unterversorgten Verteiler aufgebaut. Zunehmend werden auch hybride Formen eingesetzt, die beide Technologien vereinen und bereits erfolgreich in den nördlichen Flächenländern wie Norwegen und Schweden eingesetzt werden. (Mobil-)Funk-, reine Kupfer- und Satellitenlösungen sind nicht zukunftsfähig und trotzdem in Einzelfällen in Erwägung zu ziehen. Langfristig kann man dem Breitbandbedarf aber nur mit einer flächendeckenden Anbindung an Glasfaser gerecht werden. Ein weiterer Hoffnungsträger ist die Versteigerung der 700-MHz-Frequenzen (ehemals DVB-T). Diese haben eine größere Reichweite als höhere Frequenzen und eignen sich vor allem zum kostengünstigen Aufbau der Netzabdeckung in Flächenländern. Bisher war der von den Mobilfunkbetreibern begonnene Ausbau allerdings keine Erfolgsgeschichte. Zu hohe Kosten und unzuverlässige Bereitstellung der Dienste haben dem LTENetz ein eher fragwürdiges Image beim Breitbandausbau beschert. Hinzu kommt die technische Einschränkung, dass beim Einsatz von mobilen Technologien wie LTE (Advanced)9 zwar faktisch über 50 Mbit/s erreicht werden können, im Gegensatz zu Glasfaser, sich diese Bandbreite aber alle Teilnehmer einer Funkzelle teilen müssen. Eine weitere Hürde: Der Ausbau von Breitband-Kommunikationsnetzen und die daraus resultierenden Investitionen gehören nicht zu den gesetzlichen Pflichtaufgaben der Kommunen. Hier besteht zu 9 Long Term Evolution Advanced bezeichnet eine Funktechnologie für mobile Breitbanddatenübertragung mit deutlich erhöhter Leistungsfähigkeit in den Funkzellen unter Einsatz eines weiteren Frequenzspektrums (unterhalb 1000 MHz).

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wenig verwaltungspolitischer Druck. Die Lösung von staatlicher Seite kann also nur in einer stärkeren Zusammenarbeit in interkommunalen Verbünden mit Unterstützung der Landkreise, Länder und des Bundes liegen. Leider gibt es in vielen Kommunen auch heute noch keine direkt ausgewiesenen Verantwortlichkeiten für das Thema Breitband. Dabei ist der fehlende Zugang zum Breitband nicht ausschließlich auf fehlenden Leitungen zurückzuführen. Viele Zugänge ließen sich zumindest innerhalb von Ballungsräumen oder häuserübergreifend durch die gemeinsame Nutzung von privaten WLAN-Netzen mit Internetzugang herstellen. Solidarität unter privaten Internetnutzern wird jedoch durch den Gesetzgeber verhindert. Das Gesetz zur Störerhaftung10 sorgt dafür, dass private Anschlußinhaber für eine rechtswidrige Nutzung von Dritten, z.B. Urheberrechtsverletzungen, haften. Auch wenn im Bundestag schon darüber debattiert wurde und die Bundesregierung im Moment an einer Novellierung der Störerhaftung für WLAN-Netze arbeiten, ist noch keine Lösung für private, offene Funknetzwerke in Sicht. Damit behindert der Gesetzgeber aktiv mögliche Experimente und den Aufbau, sowie den Betrieb freier und offener Netzinfrastrukturen auf kooperativer Basis. Die offenen Netze, sowie vom Internet unabhängigen Netzwerken wie Freifunk werden damit aber nicht nur behindert, sondern auch gegenüber gewerblicher Provider stark benachteiligt, die für das Nutzungsverhalten Ihrer Kunden sinnvoller Weise nicht haften müssen. Die traurige Realität im Jahr 2015: DSL Lite mit 0,3 MBit/s Ländliche Regionen sind vielerorts besonders attraktiv für Familien mit Kindern. Home-Office und Telearbeit sind keine Seltenheit mehr und machen die ständige 10 Vgl. Digitale Gesellschaft (kein Datum) Störerhaftung beseitigen. Online: https://digitalegesellschaft.de/portfolio-items/storerhaftungbeseitigen/. Zugriff: 24.11.2014; Beckedahl, Markus (2014) Live-Blog aus dem Bundestag: Alle wollen die WLAN-Störerhaftung abschaffen, außer CDU/CSU. Online: https://netzpolitik. org/2014/jetzt-live-im-bundestag-debatteueber-stoererhaftung/. Zugriff:25.11.2014.

