Leseprobe Thornado Geheimnis der Stürme von Marie Eichenberg

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Marie Eichenberg

Thornado Geheimnis der St端rme LESEPROBE

Casimir-Verlag 2


Marie Eichenberg wurde 2000 in Hofgeis mar geboren. Sie wohnt mit ihren Eltern und zwei jüngeren Geschwistern in einem kleinen Ort von Calden, wo sie auch zur Grundschule ging. Dort entwickelte sich ihre Liebe zum Schreiben. Zurzeit besucht sie die 8. Klasse des Gymnasialzweiges einer Gesamtschule. Das Schreiben bleibt nach Reiten ihr größtes Hobby. www.facebook.com/MarieEichenbergAutorin

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Marie Eichenberg

Thornado

Geheimnis der Stürme Das Gewitter Der Wald schien mit einem Mal zu verstum­ men, kein Vogel, kein Rascheln war mehr zu hören. Stattdessen fegte ein eisiger Wind den Waldweg entlang und ließ die beinahe unange­ nehme Hitze des Sommers vollkommen ver­ schwinden. Auch der eben noch strahlend blaue Himmel war plötzlich grau und es be­ gann erst langsam, dann immer heftiger zu reg­ nen. Mona Lenfer sah besorgt nach oben. „Beei­ lung!“, rief sie ihren Freundinnen Katarina Lie­ beloh und Lisa Krummer zu. „Wir müssen vor dem Unwetter zu...“ Sie wurde von einem lau­ ten Donnergrollen unterbrochen, welches ei­ 4


nem Blitz gefolgt war. Lisa schrie erschrocken auf und trat für eine kurze Zeit heftiger in die Pedale, um kaum eine Sekunde später vom Wind zurück gedrückt zu werden. Die drei wa­ ren keine Minute unterwegs, da waren sie auch schon bis auf die Haut durchnässt und der Wind umgab sie mit einer beißenden Kälte. „Mona, lass uns umkehren!“, rief Katarina und blickte ängstlich um sich. Sie hasste Gewit­ ter, besonders dann, wenn es so unheimlich überraschend kam. „Wir sind sicher gleich da“, schrie Mona zu­ rück. Doch ihre Worte gingen nun im beinahe ununterbrochenen Donnern unter. Die Freun­ dinnen kamen gerade vom Schwimmen im Mühlenteich, einem der fünf Teiche rund um Falkenhagen, ihrem Heimatdorf. Der Mühlen­ teich lag am weitesten von Falkenhagen ent­ fernt, es waren rund zehn Minuten mit dem Rad, wenn man gut vorankam. In den anderen Teichen jedoch, dem Schwarzen See, Galgsee, Schmielensee, Gabelsee und dem Burgsee, konnte man nicht schwimmen, denn sie waren zu veralgt und in ihnen gab es viel zu große Karpfen oder andere Fische. So mussten sie im­ mer wieder einen guten Weg zurücklegen, wenn sie schwimmen wollten, doch es lohnte 5


sich meist. Für den Fall, einem Unwetter entfliehen zu müssen, gab es sogar eine kleine Grillhütte am Mühlenteich. Und an genau diese hatte Katarina wohl eben gedacht, schließlich wäre sie gern dort geblieben, wenn sie gewusst hätte, welch ein Sturm aufziehen würde. Es dauerte nicht lange, bis die drei fast endgültig am Ende ihrer Kräfte waren. Von hinten hörte Mona jemanden etwas rufen, dass wohl etwa „Warte!“ heißen sollte, doch wenn sie jetzt ihr Tempo verringerte, würde sie garantiert nicht mehr anfahren können. Der Wind war viel zu stark. „Ich kann nicht!“, schrie sie über die Schulter hinweg, wobei sie durch den Regen und Wind aus dem Gleichgewicht kam und schließlich doch stehen bleiben musste. Zerknirscht blickte sie nach hinten, um auf ihre Freundinnen zu warten und vielleicht doch noch weiter zu fahren, es durfte nicht mehr weit sein. Aber Katarina und Lisa kamen nicht. Mona wusste nicht, wie lange sie gewartete hatte, aber auch wenn es nur Sekunden waren, es schien eine Ewigkeit gedauert zu haben. Die Bäume rauschten im Regen und Wind und die dunklen Wolken verbreiteten eine unheimliche Dunkelheit und Kälte. „KATI, LISA! KOMMT!“, schrie sie verunsi­ 6


chert, doch es kam keine Antwort. Der Wind zerrte an ihren klitschnassen, braunen Haaren und ließ ihr die Glieder gefrieren, während sie wartend dastand und durch die dicken, kalten Regenschnüre hindurch zu spähen versuchte. „Sie sind zurückgefahren“, murmelte sie nach einem endlos scheinenden Moment enttäuscht zu sich selbst und bemerkte keinen Augenblick später, was das für sie bedeutete: Sie war allein. Ihr Herz machte einen Satz und begann mit ei­ nem Mal heftig zu pochen. Von ihrer Erschöp­ fung spürte sie nun nichts mehr. Der Sturm wirkte lauter und das Donnern und Blitzen ag­ gressiver, die Bäume krächzten bedrohlicher. Ihre braunen Haare peitschten ihr wild ins Ge­ sicht. All die Geister-und Gruselgeschichten, die über die Teiche erzählt wurden, kamen ihr plötzlich in den Sinn und auch wenn sie nur Geschichten zum kleine-Kinder-erschrecken waren, ließen sie in Monas Magengegend ein beklemmendes Gefühl zurück. Es gibt ein Monster, ein Monster des Gewitters in den Wäldern rund um die Teiche. Es lauert hinter Bäumen, in den Teichen, über den Wiesen. Und es lebt. Es kann dort sein, wo es will und dies mit nur einem Atemzug. Die die es sahen, lebten nicht lan­ ge, die, die es gefunden haben, konnten nicht mehr 7


als ihren Körper zurück lassen. Das Monster nimmt die Seele. Und zieht sie in die Schatten der Bäume. Ängstlich sah Mona sich um. Dies war nur eine von vielen Geschichten, die ihr durch den Kopf schossen und auch wenn sie nicht daran glaubte, wollte sie es auch nicht darauf anset­ zen, dem Monster zu begegnen. Hastig be­ schloss sie, nach Falkenhagen zu fahren. Der Mühlenteich war nun sicher weiter entfernt als das Dorf. Mit Mühe brachte sie ihr Fahrrad wie­ der in Bewegung und fuhr weiter Richtung Fal­ kenhagen. Gezackte Blitze erhellten die Schat­ ten um sie herum immer wieder und machten den Wald zu einer bedrohlichen Kulisse. Auf ihrem Weg sah sie hin und wieder den Galgsee zu ihrer Rechten durch vereinzelte Bäume und den Regen schimmern, wobei es ihr immer wie­ der kalt den Rücken herunter lief, was nicht an der Kälte um sie herum lag. Die kleine Insel auf dem Galgsee ist Heim vieler Toten. Sie leben dort in Frieden, denn auch wenn ihr Tod gewaltsam war, so haben sie´s nun gut. Doch wehe dem, der sie stört, sei´s Mensch, Tier oder Re­ genfall, denn sie werden zornig und holen ihn zu den ihren! Immer wieder kreisten ihr die Geschichten im Kopf umher und je mehr Mona sich dagegen 8


