Die Königsprophezeiung

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Foto: Fotostudio Keppler/Kassel Karolin Kolbe, 1993 geboren, schreibt seit ihrer Grundschulzeit gerne Geschichten und Gedichte. Mit ihrer Fantasy-Geschichte „Die Zwillingsquelle“, die sie mit 14 Jahren zu schreiben begann, erfüllte sich 2010 ihr Traum von einer ersten Buchveröffentlichung. Mit der Neuerscheinung „Die Königsprophezeiung“ wird das spannende Abenteuer von Yamus und Finja fortgesetzt. Weitere Infos zur Autorin: www.karolin-kolbe.de 2


Karolin Kolbe Die Kรถnigsprophezeiung

LESEPROBE Casimir-Verlag 3


Mit Augen wie Holz kommt einst eine Maid, voll Macht und Wille und Geist. Sie kommt zur Quelle angereist, ist mehr als das, was ihr seid. Der Nachkomme einer ganzen Seel‘ kann einzig einen das Reich. Das Land, einst gebrochen, entzweit zugleich vereint unter ihrem Befehl. Und wenn das Land ist nicht mehr getrennt, das Dunkel kann glänzen im Weiß. Es gibt nicht mehr kalt, es gibt nicht mehr heiß, weil niemand den andren verkennt. Sie alle werden erkennen die Kraft, die Führung, das Kinde erlangt. Die Gleichheit wird siegen, das Böse bangt, die Würde der Kron‘ hat’s geschafft.

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Prolog Sie würde nicht wiederkehren. Nie mehr. Diese Gewissheit traf den König hart, zerriss sein In­ nerstes und hinterließ nichts als eine schmerzende Leere. Sie würde nicht mehr zurückkehren, obwohl er sie so sehr liebte. Eine Träne glänzte in seinem weißen Auge. Als er zwinkerte, lief sie an seiner Wange hinab und blieb in den Stoppeln seines roten Barts hängen. Er straffte die Schultern. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen! Blancira und Noirigäsua brauchten ihn, er war ihr König. Der weiße Pelz, den er um den Hals trug, war mit goldenen Fäden durchwirkt und so kostbar, dass er ihn nur zu den prunkvollsten Anlässen trug. Heute hätte solch ein Anlass sein sollen, heute war der Tag, an dem seine Geliebte hätte erscheinen sollen. Doch heute blieb ihr Be­ such aus. Er erhob sich von seinem Thron und winkte einem Die­ ner zu, der sogleich aufsprang, um seinem Herren entge­ genzulaufen. „Mein König“, flüsterte er und senkte das Haupt. Auch er war prächtig ausgestattet, mit einem weißen Anzug und Pantoffeln in derselben Farbe. Im gesamten Thronsaal spiegelte sich diese Farbe wider: in den feinen Ornamen­ ten des marmornen Bodens, den großzügigen Fensterrah­ men und den hohen Toren. Die Soldaten, die den Weg zum Thron säumten, trugen helle Rüstungen mit silbernen Helmen. Weiß war die Farbe Blanciras. „Sieh doch bitte noch einmal nach, ob mein Gast mitt­ lerweile angekommen ist“, raunte der junge König mit ge­ 5


senkter Stimme. Ihm war bewusst, dass jeder der Anwe­ senden, gleich ob Soldat, Diener oder Zofe, ihn beobachte­ te. Ein König, ihr König, der sich so demütigen ließ und nun schon zum dritten Mal nach der erwarteten Besuche­ rin fragte. Er war schwach, ihr Herrscher, war Wachs in den Hän­ den dieser Frau. Er wusste, dass sein Hofstaat das dachte, und er konnte es ihnen nicht verübeln. Aber wie sollten sie die tiefe Lie­ be, die in ihm wie heiße Lava brodelte, auch verstehen? Schließlich war sie eine Fremde hier. Auch für ihn? Nein. Er kannte Pauline, die junge Frau mit den dunklen Augen, die den Weg in die Welt der Ungeborenen gefunden hatte, seit einiger Zeit schon. Seit jeher hatte sie eine unglaubliche Faszination auf ihn ausgeübt, und er hatte den Blick nie von ihr wenden können. Sie war so schön. Der Diener verbeugte sich und ging davon, und seine Schritte hallten in dem weiten Raum wider. Hoffnungslos lehnte sich der König wieder in seinen Thron zurück und wartete mit angehaltenem Atem und pochendem Herzen, bis der Lakai zurückkam. „Es tut mir leid, Eure Majestät“, sagte der Diener sich tief verneigend, doch der König sah die Verachtung im Blick seines Untertans. „Gut“, murmelte er, bevor seine Stimme versagte. Seine Lippen begannen leicht zu zittern, und er verfluchte sich dafür. Er wusste selbst, dass sie nicht mehr kommen wür­ de, er kannte sie zu gut, als dass er daran Zweifel hatte. Sie erwartete ein Kind und meinte sicher zu spüren, 6


dass es eine Tochter werden würde. Der König wusste, dass es die seine war. Und genau das war auch der Grund, wieso Pauline nicht zurückkehren konnte. Sie hatte es ihm erklärt und war dann für immer gegangen. Mit dem unge­ borenen Kind, das sie unter ihrem Herzen trug. Voller Gram stützte der König seinen Kopf in die Hän­ de und schloss die weißen Augen. Er war sicher, dass sei­ ne Tochter, dieser Mischling einer ganzen und einer halb­ en Seele, nicht stark genug sein konnte, in Paulines Welt zu überleben. Er musste Vorkehrungen treffen, um sicherzugehen, dass Paulines Kind, sein Kind, einmal die Herrschaft über Blancira und Noirigäsua übernehmen würde. Er war si­ cher, dass seine Tochter eine gute Königin sein würde, bei der die Belange der weißen und der dunklen Seite glei­ chermaßen erhört wurden, genauso wie er es versuchte, seit er den Thron bestiegen hatte. „Holt mir etwas zu schreiben!“, verlangte er plötzlich mit fester Stimme, und nur wenige Sekunde später brach­ te eine Zofe auf einem filigranen Tablett ein weißes Perga­ ment und eine Schreibfeder. Der König fuhr sich durchs rote Haar. Er musste un­ missverständliche Worte finden, die trotzdem nieman­ dem, der nicht dafür bestimmt war, verrieten, was er mit­ zuteilen hatte. Kluge Worte, reine Worte. Denn wenn das Kind in der Welt der Ungeborenen an­ kam, wollte er schon nicht mehr hier sein. Es erschien ihm sinnlos, ein Leben ohne Pauline zu führen, seine geliebte Pauline. Noch heute würde er die Brücke nach Noirigäsua über­ queren und sich von der Felswand in die Fluten des brei­ 7


ten Flusses stürzen, der die zwei Hälften des Landes von­ einander trennte, um seinem Elend ein Ende zu setzen. Doch vorher musste er für die Zukunft seiner Tochter sor­ gen, die er nie zu Gesicht bekommen würde. Zitternd legte er das Pergament auf der breiten Lehne des Throns ab. Er setzte die Feder aufs Blatt und hinterließ einen dicken Tintenklecks, weil er zu hart aufgedrückt hatte. Er atmete einmal tief ein und zwang sich zur Kon­ zentration. „Bestimmt wird es braune Augen haben“, murmelte er in seinen Bart. „Wie seine Mutter.“ Dann flossen die Worte wie ein Tränenschwall aus der Feder heraus, unaufhaltsam und stark. Dies würde sein Erbe werden. Das Vermächtnis an sein ungeborenes Kind. Eine Königsprophezeiung.

