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DE-CONSTRUCT RE-CONSTRUCT

BURG 2020


DE-CONSTRUCT RE-CONSTRUCT Konrad Lohöfener, Stefan Schwabe 16. - 20. November 2020 Gestalterische und Künstlerische Grundlagen/ Fachbereich Design Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle


Welche Spuren hinterlassen wir und wie können wir diese mit anderen Augen sehen? Der Begriff der Dekonstruktion beschreibt den Prozess des Zerfalls oder die Zerlegung von gewohnten Strukturen, die womöglich im Laufe der Zeit ihren Zusammenhang verlieren. Im Gegensatz dazu versucht die Rekonstruktion verlorengegangene Zusammenhänge wiederherzustellen und bruchstückhaft zusammenzusetzen. Wo finden wir heute Orte der Dekonstruktion und der Rekonstruktion? Wie nehmen wir diese Phänomene wahr und wie können wir sie als kreative gestalterische Methode nutzen? Der Kurs gab Raum, dieses Spannungsfeld spielerisch, spekulativ und experimentell zu erkunden. Nach einem Impulsvortrag des Archäologen Dr. Jan Miera zum Thema: „Narration in der Archäologie“ erkundeten die Studierenden am Nachmittag des ersten Work­ shoptages den hallischen Schrottplatz als Grabungsfeld. Dort begaben sie sich auf die Suche nach Artefakten – Dingen, die ihren Zusammenhang verloren haben, dennoch von unserer Zeit erzählen und gerade deshalb einen speziellen Reiz auf uns ausüben. Am folgenden Tag hatten die Studierenden daraufhin die Aufgabe, innerhalb von 20 Minuten eine kurze Geschichte zu schreiben, in der sie frei über den Ursprung und die Vergangenheit ihrer Fundstücke spekulieren konnten. Spontan und intuitiv, wie die Geschichten geschrieben wurden, transportieren sie auf faszinierende Weise fast ungefiltert individuelle Gedanken und Weltbilder der Studierenden. Durch Auseinandernehmen, wieder Zusammenfügen und Hinzufügen wurden die gefundenen Artefakte erweitert, sodass sie in einen Dialog zu den Geschichten treten. Die auf diese Weise entstandenen Arbeiten eröffnen uns neue Denkräume. Sie skizzieren durch die Auseinandersetzung mit dem Material analytische und humorvolle sowie dystopische und utopische Zukunftsbilder für einen Umgang mit unseren Ressourcen. In der inhaltlichen Arbeit zu diesem Thema sind besonders die Parallelen von Archäologie und Gestaltung immer wieder deutlich geworden. So zeigt nicht nur der analytische und interpretatorische Arbeitsansatz Ähnlichkeiten auf, der bei beiden Disziplinen oft in Verbindung mit dem Prozess kultureller Aneignung steht. Auch das Retten, Bewahren und Erforschen von Artefakten steht in enger Beziehung mit dem Gestalten von neuen Dingen – eine weitere Spur die Welt neu zu begreifen und zu denken. Konrad Lohöfener & Stefan Schwabe, 2020

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FREITAG

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NEWBORN | MAX BECKMANN Metallkugel, Edelstahl, poliert, Durchmesser ca. 95mm. Eine fünfeckige Delle Durch­messer ca. 30 mm, viele kleine Dellen. Eine Sechskantmutter M6 mit zwei kleinen Schweißpunkten an der Kugel befestigt. Die Naht vom Fügen der beiden Halbkugeln bleibt spür- und sichtbar, wird durch die Oberfläche fast betont. Flugrost, Dellen, Kratzer, angelaufene Stellen, Fingerabdrücke. Verborgen in einem Haufen Altmetall. Untergegangen zwischen den anderen glän­ zenden Oberflächen. Und dennoch sticht sie durch ihre scheinbar perfekte Form aus der Unruhe des Haufens hervor. Die angeschweißte Mutter als einziger Hinweis auf einen möglichen Nutzen, als einzige Verbindung nach Außen. Alle Vermutungen und Fragen zur Geschichte der Kugel prallen an ihrer schimmernden Rundung ab. Doch wie kann ihr Schein durchbrochen und sie zum Erzählen ihrer Geschichte gebracht werden? Die Spurensuche beginnt.