physische Präsenz am Arbeitsplatz zumindest in einigen Berufen obsolet. Solange auf deutschen Datenautobahnen außerhalb von Städten aber Geschwindigkeiten auf DSL-Lite (0,3 Mbit/s) oder weniger sinken, werden ebendiese Entwicklungen gebremst oder sogar verhindert. Zwei der drei Autoren waren am 7. November 2014 auf einer Veranstaltung organisiert vom Wahlkreisbüro der MdB Hiltrud Lotze (SPD) in Lüchow im niedersächsischen Wendland. Diskutiert wurde die Digitale Agenda. Im Rahmen der Vorträge und bei der anschließenden Diskussion wurde deutlich, wie viele weiße Flecken, also von der Breitbandversorgung ausgeklammerte Gebiete, der Landkreis Lüchow verzeichnet. Die davon betroffenen Bürger – die Mehrzahl der Anwesenden – waren vornehmlich am Breitbandausbau interessiert. Mitunter wurden von Ihnen Strategien und (genossenschaftliche) Modelle angesprochen ebendiesen in Eigenregie zu finanzieren. Ohne die Bereitstellung von Breitband, so wurde bei der Diskussion mehr als deutlich, gehören viele Netzpolitikthemen weiterhin in den Elfenbeinturn. Für Bürger ohne schnelle Internetverbindung bleiben Themen wie Medienkonvergenz, Netzneutralität oder digitale Persönlichkeitsrechte einer digitalen Bohème vorbehalten. Transparenz, Partizipation und Teilhabe in Bezug auf digitale Medien sind ohne die entsprechenden Infrastrukturen nicht vermittelbar. CC-BY-SA | Erstabdruck


moleba | https://flic.kr/p/o6eyS1 | CC BY-NC 2.0 | https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/

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Smart country – mit der Digitalen Agenda in die fläche Die letzten Jahre gehörten dem Leitbild der Smart city. Die Bedürfnisse einer Smart country nach schnellem wLAN-zugang und Beteiligung sind ähnlich, der weg dahin aber unterschiedlich. Gerald Swarat ist historiker und leitete die Initiative „Smart country - Digitale Strategien für regionen“ des Internet & Gesellschaft collaboratory e.V. in Berlin. Das ergebnis sind empfehlungen und Best practice Beispiele, die illustrieren, wie internetbasierte Innovationen dazu beitragen können, neue formen der wertschöpfung zu initiieren und die Lebensqualität smartcountry. collaboratory.de

Die smarte Stadt kann sich die technologischen Großtrends der nächsten Jahre zunutze machen: die umfassende Verfügbarkeit von Breitbandtechnologie und schnellem WLAN, die systematische Nutzung sozialer Netzwerke und des Cloud Computing. Mobile Government, Big Data, der Einsatz von Sensoren und anderen intelligenten Messgeräten im Rahmen des Internets der Dinge gehören auch dazu. Wichtig dabei ist die IT-Sicherheit bei der Nutzung intelligenter Netzwerke und Anwendungen.

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Da das Ziel der smarten Stadt die systematische Verbesserung der Lebens-, Aufenthalts- und Arbeitsqualität in der Stadt ist, konzentrieren sich solche Projekte auf sechs multidimensional ausgerichtete Handlungsfelder, die untereinander eng verwoben sind: Politik und Verwaltung, Bildung, Wertschöpfung, Mobilität, Gesundheit und Pflege sowie Energie und Umwelt. Der ländliche Raum ist Teil der deutschen Vielfalt Franz Reinhard Habbel, Sprecher des Deutschen Städte- und Gemeindebundes) definiert das „Smart“ in Smart City als integrativen Ansatz aus den Begriffen Sustainability, Mobility, Accountability, Resilience und Technology heraus. Konzepte also, die Städte durch vernetzte Informations- und Kommunikationstechnologie sowie Digitalisierung technologisch fortschrittlicher, effizienter, grüner und sozial inklusiver machen und die am Ende zu mehr Lebens-, Arbeits- und Aufenthaltsqualität führen können. Das muss auch in den ländlichen Raum übertragbar sein. Smart bedeutet dabei mehr als nur digital und vernetzt, es bedeutet „intelligent“ nicht nur im technologischen Sinn. Dazu gehören eine ganzheitliche Perspektive, nachhaltige Strategien und die Zusammenarbeit verschiedenster Akteure vom Anbieter bis zum Nutzer. Smart Country ist als Ergänzung zu Smart City zu verstehen. In den nächsten Jahren wird das SmartCity-Leitbild durch Konzepte für Smarte Regionen ergänzt, die ebenso von den technologischen Megatrends durchdrungen werden und deren Handlungsfelder mit der Stadt identisch sind. Die konkreten Herausforderungen allerdings können nicht unterschiedlicher sein, weshalb die plakative Übernahme von Smart-CityKonzepten nicht ausreichen wird. Beispiel Mobilität: In der Stadt geht es darum, viele Menschen auf kurzen Distanzen zu bewegen, auf dem Land hingegen müssen wenige Menschen lange Distanzen überwinden. Auch im Bereich Gesundheit und Pflege existieren abweichende Realitäten, denn die Dichte an Hausärzten in der Region nimmt immer mehr ab, wogegen die Zahl der Pflegebedürftigen dramatisch ansteigt: Gibt es heute bereits 2,4 Millio56