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~1~ Es war Sommer. Hochsommer. Wann hatte Finja sich zuletzt ausgemalt, endlich die TShirts im Kleiderschrank nach vorne zu räumen, wie lange darauf gehofft, den Geruch von Sonnencreme in der Nase zu haben, wann zuletzt den sechzehnten Geburtstag her­ beigesehnt? Das war im Herbst gewesen. Seitdem hatte sie keinen Gedanken mehr an die Sonne verschwendet, an Sommer­ kleidung oder gar an den Geburtstag von ihr und ihrer Zwillingsschwester Nikola. Und jetzt war er da, urplötz­ lich und überraschend. Und irgendwie auch unwillkom­ men. Barfuß stand sie im Wohnzimmer vor dem kleinen Ge­ burtstagstischchen, den ihre Mutter Barbara so liebevoll geschmückt hatte. Stolz zündete diese die kleinen Kerzen des Marmorkuchens an, den sie, so wie Finja es liebte, seit sie ein kleines Mädchen war, mit weißen Zuckerperlen verziert hatte. Finja hatte sich früher immer vorgestellt, eine Prinzessin zu sein, deren Torte mit schillernden Per­ len dekoriert worden war. Doch dieses Jahr war alles an­ ders. Dieses Jahr konnten die kleinen Kugeln sie nur an das undurchdringliche Weiß zweier Augen erinnern, in einem Gesicht mit einem schelmischen Lachen. Ein Gesicht, das sie vermisste und nicht vergessen konnte, auch wenn sie durch die Tränenschleier nichts anderes mehr erkennen konnte. 9


Die stürmische Umarmung von Nikola riss sie aus ih­ ren Gedanken. „Alles Gute zum Sechzehnten“, jubelte ihre Schwester und hüpfte auf und ab. Ihre dunklen Locken tanzten dabei wild und ihre braunen Augen, die denen der Zwillings­ schwester beinahe zum Verwechseln ähnelten, schimmer­ ten. Finja gab sich einen Ruck, setzte ein falsches Lächeln auf und gratulierte Nikola ebenfalls. „Wahnsinn“, murmelte Nikola und deutete auf den Ge­ burtstagstisch. „Dieses Jahr sind unsere Kuchen aber ganz besonders schön geworden.“ Neben Finjas Marmorkuchen stand ein kleiner Gugel­ hupf für Nikola, geschmückt mit gelben Perlen. Auch wie jedes Jahr. „Findest du?“, fragte Barbara erfreut und gab Johannes einen Schubs, damit auch er seinen kleinen Schwestern gratulierte. Er schlurfte zu ihnen hinüber und murmelte einen Glückwunsch, dann drehte er sich wieder um und stellte sich zu seinem Vater, der gerade mit einem Messer in der Hand aus der kleinen Küche ins Wohnzimmer ge­ kommen war. „Ich finde“, sagte Martin lachend und schob sich die Brille, die etwas heruntergerutscht war, zurück auf die Nase, „ihr könntet jetzt eure Kerzen ausblasen!“ Gespannt sah er seine Töchter an. Finja strich sich eine widerspenstige Locke hinters Ohr. Sie wollte so gerne aus­ gelassen sein, sich so freuen wie ihre Schwester. Sie blickte in das erwartungsvolle Gesicht ihrer Mutter, die sich in der letzten Nacht in die Küche gestellt und jeder ihrer Töchter ihren Lieblingskuchen gebacken hatte, und beob­ achtete Johannes vorgegeben teilnahmslose Miene, die ihr verriet, dass ihn viel mehr interessierte, was die Schwes­ 10


tern in ihren bunten Paketen finden würden, als er offen­ sichtlich zugeben wollte. Und sie sah ihren Vater, der mit einem breiten Lächeln bereits das Messer zum Anschnei­ den des Kuchens erhoben hatte. Sie kam sich so einsam vor. Wie in einer anderen Welt. Ihrer eigenen Welt. Bei dem Gedanken umspielte ein kleines Lächeln ihren sonst so ernst zusammengekniffenen Mund und erhellte für einen kurzen Moment ihr Gesicht, wie die Sonne ein verwaistes Fleckchen Erde. Sie hatte diese Welt gehabt. Ihre Welt. Und sie hatte sie wieder verloren. „Auf drei?“, raunte Nikola ihr ins Ohr und Finja spürte die Begeisterung ihrer Schwester. Sie nickte. „Eins“, flüsterte Nikola. „Zwei.“ Sie warf ihrem Zwil­ ling einen verschwörerischen Blick zu: „Und drei.“ Finja pustete, und die Flammen, die auf den kleinen Kerzen getanzt hatten, stemmten sich noch einmal gegen den Luftzug, verloschen und hinterließen sechzehn verkohlte Dochte. Weißer Qualm stieg auf und erinnerte Finja an die trü­ be Nebelwand, die sie vor einem halben Jahr noch beinahe täglich durchschritten hatte. Wünsch dir was, dachte sie, während der Rauch lang­ sam zur Decke der Wohnung hochstieg und sich in wa­ bernden Nebelfäden auflöste, geräuschlos verflüchtigte, so wie sie es getan hatte. Sie war einfach gegangen, ohne zu ahnen, was sie damit verloren hatte. Fest presste sie die Augen zusammen und gönnte ihrem innigsten Wunsch den Moment, um sich in ihr auszubreiten, sie zu durchfluten und eine Welle des 11


Glücks ihren Körper durchströmen zu lassen, ehe sie sich entsann und das Gefühl wieder sicher in sich verschloss. „Wie jedes Jahr“, seufzte Nikola und schob sich die Sonnenbrille in die Haare. Gähnend legte sie ihr Buch ne­ ben der Gartenliege ins Gras und hielt ihr Gesicht in die pralle Sonne. Finja hatte sich eine Decke geholt und sie neben ihrer Schwester in dem kleinen Vorgarten ausgebreitet, die Ze­ hen in den feuchten Sand des Sandkastens gestreckt, in dem wohl vorher eines der Kinder mit Wasser gespielt hatte, die ebenfalls in dem großen weißen Haus wohnten. Erst im letzten Winter war ihre Familie hierher gezogen. Ihr Onkel Frederick hatte sich inzwischen in dem alten Fachwerkhaus, in dem sie früher gewohnt hatten, häuslich eingerichtet, und jedes Mal, wenn sie ihn besuchten, war Finja erstaunt, wie fremd ihr das Haus geworden war, in dem sie ihre gesamte Kindheit verbracht hatte. Damals, als sie hatten ausziehen müssen, hatte alles an­ gefangen. Damals, als die Eltern nicht mehr genug Geld für das große Haus gehabt hatten und Finja auf dem Dachboden auf das Geheimnis gestoßen war, das sie im­ mer noch jeden Tag beschäftigte, sie jede Stunde, jede Mi­ nute für sich einnahm und zu dem ernsten Mädchen hatte werden lassen, welches sie heute war. Sie seufzte und schob sich den großen Sonnenhut noch ein wenig tiefer ins Gesicht. Im Gegensatz zu Nikola war ihr eine zarte Sommerbräune vollkommen egal. Über­ haupt war ihr mittlerweile fast alles egal, sofern es nicht mit ihrem Geheimnis zu tun hatte. „Was ist wie jedes Jahr?“, fragte Finja eher aus Höflich­ keit denn aus Interesse nach. 12


„Na, alles“, gab Nikola zurück und rekelte sich auf ih­ rer Liege. „Wir haben Sommerferien und Geburtstag, alle sind im Urlaub, wir liegen in Hitze und langweilen uns, weil weder Sabrina, Wiebke noch Berit da sind, um mit uns zu feiern.“ Finja erwiderte nichts und lauschte stattdessen den Vö­ geln, die in den Ästen der großen Trauerweide neben dem Haus saßen und bereits seit dem frühen Morgen zwit­ scherten. Ein Auto rollte langsam die staubtrockene Straße des kleinen stinklangweiligen Dorfes entlang, und Finja fühlte den starken Drang augenblicklich aufzuspringen und durch das hellblaue Gartentor hinaus auf die Straße zu rennen, um dem Wagen nachzusehen. Wenn ich doch auch einfach weggehen könnte, dachte sie sich. Doch bevor sie laut aussprach, was ihr durch den Kopf geisterte, setzte sie sich schnell auf und entgegnete: „Ich finde es gar nicht so wie immer.“ Sie griff nach dem Apfelsaft, der warm und schal schmeckte, als sie einen Schluck davon trank. Angeekelt spuckte sie ins Gras. „Es ist ganz anders.“ Sie stellte das Glas wieder neben sich und zog schutzsuchend die Knie an den Körper. „Dieses Jahr sind wir in der neuen Wohnung. Und außerdem … letztes Jahr hatte ich noch nicht …“ Sie brach ab. Sie wollte nicht schon wieder darüber reden, denn sie wusste, wie anstrengend es für Nikola war. Finjas wusste, wie sehr es ihrer Zwillingsschwester zu schaffen machte, dass sie noch immer von den inzwischen weit zurücklie­ genden Ereignissen eingenommen war. Wie wenig sie zu­ rückgefunden hatte in ihre eigene Welt, ihre Familie, ihre Geschichte, die sich nicht mit der anderen verknüpfen ließ. 13