wehrte, desto mehr schienen sie zu werden. Sie versuchte, sich auf den Weg zu konzentrieren, der schotterig und steinig vor ihr lag, sich we­ nigstens ein bisschen abzulenken, doch der Re­ gen verwischte immer wieder das Bild und Mona hatte keine Chance, einen klaren, sinn­ vollen Gedanken zu fassen. Die Kälte drohte immer wieder sie zu überwältigen, die Klei­ dung klebte ihr am Körper und sog den kalten Wind regelrecht auf. Ihr Kopf war starr auf den Boden gerichtet, ihre Beine zitterten vor An­ strengung, ihr gesamter Körper schmerzte, die Muskeln, die sich beim Bein angefangen all­ mählich durch den ganzen Körper ziehend an­ spannten und ihren Körper gegen den Regen schoben, waren spürbar überanstrengt. Das Einzige, das Mona jetzt noch antrieb, war die Angst. Angst, stehen zu bleiben und sich dem Unwetter zu stellen. Angst, zu realisieren, was es bedeutete, allein bei Gewitter im Wald zu sein. Dies hielt sie davon ab, ihr Rad ausrollen zu lassen. Allmählich stieg der Weg an, der Wind peitschte stärker denn je auf sie ein und plötzlich wurde Mona bewusst, dass es nach Falkenhagen keinen Anstieg gab. Ihr Atem pumpte heftig, sie wurde langsamer und blieb dann stehen. Mit einem Mal erkannte sie, dass 9


sie hier sicher falsch war. Der Weg war matschig, einige Grasbüschel lugten aus tiefen Pfützen heraus, dabei hätte sie auf einem geschotterten Weg sein müssen. Hastig warf sie einen kurzen Blick zur Seite. Vor ihr lag der Burgsee. Der See des Monsters. Mit nur einem einzigen, kurzen Blick auf den vor ihr liegenden Teich erkannte sie, dass zur jetzigen Zeit hier kein schöner Aufenthalt zu erwarten war. Die Wasseroberfläche des Teichs war von kleinen Wellen gesäumt, welche wiederum von einem unheimlichen Dunst überdeckt wurden. Könnte es dort lauern? Außer Atem starrte sie auf das Wasser und auch wenn es das so ziemlich merkwürdigste war, was sie tun konnte, ärgerte sie sich für einen kurzen Augenblick darüber, dass sie nicht anständig abgefahren war. Anstatt dem Weg immer geradeaus zu folgen war sie ohne es zu bemerken links abgebogen und hier angekommen. Der einzige Vorteil bestand nun darin, dass sie wusste, dass sie bald in Falkenhagen angekommen war. Die Erschöpfung glitt allmählich durch alle Knochen, ihre Beine zitterten weiterhin. Das Stehenbleiben ließ sie all dies viel stärker und mit einem noch mächtigeren Druck spüren. 10


Doch Angst vor dem Wald, der mit bedrohlicher Dunkelheit über ihr emporragte, dämpfte dieses Gefühl. Plötzlich erkannte sie unter der Wasseroberfläche nicht weit vom Ufer einen dunklen, langsam näher kommenden Schatten. Erschrocken wich sie zurück. Durch den Regen hindurch spähend starrte sie auf das diesige, vom Regen aufgewühlte Wasser, Angst und Panik machten sich in ihr breit. Warum sie nicht einfach weglief, wusste sie nicht. Alle Muskeln waren angespannt, ihre Gedanken rasten. Konnte dies das Monster sein? Konnte es nicht tatsächlich so etwas wie ein Monster geben? Ihre Gedanken waren unsinnig, das wusste sie, doch die tosenden, dunklen Bäume und die Schatten überall um sie herum kamen der Geschichte sehr nahe. Ungeheuer nahe. Bei Gewitter… Plötzlich erleuchtete ein blendend heller Blitz erneut den Himmel und machte für einen kurzen Augenblick die Sicht auf die dunkle Wasseroberfläche deutlicher. Doch da war kein Schatten. Da war nichts außer dem Wasser, das weiterhin vom Regen in kleinen Wellen umhergeschubst wurde. Monas Atem begann vor Angst zu rasseln. In panischer Hast, wegen etwas, das sie sich selbst nicht erklären konnte, 11


sprang sie auf ihr Rad und raste los, so heftig und schnell, wie es ihr nur möglich war. Was sie und ob sie etwas gesehen hatte, war ihr egal, dass es dieses Monster nicht gab, interessierte sie nicht mehr. Weg hier, war ihr einziger Gedanke. Die Geräusche des Waldes um sie herum wurden lauter. Monas Atem wurde immer flacher. Der undurchdringlich scheinende Regen vermischte sich mit einer Dunkelheit, dunkler als zuvor. Die Bäume wurden dunkler, die Schatten schwärzer, der Sturm um einiges heftiger. Blitz und Donner wechselten sich mit einer Geschwindigkeit ab, sodass man glauben könnte, dass sie jeweils gleichzeitig eintraten. Seitenstiche begannen sie zu quälen. Schließlich hoben sich vor ihr die dunkelgrünen Nadeln der alten Fichte an der Weggabelung in den Himmel auf, die sie nur wegen den Blitzen erkannte. Es war ein trostspendender Funken Hoffnung, die Fichte so kurz vor sich zu sehen und zu wissen, dass Falkenhagen nahe war. Sie wollte gerade ansatzweise bremsen, um die Linkskurve zu ihrem Heimatdorf zu nehmen, als plötzlich ein Blitz wie schon seit Anfang des Gewitters auf die Erde nieder zuckte, den gesamten Wald für einen Bruchteil einer Sekunde erhellte und 12


dieses Mal direkt vor Mona in die Fichte einschlug. Ein grelles, weißes Licht zwang sie dazu, die Augen zu schließen. Erschrocken schrie sie auf, als sie spürte, wie ihr Fahrrad zu schlingern begann und unkontrolliert weiter raste, mit jener Geschwindigkeit, mit der Mona vom Burgsee gekommen war und die man eben hat, wenn man eine Ansteigung herunter fährt. Instinktiv drückte sie auf alle Bremsen, die ihr zur Verfügung standen, doch ein Wind, der von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schien, presste sie mit unheimlicher Kraft Richtung Fichte, die mit einem lauten, ohrenbetäubenden Knarzen zu kippen drohte. Ihre Gedanken wirbelten wild durch ihren Kopf und in ihrer Panik spürte sie deutlich auch Verwirrung in sich aufsteigen. Was geschah hier? Sie öffnete ihre Augen ansatzweise, blickt hinein in das gleißende Licht, das von dieser Fichte ausging, versuchte sich zu sammeln in dieser kurzen Zeit, die ihr bis zum Zusammenstoß blieb. Doch ihre Gedanken wirbelten immer wilder in ihrer Panik, der Regen ließ alles vor ihr verschwimmen, nur das Licht war noch klar. Sie raste unkontrolliert vorwärts in einem endlosen Moment, der sich zog und zog wie Kaugummi. Und dann, ehe sie überhaupt noch 13


irgendetwas denken oder tun konnte, ehe sie sich auch nur wundern konnte, erschien vor ihr, in jenem Riss, der durch den Blitzeinschlag in der Fichte entstanden war, ein Bild, von einer Größe, die normalerweise nicht in den Riss dieses Baumes gepasst hätte. Ein heller Lichtblitz kam aus diesem übernatürlichen, leuchtenden Bild und Mona blinzelte hinein, raste darauf zu und erkannte die verschwommene Gestalt eines dunkelhaarigen Jungens, fast schon erwachsen und es war unverkennbar, dass dieser Junge Angst hatte, Angst vor etwas, das Mona nicht sehen konnte und ihr blieb auch keine Zeit, sich zu fragen, wovor er sich fürchtete, im selben Moment veränderte sich das Bild schon und nahm die Gestalt eines kräftigen, schwarzen Pferdes an, einem Friesen. Dann hörte Mona noch einen verzweifelten Schrei und dann ein Wiehern, so laut und durchdringend, dass es unmerklich war, dass diesem Pferd hätte geholfen werden müssen. Ein Lachen, laut und kalt und gackernd ertönte. Doch dann hörte sie nur noch ein ohrenbetäubendes Knallen, ein Lichtblitz schien sie zu betäuben, es rauschte um sie herum und schließlich war alles schwarz. „Grundgütiger, Mona! MONA!“ Erschrocken 14