nen Pflegebedürftige, so wird die Zahl laut dem fünften Pflegebericht der Bundesregierung in den nächsten Jahrzehnten auf vier Millionen ansteigen. Der Trend ist, dass durch die demografische Entwicklung, durch die Abwanderung junger und qualifizierter Menschen in die Städte, durch eine marode Infrastruktur, Arbeits- und Perspektivlosigkeit bei den Zurückgelassenen die Vielfalt der deutschen Region bedroht ist. Kurzum – die Beschäftigung mit Smart Country ist obligatorisch. Eine ExpertInnengruppe im Rahmen des Internet und Gesellschaft Collaboratory hat sich deshalb bereits vor der Veröffentlichung der Digitalen Agenda der Bundesregierung zum Ziel gesetzt, die Digitalisierung der deutschen Regionen mit der Initiative „Smart Country – Digitale Strategien für die Region“ in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken. Die ländliche Region ist und bleibt nicht nur für junge Familien attraktiv, wie eine aktuelle Allensbach-Umfrage deutlich zeigt, sie gewinnt sogar an Sehnsuchtspotenzial. Grund genug, die aktuelle Resonanz und mediale Aufmerksamkeit für die Entwicklung einer Strategie zu nutzen und mit der Produktion praktischer Handlungsempfehlungen den bereits eingeschlagenen Weg konsequent weiter zu verfolgen, um eine nachhaltig positive Entwicklung dezentraler, ländlicher Regionen in Deutschland sicherzustellen. Darum erörterten die rund 40 Experten in sechs Arbeitsgruppen, die die eingangs genannten Handlungsfelder abdecken, wie das Internet helfen kann, den digitalen Wandel in der Fläche zu gestalten. Das Ergebnis sind Handlungsempfehlungen und Konzepte, wie durch Schaffung einer digitalen Infrastruktur, neue und nachhaltige Wertschöpfungsketten, Gewährleistung von Lebensqualität und Vielfalt in den wirtschaftlichen und sozialen Bereichen einer funktionierenden Gesellschaft eine digitale Renaissance der Region ermöglicht werden kann. SmartCountryhatZukunftspotential Die Diskussion über die ländlichen Räume liegt dabei immer noch brach. Dabei ist Smart Country all das, was nicht unter den Hype der modernen Metropole fällt. Das bedeutet, dass Smart Country ebenso