„Kannst du denn an nichts anderes mehr denken?“, fragte Nikola, und Finja war überrascht, wie sanft die Stimme ihrer Schwester klang. Schon oft hatte sie die auf sie niederprasselnden Vorwürfe ertragen müssen, generv­ te Erwiderungen und wütende Schreie. Als sie Nikola erzählt hatte, was sie in der Welt jenseits des Nebels erlebt hatte, war ihre Schwester ungläubig ge­ wesen, hatte sich die Ereignisse nicht vorstellen können und wieder und wieder nachgefragt, um alles genau zu verstehen. Und obwohl die Geschichte so unfassbar klang, dass selbst Finja manchmal an ihrer Wahrheit zweifelte, hatte Nikola ihr geglaubt. Warum hätte Finja auch so eine Geschichte erfinden sollen? Alles sprach dafür, dass sie die Wahrheit erzählte. Von dem Spiegel, den sie beim Umziehen auf dem Dachboden des alten Hauses gefunden und der ihr einen Durchgang zu einer zweiten Welt ermöglicht hatte, der Welt der Ungeborenen, in der die Menschen lebten, die nie die Möglichkeit bekommen hatten, in der realen Welt zu leben. Finja war damals so oft dorthin gereist, dass Nikola und die ganze Familie sich große Sorgen über ihren Ver­ bleib gemacht hatten. Doch ihren Eltern hatte Finja nie von den Ereignissen erzählen können, zu unglaublich war die tatsächliche Geschichte von ihrer Entführung durch Königin Melsane, der Finja vertraut hatte. Doch die eifer­ süchtige Herrscherin hatte die ganze Zeit nichts anderes gewollt, als ihr die heile, ganze Seele zu entreißen, um sich selbst vollständig zu fühlen. Im letzten Moment und nur mithilfe von Finjas Freunden in der Welt der Ungebore­ nen, hatte Finja fliehen können. Sie wusste nicht, wie es ih­ ren Rettern ergangen war, nachdem sie die Welt in dem durch sie aufgewühlten Zustand durch den Spiegel wie­ 14


der verlassen hatte. Verrat. Schuld. Das waren die Gefühle, die Finja seitdem plagten, das gesamte letzte halbe Jahr schon. Aber sie hatte keine Wahl gehabt – wäre sie geblieben, hätte Melsane Jagd auf sie ge­ macht. Finja hätte sich und viele andere in Gefahr bringen müssen. Und außerdem, war ihr Leben nicht hier? Bei ih­ rer Familie? Nein, es war richtig gewesen, dass sie Blanci­ ra, der einen Hälfte des Landes, in welchem Melsane re­ gierte, den Rücken gekehrt hatte. Und doch fühlte es sich wie die falscheste Entschei­ dung an, die sie je getroffen hatte. „Hey“, murmelte plötzlich Nikola ganz nah neben Fin­ jas Ohr, und sie bemerkte jetzt erst, dass ihre Schwester sich neben ihr niedergelassen hatte. Vorsichtig wischte Ni­ kola ihr mit dem Handrücken die Tränen von den Wan­ gen, die sich unbemerkt in ihren Augen gesammelt hatten und ihr nun ungebremst über das Gesicht liefen. Ein Schluchzen schüttelte Finjas Körper und trotz der Hitze des Sommers fühlte sie eine plötzliche Kälte in sich auf­ steigen, hart und klirrend, wie klare Eiskristalle an einem Wintermorgen. Nikola hielt die Schwester liebevoll in den Armen, wiegte sie, und streichelte ihr sanft über den Rücken. Finja klammerte sich an Nikolas Sommerkleid fest und konnte nicht aufhören zu weinen, so sehr sie es sich wünschte. Wieder einmal brach alles aus ihr heraus, alles, wofür sie sich verantwortlich fühlte. All das Leid, das sie verursacht hatte, erst in ihrer eigenen Welt, dann in der Welt der Un­ geborenen. Ohne es zu wollen, hatte sie viele Menschen, ganze und halbe Seelen, ins Unglück gestürzt. 15


„Es ist“, begann sie, doch ihre Stimme brach ab und sie musste erneut ansetzen, „es ist so schlimm für mich, weil ich so viel falsch gemacht habe“, murmelte sie und verbarg ihr Gesicht an Nikolas Schulter. Ein Motorroller fuhr auf der Straße vor dem Haus vor­ bei und der Fahrer glotzte die Schwestern ungeniert an, fuhr sogar ein wenig langsamer. Schamesröte überzog Fin­ jas Wangen und sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. All die Lügen. Ihren Eltern hatte sie erzählt, dass sie sich damals in einen Jungen verliebt und deshalb so viel Zeit außer Haus verbracht habe und nun, nachdem er in eine andere Stadt gezogen war, sehr traurig sei. „Ihr könnt doch telefonieren“, hatte Barbara trösten wollen, als Finja ihr diese Geschichte erzählt hatte, aber da war ihre Tochter nur wieder in Tränen ausgebrochen. Mit dem einzigem Menschen, der Finja in der Welt der Unge­ borenen wirklich etwas bedeutet hatte, würde sie nie tele­ fonieren können, nie sprechen oder ihn gar treffen. Nie wieder. „Es ist wegen Yamus, nicht wahr?“, fragte Nikola und fasste ihre Schwester mit beiden Händen fest an den Schultern. Finja hob den Kopf, in ihren Wimpern hingen Tränen wie winzige Perlen. Sie sah ihre Zwillingsschwester einen Moment lang an, dann senkte sie die Lider wieder und nickte langsam. „Ja“, flüsterte sie heiser. Nikola seufzte tief und strich Finja vorsichtig über die Arme. Finja wusste, wie sehr es ihre Schwester quälte, dass sie ihren Schmerz nicht lindern konnte. Sie hatte Ni­ kola erzählt, wie tief die Wunde war, die die Trennung von Yamus in ihr Herz gerissen hatte – unheilbar tief, wie 16


es schien. Als Finja gesehen hatte, wie sehr es Nikola zusetzte, ihr nicht helfen zu können, hatte sie jedes weitere Gespräch über den Jungen mit den weißen Augen vermieden. „Ich …“, wollte Finja sagen, zog dann aber geräusch­ voll die Nase hoch und schwieg. Sie begann, einzelne Grashalme aus dem Rasen zu reißen und warf sie nach­ denklich neben sich auf die Decke. „Ich habe ihm nicht geglaubt, als er mich vor Melsane gewarnt hat. Und dann hat die Königin ihn schwer ver­ letzt, und all das nur, weil ich zu blöd war, meinen wahren Freunden zu trauen!“ Überrascht sah Nikola ihrer Schwester ins Gesicht. „Melsane wollte ihn umbringen? Das hast du ja noch gar nicht erzählt!“ Langsam schüttelte Finja den Kopf. „Ich konnte nicht“, wisperte sie und ihr dichtes Haar hing wie ein Vorhang vor ihrem verweinten Gesicht. „Er war auch in der Höhle, in der Melsane erst die Dienerin Luzunia tötete, um mir dann die Seele zu entreißen. Yamus war dort, gefesselt und angekettet. Ich hätte mich nie auf diese Freundschaft einlassen dürfen! Melsane hat mich benutzt, sie wusste, wie sehr sie mich damit quälen konnte, Yamus in ihrer Ge­ walt zu haben. Ich hätte Schuld daran gehabt, wenn sie ihn nach dem Seelenaustausch gefangen in der Höhle zu­ rücklassen hätte, wo er nur noch auf den Tod warten konnte.“ Nikola ließ von Finja ab und setzte sich ein wenig ab­ seits von ihr im Schneidersitz auf die Decke. Irgendwo in einem der Nachbargärten hörte Finja spielende Kinder, ein Geräusch, das fröhlich, zu fröhlich in ihren Ohren klang. „Aber du hast dich nicht schuldig gemacht“, sagte Ni­ 17