stieß Kati einen spitzen Schrei aus. Die alte Fichte an der Weggabelung war umgestürzt und neben dem zerstörten Baum lag ihre Freundin im Moos. „Lisa, fahr sofort nach Fal­ kenhagen weiter und hol… hol Hilfe, irgend­ wen!“, bestimmte sie und warf ihr Fahrrad von sich. Lisa nickte nur, ihre kleinen, immer etwas ängstlichen Augen starr auf Mona gerichtet. „Nun los!“ Lisa zuckte zusammen bei den Worten Katis, dann trat sie heftig in die Pedale und raste Falkenhagen entgegen. Kati blickte Lisa kurz nach, in angstvoller Erwartung und voller Schock über den Anblick, der sich ihr bot. Niemals hätte sie das gewollt oder gar erwartet. Sie kniete sich neben Mona und zog ein Hand­ tuch aus ihrer Tasche, welches sie vom Schwim­ men weiterhin bei sich getragen hatte. Vorsich­ tig platzierte sie den kalten, nassen Kopf ihrer Freundin darauf und begann dann an ihr zu rütteln, der scheinbar leblose Körper wippte merkwürdig hin und her. Eine ganze Weile lang passierte nichts, Monas Atem war flach. „Mona, Mona, komm schon, gleich kommt jemand, Mona!“ Nichts geschah. Angst und Pa­ nik breiteten sich in ihr aus. Was war bloß mit ihr geschehen? Sie hätte niemals ohne sie zu­ rück fahren dürfen! Es waren sicher nur 15


Sekunden, doch es fühlte sich an wie eine Ewig­ keit, als allmählich wieder Leben in ihre Freun­ din kam. Ihre Hand zuckte kurz, hob sich und sackte dann wieder herunter und Monas Atem begann wieder heftiger zu werden. Monas Kopf dröhnte und pochte, auf ihrem Körper schienen unendlich schwere Lasten zu liegen, die sie mit aller Macht zu Boden drückten und ein Druck, der vom Innern ihrer Arme und Beine zu kom­ men schien, drohte sie platzen zu lassen. Mona presste die Augen zusammen und krümmte sich zusammen, versuchte gegen den Schmerz von außen zu drücken. Trotz der Kopfschmer­ zen, die allmählich all ihrer Sinne die Kraft raubte, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Was war passiert? Licht, von irgendwo her, war das Letzte, was sie wusste. Dichter Nebel umhüllte ihre Gedanken und obwohl sie nichts sah, was sich hätte drehen können, schien die Welt unter ihr sich zu bewegen und Mona konnte förmlich spüren, wie sie erneut in die Ohnmacht zu sacken schien. Angst packte sie. Sie wusste nicht, wo sie war, warum sie hier war und ihr fehlte es an jeglicher Kraft darüber nachzudenken. Benommen versuchte sie sich gegen die Bewusstlosigkeit zu wehren. Eine Stimme von weit her rief immer wieder ihren 16


Namen, sie wurde panischer und dann rüttelte plötzlich jemand an ihr. Ihr Kopf wurde schmerzhaft auf und ab geschüttelt, doch dies half gegen den inneren Schmerz. „Mona! Mona, Himmel bitte, was ist denn? Komm, schau, gib mir deine Hand, was ist denn bloß passiert?“ Plötzlich wurde die Stimme klarer, der Nebel, durch den die Stimme zu hören war, löste sich allmählich auf. Sie wusste noch bevor sie es wirklich spürte, dass sie nicht mehr ohnmächtig werden würde. Jetzt nicht mehr. Sie konnte sich nicht erklären, warum sie davor so Angst gehabt hatte, es konnte ja nicht schlimm sein und doch fürchtete sie sich vor der Hilflosigkeit, der man ausgesetzt war, wenn man um sich herum nichts sah, nichts hörte, nichts spürte und nichts unter Kontrolle bringen konnte. Die Stimme redete weiter auf sie ein und nun erkannte Mona sie: Kati! Ihre Gedanken wurden mit einem Mal wieder klarer, der Schmerz in ihren Armen und Beinen ließ langsam nach, bis nur noch ein stetiges Pochen übrig blieb, die Kopfschmerzen jedoch schwanden kaum. Mona atmete tief durch, ehe sie vorsichtig in das verschreckte Gesicht Katis blinzelte. Das helle Sonnenlicht der 17


Abendsonne begrüßte sie, doch dies zwang sie auch, die Augen sofort wieder zu schließen. Ihr Kopf begann wieder heftig zu pochen und sie griff instinktiv danach. „Mona!“, seufzte Kati sichtlich erleichtert. Ihr Kopf war so tief über Monas Gesicht gebeugt, dass diese das leichte Kitzeln von Katis Haarspitzen auf ihren Wangen spürte. Vorsichtig blinzelte sie erneut und konnte nun direkt in das besorgte und bleiche Gesicht ihrer Freundin blicken. Die blonden Haare fielen Kati kreuz und quer durchs Gesicht, das Gesicht war zu einer besorgten Grimasse verzogen, die Augen weit aufgerissen, wodurch sie einen ziemlich panischen Eindruck vermittelte. „Was ist passiert?“, fragte sie besorgt. Mona zuckte unsicher die Schultern. Das letzte, woran sie sich erinnern konnte, war grelles Licht. „Mona, oh Gott, das tut mir ja so Leid! Du… Wir… wir wussten ja nicht, dass du… konnten nicht zurück… war so dunkel… sicher… in der Hütte…“ Kati brach ab und Mona sah bestürzt, dass Tränen über die Wangen ihrer Freundin kullerten. „Ist nicht schlimm“, krächzte Mona mit schlaffer Stimme, doch ihr fiel auf, dass diese Stimme nicht wirklich aufheiternd klingen 18


musste. „Das war nicht eure Schuld. Was ist denn passiert?“ Kati schluchzte kurz, dann sagte sie mit beinahe so matter Stimme wie die Monas: „Du musst gegen den Baum gefahren sein.“ Sie deutete mit dem Finger auf die umgestürzte Fichte und als Mona sich mit wankendem Oberkörper aufrichtete, erkannte sie auch ihr demoliertes Fahrrad darunter: Ein Reifen war abgesprungen, das Vorderradschutzblech eingedellt und der Lenker stand in einem merkwürdig schiefen Winkel ab. „Oh“, hauchte sie leise und richtete sich vollends auf, die Schmerzen in ihrem Kopf und das Schwanken und Zittern in ihren Beinen ignorierend. Mit einem Mal erinnerte sie sich wieder an das Gewitter, den Burgsee, den Blitz und die Bilder, die sie wohl kurz bevor sie bewusstlos geworden war, gesehen hatte. Doch wieso? „Mona, komm, setz dich lieber, ich glaube dass das keine gute Idee ist, sich jetzt hinzustellen, Mona! Komm schon, bitte!“ Mona warf einen Blick zu ihrer Freundin, das Gesicht immer noch blass und tränennass. Doch sie wollte sich jetzt nicht setzen. Nicht jetzt. „Wenn man ohnmächtig wird oder in eine Paniksituation kommt, sieht man da manchmal 19