den Raum der Vororte, Cluster kleinerer und mittlerer Städte sowie Dörfer und Gemeinden beinhaltet, sowie dünn besiedelte ländliche Regionen oder städtische Gebiete mit wenigen urbanen Charakteristika. Ein Großteil der deutschen Bevölkerung lebt außerhalb von Großstädten und Ballungsräumen. Deshalb ist Smart Country sehr viel mehr als der kleine hässliche Bruder der pulsierenden Großstädte. Die ländlichen Regionen bergen nicht nur ungeheures Zukunftspotential in sich. Sie sind bereits jetzt der Kitt unseres föderalen Systems, da sie die Vielfalt und Kreativität des Landes, Identität und Kultur der in ihnen lebenden Menschen einzigartig geformt haben. Ein Deutschland ohne seine lokalen Patriotismen, ohne Dialekte, lokale Geschichten, Mythen und Traditionen, die die Menschen verbinden, ist nicht denkbar. Zukunft ermöglichen und Chancen nutzen Die wichtigste Voraussetzung für alle Zukunftsszenarien ist der flächendeckende Ausbau von Breitband-Internet. Nur dadurch erreicht der digitale Wandel alle Menschen. Es ist im Interesse sowohl der Gewerbetreibenden als auch der Einwohner einer Kommune, mittelfristig eine schnelle Netzinfrastruktur zur digitalen Datenübertragung bereitzustellen, um Menschen in ländlichen Räumen zu halten und neue Landbewohner zu gewinnen, um ihre Heimat zu sichern und ihnen künftig gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Dafür muss der öffentliche Druck zunehmen. Das gelingt nur durch eine breite, alle gesellschaftlichen Ebenen durchdringende Debatte, der eine offene und ehrliche Kommunikationsstrategie der Chancen und Risiken vorausgegangen sein muss. Dieser Prozess wurde durch die Initiative „Smart Country“ und ihre Ergebnisse angestoßen. Die nötige Vehemenz und gesellschaftliche Tiefe der Diskussion ist noch lange nicht erreicht. Gleiches gilt für die Vernetzung der Akteure. Erstabdruck | CC BY 4.0


Der Digitale Wandel ist ein Projekt des Das Internet und Gesellschaft Collaboratory e.V. ist das Labor für die Netzgesellschaft.

Braucht das Internet eine regierung? Kann das urheberrecht in der digitalen welt bestehen? wie kann medienkompetenz gefördert werden?

wie verändern sich privatsphäre und Öffentlichkeit in der Online-welt? wie wandelt sich die Arbeit durch das Internet? wie übertragen wir unser kulturelles erbe in die digitale zeit?

Das möchte das Collaboratory herausfinden.

Dabei wegweisend: Der Multistakeholder-Ansatz Über 350 Expertinnen und Experten aus allen gesellschaftlichen Bereichen sind im CoLab aktiv. Sie beleuchten aktuelle Herausforderungen der Digitalisierung und entwerfen Lösungsansätzen – praxisnah und multiperspektivisch. So kann der Diskurs um Internet und Gesellschaft auf einem hohen Niveau diskutiert und aufrecht erhalten werden – längst bevor die Themen im Mainstream angekommen sind.

Als Community of Practice, ist das Collaboratory in seiner Form, seinen Prozessen und seinen Ergebnissen für Einflüsse aus verschiedenen Richtungen offen und entwickelt sich fortlaufend weiter. Der Transformationsprozess der Gesellschaft und Themen wie Internet Governance, Innovation, Medienkompetenz, Urheberrecht und Datenschutz bilden den Mittelpunkt der Arbeit von thematischen Initiativen, langfristigen Arbeitsgruppen und praktischen Projekten.

Beteiligung ist bei uns nicht nur ein Schlagwort: Alle Ideen werden am Puls der Community unabhängig diskutiert und abschließend offen und transparent zugänglich gemacht. Das CoLab repräsentiert – jung, aber trotzdem erfahren – die Netzgesellschaft, das deren Logik verstanden hat; seine Impulse dazu möchte es an die Gesellschaft zurückgeben.

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Das editorial Board Aus der menge der Artikel, die Themen für Internet und Gesellschaft behandeln, trifft das editorial Board – aus ihren jeweiligen fachrichtungen – die Auswahl .

Paul Fehlinger

Hauke Gierow

ist der Mitbegründer und Manager des Internet & Jurisdiction Project – ein globaler Multi-Stakeholder Dialogprozess mit dem Ziel, ein transnationales due process System zu entwickeln, so dass verschiedene nationale Gesetze in grenzüberschreitenden Onlineräumen koexistieren können. Paul ist im UN Internet Governance Forum, beim EuroDIG, der Global Commission on Internet Governance und anderen globalen netzpolitische Foren aktiv involviert. Er begann sich mit dem Thema Internet Governance an der Sciences Po Paris und am Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung zu beschäftigen

ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Mercator Institut für China Studien (MERICS), wo er zum Thema Internetsicherheit und Internet Governance forscht. Er arbeitet zudem als Referent für Informationsfreiheit im Internet bei der deutschen Sektion von Reporter ohne Grenzen. Zuvor setzte er sich mit der Open Knowledge Foundation für transparentes Verwaltungshandeln ein und wirkte an der Organisation mehrerer Veranstaltungen mit. Er studierte Politikwissenschaft und Sinologe an der Universität Trier.