kola mit fester Stimme. „Yamus konnte doch fliehen, oder? Du hast mir erzählt, ihr hättet euch verabschiedet.“ „Ja, das stimmt schon“, gab Finja zu. „Aber er ist ver­ letzt durch die Zwillingsquelle geschwommen, nur um Abschied von mir zu nehmen. Ich habe ihn nur kurz gese­ hen, bevor ich in den Durchgang getreten bin, den der Spiegel geöffnet hat. Ich habe ihn dort seinem Schicksal überlassen, am Ufer von Blancira. Ich habe ihn im Stich gelassen!“ „Nein …“, wollte Nikola einwenden, doch Finja schüt­ telte nur vorsichtig den Kopf. Sie wusste, dass Nikola kei­ ne passenden Worte finden würde, um ihr die Schuldge­ fühle zu nehmen. Mit einem hilflosen Ausdruck im Ge­ sicht sah Nikola ihre in sich zusammengesunkene Schwes­ ter an. „Yamus“, flüsterte Finja leise und riss ein einsames Gänseblümchen mit seiner zarten Wurzel aus dem Gras. Plötzlich vernahm sie Schritte hinter sich, vom weichen Gras abgefedert. Sie drehte den Kopf und sah ihre Mutter durch den Garten auf sie zukommen. Unter einem Arm klemmte eine Zeitschrift, in der Hand hielt sie einen Klappstuhl. Breit lächelnd schritt sie näher, das Haar unter einem großen Strohhut versteckt. „Ich setze mich mal ein bisschen zu euch“, rief sie gut gelaunt herüber und schwenkte eine Plastikdose, die sie in der freien Hand trug. „Und ich habe euch ein bisschen von euren Kuchen mitgebracht.“ Hastig wischte sich Finja über die geröteten Augen, aber sie wusste selbst, dass sie viel zu verweint aussah, als dass sie mit ihrer flüchtigen Handbewegung die Spuren ihrer Trauer hätte beseitigen können. Schnell wandte sie 18


ihren Blick in die entgegengesetzte Richtung und beugte sie tief über das aufgeschlagene Buch, das Nikola vorhin gelesen hatte. „Toll, Kuchen“, reagierte ihres Schwester geistesgegen­ wärtig und sprang ihrer Mutter überschwänglich entge­ gen, um ihr die Dose abzunehmen. Sie riss den Deckel ab und nahm sich ein großes Stück, bevor sie übertrieben und schwärmerisch die Augen verdrehte. „Himmlisch“, nuschelte sie mit vollem Mund. „Das ist wirklich der leckerste Kuchen der Welt!“ Barbara lächelte. „Finja, möchtest du auch etwas?“, fragte sie dann an den Rücken ihrer anderen Tochter ge­ wandt, doch die schüttelte den Kopf, ohne sich umzudre­ hen. „Ich gehe ein bisschen rein. Die Sonne ist doch ziemlich heiß“, presste Finja dann hervor und verließ fluchtartig den Garten. Eine letzte Träne rollte über ihre Wange und tropfte auf den Rasen, wo sie unbemerkt im Erdreich ver­ sickerte.

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~2~ Dieses Gesicht. Dieses unschuldige Kindergesicht, ein Säugling mit geschlossenen Augen. Vorsichtig strich Finja mit ihrem Daumen über das alte Foto. Die gezackten weißen Ränder verliehen dem Schwarz-Weiß-Bild ein altertümliches Aussehen. Darauf war eine kleine Familie abgebildet. Eine Mutter mit einem weiß gekleideten Baby, dahinter der stolze Vater. Das Foto hatte Finja damals neben anderen Habseligkeiten auf dem Dachboden gefunden, an dem Tag, als sie auch den Spiegel entdeckt hatte. Der Spiegel, der für sie der einzige Weg zu Melsane und Yamus gewesen war. Sie hatte ihn Nikola nach ihrer letzten Reise ausgehändigt, damit sie ihn zerstören, fortbringen oder vor Finja verstecken konnte. Mit ehrfurchtsvoller Miene hatte Nikola ihn damals entgegengenommen und die Zierde rund um den viereckigen Rahmen des Spiegelglases bewundert. Dann hatte sie ihn fortgebracht, irgendwohin, wo Finja sicher vor ihm war. Ihre Gedanken wanderten zurück zu der Fotografie, die sie noch immer in der Hand hielt. Die Frau darauf war ihre Urgroßmutter Pauline, das wusste sie. Doch was sie jetzt auch wusste, war, dass der Säugling in Paulines Arm kurz nach der Aufnahme gestorben war und es dabei geschafft hatte, sich in die Welt der Ungeborenen zu retten. Dieses Kind, diese Verwandte von ihr, war dort zu Königin Melsane geworden, der grausamen Herrscherin, welche die Brücke zerstören ließ, die das Land bis dahin geeint hatte. Seit Melsane an der Macht war, waren sich 20


Blancira und Noirigäsua feindlich gesinnt, denn die Königin hatte erreicht, dass die Bewohner der weißen Seite Blancira die Dunklen von Noirigäsua verachteten. Dieses kleine Baby hatte es geschafft, ein Land auseinanderzureißen. Fassungslos schüttelte Finja den Kopf. Noch immer konnte sie nicht glauben, über wie viel Macht Melsane verfügte. Finja streckte sich auf ihrem Bett aus und ließ das Bild neben sich liegen. Sonnenstrahlen fielen durch das staubige Fenster auf ihr Gesicht und sie kniff die Augen zusammen. Sie konnte diese Helligkeit, diese Fröhlichkeit um sich herum einfach nicht ertragen! Schnell stand sie auf und riss mit einer hastigen Bewegung die Vorhänge zu, sodass das Licht nur noch gedämpfte Schatten ins Zimmer werfen konnte. Schlaff fiel Finja zurück auf ihr Bett und griff nach ihrem Kissen. Sie knüllte es unter sich zusammen und bettete ihr Gesicht darauf. Leere und Einsamkeit umfingen sie wie einen willkommenen Gast. Ein Gefühl, das ihr nur allzu vertraut war. Es klopfte leise. Als Finja nichts erwiderte, öffnete sich die Tür vorsichtig einen Spalt breit, und Nikolas Lockenkopf erschien. Sie trat zaghaft ein. „Mama hat nichts gemerkt“, sagte sie und lief an ihrem eigenen Bett vorbei zu dem ihrer Schwester. „Dankeschön“, murmelte Finja und wandte sich ihr zu. Als Nikola ihrem Zwilling ins Gesicht sah, zuckte sie zusammen. Ich muss ein fürchterliches Bild abgeben, dachte Finja und schämte sich, Nikola so viel Kummer zu bereiten. Nicht nur, dass Nikola für sie mehrfach gelogen hatte und sie auch weiterhin vor den Fragen der Eltern 21


schützte, nein, Nikola half Finja sogar, in dem sie den Spiegel an einem geheimen Ort vor ihr verborgen hielt. Nicht zum ersten Mal schoss Finja der Gedanke durch den Kopf, ihre Schwester darum zu bitten, ihr das Versteck zu verraten. Sie wusste, dass er noch existierte, denn Nikola hatte erzählt, dass sie versucht habe, den Spiegel zu zerschlagen. Die Scheibe sei zersprungen, hatte Nikola geflucht, doch schon Minuten später sei nicht das geringste Anzeichen eines Schadens zu erkennen gewesen, und da war es Nikola am sinnvollsten erschienen, ein gutes Versteck zu suchen. Was würde passieren, wenn Nikola ihrer Schwester den Spiegel wieder aushändigte? Würde sie wieder in seinen Bann geraten und alles würde von vorne losgehen? Oder würde es Finjas Leid lindern, wenn sie eine einzige Reise antreten würde, nur um sich zu überzeugen, wie es Yamus und seinem Vater ging? Aber was würde passieren, wenn sie aufgriffen werden würde, in die Hände von Melsane fiel? Finja sah, dass Nikola sich die Stirn rieb. Ob ihre Schwester gerade über dasselbe nachdachte? Zwillinge waren einander so ähnlich … Finja blieb still und blickte ihrer Schwester ins Gesicht. Im dämmrigen Licht des Zimmers war es schattig und sie bemerkte die Ringe unter Nikolas Augen. Wie konnte sie auch nur in Betracht ziehen, ihre Schwester um den Spiegel zu bitten? Sie seufzte schuldbewusst. „Lass uns etwas Schönes machen“, sagte Finja da plötzlich und setzte sich auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und atmete tief durch. „Wir haben heute schließlich Geburtstag, oder?“ 22


