chilli cultur.zeit

Page 1

HEFT NR. 8/22 12. JAHRGANG Leadbelly Calls SAMSTAG, 5. NOVEMBER SCHLOSS REINACH, MUNZINGEN LEINWAND PASSFÄLSCHER RETTET MENSCHENLEBEN LITERATUR BÜCHNERPREISTRÄGERIN ÖZDAMAR LIEST IN FREIBURG MUSIK MÜNSTERPLATZ WIRD ZUR KONZERTLOCATION

Eyecatcher: Im Delphi_space am Hauptbahnhof läuft die Ausstellung „Polyphon“.

Knotenpunkt für Kreative

DELPHI_SPACE WILL FRISCHEN WIND IN KULTURLANDSCHAFT BRINGEN

Kräfte bündeln für kreativen Input. Das möchte der Delphi_space in Freiburg. Seit drei Jahren gibt es den Verein, zwei Räume füllt er mittlerweile mit Ausstel lungen, Performance und Begegnungen. Initiator Maximilian Siebenhaar berich tet von einer ambitionierten Vision.

gegnung und des Austauschs bieten. „Wir verstehen uns als interdisziplinärer Raum“, sagt Maximilian Siebenhaar. Der 29-Jährige ist Gründer des Delphi_space und selbst Künstler. Rund 100 Mitglie der zählt der Verein heute.

Wie Quallen sehen die kleinen Appa rate aus. Dutzende stehen auf dem Bo den des Delphi-Kunstraums beim Haupt bahnhof. Sie sind angeschlossen an Photovoltaikzellen. Sind die voll geladen, wirbeln die Quallenarme kurz wie durch einen Windhauch getrieben nach oben.

Als Teil der Anfang Oktober eröffneten Ausstellung „Polyphon“ strecken die bunten Exponate nur für Augenblicke ihre Arme aus. Der Delphi Space tut das schon seit drei Jahren. Er will Kunst mo dern präsentieren, offen und kostenlos für alle – und damit einen Ort der Be

Für eine Abschlussarbeit recherchierte er drei Jahre lang in Berlin zum Orakel von Delphi. So kam ihm die Idee, in sei ner Heimat Freiburg einen Ort zu schaf fen, der diesen Namen trägt. Er soll das Konzept des Orakels fortführen: Wissen schaften und Kultur verbinden.

Anlass zur Gründung war auch das Aus der Freiburger Außenstelle der Akademie für Künste Karlsruhe im Jahr 2017. Die Delphi-Initiative gründete einen gemein nützigen Verein und fand an der Emmen dinger Straße 21 ein erstes Zuhause. Das Projekt fand Anklang. Mittlerweile sind rund 150 Veranstaltungen mit mehr als 30 Künstler·innen realisiert worden.

44 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2022 KULTUR

Seit Ende 2021 gibt es einen zweiten Kunstraum an der Bismarckallee 18 bis 20. Nur einen Katzen sprung vom Hauptbahnhof entfernt. Der 330 Quad ratmeter große Saal hat eine Glasfront und damit viel Licht. Möglich ist dort jedoch nur eine begrenzte Zwischennutzung, Stand jetzt bis Ende des Jahres.

Die größte Hürde sind die Finanzen. Vor allem mit Fördergeldern stemmen sie die Veranstaltun gen. Zudem läuft gerade ein Crowdfunding. Künst ler sollen fair bezahlt werden, betont der Verein. „150 Events, das geht immens ins Geld“, sagt Sie benhaar. Eine institutionelle Förderung durch die Stadt ist eines der nächsten Ziele. Der Besucher andrang liefert jedenfalls Argumente: Rund 7000 Leute waren im laufenden Jahr bei den Events da bei, berichtet Siebenhaar.

„Wir wollen gemeinsam Hürden überwinden“, sagt der Freiburger. Und Neues schaffen. Als Vision schwebt der Initiative vor, eine Kunst- und Kulturfa kultät in Freiburg zu gründen. Wie das klappen könnte, weiß er noch nicht. Das Team sei aber ge wieft genug, um auch das hinzubekommen.

KULTURNOTIZEN

Rodins „Kuss“ im Museum für Neue Kunst

Es ist eine kleine Sensation: Auguste Rodins „Der Kuss“ ist in Freiburg. Durch eine großzügige Schenkung im Wert von 1,5 Millionen Euro aus dem Privatbesitz des in Freiburg lebenden Manfred Höfert darf sich das Muse um für Neue Kunst (MNK) über einen Lebzeitenguss des „Kusses“ freuen, der zu den bekanntesten plastischen Werken der klassischen Moderne gehört. Angelehnt an eine Szene aus Dantes „Göttlicher Komödie“ schuf Rodin den „Kuss“ als Teil der Höllenpforte. Dargestellt ist die Liebesge schichte von Francesca da Rimini und Paolo Malatesta, die vermutlich auf einer wahren Begebenheit basiert. Heute steht die Skulptur stellvertre tend für die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema Begierde. Aufgrund ihrer Beliebtheit gibt es sie in zahllosen Ausführungen und Grö ßen: Das MNK hat einen Bronzeguss der sogenannten „ersten Verkleine rung“ erhalten, der zwischen 1898 und 1903 entstanden ist.

IKF verliert und gewinnt Chefin

Susanne Göhner, die Leiterin der Internationalen Kulturbörse Freiburg (IKF), hat die Freiburger Messegesellschaft auf eigenen Wunsch verlassen. Die 35. IKF (22. bis 25. Januar 2023) wird zunächst interimsmäßig Karola Mohr verantworten.

