BV 481 - Beiträge zur Geschichte der Bach-Rezeption, Band 6

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Im Jahre 2012 konnte der Thomanerchor sein 800-jähriges Bestehen feiern. Das Jubiläum war Anlass für ein Leipziger Symposium zum institutionellen und musikalischen Wandel chorischer Traditionen im 18. und 19. Jahrhundert. Die in diesem Band versammelten Beiträge dieses Symposiums stellen aus unterschiedlichen Perspektiven aufführungspraktische Aspekte wie das verfügbare Instrumentarium oder das Mutationsalter der Sänger vor und behandeln institutionelle Fragen wie das Präfektendirigat, die autonome Selbsterziehung und die Repertoirewahl der ThomasAlumnen.

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Geistliche Musik und Chortradition im 18. und 19. Jahrhundert Institutionen, Klangideale und Repertoires im Umbruch

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eben der Orgelmusik galt im 18. und 19. Jahrhundert der Chorgesang als die wichtigste kirchenmusikalische Ausdrucksform. Dass für die Neuaneignung Bachs gerade Chorgesang und Chormusik eine bedeutende Rolle spielten, scheint konsequent. Die Napoleonische Ära veränderte jedoch mit ihren politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen die Musikpflege und bedeutete nicht zuletzt durch das postaufklärerische Neuverständnis von Gottesdienst, Kirchenmusik und schulischer Bildung für manche altehrwürdige Musikeinrichtung das Ende. Die Leipziger Thomasschule mit ihrem musikalischen Alumnat widerstand jedoch diesen unruhigen Zeitläuften. In einem langwierigen Umgestaltungsprozess verzahnte sie sich mit dem Gewandhaus, das Mitte des 18. Jahrhunderts aus einer bürgerlichen Sozietät hervorgegangenen war.

Geistliche Musik und Chortradition im 18. und 19. Jahrhundert Institutionen, Klangideale und Repertoires im Umbruch

Breitkopf & Härtel



Geistliche Musik und Chortradition im 18. und 19. Jahrhundert Institutionen, Klangideale und Repertoires im Umbruch

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Geistliche Musik und Chortradition im 18. und 19. Jahrhundert Institutionen, Klangideale und Repertoire im Umbruch

herausgegeben von

Anselm Hartinger, Christoph Wol und Peter Wollny Redaktion: Manuel Bärwald und Markus Zepf

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Beiträge zur Geschichte der Bach-Rezeption herausgegeben vom Bach-Archiv Leipzig Band 6

Das Symposium Geistliche Musik und Chortradition im 18. und 19. Jahrhundert – Institutionen, Klangideale und Repertoires im Umbruch wurde aus Anlass des 800-jährigen Jubiläums des Thomanerchores Leipzig im Rahmen des Kooperationsprojektes „Bach – Mendelssohn – Schumann“ am 16. und 17. November 2012 durchgeführt. Der Konferenzbericht wird gefördert durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages. Umschlagabbildung: Ludwig Richter (zugeschrieben), Ständchen. Reproduktion nach einer Bleistiftzeichnung um 1858, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig

BV 481 ISBN 978-3-7651-0481-7 © 2017 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden Alle Rechte vorbehalten Umschlag-Reihenentwurf: Marion Schröder, Wiesbaden Satz: Kontrapunkt Satzstudio Bautzen Druck: Druckerei Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany

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Inhalt Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Der Thomanerchor zwischen Tradition und Umbruch Christoph Wolff Bach, die Thomaner und das Leipziger Musikleben . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Stefan Altner Institutionelle Reform und lebendige Ensembletradition: Die Thomaner im späten 18. und im 19. Jahrhundert – Versuch einer kursorischen Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Eszter Fontana Zum Instrumentenbestand des Thomanerchors und der Hauptkirchen in Leipzig 1500–1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Andreas Glöckner „statt des Lateinischen Singsangs ... deutsche, genießbare Motetten“ Das Thomaskantorat unter Johann Adam Hiller zwischen Tradition und Erneuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Bachs Musik und das Repertoire der Thomaner nach 1750 Peter Wollny Bach, Harrer und Doles: Anmerkungen zum Repertoire des Thomanerchors nach 1750 . . . . . . . . . .

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Jeffrey S. Sposato Bach, die Messe und der lutherische Gottesdienst in Leipzig . . . . . . . . . . . 101 Anselm Hartinger Bach im Repertoire der Thomaner: Mythen, Realitäten und Rahmenbedingungen nach 1800 . . . . . . . . . . . . . 123 Uwe Wolf Zur Motette der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

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III. Singstil, vokale Ensemblepraxis und Musikunterricht Manuel Bärwald Sächsische Kantoreitradition um 1800: Der Musikaliennachlass des Wurzener Kantors Gotthelf Sigismund Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Ann-Christine Mecke Johann Sebastian Bachs Sopranisten und Altisten: Untersuchungen zum Mutationsalter im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 189 Klaus Rettinghaus Zur Geschichte des Berliner Domchores . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Peter Ward Jones Der englische Cathedral Choir und sein deutsches protestantisches Äquivalent in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Register Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