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PREBANGER | JONATHAN HASE Der senfgelbe Sandstrand außerhalb des Bio-Parameters ist Sperrgebiet. Myrte nimmt all ihren Mut zusammen, duckt sich unter dem Zaun hinweg, durch das aufgeschnittene Loch. In der Abenddämmerung glitzert das Licht am Horizont in den Wänden der Glocke. Nur noch die steinalten Prebangers kennen die Zeiten, in denen Leben ohne Habitate und der dicken Schutzschicht der Kuppel möglich war. Myrte läuft es kalt den Rücken herunter. Zu oft hat sie davon geträumt dem allen zu entlaufen. Geduckt rennt sie weiter und auf die Düne hinzu. Dürre schwache Gewächse ziehen an ihr vorbei und dumpf liegen ihre Schritte auf der trockenen Erde in der Luft. Gleich kann sie den Kamm der Düne erreichen, doch da hört sie einen kurzen Knall. Behände legt sich Myrte flach auf den Bauch und robbt die letzten Stücke und der Blick über die Düne wird frei. Ein warmer beißender Wind kommt ihr entgegen, und sie muss die Augen zusammenkneifen, als tausende aufgewirbelte Sandkörner ihr Gesicht streifen. Ein bitter-salziger Geschmack liegt ihr auf den Lippen, als sie die beiden Silhouetten am Wasser erkennt. Ein Mensch und eine Drohne bewegen sich schnell über den Strand. Knall! Ein kleiner Sandhügel explodiert, wo sich kurz zuvor die Gestalt befand. Doch einer Wachdrohne entkommt niemand. Einmal noch scannt die Drohne den Strand ab und zieht von dannen. Myrte zittert. Doch sie muss. Sie muss dorthin, wo das kühle Nass ihre Füße umspielen wird. Ihre Deckung verlassend setzt sich Myrte in Bewegung. Die senfgelb gefärbten Sandflächen geben porös unter ihren Schritten nach. Sie zieht ihren Schal weiter ins Gesicht und erreicht die Wassergrenze. Ihr Blick schweift über den blutroten Horizont, als sich die erste Welle um ihre Zehen schließt. So muss sich Freiheit anfühlen! Etwas glitzert zwischen den angespülten Algen vor ihr. Sie bückt sich und zieht einen zylindrischen silbernen Gegenstand aus dem Matsch. Ein mittiges Loch durchbricht das Objekt und verschiedene Scheiben schließen sich um es herum. Sie hat von diesen Schätzen gehört. Manchmal, wenn ein Erdsturm die Lebensglocke trifft, werden Teile ihrer Konstruktion abgerissen. Unschätzbar wertvoll ist das Material, aus denen die Glocke durch die Prebangers geschaffen wurde. Auf dem Schwarzmarkt dürfte dieses Teil ein hübsches Sümmchen einbringen. Ein letztes Mal atmet Myrte tief ein und streckt sich in die Abendsonne. Das war ein guter Tag! Sie dreht sich zum Gehen. Knall!

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DER SCHUSS | SANGHEE KANG Ich weiß nicht, was ich bin, woher ich gekommen bin oder wer mich herausgefunden hat. Aber ich bin schon in einem dunklen Raum. Wo ist dieser Ort? Wo bringst du mich hin? Die Freunde, die bei mir waren, verschwinden nacheinander. Ein Kollege neben mir flog ebenfalls irgendwohin und verschwand. Endlich war ich an der Reihe. Oh irgendwas hat mich in den Rücken geschlagen. Wo fliege ich? Kann ich endlich Freiheit finden? Oder fliege ich, um jemandem Freiheit zu geben? Ich bin mir noch nicht sicher, aber ich fliege nur vorwärts.

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UNIVERSUM IM SCHROTTPLATZ | SUNGWON KIM Ich weiss es nicht, warum ich jetzt hier bin. Ich war irgendwo, wo ich nicht ganz genau wusste und ich bin noch irgendwo, wo ich nicht genau weiss. Ich habe keine Ahnung aber mein ganzes Leben habe ich mich nur gedreht. Drehen, drehen, drehen, drehen, stopp. Dann wieder drehen, drehen, drehen, drehen, stopp. So war mein voriges Leben. Dann wurde ich von meinen Freunden geteilt und an einen fremden Ort geschickt. Und irgendwo, an einem Ort, der Schrottplatz heißt, existiere ich. So ist mein Leben in meinem eigenen Universum. Wie sieht es in deinem Universum aus? Weisst du ganz genau wo du existierst? Aber sicher?