Zwei Freiburger Preisträger

Der aka-Filmclub und das Kommunale Kino (KoKi) aus Freiburg haben eine Auszeichnung des Kinematheksverbunds erhalten, der bundesweit an 26 Lichtspielhäuser ging. Da es für die Kinos auch im zweiten Jahr der Pande mie schwierig war, den Spielbetrieb aufrechtzuerhalten, hatte Kulturstaats ministerin Claudia Roth das Preisgeld auf 60.000 Euro verdoppelt. Die bei den Freiburger Preisträger bekamen jeweils 2000 Euro. Die Jury war „tief beeindruckt von den vielfältigen Maßnahmen, die die Kinos umgesetzt ha ben“: Es wurde renoviert, Technik erneuert, Publikumsbereiche neu gestal tet, kreative Aktionen fürs Stammpublikum und neue Zielgruppen gestartet.

Theater erhält 13,4 Millionen Euro

Das Freiburger Stadttheater erhält, offenbar etwas überraschend, einen Zuschuss in Höhe von 13,4 Millionen Euro aus einem Förderprogramm „KulturInvest“ des Bundes für die Sanierung seines Kleinen Hauses und des Altbaus. Der Haushaltsausschuss des Bundes hatte am 29. Septem ber entschieden, wie die 380 Millionen Euro aus dem Förderprogramm „KulturInvest“ verteilt werden. Mit dem Geld können die Projekte nun deutlich früher als geplant angegangen werden. bar

Foto: © Patrick Seeger Hingebungsvolle Umarmung: ein Original aus der Zeit zwischen 1898 und 1903.
Hatte die Idee zum Delphi-Projekt: Der Freiburger Künstler Maximilian Siebenhaar Fotos: © tln

Der Passfälscher Deutschland 2022

Regie: Maggie Peren

Mit: Louis Hofmann, Luna Wedler, Jonathan Berlin, Nina Gummich, Marc Limpach u. a. Verleih: X-Verleih

Laufzeit: 116 Minuten

Start: 13. Oktober 2022

Wagemut & Mimikry

MITREISSENDE VERFILMUNG DER LEBENSGESCHICHTE EINES BEHERZTEN MENSCHENRETTERS

Samson „Cioma“ Schönhaus ist noch keine 20 Jahre alt, als seine Eltern und die Großmutter im Juni 1942 in das Vernichtungslager Majdanek deportiert wer den. Eigentlich war für ihn der gleiche Weg vorgese hen, da er aber in einem Nazi-Kriegsrelevanten Rüs tungsbetrieb arbeitet, wird seine „Ver schickung“ vorerst aufgeschoben.

Der junge Mann, der eigentlich Gra fiker werden will, seine Ausbildung an einer Kunstgewerbeschule in Berlin we gen seiner jüdischen Wurzeln jedoch nach einem Jahr abbrechen musste, steht dort täglich pünktlich an der Werkbank: Nur nicht auffallen, nur nicht den Unmut des Schichtführers erregen, ist seine Devise. Er weiß, was ihn ansonsten erwartet – von seiner Fa milie hat er nie wieder gehört.

Dass er verzweifelt ist und Angst hat, lässt er sich nicht anmerken. Im Gegen teil: In der Überzeugung, „dass die bes ten Verstecke dort sind, wo alle hinse hen“, begibt er sich mitten ins Leben und unter Menschen. Wagemutig und durch Mimikry getarnt – mit Nazifrisur, zacki gem Auftreten und Parteiabzeichen statt Judenstern – fährt er mit der Straßen

beschlagnahmten Familienwohnung Un terschlupf gewährt, in Restaurants und zu Tanzveranstaltungen.

Die Lebensmittelmarken, die er da für braucht – auch, um die dort anzu treffenden jungen Frauen bei Laune zu halten –, verdient der grafisch begabte Schönhaus sich mit dem Fälschen von echten Dokumenten. Die Aufträge er hält er vom Juristen Franz Kaufmann, der mit Mitgliedern der Bekennenden Kirche zusammenarbeitet. Zur Rettung untergetauchter Juden sammelt dieser Helferkreis als gestohlen gemeldete Kennkarten und Pässe, in denen er dann die Fotos austauscht und kunstvoll die Stempel überträgt.

Bald taucht auch er selbst unter, fälscht immer neue Ausweise, wird jedoch bald von der Gestapo gesucht. Dennoch ver hält er sich nicht eben konspirativ, begibt sich trotz aller Warnungen ständig in Le bensgefahr – nicht aus jugendlichem Leichtsinn, sondern aus der Erkennt nis, dass er ohnehin nichts zu verlieren hat. Als der illegale Fälscherring aufzu fliegen droht, tritt er erneut die Flucht nach vorne an – mit Überlebenswillen, Charme, einem Fahrrad und unerwar teten Unterstützer·innen.

Ein spannender, fast schelmenartiger Film über einen wichtigen Teil des Le bens von Cioma Schönhaus, der etwa

Fotos:
© X-Verleih
46 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2022 KINO

RIMINI

Österreich 2022

Regie: Ulrich Seidl

Mit: Michael Thomas, Georg Friedrich u.a.

Verleih: Neue Visionen

Laufzeit: 114 Minuten

Seit 3. Oktober im Kino

Trostlose Winterzeit

(ewei). Zwei Brüder quartieren nach dem Tod der Mutter ihren Vater in einem Altersheim ein. Einer von ih nen wohnt im Elternhaus, der ande re, der einst als Richie Bravo Karriere als Schlagerstar machte, lebt inzwi schen in Italien und reist hernach sofort wieder ab, nach Rimini.