Ohne eine Antwort abzuwarten stand sie auf und kam auf das Bett der Schwester zu. Sie griff nach Nikolas Hand und zog sie daran nach oben. „Ich will nicht, dass dir dein sechzehnter Geburtstag so traurig in Erinnerung bleibt.“ Nikola lächelte sanft. In manchen Momenten schimmerten Zügen der alten Finja durch den Panzer, den sie um sich herum aufgebaut hatte. „Ja“, sagte sie und drückte Finjas Hand.

~ Der Winter hatte seinen weißen Mantel wie eine schwere Decke über das gespaltene Land gelegt. Weiße Schneeflocken wirbelten umher, tanzten im Licht der strahlend hellen Sonne und glitzerten mit einer solchen Intensität, dass es fast in den Augen stach. Die sonst so fruchtbaren Wiesen Blanciras waren von einer dicken Schneeschicht bedeckt, und auch die kleinen Häuser und Gärten, die so sorgfältig gepflegt den Weg um das hohe weiße Schloss säumten, wirkten wie in Watte gepackt. Die Zinnen und Türme des Palastes, der so prunkvoll auf einem Hügel errichtet worden war, ragten kristallklar in den Himmel und waren so schön, dass die Bewohner der kleinen Stadt oftmals bewundernd aus ihren mit Eisblumen überzogenen Fenstern starrten, um den Anblick zu genießen. Ein Vogel kreischte laut auf und wurde vom Wind zur Seite gewirbelt, ehe er über die gefrorenen Äcker am Ufer der vereisten Zwillingsquelle flog. Weit breitete er seine Schwingen aus und tat das, was für die Menschen hier 23


ausgeschlossen war: Er überquerte den gefrorenen Fluss, als sei es das einfachste der Welt. Breit war er, dieser Strom, und selten waren die Winter so kalt, dass er tatsächlich vollständig zufror. Aus der Eisschicht, die an wärmeren Tagen immer wieder antaute, um über Nacht wieder vollständig zuzufrieren, strebten einige messerscharfe Eisspitzen empor, die jeden aufspießten, der vom Ufer Noirigäsuas vom hohen Felskliff hinunterfiel. Schon bei fließendem Wasser war es beinahe unmöglich, den Sprung vom felsigen Ufer zu überleben und den strudelnden Wassermassen zu entkommen, doch in einem so kalten Winter wie dieses Jahr, bedeutete jeder Versuch, auf das Eis zu springen, den sicheren Tod. Der Vogel glitt einen Moment in der Luft und setzte dann zur Landung an. Seine Fänge streiften die Felswand, und er landete auf dem Eis, unter dem die Steine und der Staub verschwanden, die Noirigäsua, die andere Hälfte des Landes, vollständig bedeckten. Noch einmal kreischte das Tier laut vernehmlich auf, dann begann es, mit seinem spitzen Schnabel das graue Gefieder zu putzen. Der Wind heulte auf und rüttelte an den kahlen Ästen der toten Bäume, die vereinzelt aus der ausgedörrten, vom Schnee bedeckten Erde ragten. Einige Häuser, schmutzig und elend, standen auf der flachen Ebene hinter dem Felsenriss. Der Winter machte das Leben für die Bewohner Noirigäsuas noch härter, als es ohnehin schon war. Die ärmlichen Hütten standen in deutlichem Kontrast zu den prachtvollen weißen Häusern und dem Schloss auf der anderen Seite des Ufers. Nichts ließ vermuten, dass beide Teile tatsächlich einmal zu einem Land gehört hatten. Der Unterschied war nicht immer so deutlich gewesen. In den alten Zeiten, als noch 24


eine Brücke die beiden Seiten miteinander verbunden hatte, hatten die Menschen in harmonischer Ausgeglichenheit leben können, denn Noirigäsua hatte von der Fruchtbarkeit Blanciras profitiert, während Blancira die Arbeitskraft des anderen Landes geschätzt hatte. Es war ein Geben und Nehmen gewesen. Doch seit diese Verbindung über den reißenden Strom zerstört worden war, lebten die Menschen der dunklen Seite Noirigäsuas isoliert und verarmt. Das Wenige, das der Boden ihnen zu geben vermochte, reichte kaum, um alle zu versorgen, und da der Fluss für die Dunklen durch die Lage Noirigäsuas auf der hohen Felsklippe unerreichbar war, konnten sie auch nicht vom Fischfang leben. Es war aussichtslos. Sie würden hier niemals ein sorgloses Leben führen können. Und es gab nur eine Person, die für diesen Umstand verantwortlich war. „Da ist er ja“, zischte plötzlich eine Stimme hinter einem verdorrten Busch. Der Vogel zuckte nervös mit dem Kopf, auch er hatte den Laut vernommen. Unruhig reckte er sich und breitete die Flügel abwehrend aus. „Hab ich dich“, rief jemand, und nur Sekunden später hatten sich starke Hände um den Körper des Tieres geschlungen, drückten die Schwingen an den schmalen Leib, sodass der Vogel sich nicht mehr rühren konnte. Ängstlich kämpfte er gegen den harten Griff, doch er konnte sich nicht befreien. Nun griff eine Hand nach seinem Fuß und zerrte an dem Bändchen, das an die dürren Krallen gebunden worden war. Der Brief, der daran befestigt war, wurde gelöst, und die Hände ließen 25


vom Vogel ab. Schnell hüpfte er einige Meter zur Seite und schüttelte empört das Gefieder. Der Junge, der eben noch den Vogel gepackt hatte, hielt triumphierend den weißen Zettel in die Höhe. Er hatte es geschafft, der Brief war sicher bei ihm angekommen! Seine weißen Augen blitzten freudig und ein Lächeln huschte für einen kurzen Moment über sein ausgezehrtes Gesicht. Braunes strähniges Haar fiel ihm in die Augen, und er strich es nach hinten. Dann sah er sich einmal nervös um, ehe er mit langen Schritten davoneilte. Niemand hatte ihn bemerkt, niemand, außer dem Vogel, der sich nun von der Klippe abstieß und zurück nach Blancira flog, zurück zu seinem Herren.