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RITUAL FLASCHE OHNE BODEN | LENA EICHORN Ich bin eine Flasche ohne Boden. Ich werde nie etwas beinhalten. Was du in mich hinein kippst läuft unten wieder raus. Du wirst mich unnütz finden. Dafür habe ich ein Relief mit meinem Gesicht. Zugegeben etwas grimmig. Aber Nase, Mund, Augen – alles da. Du fragst dich für was ich existiere? Eine Flasche ohne Boden? Vielleicht bin ich ein ritueller Gegenstand einer Unbekannten Kultur. Einer Kultur, in der es keine Wasserhähne oder Brunnen gibt, sondern man aus Flüssen und Quellen trinkt. Man legt die Flasche ins Wasser, befüllt sie, legt die Hand hinten als Boden auf und trinkt. Zweifellos etwas unpraktisch, aber vielleicht herrscht in dieser Kultur der Konsens, dass man Wasser nur an Ort und Stelle trinken darf und es nicht besitzen oder damit handeln darf. Mein Mehrwert liegt darin, dass es durch mich unmöglich ist, Wasser zu privatisieren und damit zu handeln. Dafür ermögliche ich jedem Wasser an Ort und Stelle zu trinken.

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GOLDEN CAGE | RUD VAN DEN EIJNDEN

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WÄSCHEKLAMMER | OONA VON OERTZEN Die Wäscheklammer – ein Alltagsgegenstand, den ich schon oft in der Hand hatte, aber ich habe ihn nie hinterfragt. Es ist auch ein Gegenstand, der immer irgendwie da war, dem ich nie große Beachtung geschenkt habe. Warum auch? Er bringt mir keinen Genuss und dekoriert auch nicht mein Zimmer. Im Gegenteil, vielmehr ist er Symbol einer lästigen Tätigkeit. Mittel zum Zweck sozusagen. Nach Benutzung wird sie irgendwo verstaut, vergessen oder im Regen hängen gelassen.

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EINE GREIFENDE SCHELLE MIT RING | MARIANNE SELLMAIER Seit ein paar Stunden liegen diese Objekte nun da. Eins willkürlicher als das andere. Schon lange aus ihrem ursprünglichen Kontext gerissen, aber mit neuer Bedeutung aufgeladen. Alle haben eine Gemeinsamkeit. Sie sind schwer. Altmetall. Der einzige Grund, warum sie auf dem Schrottplatz noch nicht das Zeitliche gesegnet haben. Gemacht, um sich selbst in ihrer Nutzungsdauer zu überleben. Und alle vermitteln ähnliche Charaktereigenschaften. Sie wirken müde, beständig, solide aber auch aus­ sortiert. Starten wir mit dem traurigen H-Träger. Ein Stück Eisen, bestimmt fast zwei Kilo schwer. Aber durch eine einzigartige Verformung in der Individualität nicht zu übertreffen. Ob er wohl verformt wurde, um einer bestimmten Funktion zu dienen? Vielleicht wurden mehrere dieser Elemente im Kreis angelegt? Und dadurch Gegenstände befördert? Vielleicht hat der Träger sich unabsichtlich verbogen? Vielleicht wurde er erst auf dem Schrottplatz verbogen. Das wäre wohl die traurigste Auflösung der Entstehung. Würde passen zum traurigen H-Träger. Daneben liegt eine Art Schelle. Sie weiß nicht so recht, wie sie zu liegen hat. Die gerundeten Oberflächen bieten sich nicht an, um auf einen geraden Boden zu liegen. Außerdem fasst sie einen Kreis ein. Nein, wie sagt man, einen Donut? Einen Ring! Der Ring ist vielleicht 12 cm im Durchmesser und genauso schwer wie der Rest des Objekts. Eine Überdimen­sionale Schraube vermittelt den Eindruck, man könnte die Schelle enger ziehen. Für was braucht man so eine Objektkombination? Vielleicht eine Seilwinde? Vielleicht war genau eben dieser Rest einmal der Dreh- und Wendepunkt eines belad­baren Hochseeschiffes. Vielleicht sogar ein Piratenschiff. Die Seilwinde vom Piratenschiff. Sind wir ehrlich, wahrscheinlich ein relativ modernes Piratenschiff. Die Seilwinde eines modernen Piratenschiffes, Dreh- und Wendepunkt für illegale Waffen, Drogen und gefälschtes Geld.