Bilder in seinem Kopf, die in der Wirklichkeit überhaupt nicht da sind?“, fragte sie, die Aufforderung Katis vollkommen ignorierend. Kati sah sie misstrauisch an. Ihre Augen wurden wieder feucht. Mona wusste zunächst nicht, warum, doch dann fiel ihr auf, dass Kati sich vermutlich Selbstvorwürfe machte, weil sie ihrer Freundin einen gehörigen Dachschaden zugefügt hatte. „Kati, damit meine ich nicht, dass ich wirk­ lich welche gesehen habe, eben habe ich nur kurz gemeint, irgendwas gesehen zu haben, was nicht da war, weißt du?“, versuchte Mona ihre Freundin mit zitternder Stimme zu beruhi­ gen, doch in diesem Moment gaben ihre Beine nach und sie fand sich am ganzen Körper zit­ ternd auf dem Boden sitzend wieder. Ihr Kopf pochte und sie meinte, von den Schmerzen überwältigt zu werden. Wäre sie bloß nicht auf­ gestanden… Die Gedanken wirbelten wild in ihrem Kopf umher und sie schienen das Pochen nur noch schlimmer zu machen. „MONA!“, schrie Kati mit erstickter Stimme. „Mona, bleib sitzen, dein Papa kommt da hinten schon! Oh mein Gott, Mona, das tut mir so leid!“ Mona starrte Kati verstört an. Dann blickte sie an ihr vorbei, wie durch einen dünnen Nebelschleier 20


sah sie den Pick-Up ihres Vaters aus Falkenhagen heranpreschen. Die Pfützen am Wegrand wurden aufgewirbelt und das Klackern der Steine an das Schutzblech der Reifen war bis hierher zu hören. Monas Blick wurde zunehmend verschwommener. „Oh verdammt, das war garantiert der letzte Blitz, der die Fichte getroffen hat! Mona, hoffentlich hast du dir nichts getan, nichts schlimmes, oh bitte! Das Gewitter war dann einfach vorbei, hörst du, nach dem Blitz, komm schon Mona, gleich ist dein Vater da! Hörst du?“ Kati redete mit aller Kraft auf sie ein, verzweifelt kniete sie neben ihr im Gras und rüttelte vorsichtig an ihr. Schließlich hielt der Pick-Up neben den beiden, doch Monas Sinne setzten erneut aus und dichter Nebel umhüllte sie. „Ich geh dann wohl erst mal in den Stall“, murmelte Mona betreten, um der angespannten Stimmung im Wohnzimmer der Lenfers zu ent­ kommen. Ihr Vater, Bernd Lenfer, saß mit im­ mer noch kreidebleichem Gesicht auf dem schokoladebraunen Sofa und starrte seine Toch­ ter besorgt an. Das er sie abgehholt hatte, war nun schon zwei Stunden her, doch erst jetzt hat­ 21


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sie sich wirklich davon erholt. „Aber bitte, Mona, bitte pass auf dich auf, ja? Wenn du Kopfschmerzen oder so hast, dann komm sofort rein, verstanden?“ Mona nickte steif und trottete langsam durch die Küche in den Flur, von wo aus sie auf den von den letz­ ten Sonnenstrahlen des Tages beleuchteten Hof trat. Einige Pferde wieherten in freudiger Er­ wartung aus den Stallungen gegenüber dem Wohnhaus Mona entgegen. Die Lenfers betrie­ ben eine Pferdepension, die zurzeit zehn Pferde beherbergte. Drei davon, Rose, eine Fuchsstute, Bodo, ein Rappenpony und Rubin, ein Hanno­ veranerwallach, waren nur für eine kurze Zeit untergestellt, da ihre Besitzer für einige Monate im Ausland waren. Rechts neben dem Stall und teils auch dahinter war die Koppel, die in meh­ rere Abschnitte eingeteilt war. Zwischen Kop­ pel und dem Hoftor, das auf die Straße führte, stand noch ein kleiner Heustober, in dem Bernd sein Getreide, Heu und Stroh lagerte. Auf der linken Seite neben den Stallungen und gegen­ über dem Heustober war eine Scheune, wo Traktoren, Anhänger oder andere landwirt­ schaftliche Geräte untergebracht wurden, denn Bernd war ein beruflicher Landwirt. Während Mona ihren Blick zufrieden über den Hof 22


schweifen ließ, liefen Alexa, eine Appalosastute, Ronja, ein Tinker und Butterfly, eine Schimmelstute, aufgeregt am Gatter hin und her. Mona näherte sich ihnen kurz, klopfte ihnen den Hals und überprüfte den Wasserstand im Wassertrog, der am Rand der Wiese aufgestellt war, ehe sie sich den Pferden im Stall zuwandte. Gleich vorne streckte Rubin den Kopf nach vorn und Star, ein Rappe etwas weiter hinten, trat ungeduldig gegen die Boxentür. Mona seufzte zufrieden bei dem Anblick ihrer Lieblinge und begann dann mit ihrer Routinearbeit: Heu füttern, ausmisten und dann Brot oder anderes Kraftfutter nach Bedarf. Während sie schweigend vor sich hin arbeitete, bemerkte sie, dass ihr kleiner, achtjähriger Bruder Ben nicht anwesend war, obwohl es eigentlich sowohl ihre, als auch seine Aufgabe war, die Pferde abends zu füttern und tagsüber zu reiten und zu pflegen. Doch dieser Gedanke wurde schnell wieder von einer viel größeren Frage verdrängt: Was war das für ein Gewitter gewesen und woher kam dieses merkwürdige Bild? Hatte Kati ernsthaft gemeint, dass das Gewitter nach diesem extrem hellen und starken Blitz abrupt vorbei gewesen war? Noch nie hatte Mona ein derartig unheimliches 23


Unwetter erlebt, was unter anderem aber auch an der Tatsache, dass sie noch nie allein im Wald dabei gewesen war, liegen könnte. Aber merkwürdig und auf eine ganz andere Art ungewöhnlich war es dennoch gewesen, so plötzlich war es da gewesen, mit einer ungewöhnlichen Kälte und jetzt schien es auch noch so, als wäre es nach dem Blitzeinschlag in die Fichte auch sofort wieder verstummt. Und was war das für ein Bild gewesen, das sie gesehen hatte? War es wirklich nur Einbildung? Nachdem sie mit füttern fertig war, hörte sie draußen ein Auto auf den Hof fahren. Vorsichtig lugte Mona zur Stalltür hinaus. Der blaue Golf ihrer Mutter Isabel Lenfer parkte unter dem Carport neben dem Wohnhaus. Erschrocken zuckte Mona zurück. Hoffentlich hatte ihr Vater ihr noch nichts erzählt, bestimmt würde sie sich nicht genauso aufregen über ihr Erlebnis im Wald wie ihr Vater, der, nachdem er seine Sorgen verdrängt hatte und sie wieder bei vollem, tadellosen Bewusstsein gewesen war, ebenfalls seinem Ärger über ihren Unfall Luft gelassen hatte. Und Isabel war in solchen Fällen noch etwas vorwurfsvoller als Bernd. Das sollte schon einmal etwas heißen! Hastig machte Mona sich daran, Tessi, ein kleines 24


Scheckenpony, zu putzen. Wie erwartet steckte Isabel gleich als erstes den Kopf in den Stall. Ohne sich lange umzusehen blickte sie Mona direkt an und sagte in einem Ton, der mächtig Ärger voraussehen ließ: „Wenn du fertig bist, komm bitte ins Haus.“ Mona nickte langsam, dann verschwand Isabel wieder hinter der Tür und ihr Körper entspannte sich wieder. Wie viel ihr Vater ihr wohl erzählt hatte? Isabels Miene war wie versteinert und uner­ gründlich. Mona war sich nicht sicher, ob sie sauer war oder besorgt und schon gar nicht konnte sie sagen, was jetzt kommen würde. Sie setzte sich unsicher an den Tisch. Ben lugte im­ mer wieder über sein Brot hinweg auf Mona, in gespannter Erwartung, was jetzt kommen wür­ de. Schadenfroh ist er ja gar nicht, dachte Mona bitter. Bernd schien sehr beschäftigt zu sein mit einer Scheibe Wurst. Was hatte er bloß erzählt? Und was war denn nur so schlimm daran, dass sie gegen diesen Baum gefahren war? „Mona, wenn das so noch einmal vorkommt, lasse ich dich nicht mehr mit Kati und Lisa mit­ fahren“, durchbrach Isabel schließlich die Stille. „Ich kann dir keinen allzu großen Vorwurf machen, du bist sicher nicht absichtlich gegen den Baum gefahren, doch möchte ich nie wie­ 25