Gealtert, abgehalftert und alkoho lisch aufgedunsen, tritt er dort in der Wintersaison bei Reisebus-Kaffee fahrten für ein Publikum auf, das vor wiegend aus älteren Frauen besteht. „Amore mio“ und „Immer wieder geht die Sonne auf“ schmachtet er in sei nen Shows, rührt damit die Damen zu Gefühlsduseleien – und beglückt sie gelegentlich hinterher als Gigolo. Um über die Runden zu kommen.

Trostlos wirkt Richies verkrachtes Leben – so trostlos wie das verwaiste Seebad mit geschlossener Gastrono mie, leeren Wohnungen, verschneiten Straßen und frierenden Obdachlosen am eisigen Strand.

Ulrich Seidl bietet einen gnaden los entlarvenden Einblick ins entwür digend seichte Showgeschäft.

STEHT DER WALD

Vor der Wahl

Deutschland 2022

Regie: Saralisa Volm

Mit: Henriette Confurius, Noah Saavedra u. a.

Verleih: Alpenrepublik

Laufzeit: 95 Minuten

Start: 27. Oktober 2022

Unheimliche Heimlichkeiten

(ewei). Anja ist Ende 20, als sie in das Dorf zurückkehrt, in dem sie mit ih ren Eltern häufig die Sommerferien verbrachte. Beim letzten Aufenthalt verschwand ihr Vater spurlos, kehrte nicht mehr von einer Wanderung zu rück. Da war sie gerade acht.

Die Bodenkundlerin kommt indes sen nicht in die oberpfälzisch-bayeri sche Provinz bei Flossenbürg, um nach ihrem nie gefundenen Vater zu suchen, sondern um im Zuge eines Forstpraktikums ein Waldstück zu kartieren. Bei der Analyse ihrer Bo denproben einer Lichtung fällt ihr ein rätselhaft hoher Calciumgehalt auf – ebenso wie ein untypischer Brennnesselbewuchs, der auf Stick stoff schließen lässt. Notizen ihres Vaters entnimmt sie, dass auch er auf dieses Phänomen aufmerksam ge worden war.

Bei Fragen an die Dorfbewohner stößt Anja nur auf Schweigen – als gelte es, Schlimmeres zu verbergen als den gewaltsamen Tod des Vaters, der einem geistig Verwirrten angelas tet wird. Exzellente Spannung.

3 FRAGEN AN Filmemacher Marco Keller

Vor der Stichwahl zum brasilianischen Präsidentenamt liegt Lula vor Bolsonaro. Vor der Wahl von 2018 drehte der Freiburger Filmemacher Marco Keller in Pernambuco mit widerständigen Menschen seine Dokumentation „Rhythm & Resistance“, die er am 24. Oktober im Kommunalen Kino präsentiert.

Brasilien ist oft Thema Ihrer Filme. Wieso?

Meine erste Fernreise führte mich in ein Projekt in Mato Grosso do Sul, das mit der Menschen rechtssituation der indigenen Bevölkerung befasst war. Das Leid dieser Menschen hat mich so betroffen, dass ich die Hintergründe ihres prekären Lebens publik machen wollte. So bin ich letztlich beim Film gelandet.

Ist die Stimmungimmer noch so kämpferisch wie direkt nach Bolsonaros Wahl?

Das ist aus der Ferne kaum zu sagen. Durch die gegen sie gerichtete Politik haben die sozialen Bewegungen aber stark gelitten, zumal auch Begegnung und kultureller Austausch coronabe dingt kaum mehr stattfand. Das führte zu einer depressiven Stimmung. Der Ausgang der ersten Wahlrunde lässt jedoch auf neue Aktivierung hoffen. Und in Pernambuco wird Bolsonaro sowieso nie gewinnen.

Wie sieht denn seine Bilanz aus?

Verheerend: Die Lebenssituation der Minderhei ten und anderer gefährdeter Bevölkerungsgrup pen hat sich drastisch verschlechtert. Nicht nur im Amazonas, wo mit den größten Abholzungen seit Ewigkeiten den dortigen Menschen der Lebensraum genommen wird – zugunsten der nimmersatten Agrarlobby. ewei

SCHWEIGEND
Foto: © Neue Visionen Foto: © Poison
und
If...Productions
Foto: © coreoperation
47 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2022 KINO

„Das wird Rock’n’Roll“

Kann der Münsterplatz Großevents?

Ja, findet ein breites Veranstalterkol lektiv. Bis zu 6000 Leute pro Event sollen vom 14. bis 18. Juni 2023 dort nationale und internationale Musik stars zu sehen bekommen. Mitinitia tor ist Sea-You-Chef Bela Gurath: „Ich habe in Corona-Zeiten ein pro

vokantes Konzept an Martin Horn geschickt.“ Er habe geschrieben: „Ihr wollt eine lebendige Innenstadt, dann müsst ihr neue Formate kreie ren.“

Gurath ist überzeugt: „Den Kampf gegen das Internet kann man nicht gewinnen.“ Es brauche persönliche Begegnungen und Emotionen. Die Menschen sollen, so Gurath, Musik spüren, ihren Freund oder Kumpel in den Arm nehmen. „Das kannst du nicht im Internet.“ Sein Appell an die Stadt: Holt diese Formate endlich rein. In Städten wie Rastatt, Stuttgart oder Emmendingen funktioniere es. Gurath: „Überall geht es, aber in Frei burg geht nichts?“

Das Bündnis Freiburg Live setzt sich zusammen aus: Albert Konzerte, Frei burger Barockorchester, Freiburg Fes tival, Jazzhaus Freiburg, Karoevents, Mack Event, Sea You Freiburg sowie Vaddi Concerts. Mit breiter Brust

können die Veranstalter so an andere Akteure herantreten.