~ Der Tag war schön gewesen. Es fiel Finja nicht leicht, das zuzugeben, aber doch musste sie es sich eingestehen. Sie betrachtete die Geschenke, die sie heute Morgen noch beinahe desinteressiert aus dem bunten Papier gewickelt hatte. Zwei neue Bücher – das war gut, denn Bücher sprachen nicht und beanspruchten Zeit, in der sie nicht nachdenken konnte. Die CD war auch nicht schlecht, wenn sie die Musik auf volle Lautstärke drehte, vertrieb das alles aus ihrem Kopf, hinterließ nur noch dröhnenden Lärm, der so schmerzte, dass kein Platz mehr für ihre quälenden Gedanken war. Einen Bikini hatte sie auch bekommen, doch sie wusste, sie würde ihn dieses Jahr nicht oft tragen. Sie hatte keine Lust, Zeit im Schwimmbad 26


zu verbringen, zu banal schienen ihr die Gespräche, welche die Leute in ihrem Alter führten. Trotzdem hatte sie ihn heute Nachmittag eingeweiht. Finja hatte das Gefühl gehabt, Nikola etwas schuldig zu sein. Sie hatte ihr den Geburtstag nicht vollkommen vermiesen wollen. Zu zweit waren sie ins Freibad gefahren, und Finja war froh gewesen, niemanden zu treffen, den sie kannte. Sie hätte heute keine Lust gehabt, gezwungene Gespräche zu führen, auch als sie gesehen hatte, wie erwartungsvoll ihre Schwester den Blick über die überfüllte Liegewiese hatte streifen lassen, in der Hoffnung, auf ein bekanntes Gesicht zu stoßen. Es war schön gewesen, mit Nikola alleine, fand Finja. Sie blickte aus dem Fenster und sah die rot glühende Sonne, die langsam hinter dem Horizont verschwand. Eine Erinnerung stieg in ihr auf, blass und schemenhaft, und trotzdem so klar, als sei es gerade gestern gewesen. Ihre erste Reise in die Welt der Ungeborenen hatte mit genau solch einem Licht begonnen. Damals hatte sie den Spiegel auf dem Balkon, der zu ihrem Zimmer gehörte, und ihn dabei zufällig in den Brennpunkt einiger Sonnenstrahlen gehalten. Daraufhin hatten sich goldene Lichtfäden aus der milchigen Rückseite des Handspiegels geschlängelt und ihre Zimmerwand aufgelöst, sodass sie durch den weißen Nebel hatte treten können. Wie im Traum war das damals geschehen, und jetzt sah Finja die Bilder wieder vor sich. Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken, und schnell griff sie nach dem schnurlosen Gerät, das Nikola auf dem überfüllten Geburtstagstisch hatte liegen lassen. Sie nahm ab. 27


„Hallo Finja!“, jubelte eine Stimme laut aus dem Hörer. „Alles Gute zum sechszehnten Geburtstag!“ „Berit?“, fragte Finja verwirrt, denn die Verbindung war so schlecht, dass sie kaum etwas verstehen konnte. „Ja, ich bin es“, rief Berit am anderen Ende. „Tut mir leid, dass ich erst so spät anrufe, aber die Zeitverschiebung nach Amerika ist einfach enorm. Wie geht’s dir?“ „Danke, ganz gut“, sagte Finja. Wie heuchlerisch sie war! Die unpersönlichste Antwort, die man erwidern konnte, und sie gab sie ihrer besten Freundin. „Wie ist es in Amerika?“, fragte sie, um Interesse zu zeigen. „Es ist so unglaublich spannend hier. So toll und umwerfend schön. Die Landschaft, die Leute, das Wetter. Am liebsten möchte ich gar nicht mehr nach Hause zurück.“ Finjas Mundwinkel zuckten ein wenig. Trotz des Rauschens konnte sie die Euphorie und das Glück aus Berits Stimme heraushören. Neid stieg in ihr auf, Neid auf das Gefühl, das sie nie wieder gehabt hatte, seit sie Yamus zuletzt gesehen hatte. Das Gefühl völliger Selbstvergessenheit. Das Gefühl unbändiger Freude. „Schön zu hören“, erwiderte sie lahm und spielte mit einer Locke ihres Haars. „Ich muss leider wieder auflegen, die Handykosten sind so hoch“, schrie Berit gegen die rauschende Verbindung an. „Wir hören voneinander. Noch einen schönen Restgeburtstag!“ Ein Tuten in der Leitung ertönte. Berit hatte aufgelegt 28


und ließ ihre Freundin mit einem hoffnungsloser Einsamkeit zurück.

Gefühl

von

Schon wieder wurde Finja der Hals eng, sie spürte Tränen aufsteigen. Wie oft hatte sie in letzter Zeit geweint? Und wie wenig gelacht? So konnte es einfach nicht weitergehen! Irgendetwas musste sich ändern, denn Finja spürte, dass sie von Tag zu Tag schwächer wurde. Sie hatte das Gefühl, an ihrem eigenen Unglück zu ersticken, und zu allem Überfluss konnte sie niemandem die Schuld dafür in die Schuhe schieben. Sie legte den Hörer zurück auf den Tisch und verließ das Zimmer. Sie musste raus, einfach nur raus! Eilig riss sie die Tür zur Diele auf. Die Sonne schien noch immer hell und tauchte den Flur in goldenes Licht. Finja blinzelte dagegen an, öffnete die Wohnungstür und hastete das Treppenhaus hinunter, rannte durch den Garten und sprang mit einem Satz über das Gartentor. Tief sog sie die klare Sommerluft ein und ließ sich von ihr durchströmen. Sie begann zu laufen, ihre nackten Füße flogen über den heißen Teer, mit geschlossenen Augen rannte sie, ließ sich von ihnen führen. Sie spürte die Hitze an den Fußsohlen, roch den Sommer, die Sonnencreme auf ihrer Haut. Nach wenigen Minuten stand sie keuchend vor einer kleinen Abzweigung der Straße, einem unscheinbaren Kiesweg, der mit seinem grauen Geröll alt und schmutzig wirkte. Hier war sie also gelandet. Sie hatte nicht nachgedacht, war einfach nur gelaufen. Und jetzt war sie hier. Entschlossen nickte Finja und richtete ihren Blick auf den 29


heruntergekommenen Spielplatz, der sich am Ende des Weges befand. Ein Junge saß allein auf einer Schaukel und wurde vom leichten Sommerwind sacht hin und her geschubst. Finja lief den Kiesweg entlang, den Blick auf den Spielplatz gerichtet, den Zaun und den dahinter entlang fließenden Bach. Und auf das kleine Wäldchen auf der anderen Uferseite. Ihrem geheimen Platz.

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~3~ „Nikola?!“ Fassungslos riss Finja die Augen auf, als sie ihre Schwester auf dem Baumstumpf sitzend erblickte. Diese sah auf, doch sie wirkte weniger überrascht als Finja, sie hier anzutreffen. Ihr Gesichtsausdruck verriet beinahe Selbstverständlichkeit, als habe sie sie erwartet. Ärgerlich stapfte Finja auf sie zu. Das hier war ihr Ort. Zwischen den grün belaubten Bäumen und den kleinen Tannen, hier, auf dieser Lichtung, hatte Finja immer ihre Reisen angetreten. Über den Zaun des Spielplatzes hatte sie klettern, einen kleinen Satz über den Bach machen müssen und schon hatte sie sich zwischen den Bäumen wiedergefunden, die sie stets sicher in ihrer dichten, grünen Umarmung empfangen hatten. Ihre Kleidung hatte sie bei jedem Besuch hier zurücklassen müssen, denn jedes Mal, wenn sie das geöffnete Portal des Handspiegels benutzt hatte, war sie in einem reißenden Fluss wieder zu sich gekommen, dessen Wellen sie beim ersten Mal beinahe verschluckt hätten, wären nicht Yamus und sein Vater mit dem Fischerboot unterwegs gewesen und hätten sie gerettet. Später dann wartete immer ein Schiff von Melsanes Soldaten auf Finja, damit ihrem wertvollen Schützling bloß kein Unheil widerfuhr. Und jetzt hatte sich Nikola an diesem für Finja beinahe heiligen Ort breitgemacht und saß hier, als wüsste sie nicht, was alles geschehen war! Schließlich hatte sie die völlig entkräftete Finja den Bäumen nach ihrer letzten Reise zwischen den Bäumen aufgefunden. 31