der mitbekommen, dass du allein bei Gewitter bist! Es ist verdammt gefährlich hier in der Umgebung und das weißt du auch!“ Isabels versteinertes Gesicht hatte nun einen Ausdruck unsicherer Wut angenommen. Mona hatte das Gefühl, dass ihre Mutter ihr viel mehr vorwerfen hatte wollen, doch es aus irgendei­ nem Grund doch nicht tat. Es schien Mona, als würde sie mit sich selbst um ihre eigenen Worte ringen, als würde sie darum kämpfen, es doch zu sagen. Doch sie tat es nicht. Es trat erneut eine unangenehme Stille ein, dann murmelte Mona mit bemüht schuldbewusster Stimme: „Es tut mir Leid. Wir… Das war wirklich nur ein Unfall gewesen und… Ach, egal, wir blei­ ben ab jetzt immer nur noch zusammen, egal, was ist, versprochen!“ Sie lächelte ihrer Mut­ ter etwas schräg und unsicher zu. Die nickte wortlos und wieder mit diesem unergründli­ chen Gesichtsausdruck. „Was man aber auch wirklich noch sagen muss“, meinte Bernd mit übertrieben gutgelaunter Stimme, „das Gewit­ ter war wirklich merkwürdig. In den Nachrich­ ten ham sie´s auch gebracht, war so, naja… Ich glaube, man könnte es abrupt nennen, ist ge­ kommen und gegangen ohne eine Richtung, aus der es hergezogen und wieder weg ist. Die 26


versuchen jetzt mit den paar Aufnahmen, die diese Wetterstationen ja immer machen, rauszukriegen, was da wirklich passiert ist. Soll ziemlich unheimlich sein, niemand glaubt, dass das wirklich sein kann und will auch niemand glauben, dass es nicht sein kann. Und dann der Wind...“ Er machte eine Pause und schüttelte achselzuckend den Kopf. „Der hat sich auch ganz komisch benommen. Die Geräte haben alle verrückt gespielt!“ Er lachte auf und Mona war sich sicher, dass es ein schadenfrohes Lachen war. Ben blickte seinen Vater interessiert an. „Was hat der denn gemacht? Der Wind, mei­ ne ich“, fragte er und seine Augen wurden merkwürdig groß, während er seinen Vater an­ starrte. Bernd lachte noch einmal. „Das fragt sich die ganze Welt auch schon. Manche mei­ nen, dass er zwischenzeitlich von allen Seiten gekommen sei, doch Wind kann nicht von überall kommen, also glaubt niemand daran. Spezialisten haben überhaupt keine Ideen und wenn man mich fragen würde, dann würde ich sagen, dass die Geräte alle kaputt waren!“ Ben starrte seinen Vater mit noch größeren Augen an als zuvor. Doch Mona blickte stumm auf ih­ ren Teller und war sich sicher, dass sie nieman­ 27


dem je davon erzählen würde, was tatsächlich geschehen war. Der Mond schien hell durch das gekippte Dachfenster in Monas Zimmer. Die Sterne fun­ kelten hell, der Mond, dessen Gesicht zwar ab­ nehmend, aber immer noch annähernd rund war, schien in einer dämmrigen Fröhlichkeit auf die Erde herab. Eigentlich müsste Mona schon längst eingeschlafen sein, doch der ver­ gangene Tag hielt sie wach. War es richtig ge­ wesen, ihrer Mutter nichts von dem merkwür­ digen Licht und den Bildern zu erzählen? Konnte das, was sie gesehen hatte, nicht tat­ sächlich schlicht weg einfach nur Einbildung gewesen sein? Doch fiel ihr auf, dass sie diesen Gedanken vermutlich nur in Erwägung zog, weil sie nicht an das Gesehene glauben WOLL­ TE. Sie war wie diese Wissenschaftler. Es war ja auch so unwahrscheinlich, es klang ein wenig wie in den Gruselgeschichten, die ihr bei dem Unwetter solche Angst eingejagt hatten. Von draußen hörte sie das leise Schnauben der Pfer­ de und das Rascheln der Birken neben den Scheunen im Wind. Es war ein Sommerabend wie jeder andere hier in Falkenhagen. Für einen kurzen Moment betrachtete sie das rot blinken­ 28


de Licht eines Flugzeugs, das sich geräuschlos über den Himmel zog, doch dann wurden auch ihr die Augen schwer. Die Erschöpfung vom heutigen Tag ergriff sie und kaum dass sie sich ins Bett gelegt hatte, war sie eingeschlafen. Es war ein schwarzes Pferd, dessen Stimme durch die Dunkelheit hallte: „Du kommst damit nicht durch! Das kannst du nicht durchsetzen! Das Land wird sich dir widersetzen, es fürchtet dich und du wirst für deine dunklen Machenschaften bezah­ len! Nino, Meister Nino!“ Ein grausames Lachen ertönte, kalt und gackernd, dann sprach eine andere Stimme, die von allen Seiten gleichzeitig zu kom­ men schien und ebenso kalt, gackernd und gemein klang wie das Lachen: „Du wirst deine Worte noch bitter bezahlen! Deine Tage sind gezählt.“ Nach die­ sen Worten begann die Stimme in einer schaurigen Melodie zu summen, erst leise, dann lauter und im­ mer lauter, bis es schließlich mit einigen unver­ ständlichen Worten verstummte. „Meister Nino!“, war das letzte, was noch zu hören war, dann ver­ klang auch diese hilflose, traurige Stimme. Mona schrak auf. Die Sonne schickte ihre ersten, rötlichen Strahlen in ihr Zimmer und ließ es in einem dunklen Rot erstrahlen. Mona schloss wieder die Augen. Was war das für ein furchtbarer Albtraum gewesen? In Gedanken 29


durchlief sie noch einmal den gesamten Traum. Die Stimme des Pferdes und auch das Lachen kamen ihr bekannt vor. Aber warum? Während sie überlegte, hörte sie nebenan ein lautes Rumpeln. Erschrocken fuhr sie hoch. Ihr Herz begann wie wild zu pochen, doch schon im nächsten Moment knarzte das Bett ihrer Eltern und sie hörte die schlurfenden Schritte ihres Vaters. Erleichtert lehnte sie sich wieder zurück. Ben musste wieder einmal aus seinem Bett gefallen sein! Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen und auch der Rest ihres Körpers entspannte sich wieder. Sie hatte die Stimmen bei ihrem Fahrradunfall bereits schon einmal gehört und das erklärte auch ihren Traum. Wieder beruhigt von ihren eigenen Erklärungen richtete sie sich auf und zog sich um. Wenn Ben jetzt wach war, konnten sie auch gleich noch die Pferde vor der Schule füttern! Hastig schlüpfte sie in Jeans und T-Shirt, griff nach ihrer Schultasche und flitzte aus dem Zimmer. Im Vorbeilaufen warf sie einen kurzen Blick in Bens Zimmer. Ben saß auf dem Boden, jammernd und gerade dabei, sich eine Jeans anzuziehen. Bernd saß daneben. Mona grinste, stürmte die schmale Wendeltreppe hinunter in den Flur und warf ihre Tasche in den Weg. 30


Dann rannte sie hinaus auf den Hof, in die noch kühle Morgenluft. Alexa, Ronja und Butterfly grasten nach wie vor auf der Wiese neben dem Stall. Als die Haustür ins Schloss fiel, begannen einige Pferde zu wiehern. Mona ging zügig auf das alte Stallgebäude zu und begrüßte jedes Pferd nacheinander. Dabei warf sie jedem der Tiere ein Brot in die Futterkrippe. Sie war gerade dabei, Rubin Heu zu geben, als auch Ben in den Stall gestürmt kam. „Wollte dir nur mal helfen“, murmelte er noch etwas verschlafen. „Guten Morgen“, sagte Mona und nickte zu den großen, runden Strohballen, die am Ende des Stalles an die Stallwand gelehnt standen. „Streust du ein?“ Ben sah auf, als hätte er sie nicht verstanden, doch dann nickte er langsam. Dann trottete er hinüber und begann das Stroh in die Box von Tessi zu schütteln. Etwa zehn Minuten später saßen die Geschwister mit Bernd zusammen in der Küche und frühstück­ ten. Isabel blieb wie üblich noch im Bett. „Hab´ keinen Hunger mehr“, grummelte Ben schein­ bar noch müder als im Stall. „Du bist der schlimmste Morgenmuffel den ich kenne“, empörte sich Mona grinsend. „Aber du kennst doch auch nur mich!“ 31