Für Gurath ist das Reboot Festival ein „Paradebeispiel“, wie man es nicht machen sollte. Es stieg mit vielen lo kalen Acts im Sommer mit 90.000 Euro an Zuschüssen. Doch es lockte zu wenig Zuschauer an. Der Veran

Gastronomen kriegen Geld wegen Einbußen

von Till Neumann ockstars und Elektroacts – live auf dem Münster platz. Das gibt’s in Frei burg erstmals im nächs ten Sommer. Laut dem Veranstalterkollektiv Freiburg Live ist die Pla nung gesichert. Größter Knackpunkt war die Ei nigung mit der betroffe nen Gastronomie. „Es hat geknirscht“, sagt Bela Gurath. Doch der Kompro miss scheint geglückt – mit bis zu fünf stelligen Entschädigungen. Ein dickes Fragezeichen gibt es noch beim Lärm.

stalter Multicore steht mit einem Mi nus von 30.000 Euro vor dem Aus. Guraths Fazit: „Das kostet viel Geld, aber keinen interessiert’s.“

Die Münsterplatzkonzerte planen nun das ganz große Kino: An fünf Ta gen soll auf der Südseite des Müns ters ein Highlight das nächste jagen, der Ort so aus dem Dornröschen schlaf erwachen. Bei drei Rock-PopElektro-Events werden 6000 Steh

R Foto: © tln 48 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2022 MUSIK
MÜNSTERPLATZ WIRD KONZERTLOCATION, FRAGEZEICHEN BEIM LÄRM

plätze geboten. Welche Acts auflaufen, ist noch unter Verschluss. Das chilli weiß nur: Weder Herbert Gröne meyer noch Coldplay sind dabei.

„Jeder findet die Idee gut“, betont Gurath. Doch die Gastronomen am Münsterplatz forderten Entschädigun gen. Schließlich sollen für die drei unbestuhlten Events 75 Prozent der Freisitzflächen zurückgebaut werden. „Wir unterstützen die Sache“, sagt Toni Schlegel vom Ganter Brauereiausschank. Er finde die Konzerte „sehr bereichernd für die Innenstadt“. Als Gastronom müsse er den Betrieb jedoch weitgehend einstellen. Dafür brauche es eine Einigung.

„Den Veranstaltern war nicht bewusst, welchen Scha den wir haben, mitten in der Hochsaison“, betont Schle gel. Da müsse der schwache Winter aufgeholt werden. „Es hat geknirscht“, bestätigt Gurath. In einem sehr un gewöhnlichen Schritt habe jeder Betrieb daher seine Umsatzzahlen auf den Tisch gelegt, berichtet Schlegel. Die Entschädigung belaufe sich nun pro Betrieb auf vier bis fünfstellige Beträge. „Es ist eine gute Vereinbarung“, sagt Schlegel. Alle hätten Kompromisse gemacht und seien nun d’accord.

Den Segen für die Events gibt es auch von der Katholi schen Kirche. Dompfarrer und Stadtdekan Alexander Halter hat dem Vorhaben zugestimmt, genau wie der Ge meinderat. Auch Stadtmarketing-Chefin Hanna Böhme ist angetan: „Das sind tolle, neue Gelegenheiten, um Gäste und Einwohner zu einem Besuch in der Freiburger Innenstadt anzuregen.“ Das Konzept habe das Potenzial einer Ausstrahlungskraft weit über Freiburg hinaus.

Events werden „eine andere Lärmqualität haben“

Bedenken bleiben jedoch in Sachen Lärm: „Events im Mega-Format innerhalb der Stadt Freiburg gehen massiv auf Kosten der Bürger und deren Gesundheit“, schreibt ein Kritiker im Leserbrief an die Badische Zeitung. In einer Vorlage des Rathauses für den Gemeinderat heißt es: „Zu Veranstaltungen auf dem Münsterplatz gab es in der Vergangenheit keine nennenswerte Beschwerdela ge.“ Es sei aber darauf hinzuweisen, dass die Münster platzkonzerte „eine andere Lärmqualität haben“ als bei spielsweise das Weinfest oder das SWR-Klassik-Konzert. Es könne daher nicht abschließend prognostiziert wer den, wie die Emissionen subjektiv von Anwohnenden wahrgenommen werden.

Mitveranstalter Christian Römmler von Karoevents macht sich keine Sorgen: „Das ist nur ein ganz kleiner Zeitrahmen.“ Die Konzerte seien für eine breite Öffent lichkeit und füllten eine Lücke in Freiburg. Eigentlich habe Freiburg Live bis 23 Uhr veranstalten wollen, sich jedoch auf 22 Uhr geeinigt. Auf Spektakel soll dabei nicht verzichtet werden: „Wir machen keine Flüsterkon zerte, das wird Rock’n’Roll.“ Und das für mindestens drei Jahre. Nach dem Testballon 2023 soll es 2024 und 2025 weitergehen.