„Was machst du hier?“, fragte Finja und richtete sich mit verschränkten Armen vor ihrer Schwester auf. Nikolas sitzende Position zwang sie, zu der wütenden Finja aufzublicken. Ihre Augen wirkten müde, und sie schien die offensichtliche Wut ihrer Schwester zu ignorieren. „Ich habe nachgedacht“, sagte sie dann in ruhigem Tonfall und erhob sich, um Finja direkt in die Augen sehen zu können. Kleine Schweißperlen hatten sich auf ihrer Oberlippe gesammelt und ihr Haar war noch verklebt vom Chlor des Schwimmbads. „Ach ja?“, gab Finja zurück, doch ihr Zorn war beim Klang der ernsten Stimme Nikolas sofort verpufft. Sie spürte, dass Nikola von ihren Überlegungen gequält wurde. „Ja, ich habe lange nachgedacht. Und ich habe gehofft, dass ich an diesem Ort vielleicht die Ruhe dazu finden kann.“ Sie wischte sich den feinen Schweiß vom Gesicht und atmete tief durch. „Und weißt du was?“, fuhr sie dann fort. „Wärest du nicht eben durch die Bäume gekommen, dann wäre meine Entscheidung bestimmt anders ausgefallen. Aber in dem Moment, wo du diese Lichtung betreten hast, erschien mir das, wie … wie …“, sie gestikulierte hilflos mit den Händen, doch Finja zog nur die Augenbrauen in die Höhe. „Na, wie ein Zeichen irgendwie! Ein Zeichen, dass ich mit meiner Entscheidung vielleicht doch unrecht hatte.“ „Aha“, murmelte Finja. Langsam wurde sie misstrauisch. Wovon sprach Nikola da? Von einer Entscheidung, die Finja betraf, soviel war sicher. Warum sonst hätte sie diesen Platz aufsuchen sollen? 32


Die Sonne senkte sich immer tiefer, das Orange des Lichts war jetzt so intensiv, dass es beinahe zu grell wirkte, um echt zu wirken. Das strahlende Rund der Scheibe bedeckte bereits die Baumwipfel, nicht lange, und der bläuliche Ton der Dämmerung würde das Gold überdecken, bis es sich am nächsten Morgen wieder auf den Himmel kämpfen würde. Auch Nikolas Haar leuchtete in diesem warmen Schimmer und Finja strich ihr liebevoll eine Strähne hinters Ohr. „Was ist los?“, fragte sie mit freundlicher Stimme. Finja hatte gemerkt, dass sie hier mit Wut, sei sie echt oder aufgesetzt, nicht weiterkommen würde. Nikola schluckte. „Ich habe“, sagte sie heiser, „ich habe gesehen, wie du dich quälst, habe ein halbes Jahr untätig dabei zugesehen.“ Jetzt stiegen ihr Tränen in die Augen und verliehen ihrem Gesicht einen verletzlichen Ausdruck. „Es ist hart, weißt du?“, sagte sie und ihre Stimme brach ab. „Die eigene Schwester, gefangen in sich selbst, in der Trauer. Ich kann das nicht mehr mit ansehen.“ Die erste Träne rollte ihre Wange hinab, und Finja wischte sie mit dem Daumen weg. „Ich weiß …“, murmelte sie. „Nein, weißt du nicht“, entgegnete Nikola heftig. „Heute hab ich gemerkt, dass du nie glücklich sein wirst, nie! Nicht mal an deinem eigenen Geburtstag, so sehr nimmt dich die ganze Sache mit der Welt der Ungeborenen noch mit.“ Unwirsch wischte sie zwei weitere Tränen fort, die sich aus ihren Augenwinkeln gestohlen hatten. „Das ist es ja nicht, also nicht wirklich“, erwiderte Finja 33


mit gesenktem Kopf. „Ich vermisse Yamus so sehr.“ Nikola nickte. „Ich weiß.“ „Nein, weißt du nicht“, wiederholte Finja kopfschüttelnd. Ihre Mundwinkel hoben sich dabei ein wenig und auch Nikola konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Stimmt“, erwiderte sie dann und die Zwillinge schwiegen einen Moment. „Also, wir haben Geburtstag und ich finde, für heute ist wirklich genug geweint worden“, sagte Nikola dann. „Ich habe beschlossen, dir den Spiegel noch ein einziges Mal auszuhändigen, damit du dich versichern kannst, dass es Yamus gut geht.“ Finja stand der Mund offen vor Erstaunen. Nikola ermahnte sie. „Aber nur ein einziges Mal!“

~ „Ein einziges Mal nur“, rief der Junge wütend. Seine Stimme hallte von den kalten Wänden der Steinhöhle wider. „Es war doch nur ein einziges Mal, dass ich rausgegangen bin. Weißt du, wie lange ich jetzt schon in diesem dunklen Loch stecke? Und wer weiß, wer Seraphins Brief abgefangen hätte, wenn ich nicht zum rechten Zeitpunkt da gewesen wäre, um ihn dem Vogel vom Fuß zu binden!“ Wut spiegelte sich in seinen weißen Augen, Wut und Unverständnis. So viele Wochen saß er bereits in dem feuchten Keller fest, in den harten Felsboden Noirigäsuas geschlagen. Wochen voller Einsamkeit und Langeweile. 34


Und voller Angst davor, doch noch entdeckt zu werden, dass einer der wenigen Vertrauten, die sie noch hatten, sie verraten würde. Angst – der ganze Keller roch danach. Brugo packte den Jungen an den schmalen Schultern. Mager fühlten sie sich in den kräftigen Fischerhänden an, und er wusste, dass seinem Sohn die Bewegung an der frischen Luft und bessere Mahlzeiten, als das karge Essen, was sie hier unten bekamen, fehlten. Rasch ließ er ihn wieder los. „Entschuldige“, sagte er dann und ließ den Kopf hängen. Sein zerzauster Bart, der früher so ordentlich gestutzt gewesen war, war schon einige Zentimeter lang, in das tiefe Braun hatten sich silberne Strähnen geschlichen. „Ich kann nur nicht verstehen, dass du dich solch einer Gefahr ausgesetzt hast. Du weißt doch ganz genau, dass Melsane überall, in Blancira und Noirigäsua, hohe Belohnungen ausgesetzt hat. Auf jeden Hinweis, den es über unseren Verbleib gibt. Und außerdem: Hast du nicht gehört, was Gregir uns vorhin erzählt hat? Er meint, Stimmen aus der Felswand gehört zu haben. Und ein Klopfen. Letzte Nacht, und auch die Nacht davor!“ Sein Sohn ließ den Kopf hängen und strich sich müde über die Stirn. Er musste sich dringend waschen, unter seinen Fingernägeln hatte sich Dreck gesammelt, und sein Haar war sandig vom Staub, der den Boden des Höhlenkellers bedeckte. „Ja“, murmelte er schuldbewusst. „Wir sind gesuchte Leute, dessen bin ich mir bewusst.“ Zufrieden nickte der Vater und rückte sich die Kapitänsmütze, die sonst sauber und weiß auf seinem 35


Haupt gesessen hatte, gerade. Sie war grau und schmutzig, doch sie wärmte seinen Kopf in dem kalten Gewölbe. „Wir können nie wissen, wer unsere Freunde und wer unsere Feinde sind. Uns ging es immer gut, du weißt nicht, wozu Hunger fähig macht! Die Menschen hier sind arm. Wir können niemandem vertrauen.“ Über ihnen klopfte jemand gegen die Holzluke. Sofort verstummten sie und sahen nach oben. Einen Moment blieb alles ruhig, dann hörten sie jemanden bei dem Versuch ächzen, die dicke Holzplatte hochzustemmen, die den Eingang zum Keller verdeckte. „Brugo?“ Es war eine weibliche Stimme, die Yamus und sein Vater kannten. Erleichtert atmete Brugo auf und holte die Holzleiter, die sie hinter ihrer notdürftigen Ruhestätte aus einigen Matten und Decken lagerten. Der alte Fischer stellte die Leiter an die geöffnete Luke, ein Gesicht erschien in dem hellen Eingang, umrahmt von langem blonden Haar. „Erin“, rief Yamus erfreut und winkte sie hastig zu sich herunter. Das Mädchen folgte seiner Geste und kletterte schnell wie ein Eichhörnchen die Sprossen herab, übersprang die letzten Holztritte und landete sicher auf den Füßen. Sie strich sich das helle Haar, welches ihr bei dem Sprung ins Gesicht geflogen war, hinter die Schultern. „Guten Tag allerseits“, rief sie fröhlich und umarmte die beiden überschwänglich. Sie merkte, wie froh sie waren, sie zu sehen, denn sie wusste selbst, wie langweilig die Tage hier unten waren und wie willkommen ihre Gesellschaft. „Ich habe euch euer Abendessen mitgebracht“, sagte 36