„Das reicht mir auch. Schlimmer geht´s auch sowieso nicht mehr. Aber Ferien gibt´s übermorgen, also brauchst du nur noch zweimal morgenmuffelig zu sein.“ „Leider erst übermorgen“, murmelte Ben und stand auf. „Ich geh ins Bad.“ Die Sonne brannte unerbittlich auf den Len­ ferhof, kein Lüftchen, kein Hauch von Wind war zu spüren. Mit Mühe schleppte Mona sich die überhitzten Straßen entlang bis zum Hof und sehnte sich nach einem kühlen Bad im Mühlenteich oder einem entspannten Ritt durch den Wald, doch als sie den Hof erreichte, ließ ein großer, weiß-gelber Pferdetransporter alle Erschöpfung verschwinden. Interessiert nä­ herte sie sich dem unbekannten Transporter und vernahm auch keinen Augenblick später die erregte Stimme ihrer Mutter. „Nein! Auf keinen Fall! Selbst wenn wir noch Platz und Futter hätten, würde ich Ihnen wohl oder übel nicht zusagen können! Es tut mir Leid!“ „Sie können doch nicht wirklich die beiden ablehnen! Sie brauchen ein gutes Zuhause und wenn sie nicht hier bleiben können, wo sollen sie sonst bleiben? Ich MUSS sie hier lassen, ver­ stehen Sie doch!“ Mona lugte um den Hänger, 32


zuckte jedoch ein Stück davon weg, denn er war brütend heiß. Isabel stand mit ver­ schränkten Armen vor einem älteren Mann im Alter von etwa fünfzig Jahren. Er trug einen merkwürdigen, tiefschwarzen Umhang über eine weiße Bluse, die in eine beigefarbene Hose gesteckt war. Dazu trug er schwarze Stiefel. Die schwarzen Haare fielen ihm auf die Schultern und der Bart wirkte ziemlich streng. Etwas ver­ unsichert von dem altmodischen Aussehen des Fremden näherte sich Mona. Isabel wirbelte so­ fort erschrocken herum. „Mona!“, rief sie er­ leichtert beim Anblick ihrer Tochter aus. Was hatte sie denn sonst erwartet? , fragte sich Mona, unterließ es jedoch vor dem Fremden laut auszusprechen. „Hi! Was ist denn los? Bekommen wir neuen Zuwachs?“ Unsicher lächelnd blickte sie den Mann an und sah ihm in die dunklen, strengen Augen. Der Mann blickte in einem flehenden, doch entschlossenen Ausdruck zurück, seine Augen fest auf sie fixiert. Doch plötzlich, ohne einen weiteren Grund, verkrampfte sich sicht­ bar sein gesamter Körper, er verengte die Au­ gen zu schmalen Schlitzen, betrachtete Mona genau und senkte dann den Kopf, dabei schein­ bar erschrocken zurückweichend. Seine Brust 33


bewegte sich erregt auf und ab. Verwirrt betrachtete Mona ihn, doch Isabel schien nichts bemerkt zu haben. „Nein!“, sagte Isabel entschieden. Im selben Moment wieherte ein Pferd unruhig im Innern des Anhängers. Es klang fast, als würde das Pferd im Innern um die Unterkunft bitten, als würde es die Unterhaltung hier verstehen. „Wieso nicht?“, fragte Mona, obwohl sie den Grund bereits erraten hatte. Kein Platz, keine Zeit, das Übliche eben. Isabel ging nicht darauf ein. „Herr Politius, es tut mir leid, aber zurzeit passt es allgemein auch nicht sehr gut. Ich bin sicher, dass Sie noch eine andere Lösung fin­ den. Auf Wiedersehen!“ Damit begab sich Isa­ bel wieder ins Haus. Mona sah ihr kurz nach und eine merkwürdige Wut begann in ihr zu brodeln. Wie konnte sie nur? Diese Pferde hier brauchten Hilfe, warum sollten sie dem Mann die beiden nicht abnehmen? Musste denn im­ mer alles nach den vorgeschriebenen Regel ver­ laufen? Das Pferd im Hänger wieherte erneut, diesmal jedoch wesentlich energischer und lau­ ter. Dann schnaubte ein anderes Pferd schein­ bar beruhigend, doch irgendwie wollte Mona nicht glauben, dass dieses Schnauben 34


tatsächlich einem Pferd entstammte. Sie warf einen kurzen Blick auf den Mann, dessen Augenbrauen nervös zuckten und auch wenn Mona sich nicht sicher war, meinte sie ein wütendes Glitzern in den Augen zu sehen. Dann rannte sie ihrer Mutter hinterher. Sie KONNTE einfach nicht zulassen, dass diese beiden Pferde gar noch verhungerten, weil der Mann in seiner Not einfach keine Zeit hatte, wenn dieser dramatische Grund vielleicht auch etwas übertrieben war. Doch war es nicht schon Anlass genug, die Pferde aufzunehmen, weil man diesen Mann nicht einfach dastehen lassen konnte? Und dieses Pferd… Es erinnerte Mona unweigerlich an etwas und obwohl sie keine Ahnung hatte, woran, wollte sie nicht, dass dieses Pferd abgeschoben wurde. „Mama! Das kannst du nicht machen! Der Mann braucht uns! Und die Pferde auch. Jetzt hör doch bitte auf, so...“ Sie unterbrach sich schnell, denn sie spürte deutlich, wie die Wut über ihre Mutter außer Kontrolle geriet. „Bitte, Mama! Mach schnell, sonst fährt er doch weg!“, rief sie aufgebracht, während sie in die Küche gestürmt kam. Ihr Herz schlug aufgeregt gegen ihre Brust und sie zitterte vor Erregung. „Mona, aber wir haben erstens zurzeit 35


gerade einmal ausreichend Futter für die Pferde, die wir haben und zweitens keine Zeit. Du hast morgen noch Schule und dann brauche ich dich mal ein bisschen hier. Papa wird jetzt viel auf dem Feld sein, er muss das Wetter ausnutzen und ich werde ihm dabei helfen. Du wirst keine Zeit haben, jeden Tag fünf Pferde zu reiten, hörst du? Und pass lieber auf deine Zunge auf, ich habe durchaus bemerkt, was du gerade sagen wolltest! Und noch was: Da drinnen in dem Anhänger stand ein Friese und ein Esel!“ „Ein Esel?“, fragte Mona mit unterdrückter Wut und Neugier in der Stimme. „Ja, Herr Politius hatte einen Friesen und einen Esel im Hänger!“ „Mama, ich glaube dir nicht, dass das der Grund ist. Friesen sind groß, ja, und Esel hatten wir noch nie, ja, aber wäre das nicht auch eine gute Werbung, ich meine, wenn andere Besitzer mal kommen? Jetzt los, ich meine das ernst!“ „Wir haben aber keine Zeit, uns mit einem solchen Wildfang auseinanderzusetzen! Friesen sind eine Nummer zu viel für dich alleine, Mona! Hör auf jetzt!“ Doch Mona dachte nicht im Entferntesten ans Aufhören. „Mama, seit wann meinst du denn, dass irgendeine Art von 36