„Heilsame Wirkung“

BLUES FESTIVAL LOCKT STARS NACH FREIBURG

Nach zwei harten Jahren will das Blues Festival Freiburg wie der durchstarten. Das Programm bietet Newcomer, Legenden und Musik im Museum. Programmmacher Ralf Deckert ist überzeugt, dass der Sound nicht nur gut für die Ohren ist.

Sich neu erfinden und dabei auf Altbewährtes setzen. Mit dem Ansatz hat das Team des Blues Festivals Freiburg sein Pro gramm für die 9. Ausgabe zusammengestellt. Nach zwei Jahren, in denen das Festival trotz widriger Bedingungen durchgezogen wurde, hofft Deckert, wieder aus dem Vollen schöpfen zu können. Den Auftakt machen am 4. November die Bluesanovas. Das Quintett aus der Blueshochburg Osnabrück war kürzlich noch für Eric Clapton im Vorprogramm. Jetzt spielen sie in der Markt halle bei freiem Eintritt. Für Deckert ist es die Bluesband, „die gerade am meisten steilgeht“. Doch auch viele weitere Acts kann er wärmstens empfehlen. So spielen unter anderem Lead belly Calls im Schloss Reinach oder das Doppelpack aus Soul-Le gende Johnny Rawls und den belgischen Shooting-Stars The Bluesbones in der Wodanhalle. Neue Wege geht der 2017 gegründete Verein Bluesfreunde Frei burg am 6. November. Da steigt ein besonderes Event im Muse um für Neue Kunst: Autor Bob Cremer wird aus seinem Buch zur Geheimsprache des Blues lesen. Dazu gibt es Musik von Pianist Chris Rannenberg. Die Idee zur Location kam Deckert bei seiner Arbeit als Journalist gemeinsam mit Direktorin Christina Litz. „Total geil“ werde das im Treppenhaus, schwärmt Deckert. 2020 ist das Blues Festival beim German Blues Award zum besten der Republik gewählt worden. Auch dieses Jahr soll es hoch hergehen. Etwas Bauchschmerzen macht der schwer gewordene Vorverkauf Deckert dennoch. Auch mögliche Pan demieeinschränkungen sind nicht auszuschließen. Doch die Vorfreude bei Deckert und dem Team ist groß. Auch zwei nicht öffentliche Events sind geplant. So wird der Verein erneut einen Workshop-Tag an einer Freiburger Schule organisieren. Zudem gibt es eine Blues-Aktion für psychisch kranke Menschen in Breisach. Deckert ist überzeugt: „Blues hat eine heilsame Wirkung, er erreicht die Seele.“

VERLOSUNG

Das chilli verlost 2x2 Festivalpässe im Wert von 100 Euro pro Ticket. Sie berechtigen zum Besuch aller Konzerte. Wer gewinnen will, schickt bis zum 30. Oktober eine Mail mit dem Betreff „Blues“ und seinem vollen Namen an gewinnspiel@chilli-freiburg.de

Foto: © Rene van der Voorden
MUSIK
Spielen im Schloss Rheinach: die Leadbelly Calls

latte desMon

„Krasses Experiment“

3 FRAGEN AN DJ Twyce

Elektro und HipHop prallen aufeinander. Das ist die Idee der neuen Partyreihe „Bars & Drops“ im Jazzhaus Freiburg. Auftakt war Ende September. Jeden letzten Freitag im Monat geht’s jetzt weiter. Ausgedacht hat sie sich Owusu Künzel alias DJ Twyce (34). Er erzählt im Interview mit chilli Redakteur Till Neumann, wie die beiden Genres zusammenpassen.

Wie kam’s zu der Idee? Wir wollen Bewegung ins Freiburger Nachtle ben bringen. Also haben wir uns gefragt: Was gibt’s hier? Was funktioniert? HipHop, House und Elektro sind am erfolgreichsten bei jungen Leuten. Also wollen wir das Unmögliche wagen: Elektro und HipHop bei einer Party zusammenbringen.

Wie weit sind beide auseinander? HipHop klingt auch dank Trap immer elektroni scher, Elektro arbeitet mit HipHop-Samples. Das kann man symbiotisch kombinieren. Ich habe das Konzept schon 2014 in Bamberg probiert. Er wirkt erst mal befremdlich, aber es lief super. Die beiden Stile wachsen immer mehr zusammen.

Wie läuft der Abend ab?

Ich lege HipHop auf, dazu kommen Gäste, die elektronische Musik spielen. Die Stile werden alle 45 Minuten gewechselt. Wir DJs sprechen uns ab, damit die Übergänge zueinander passen. Es ist ein krasses Experiment. Aber Musik hat die Power, Brücken zu bauen. Weg mit den Scheuklappen und Klischees.

Kein gewisses Etwas

(pl). Eingefleischten RTL-Schauern dürfte Tizian Hugo ein Begriff sein. Als Teilnehmer der diesjährigen 19. Staffel von „Deutschland sucht den Super star“ schaffte es der Kenzinger bis ins Recall der bekannten Casting-Show. Mit „Toxisch“ veröffentlicht der 23-Jäh rige jetzt seine erste Single inklusive Musikvideo.

Musikalisch bewegt sich die Num mer irgendwo zwischen Pop und HipHop. Das Ergebnis überzeugt aller dings nur bedingt. Zwar geht der Refrain gut ins Ohr und könnte so auch fast im Radio laufen. Ansonsten bleibt von „Toxisch“ aber leider wenig hängen. Dem Song fehlt es am gewis sen Etwas, um Hörer·innen wirklich zu catchen. Mal schauen, was Hu gos zweite Single „Hassliebe“ bringt. Lange warten müssen Fans nicht, der Song erscheint bereits Mitte Oktober.