Photo Paul Fehlinger | CC BY ND 2.0 | creativecommons.org/licenses/ by-nd/2.0/

Photo: Dietmar Gust

Simone Jost-Westendorf beschäftigt sich als Redaktions- und Projektleiterin von politik-digital. de seit 2011 mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf Politik, Gesellschaft und Medien. Sie arbeitet an verschiedenen Projekten gemeinsam mit öffentlichen Trägern, wissenschaftlichen Institutionen und unabhängigen Content-Partnern zusammen. Simone sammelte Erfahrungen beim Radio und in der Pressearbeit, bevor sie sechs Jahre lang die Redaktion des ARTE Magazins beim deutschfranzösischen TV-Sender in Straßburg leitete. In Berlin war sie zunächst als Producerin für TVDokumentationen zu historischen, politischen und kulturellen Themen tätig. Photo: Xavier Bonnin | CC-BY-ND 3.0 | creativecommons.org/licenses/ by-nd/3.0/de/

Julia Kloiber

Philipp Otto

arbeitet seit 2012 als Projektleiterin für die Open Knowledge Foundation Deutschland – ein gemeinnütziger Verein, der sich für offenes Wissen, offene Daten, Transparenz und Beteiligung einsetzt – und ist im Digitale Gesellschaft e.V. – eine kampagnenorientierte Initiative für eine menschenrechts- und verbraucherfreundliche Netzpolitik - aktiv. Sie beschäftigt sich mit Projekten rund um die Themen freies Wissen, Open Data, Netzpolitik und Design. Von 2005 bis 2011 hat sie in New York City und Berlin frei-

arbeitet als Berater, Wissenschaftler, Journalist und Verleger. Er ist Gründer und geschäftsführender Partner des Think Tank iRights.Lab und des Verlages iRights. Media. Er leitet die Redaktion des Online-Magazins iRights.info und arbeitet in Kooperation mit vielen Partnern zu strategischen Fragen der Digitalisierung, der digitalen Agenda und ihrer Umsetzung. Seit knapp zehn Jahren beschäftigt er sich u.a. mit Netzpolitik. Er schreibt Strategiepapiere, Gutachten, Artikel sowie ist u.a. Herausgeber des Jahresrückblick Netzpolitik. Zudem konzipiert und leitet er verschiedene weitere Projekte. Hin und wieder sitzt er auch in Hinterzimmern, auf einem Podium oder hält Reden.

Bereich online Marketing, Kampagnenkonzeption und Videoproduktion gearbeitet und zuvor Informationsdesign (BA) in Graz, Österreich und New Media and Digitale Culture (MA) in Utrecht, Holland studiert. Photo: re:publica | https://flic.kr/p/ bV9Luf | CC BY 2.0 | creativecommons. org/licenses/by/2.0/

Redaktionsstatut: Dieses Magazin ist überparteilich, unabhängig und nicht kommerziell. Die Mitglieder treffen die Auswahl der Artikel ohne den Einfluss Dritter. 58

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IMPRESSUM D E R D I G I TA L E WA N D E L – M AG A Z I N F Ü R I N T E R N E T U N D G E S E L L S C H A F T

Netzneutralität, Ausgabe, Q4.2014 Redaktion Janina Gera Editorial Board Paul Fehlinger Hauke Gierow Simone Jost-Westendorf Julia Kloiber Philipp Otto Layout und Gestaltung Jan Illmann Druck Oktoberdruck, Berlin Eine Publikation des Internet und Gesellschaft Collaboratory Kontakt digitalerwandel@collaboratory.de – Redaktion kontakt@collaboratory.de – Collaboratory Geschäftsstelle Ansprechpartner Collaboratory e.V. Lenkungskreis Dr. Michael Littger Martin G. Löhe Lena-Sophie Müller Dr. Philipp S. Müller Dr. Marianne Wulff Geschäftsführung Sebastian Haselbeck Informationen zum Collaboratory, den Themen, Personen, Projekten, der Finanzierung des Vereins und den Möglichkeiten zur Unterstützung oder Beteiligung unter www.collaboratory.de Lizenzhinweis: Alle Texte dieser Ausgaber werden unter ihren jeweiligen, auf den Seiten angegebenen Creative Commons Lizenzen veröffentlicht, oder mit Erlaubnis der Autorinnen oder Autoren wiederveröffentlicht (Angaben jeweils am Text). Coverfoto: Alle Rechte vorbehalten | @lulululukas photocase.de


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