Pferden zu groß für mich ist? Wenn macht Papa sich doch immer Sorgen. Also...“ „Siehst du! Spätestens an ihm wird es schei­ tern!“ „Also wärst du wenigstens dafür?“ „Das habe ich nicht gesagt! Und Schluss jetzt! Ende! Wir nehmen keine fremden Pferde mir nichts dir nichts auf und basta! Ende der Diskussion!“ „Mama, bitte! Schnell, er...“ Mona brach ab. Enttäuscht musste sie einsehen, dass Isabel ihr bereits gar nicht mehr zuhörte. Sie war schon damit beschäftigt, Mona ihr Mittagessen aufzu­ wärmen. Draußen auf dem Hof sprang der Mo­ tor des fremden Autos an, brummte leise und verklang dann allmählich. Enttäuscht und mit einem merkwürdigen, schuldbewussten Gefühl im Bauch ließ Mona sich am Küchentisch nie­ der. Irgendetwas sagte ihr, dass sie hätte helfen müssen, dass sie mehr hätte tun müssen. In ih­ rem Magen breitete sich ein leeres Gefühl aus. Noch nie hatte sie so sehr gefühlt, wie es ist, verloren zu haben. Wieso war ihr dieses Pferd so wichtig gewesen? Gab es jetzt noch eine Möglichkeit, die beiden zurückzuholen? Isabel betrachtete Mona eine Weile, dann meinte sie tröstend: „Hey, vielleicht wird ja doch noch was 37


aus dem Mehrere-Pferde-am-Tag-reiten, hm? Ich meine, so doll muss man ja nun wirklich nicht auf unseren Hof aufpassen, stimmt´s?“ Mona sah auf und nickte stumm. Isabel lächelte schwach. Vielleicht war sie ja doch etwas zu hart gewesen. Vielleicht hätte sie die beiden Tiere doch aufnehmen können. Doch was brachte es, sich jetzt noch weiter Gedanken darüber zu machen? Gerade klingelte die Mikrowelle, als draußen aufgeregtes Wiehern und nervöses Hufgeklapper auf dem Hof zu hören war. Mona schreckte auf aus ihrer gedankenverlorenen, enttäuschten Trance. „Was zum Teufel...?“, begann Isabel verwirrt und lugte durch das Küchenfenster auf den Hof, erkannte jedoch nicht schnell genug den Hintergrund der Geräusche und stürmte aus der Küche. Mona folgte ihr mit dunklen Vorahnungen. Hatte Herr Politius die Pferde zurückgebracht? Oder waren Butterfly, Ronja und Alexa von ihrer Koppel ausgebrochen? Tatsächlich war ein Pferd von irgendwo ausgebrochen, welches es war und woher, konnte Mona nicht sagen. Ein schwarzer Friese raste in panischem Galopp über den Hof, die Augen weit vor Angst geöffnet, den Kopf erhoben und den Hals in seiner Panik nach 38


oben gestreckt. Lautes Poltern und Scheppern drangen aus dem Stall, die Pferde wieherten aufgeregt und nervös von den unbekannten Geräuschen auf dem Hof. Butterfly, Ronja und Alexa liefen erregt den Zaun auf und ab, Mona warf einen unruhigen Blick zur Seite und musste entsetzt feststellen, dass die drei Pferde kurz davor waren, durch den Zaun zu gehen. Die extreme Geräuschkulisse stachelte den schwarzen Hengst noch mehr an und er stoppte immer wieder abrupt vor einer Wand oder einem Balken, da er sie in seiner Angst und Panik nicht gesehen hatte. Isabel starrte fassungslos auf das fremde Pferd und auch Mona fühlte sich mit der Situation überfordert. Was nun? Hilflos blickte sie Isabel an, die auf einmal leise vor sich hin zu murmeln begann. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe sie mit fester Stimme sagte: „Mona, du läufst jetzt vorsichtig zum Stall, machst die Tür zu und dann das Feldtor!“ Sie selbst flitzte hinüber zum Straßentor und schloss es geschickt. Mona sah ihrer Mutter mit klopfendem Herzen zu. Sie wagte es nicht, den Hof zu überqueren, denn auch wenn ein Pferd für gewöhnlich keine Menschen überrannte, würde sie einen Friesen, also ein riesiges, kräftig gebautes, schwarzes 39


Pferd, in panischer Hast sicher nicht stoppen oder gar für ihn ein Hindernis darstellen. Doch als Isabel das Tor geschlossen hatte, nickte sie Mona auffordernd zu. Die Dreizehnjährige starrte auf die schweren Hufe, die auf das Pflaster donnerten, immer und immer wieder schallte das erregte Wiehern des Pferdes über den Hof. Schnell arbeitete sie sich zunächst durch den Garten, der zwischen Wohnhaus und Scheune angelegt war, dann am Rand der Scheune links entlang zum Tor, immer darauf bedacht, dem Pferd nicht zu nahe zu kommen. Mit solchen Pferden konnte ihre Mutter besser umgehen und sie war eigentlich sowieso eher der Reiter, der an ruhigen Pferden arbeitete und sie weiter ausbildete, doch von derartigen Wildfängen hielt sie sich in der Regel fern. Es dauerte lange, bis sie die Scheune über die Hälfte hinter sich hatte. Immer wieder setzte das Tier zu ruckartigen Sprüngen und Wendungen an und drängte Mona wieder zurück. Konnte dies Thornado sein, das Pferd, für das sie sich eben noch eingesetzt hatte? Hatte ihre Mutter deshalb nicht nachgegeben, weil sie gewusst hatte, was die Familie zu erwarten hatte? Gerade preschte der Friese an ihr im vollen Galopp vorbei, seine Flanken 40


waren nass geschwitzt und hoben und senkten sich heftig. Seine Hufe prallten laut donnernd vom Boden ab. Erschrocken wich Mona zurück in die Scheune und rannte dann endlich auf das offene Tor zu, dass eine Abkürzung zum Feld vom Hof abtrennte. Wieso war Thornado denn nicht schon längst hier lang davongerannt?, fragt sie sich nun. Er hätte so viel Zeit gehabt! Hastig verschloss sie es und lief nun auf das Stalltor zu, schnappte sich vom innen angebrachten Haken ein Halfter und einen Strick und wandte sich wieder um. Doch mit rasendem Herzen stellte sie nun fest, dass der Friese soeben eine erneute Wendung hingelegt hatte und nun auf das Stalltor und somit auch auf sie zu rannte. Hilfesuchend warf sie einen Blick zu ihrer Mutter, doch sie stand nicht mehr dort, wo Mona sie zuletzt gesehen hatte. In ihr krampfte sich alles zusammen, ihr Kopf wurde von einem unbekannten Gefühl gefesselt und sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Panisch und wie gelähmt starrte sie auf den auf sie zu galoppierenden Hengst und fragte sich dabei insgeheim immer wieder, wieso sie plötzlich solche Angst vor diesem Pferd hatte. Was war los mit ihr, dass ihr ein Pferd Furcht einjagte? Reflexartig schmiss sie 41


die Arme in die Höhe. „Ho, ho! Ruhig, Großer, ganz ruhig. Ho, Thornado!“, rief sie mit zitternder Stimme, glaubte kaum, dass ihre Worte irgendetwas nützen würden. Doch dann, tatsächlich schien der Friese auf ihr Kommando zu hören. Er rammte unmittelbar vor ihr sein gesamtes Gewicht in den Boden, und schleuderte dann aber seine schweren, großen Hufe in die Luft. Erschrocken sog Mona die Luft ein und warf die Arme schützend über ihren Kopf. Ein Steiger! Dieser Herr Politius hatte einen Steiger auf ihren Hof losgelassen und sie, Mona, sie selbst hatte sich für dieses Pferd eingesetzt! Mona stützte sich gegen die Wand, die Arme schützend über dem Kopf. Verzweifelt versuchte sie den Gedanken, dass dies lediglich ein Pferd war und sie keine Angst haben durfte, in sich hinein zu pressen, versuchte, die Angst vor etwas, dem sie ihr ganzes Leben bisher gewidmet hatte, zu verdrängen und glaubte auch bereits etwas von ihrem alten Mut zurückgewonnen zu haben. Als sie den Blick hob und sah, wie die Huf den Boden kaum berührt hatten und dennoch schon wieder in die Lüfte stiegen, richtete sie sich mutig wieder auf. Monas Herz pochte so heftig gegen ihre 42