Im Musikvideo zu „Toxisch“ bleibt der Musiker seiner Heimatregion treu. In diesem ist Hugo unter anderem auf einem Berg über Freiburg zu sehen. Abseits dessen arbeitet der Künstler weiter an seiner Karriere – und das natürlich auch abseits des Breisgaus. Nicht zuletzt ist der Kenzinger auf dem Streamingportal RTL+ in einer Show mit Pietro Lombardi zu sehen. In die ser sucht Lombardi, der unter anderem als Sieger der 2011 ausgestrahlten ach ten Staffel von DSDS hervorging, nach einem neuen Talent.

Melancholische Ballade

(pl). Noch ist die Debütplatte der Formation „The Astronaut & The Fox“ nicht erschienen. Erste Erfolge hat die 2019 gegründete Freiburger Indie-Rock-Band bereits dennoch vorzuweisen. Nicht zuletzt hat die in ternational besetzte Combo vergan genes Jahr beim Indie-Air-Contest des SAK Lörrach abgeräumt.

Mit „City Lights“ ist nun nach „I’ m 23“ die zweite Single der Band er schienen. Nachdem der Vorgänger musikalisch recht energiegeladen da herkam, gehen die Musiker·innen auf „City Lights“ andere Wege. Die sechsminütige Ballade baut sich langsam auf, neben dem gefühlvol len Gesang bleiben vor allem die melancholisch klingenden Gitarren im Gedächtnis.

Die schwermütige Stimmung kommt nicht von ungefähr: Inhaltlich geht es um durch sexuelle Gewalt verur sachte Schlaflosigkeit. Das Musikvi deo haben die Künstler·innen in Ei genregie produziert. Alle Aufnahmen sind in Freiburg entstanden, überwie gend in der Innenstadt und auf der Freiburger Mess’.

Wie schon bei der Vorgänger-Sing le überzeugen Song und Video. Bei Fans dürfte die Vorfreude auf die von Tiago Fernandes im Proudly Ugly Studio produzierte Debüt-EP stei gen. „Outer Space in your Backyard“ soll am 25. November erscheinen.

MUSIK P
a st
TIZIAN
HUGO TOXISCH Single – Pop
Foto:
© privat
THE ASTRONAUT & THE FOX CITY LIGHTS
Single –
Indie-Rock/Pop
50 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2022

Tanzbarer Vorbote

(pl). Die Seven Purple Tigers sind eine internationale Band, wie sie im Buche steht: Die deutsch-amerikanische In die-Gruppe haben Sänger Austin Horn und Gitarrist Phil Dyszy 2015 im polni schen Krakau gegründet. Seitdem liefert sie ihren ganz eigenen Sound, der ir gendwo zwischen Pop und Rock ange siedelt, aber immer offen für andere Ein flüsse ist. Das Ergebnis ist oft tanzbar.

Das gilt auch für die neue Single „Clarity“. Der Song ist der erste Vorbo te der Anfang November erscheinen den EP „Daydream Echo Chamber“. Horn und Dyszy haben die Nummer im Alleingang eingespielt. „Der Song ist für jeden, der durch einen Prozess der Selbstfindung gegangen ist, mit all den Freuden und Fallstricken, die da mit verbunden sein können – egal um welche Erfahrung es dabei genau geht“, sagt Horn.

Die Nummer ist extrem tanzbar ge raten und changiert zwischen Melan cholie und guter Laune. Ein echter Hingucker ist das in Los Angeles ge drehte Musikvideo mit allerlei wilden Outfits und Make-ups geworden.

„Wir sind Vampire“, haben die Tigers dem chilli 2020 gesagt. Am liebsten werkeln sie nachts. Damals haben sie den Freiburger Bandcontest „Rampe“ gewonnen. Jetzt legen sie einen Song vor, der für sie selbst ihr bisher stärks ter ist. Die EP darf mit gutem Grund vorfreudig erwartet werden.

Hartes aus Hausach

(pl). Metal, der in die Beine geht. Bes ser kann man die neue Single von Vex kaum beschreiben. Auf „Words like Bullets“ serviert das Quartett aus Hausach (Ortenaukreis) einen knal lenden Mix aus Gesang, Gitarre, Drums, Bass – und coolen Grooves.

Es ist ein ziemlich individueller Stil, den Vex hier präsentieren. Die Band hat mit „Got my Friends, Beer and a Party“ 2015 und „Golden Times“ 2019 bereits zwei Longplayer auf den Markt gehauen. Im Herbst folgt der dritte Streich. Nach der Single „Talking with the dead Ones“ ist „Words like Bullets“ dieses Jahr schon der zweite Release. Produziert wurde der Track in den InLine Au dio Studios in Kappelrodeck. Der Sound, den das Quartett auf seiner neuen Single präsentiert, erinnert an Bands des härteren Spektrums, jedoch ohne wie ein lauwarmer Auf guss zu wirken. Mit dem Style könn te es der Combo gelingen, auch Hö rer·innen zu erreichen, die mit Metal normalerweise nicht viel am Hut haben.