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SEKTOR 57676X | JACOBO CUESTA WOLF Wir schreiben das Jahr 2308. Nach einem, den Großteil der Menschheit, vernichtenden Weltkrieg stolpert Detlef über einen seltsamen Gegenstand. Er besteht aus zwei blockartig miteinander verbundenen, matt glänzenden Metallbausteinen. Er findet sich staunend wieder, stehend in dem Laden für Luxusgüter in seiner Heimatstadt (Sektor 57676X). Er ärgert sich zutiefst. Leider ist damals bei dem fast alles zerstörenden Krieg alles an Aufzeichnungen über die Kulturgüter zur Gänze ausgelöscht worden. Nun kann Detlef nicht umhin zu spekulieren, wofür diese beiden durchlöcherten Artefakte damals gut gewesen sein müssen. Auch nach mehreren Momenten und diversen Suchanfragen in seinem digitalen, mit dem Cybernet verbundenen Monokel kann er nichts herausfinden. Warum lässt ihn dieser Gegenstand nicht los? Gedanklich macht es Detlef wahnsinnig. Eines ist ihm klar: Dieser Gegenstand hat einen rein dekorativen Zweck. Sind seine Formen doch so beliebig zusammengeführt. Auch wird ihm schnell klar, dass er von ungeheurem Wert sein muss. Er hat sicher mal Platz gefunden im Hause, nein im Schloss einer reichen Familie. Wurde bestimmt über Generationen weitervererbt. Sicher hatten damals verschiedene Menschen neidisch diese beiden so technoid und doch verspielten Objekte begutachtet und sich gewünscht sie selber zu besitzen. Was für ein Glück er, Detlef, doch hatte nun nach all den Jahren, nach all dem was passiert war, nun hier zu stehen und seine Augen über diese anmutigen Flächen, Kanten und Rundungen streifen zu lassen. Gedankenverloren nahm er die beiden Objekte in die Hand. Sie waren erstaunlich kühl und leichter als gedacht. Es war ihm klar: diese Objekte würde er mitnehmen und eines Tages an seine Nachfahren weitergeben. Beherzt schritt er zum Verkaufsroboter und legte die beiden Objekte in die Verkaufsdüse und bangte um den Preis dieser beiden antiken Artefakte. Überrascht stellte er fest, dass der Preis mit 34000097 Einheiten bei weitem günstiger war als er angenommen hatte. Das überstieg ja nichtmal einen Monatslohn. Stolz und zufrieden verstaute er die beiden Schätze in den Tiefen seiner Schuhe und machte sich auf den Heimweg. Er war schon gespannt, was seine Familie dazu sagen würde.

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FÜNF EMOTIONEN | JUNGWOON LEE Vertrautheit ist die schnellste und mächtigste Waffe, die sie täuschen kann. Ich habe eine Vertrautheit. Aber ich habe etwas, an das du nie gedacht hast. Ich träume immer von Neuheit, aber ich bin geblendet von Vertrautheit. Blind sehe ich nichts. Nur Kompromisse und das Heute existieren für mich. Gestern, Heute und Morgen habe ich 5 Emotionen, aber ich kann nicht einmal eine einzige Emotion richtig fühlen. Ich bin nur eine Schale. In einem Stück Emotion wandere ich – ewig.

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ESCAPE | LISA WEGMERSHAUSEN Hat‘s nicht mehr in einen der Container geschafft – oder wollte sich erst gar nicht in die Reste der umliegenden Wohnhäuser einordnen. Stattdessen bedeckt von Laub und Gestrüpp – ein Versuch in diesen Un-Ort einzutauchen und dem verlassenen Zustand zu entfliehen. Es ist nass, nur leider benetzt nicht das salzige Atlantikwasser den harten und weichen Kunststoff, sondern die Regentropfen des letzten Schauers am Vormittag. Und, wohin wird die Reise jetzt gehen? Versunken im Erdreich füllt sich die transparente Plexiglasscheibe mit den dunklen Erinnerungen des hier einst behausten Ortes. Was jetzt in Containern vor sich hinvegetiert, war noch vor einem Jahr ein Schuppen, der, mit dem Nötigsten bestückt, als Schlafplatz diente. Ständig mit der Angst, diese Nacht könnte die Letzte sein. Da half nur eins: tief ein – und auszuatmen, die Welt um sich herum verschwimmen zu lassen, mit der Hoffnung, sich auf etwas anderes fokussieren zu können.

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IMPRESSUM Dieses Projekt enstand im Rahmen einer Kompaktwoche im Wintersemester 2020/2021 in den gestalterischen und künstlerischen Grundlagen an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle im Fachbreich Design. Ein besonderer Dank gilt Prof. Barbara Trautmann und Prof. Johanna Richter für die Einladung zu dieser Gastdozentur. Projektkonzept & Lehre: Konrad Lohöfener, Stefan Schwabe Buchgestaltung: Konrad Lohöfener, Stefan Schwabe Typo: Burg Grotesk Januar, 2021

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Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle University of Art and Design Neuwerk 7 06108 Halle (Saale), Germany www.burg-halle.de


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