Erin und hielt ein kleines Stoffbündel hoch, das sie in der Hand trug. Sie legte es auf den ärmlichen Holztisch, den ihr Vater den beiden Versteckten gebracht hatte. Hungrig wie sie waren machten sie sich gierig über die harten Brotkanten und das verdorrte Gemüse her. Erin blieb lächelnd daneben stehen und sah ihnen dabei zu, die zarten Hände vor der grauen Schürze verschränkt. Trotz des kalten Winters zierten ihre Nase kleine Sommersprossen, die ihr einen so zerbrechlichen Ausdruck verliehen, dass man kaum glauben konnte, wie flink und schnell ihre Füße sie tragen konnten. Das goldene Haar verbarg sie niemals unter einem Tuch oder in einem Zopf, wie die meisten Frauen Noirigäsuas. Sie liebte es, wenn es ihr Gesicht umspielte, und es störte sie nicht, wenn sie arbeitete. Erin wartete geduldig ab, bis die beiden Männer die Mahlzeit beendet hatten. Dann trat Yamus auf sie zu und griff nach ihren Händen. „Danke“, flüsterte er und sah ihr tief in die von dunklen Wimpern umrahmten weißen Augen. „Danke für alles, was du und dein Vater für uns tun.“ Das Mädchen errötete und senkte den Blick. „Ach, das ist doch selbstverständlich“, sagte sie leise und sah schüchtern wieder zu ihm auf. „Wenn ich mir überlege, was du alles für dieses … dieses Mädchen getan hast. Was du für sie aufgegeben hast! Wenn sie wüsste, was sie angerichtet hat!“ Rasch ließ Yamus ihre Hände los und schüttelte den Kopf. Sein schulterlanges Haar hing strähnig herab. „Dieses Mädchen hat einen Namen. Sie heißt Finja. Und Finja hatte keine Wahl.“ „Natürlich“, gab Erin leise zurück, doch Yamus merkte, 37


dass sie es nicht ernst meinte. Niemand konnte ihn verstehen, niemand! Nur sein Vater, der ebenfalls sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, um Finja in Sicherheit zu bringen, konnte ansatzweise begreifen, was seitdem in ihm vorging. „Wir haben einen Brief erhalten“, schaltete sich nun Brugo ein und trat von dem Tisch auf die beiden zu. „Von Seraphin - zumindest meint mein Sohn, es sei sein Vogel gewesen.“ Erschrocken hob Erin die Augenbrauen. „Du bis nach oben gegangen? Jeder andere hätte den Brief doch auch holen können!“ Sie schüttelte den schönen Kopf. „Ja, er ist wirklich töricht gewesen“, bestätigte sein Vater und rieb sich den ergrauenden Bart. „Töricht und mutig, wie immer, nicht wahr, Yamus?“

~ Fassungslos blickte Finja Nikola an. „Was hast du gerade gesagt?“, fragte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. Sie musste sich setzen und ließ sich langsam auf einen Baumstumpf sinken. Nikola ging neben ihr in die Hocke und legte eine Hand auf Finjas Knie. „Weißt du, ich habe den Spiegel nicht endgültig zerstören können. Er ist an einem sicheren Ort versteckt, aber ich kann ihn wiederholen, jederzeit.“ Finja schluckte. So groß war die Verlockung, sofort in Jubelgeschrei auszubrechen. Es war noch nicht alles vorbei, sie konnte noch einmal zurückkehren, noch einmal das Wasser der Zwillingsquelle schmecken, ihn noch 38


einmal sehen! Yamus. Doch es fühlte sich so seltsam an, dass der unmöglich geglaubte Wunsch so urplötzlich erfüllt sein sollte. Es war zu einfach … wieso ging es jetzt so leicht, wenn sie monatelang hatte leiden müssen? Sie schloss die Augen. Bunte Farben wirbelten aufgeregt hinter ihren Lidern herum und spiegelten die Unordnung wider, die in ihrem Kopf herrschte. Yamus Gesicht erschien in ihren Gedanken, sein braunes Haar, seine weißen Augen. Sie sprang auf. „Meinst du das ernst?“, fragte sie, und obwohl sie so still neben ihrer Schwester gehockt hatte, war sie außer Atem. Nikola senkte den Blick. „Ich weiß nicht. Ich glaube schon.“ Finja sah, wie unwohl sich ihre Schwester fühlte. Die Arme hatte sie über dem Bauch verschränkt und den Rücken gekrümmt, als habe sie Schmerzen im Unterleib. „Ich …“, begann sie stockend, „ich kann einfach nicht mehr dabei zusehen.“ Ihr Gesicht verzog sich schmerzerfüllt. „Ich weiß, dass es falsch ist. Ich habe dir damals versprochen, dir nie zu verraten, wo ich ihn verstecken werde. Und jetzt bin ich gerade dabei, mein Wort zu brechen!“ Finja legte den Arm um Nikolas Schultern. „Danke“, flüsterte sie in ihr Ohr. „Aber“, rief Nikola und streckte den Rücken durch, sodass Finjas Arm herabfiel, „ich werde einige Regeln aufstellen, denen du folgen wirst.“ Kleine Vögel zwitscherten und läuteten mit ihrem Gesang die Abenddämmerung ein. Die Sonne war nun 39


fast vollständig hinterm Horizont verschwunden. „Alles was du willst“, erwiderte Finja gut gelaunt und ihre Fassungslosigkeit verwandelte sich langsam in ungläubige Freude. Sie würde zurückkehren! „Gut“, erwiderte Nikola und packte Finjas Hand. „Hör genau zu. Du wirst jede dieser Regeln befolgen, hast du verstanden? Jede!“ Finja nickte begeistert, Nikola hielt inne, dachte kurz nach. „Du wirst am Wochenende reisen, nicht heute. Wir warten bis Samstag, da sind Papa und Mama bei Onkel Frederick auf dem Geburtstag eingeladen. Du wirst so tun, als wärst du krank, Johannes und ich werden mitgehen. Du weißt selbst, wie lange die Feiern bei Frederick dauern, also hast du genug Zeit für einen ausgiebigen Besuch.“ Samstag erst, fast eine ganze Woche noch! Schweren Herzens seufzte Finja, doch dann nickte sie. Sie hatte so lange gewartet, da machten die paar Tage kaum noch einen Unterschied. „Du wirst nicht so lange bleiben, dass Mama und Papa etwas mitbekommen. Ich werde dich nicht decken. Es ist deine eigene Entscheidung, wenn du so spät zurückkommst, dass sie anfangen, sich Sorgen zu machen. Ich lüge nicht für dich.“ Nikola schüttelte den Kopf und murmelte mehr zu sich selbst: „Ich fasse nicht, was ich gerade tue!“ „Ich auch nicht“, grinste Finja und hüpfte aufgeregt auf der Stelle herum. „Du bringst dich nicht unnötig in Gefahr! Wenn du nach zwölf Stunden nicht wieder da bist, muss ich annehmen, dass dir etwas zugestoßen ist. Dann gebe ich mir die Schuld, weil Melsane dich gekriegt hat!“ 40


Finja schluckte. Es war Nikola also wirklich ernst mit ihren Regeln. Sie wusste genau, dass Finja nicht wollte, dass ihre Schwester sich schuldig fühlte – unabhängig davon, dass Nikola niemals Schuld daran sein konnte, wenn Finja bei ihrer Reise ins Land der ungeborenen Seelen etwas zustieß. „Und die letzte und wichtigste Regel“, Nikola hob jetzt den Zeigefinger, „es bleibt bei einer einzigen, einmaligen Reise!“

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Auszüge aus

Karolin Kolbe Die Königsprophezeiung

1. Auflage: Juni 2013 © by Casimir-Verlag, Carsten Krause, Trendelburg 2013 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen und fotomechanischen Nachdrucks, vorbehalten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Einwilligung des Verlages in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren), auch nicht für Zwecke der Unterrichtsgestaltung, reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlagabbildung/Illustration: © Sabine Cherebet Satz & Layout: Carsten Krause Printed in Germany 2013 ISBN 978-3-940877-07-9

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Casimir-Verlag

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