Ihren Stil beschreiben Vex als Mix aus Metal und Hardcore mit einer ganzen Menge an Groove. Ergo: Groovecore. Egal, was man von sol chen Labels nun halten mag: „Words like Bullets“ macht Bock – und Vor freude auf das am 11. November er scheinende Album „Words“.

zum Blas- vs. Partymusik-Battle

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksver brechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Die Wiesn – abzapft is. Endlich. 20 Millionen Ochsen, 5 Milliarden Hendel, 7 Trillionen Liter Bier und noch mehr an Erbrochenem (O-Ton Securitymitarbeiter: „Lustig ist, wenn Leute ihre Stehmaß zurück ins Glas kotzen." (Stehmaß: Gast steht auf und versucht, seine Maß ex zu trinken, das ganze Zelt feuert an, dazu Blut (O-Ton Securitymitarbeiter: „Der zweite Schlag ist der schlimmste, wenn die Maß schon gesprungen ist, dann schneiden die Scherben die Gesichter kaputt.“), Schweiß und jede Menge Tränen.

Ein voller „Erfolg“ also nach zwei Jahren Pandemiepause, dem Herrn (Lauterbach) sei dafür (ergo für die Pause) ewiglich gedankt. So weit so gut beziehungsweise schlecht.

Nun hat sich aber innerhalb dieses komatösen Paralleluniversums nochmals eine neue Metakonfliktebene aufgetan. Manche Leute wollen auf der Wiesn keine Blasmusik mehr. Andere wiederum schon. Die Kapelle Josef Menz (Blasmusik) gegen Erwin und die Heckflossen (Partymucke), der Bayrische Defiliermarsch gegen 1000 nackte Frisösen namens Leyla, der Hashtag „Wiesn ist nicht Ballermann“ machte die Runde, die Stimmung schlecht, auch das Essen wurde beklagt.

Und was sagt uns das alles? Nicht wirklich viel Neues. Der Mensch ist dem Menschen ein Fleisch-Wolf und für uns immer wieder eine große Herausforderung.

In diesem Sinne, täglich grüßt das GeschPo-Tier

KOLUMNE
SEVEN
PURPLE TIGERS CLARITY Single – Indie-Pop/Rock VEX WORDS LIKE BULLETS Single – Groovecore
...

Herkunft und Aufbruch

Frische Luft will das Literaturhaus Freiburg in diesem Herbst. Das legt zumindest das Motto des 36. Freiburger Literaturge sprächs nahe, das vom 10. bis 13. Novem ber über die Bühnen geht: „Vom Aufstoßen der Fenster“. Mit von der Partie sind be kannte und weniger bekannte Gäste, die zusammen ein sehens- und vor allem hö renswertes sowie sicherlich gesprächsanre gendes Programm auf die Bühne bringen.

Auftakt ist wie immer am Donnerstag abend im Ratssaal des Neuen Rathauses. Dort verrät Saša Stanišić, Autor des 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeich neten Romans „Herkunft“, der Literaturkri tikerin Insa Wilke, was er als Nächstes vor hat. Man darf gespannt sein, kennt sich der Geschichtenerzähler nach den Worten der Veranstalter doch bestens aus „mit Ma giern, liebenswürdigen Heuchlern und Be trügern, mit Drachen, Drahtseilakten und Doppelbödigkeiten aller Manier“. Und mit den Wurzeln von Heimatlosen.

aus ihrem Opus Magnum „Ein von Schat ten begrenzter Raum“, in dem sie auf 800 Seiten einen Bogen vom osmanischen Reich bis ins heutige Berlin spannt – als Spiegel und Erkundung der Weltpolitik und den daraus resultierenden Aufbrü chen, Grenzüberschreitungen und vergeb lichen oder geglückten Asylsuchen.

Lesekonzert: Stefan Heyms frühe Lyrik beim Literaturgespräch vertont von Klara Deutschmann (o.l.), Robert Stadlober (o. Mitte), und Daniel Moheit (o.r.).

Um diese geht es auch am Freitagabend auf der Bühne des Literaturhauses. In ei nem Lesekonzert präsentieren Robert Stadl ober und Daniel Moheit die frühe Lyrik von Stefan Heym, die sie zusammen mit Klara Deutschmann vertont und in dem Ende 2021 erschienenen Hörbuch einge spielt haben, das das Motto für das dies jährige Literaturgespräch lieferte. In den 19 zwischen 1931 und 1935 entstandenen Gedichten thematisiert Heym, der damals noch Helmut Flieg hieß, Entwurzelung, Emigration, Hoffnung, Zukunft, Antifa schismus – und seine eigene Flucht vor den Nazis nach Prag, im Frühjahr 1933.

Unter den sechs Autor·innen, die den Samstag gestalten, ist Anna Kim, deren Rassismus-kritische „Geschichte eines Kindes“ für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominiert ist. Außerdem Emine Sevgi Özdamar, die am 5. November den Georg-Büchner-Preis 2022 erhält. Sie liest

Doch schon vor dem Literaturgespräch gibt es eine Reihe von Lesungen, die zum Thema Herkunft und Aufbruch passen: So ist am 18. Oktober Andrei S. Markowits zu Gast, der in „Der Pass mein Zuhause“ seine Lebensgeschichte als Sohn staatenloser Shoa-Überlebender aus Rumänien erzählt, der in New York landet. Am 17. Oktober liest der ukrainische Autor Juri Andru chowytsch aus seinem neuen Roman „Ra dio Nacht“, über den Musiker Josip Rotsky, der sich in der Schweizer Emigration als Salonpianist verdingt und die Revolution in den heimatlichen Karpaten unterstützt.

Und danach, am 1. und 2. Dezember, be ginnt eine ganz neue Reihe, bei der es weni ger um geografische als vielmehr um soziale Herkunft geht. Mit Daniela Dröscher, Mar tin Kordić und Christian Baron. Und mit Édouard Louis als Gast am 20. Dezember.