Brust, sodass es schon wehtat. „Ho!“, rief sie im Kampf gegen das Zittern in ihrer Stimme. „Ruhig, ganz ruhig, Thornado, ist gut, ruhig!“ Immer wieder wiederholte sie nun diese Worte, ihre Gedanken rasten und ihr blieb stets nur die eine Frage hängen: Warum hielt dieses Pferd ausgerechnet vor ihr? Hätte es nicht einfach vorbei rennen können? Allmählich schien der Friese an Kraft zu verlieren. Nachdem er noch zweimal empor gestiegen war, tänzelte er nun ein paar Schritte vor und wieder zurück und blieb dann mit pumpendem Atem und schweißnassen Hals und Flanken vor Mona stehen, den Hals immer noch angespannt gewölbt und auch der Rest seines Körpers wirkte nicht entspannt. Einige endlos scheinende Sekunden lang blickten seine ungewöhnlich und für ein so dunkles Pferd seltene, hellblaue Augen in die ihren. Dann zuckte er urplötzlich zurück und sein Verhalten erinnerte Mona unweigerlich an das von Herr Politius, doch schien dieses Pferd, soweit Pferde dies konnten, sie nun interessiert anzusehen. Dann entspannte es sich ruckartig, sein Hals hing schlaff herab und seine Beine begannen zu zittern. Er ging einige holprige Schritte auf sie zu und stupste sie an, ein 43


eindeutiges Zeichen dafür, dass er sie respektierte und auch eine gewisse Zuneigung für sie empfand. Dennoch hielt Mona etwas davon ab, ihn aufzuhalftern. Sie betrachtete ihn eine Weile, wie er nun so erschöpft und verletzlich dastand, wie geschlagen in seinem eigenen Kampf. Doch sah er nicht gedemütigt aus, viel mehr wie bedingungslos ergeben. Und dann überkam sie ein überwältigendes Gefühl, dass sie nicht ganz zuordnen konnte. Es war ihr vollkommen fremd, als sie den Hengst nun ansah, meinte sie ihn plötzlich wiederzuerkennen, es schien, als hätte er soeben einen Mantel abgelegt, der ihn zuvor verdeckt hatte. Doch woher sollte sie einen Friesen kennen, bei dem sie sowohl seine wilde, als auch seine ruhige Seite kannte? Unsicher halfterte sie ihn auf. „Komm“, sagte sie tonlos, immer noch unter Schock stehend. Doch flammte auch unweigerlich Erleichterung auf. Vielleicht war er wild, vielleicht war sein Charakter der eines eigenwilligen Pferdes, doch er schien sich anpassen zu können, schien die Regel zwischen Mensch und Pferd verstanden zu haben. Und wieder überkam sie das eindeutige Gefühl, helfen zu müssen, doch wie sollte man einem solchen Pferd nicht helfen können? Wie sollte 44


man dieses Pferd nicht mögen können? Und nun, da er schon einmal hier war, konnte Isabel schlecht nein sagen. Mona öffnete die Stalltür, die Angst und jegliche Aufregung verflogen allmählich. Ohne zu zögern folgte das Pferd ihr, brav und freundlich. Vielleicht, überlegte Mona, war er nur so wild gewesen, weil er Angst vor dem Unbekannten hier auf diesem Hof gehabt hatte. „Mona! Was um alles in der Welt machst du da?“, tönte da die Stimme ihrer Mutter über den Hof. „Äh, ich-“ Doch weiter kam Mona gar nicht. „Bring diesen Wildfang sofort hier runter! Oh, wenn ich diesen Herrn Politius erwische, wenn ich den kriege!“, rief Isabel wütend, wäh­ rend sie mit heftigen Bewegungen einen klei­ nen, grauen, schon etwas in die Jahre gekom­ men Esel am Tor festband. „Die beiden warten hier bis dieser vollkommen Verrückte sie wie­ der abgeholt hat! Er kann doch nicht einfach seine Tiere auf unseren Hof loslassen! Stell dir doch einmal vor, was dieses Monster von Pferd mit dir hätte machen können! Mein Gott, und dann dieser Esel! Ganz ehrlich, ich hätte NIE er­ wartet, dass es noch heute solche Menschen gibt!“ Wutentbrannt lief sie zurück zum Haus und verschwand. Mona starrte ihr nach und 45


verstand allmählich, was ihre Mutter vorhatte. „Nein!“, flüsterte sie erschrocken und rannte hinterher. Thornado ließ sie mitten auf dem Hof stehen, machte sich keine weiteren Gedanken über das, was er anstellen könnte. Eben noch blühten die gelben Chrysanthemen am Garten­ rand fröhlich und leuchtend, doch plötzlich wirkten sie eher traurig, ja, es schien, als wür­ den sie die rotierenden Stimmungsschwankun­ gen auf diesem Hof spüren. Monas Hände zit­ terten und waren eiskalt, und das, obwohl draußen die Sonne den Hof auf dreiunddreißig Grad aufheizte. Isabel war bereits dabei, eifrig im Telefonbuch nach der nächsten Polizeistati­ on zu blättern. „Nein Mama!“, rief Mona mit nach Luft ringendem Atem. „Warte bitte! Du kannst die beiden nicht schon wieder abschieben! Ich meine, Thornado sieht wirklich nur so ungestüm aus, ganz ehrlich, bitte Mama! Er ist lieb, hast du nicht gesehen, wie er eben neben mir hergelaufen ist? Warte doch erst mal. Vielleicht kommt dieser Mann ja nachher wie­ der und entschuldigt sich und nimmt Thornado und Nino mit, oder er kommt in einem Monat wieder und bezahlt dann auch noch gut oder...“ Die Worte sprudelten einfach aus ihr heraus, 46


einfach nur in der panischen Hoffnung, dass richtige Argument zu finden, um ihre Mutter umzustimmen. „Mona, wir können keine Gratis-Pferde auf­ nehmen“, sagte Isabel nun in ruhigerem Ton. „Entweder die Besitzer erklären sich bereit, von vornherein zu zahlen, oder sie müssen sich et­ was anderes suchen.“ „Aber wir können mit den beiden doch ein­ mal eine Ausnahme machen! Ich meine, wenn es Herrn Politius wirklich so sehr am Herzen lag, die beiden hierher zu verfrachten, dann wird er doch zurückkommen um sie wieder ab­ zuholen und auch um zu bezahlen!“, rief Mona. Sie wusste nicht, was es war, dass ihr dieses Denken über den fremden Hengst verschaffte, doch Thornado würde sie garantiert nicht kampflos aufgeben. Da war etwas, etwas, dass sie verband, obwohl sie ihn noch gar nicht kannte. Oder doch? Isabel betrachtete ihre Tochter stirnrunzelnd. „Du scheinst ja ziemlich angetan zu sein von dem Pferd, das dich eben noch fast platt getrampelt hat“, meinte sie und Mona glaubte eine Art Zustimmung aus ihrer Stimme herausgehört zu haben. „Also ja?“, fragte sie begierig. „Das habe ich nicht gesagt. Ich meine, man 47


kann ja mal sehen, was sich aus der Situation ergibt!“

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Auszüge aus:

Marie Eichenberg

Thornado

Geheimnis der Stürme

Copyright: © 2014 by Marie Eichenberg 1. Auflage: Juni 2014 Verlag: Casimir-Verlag, Carsten Krause, 34388 Trendelburg Alle Rechte, auch die des auszugsweisen und fotomechanischen Nachdrucks, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsge­ staltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung: © Sarah M. Schemske Lektorat, Satz & Layout: Carsten Krause Printed in Germany 2014

ISBN 978-3-940877-27-7

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Casimir-Verlag

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