Info: www.literaturhaus-freiburg.de
Foto: © Melanie Willmann
LITERATUR 52 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2022

PROFESSOR LEAREINMAL NOCH STERBEN

von Oliver Bottini

Verlag: DuMont, 2022 432 Seiten, gebunden

Preis: 25 Euro

Dichtung und Wahrheit

(bar). Ein Spionagethriller, ein auf regender Stoff, so völlig unaufge regt erzählt, mit der typisch sachli chen Syntax: Oliver Bottini ist auch mit seinem jüngsten Werk ein her vorragender Roman gelungen. Ei ner, der die Rolle des BND vor dem Irak-Krieg 2003 durchleuchtet.

Der sich um jenen realen BND-In formanten Curveball dreht, der berich tet hatte, dass Saddam Hussein chemi sche Massenvernichtungswaffen habe. Die USA nutzten die Information, um die Koalition der Willigen in den Krieg zu führen. Es war eine Lüge. Bottini, mehrfacher Krimipreisträger, schickt ein ganzes Heer von Figuren aufs Spielfeld: Geheimdienstler vom BND, DGSE, CIA, DIA, GID, BKA, NSA, Botschafter, Kanzleramt, Verfassungs schutz – ein explosives Gemisch.

Die Helden Frank Jaromin, BNDAgent, und Hanne Lay, Sonderer mittlerin des BKA, halten das wirre Gefüge einer Story zusammen, die den Leser immer tiefer hineinzieht, die von Intrigen, Taktiererei, Loyali tät und Verrat erzählt.

Als es in einem Gespräch zwischen dem BND-Abteilungsleiter Operative Aufklärung Josef Bardeaux und Bengt Koeppen, BND-Einsatzleiter Bosni en und Bagdad, um einen Anschlag auf Jaromin geht, schreibt Bottini: „Ihm (Koeppen) ist die Lust an die sem Gespräch vergangen, bei dem der Raum zwischen den Zeilen über quillt.“ Ein großartiges Bild. Das Buch wird vom WDR verfilmt.

HERUMTREIBERINNEN

von Bettina Wilpert

Verlag: Verbrecher, 2022 266 Seiten, Hardcover

Preis: 25 Euro

Leipzig, Lerchenstraße

(ewei). Manja ist 17 und zum ersten Mal richtig verliebt. In Manuel, der ihr im Leipziger Freibad auf fällt, weil er im stets überfüllten Becken in aller Ruhe seine Bahnen schwimmt. Und weil er schwarz ist. Manja jobbt dort am Kiosk und hat viel Gelegenheit, ihn zu beob achten. Und mit ihm ins Gespräch zu kommen.

Aus Moçambique ist er und als Vertragsarbeiter beim VEB Baum wollspinnerei angestellt. Bis zur Begegnung mit ihm wusste Manja nichts von den „Gästen aus den Bru derländern der DDR“ – und nun ist sie so verliebt, dass sie nach einer rasanten Tour durch den Jahrmarkt rummel mit ihm auf sein Zimmer in der streng bewachten Unterkunft schleicht. Dort wird sie aufgegriffen und in die venerologische Station für Frauen mit Geschlechtskrankheiten gesteckt.

40 Jahre zuvor, in den 1940erJahren, wurde eine andere junge Frau in diesem Haus in der Ler chenstraße in Leipzig festgehalten: im damaligen Gestapo-Gefängnis. Lilo hieß sie und sie war wegen ih res Wirkens im Widerstand gegen das Naziregime verhaftet worden.

Bettina Wilpert webt Lilos Ge schichte in die von Manja ein –und verbindet beide mit Robin, die ebenfalls tut, was sie für richtig hält und sich in den 2010er-Jahren für die Flüchtlinge engagiert, die nun in diesem Haus leben.

von Joachim Zelter Verlag: Kröner, 2022 144 Seiten, gebunden

Preis: 22 Euro

Geist und Hülle

(ewei). Der Prozess, den der aus Frei burg stammende Autor Joachim Zel ter in knappen, wohlgesetzten Wör tern und Sätzen andeutet, zieht sich über mehrere Jahre hin. Doch da von ist bei der Lektüre nichts zu spüren: Zelter versteht es, die weit gehend in dialogischer Form be schriebene Handlung so zu raffen, dass der geistige und schließlich körperliche Verfall eines Menschen im Hier und Jetzt nachvollziehbar wird. Als persönliche Transformati on – ohne würdelose Bloßstellung, ohne jeden Voyeurismus.

Am Beginn dieses Transformati onsprozesses steht die Emeritierung des weit über seinen Lehrstuhl hin aus hoch angesehenen PhilosophieProfessors Helmut Eiger. Da ist der als „Geistesriese“ gerühmte Denker und Autor kaum zählbarer philoso phischer Werke noch voller Ta tendrang, hat noch etliche Bücher pläne – „wenn nicht vorher so manches Buch Pläne mit mir hat“ scherzt er bei seiner feierlichen Ver abschiedung.

Dann beginnt er zu schreiben, produziert ein Buch nach dem an deren. Doch niemand will seine neuen Erkenntnisse lesen. Irgend wann weigert sich sogar sein lang jähriger Verleger, noch ein Werk von ihm herauszubringen. Eiger ge rät in Vergessenheit und vergisst selbst; mit dem Bedeutungsverlust verliert er seine Sprache, seinen Geist, seine Persönlichkeit.

FR EZI
OKTOBER 2022 CHILLI CULTUR.ZEIT 53
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.