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Vorwort der Herausgeber Chorgesang und Chormusik spielten sowohl in der Musikästhetik nach 1800 als auch im Zuge der Neuaneignung Bachs und der Herausbildung der neuzeitlichen Musiklandschaft eine wichtige Rolle. Ihr Einfluss war weitaus bedeutsamer, als es die lange dominierende Orientierung an den Gattungen und Strukturen einer autonomen Instrumentalmusik und modernen Orchesterkultur nahelegte. Neben dem Orgelspiel galt der Chorgesang als die kirchliche Ausdrucksform überhaupt. Allerdings brachte das 19. Jahrhundert mit den großen Chorvereinen, Singakademien und Musikfesten eine deutliche Ausweitung der vokalen und zunehmend außerliturgischen Aufführungspraxis. Getragen wurden diese meist demokratisch organisierten Vereinigungen zu großen Teilen von Amateurmusikern, was nicht zuletzt Frauen die Möglichkeit eröffnete, mit musikalischen Aktivitäten in die Öffentlichkeit zu treten. Eine besondere Stellung in der kirchenmusikalischen Landschaft, besonders innerhalb der Chorszene des norddeutsch-evangelischen Raums, nahm auch im 19. Jahrhundert der Thomanerchor zu Leipzig ein. Während vielerorts die Dienststrukturen und Ensembles der Lateinschulen oder Stadtmusiken den Umbrüchen der Napoleonischen Ära nicht standzuhalten vermochten, gelang es in Leipzig dank eines langwierigen Umgestaltungsprozesses, die Thomasschule mitsamt dem musikalischen Alumnat zu erhalten und sie mit dem aus einer bürgerlichen Sozietät entstandenen Gewandhausorchester zu verzahnen. In der lokalen Presse wie auch im überregionalen Musikfeuilleton waren die Aufführungen des Thomanerchores erstaunlich präsent. Sie galten weithin als vorbildlich für eine traditionsbewusste Repertoirepflege und professionelle Darbietungsqualität, die bisweilen aber dem zwar engagierten, jedoch naturgemäß stärker auf Massenaufführungen und chorsinfonische Oratoriendarbietungen verpflichteten Profil der neuen Liebhaberchöre entgegengehalten wurden. Insbesondere durch die an Samstagen sowie am Vortag kirchlicher Hochfeste dargebotenen Motetten entstand ein zwischen Vesper und Konzert stehender Darbietungskontext, der für die Herausbildung eines Repertoirekanons an anspruchsvoller Chormusik und die Verankerung eines eher neuzeitlichen als tatsächlich „alten“ A-cappella-Ideals der knabenchortypischen Klangbildung wegweisend werden sollte (dieses Konzertformat besteht und blüht mit einigen Modifikationen bis heute). Sowohl Felix Mendelssohn Bartholdy als auch Robert Schumann haben die Thomaner-Motetten wiederholt besucht, mit den Präfekten und Konzertsängern des Chores zusammengearbeitet und daraus Anregungen für die eigene Tätigkeit als Chorleiter respektive Komponist gezogen. Das 800-jährige Bestehen des Leipziger Thomanerchores war im November 2012 Anlass, diesen Aspekten anhand ausgewählter Fallstudien auf einem Symposium nachzuspüren. Der vorliegende Band stellt die Erträge dieser Tagung in erweiterter und überarbeiteter Form vor. Aus unterschiedlichen Perspektiven wird die tatsächliche Präsenz von Bachs geistlichen Werken im Repertoire der Thomaner untersucht, werden

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Vorwort der Herausgeber

Kontinuitäten und Brüche zwischen seinen letzten Dienstjahren und der Epoche seiner romantischen „Wiederentdeckung“, aber auch chorinterne Organisationsstrukturen oder die in den Leipziger Hauptkirchen vorhandenen Musikinstrumente vorgestellt. Weiter werden das Problem des Mutationsalters und der in steter Veränderung begriffene Singstil behandelt, während der Blick auf die Repertoirewahl, das Präfektendirigat und die autonome Selbsterziehung der Alumnen die lange auf die illustre Reihe komponierender Kantoren fokussierte Betrachtungsweise der Chorgeschichte bedeutend weitet. Wir danken allen Autoren, die unsere Einladung annahmen und bereit waren, an diesem Band mitzuwirken. Besonderer Dank gebührt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die durch ihre Förderung die Vorbereitung und Realisierung von Symposium und Aufsatzsammlung ermöglichten. Die Übersetzung der englischen Originaltexte besorgte Stephanie Wollny; die redaktionelle Bearbeitung lag in den Händen von Manuel Bärwald und Markus Zepf. Für die Bereitstellung von Abbildungsvorlagen und die freundlicherweise erteilten Abdruckgenehmigungen sind wir dem Archiv des Thomanerchores Leipzig, dem Museum für Musikinstrumente der Universität Leipzig, dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig sowie der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv zu Dank verpflichtet. Schließlich sei dem Verlag Breitkopf & Härtel, der die Reihe Beiträge zur Geschichte der Bach-Rezeption zehn Jahre lang sorgfältig betreut hat, unser verbindlichster Dank ausgesprochen. Besonders hervorgehoben sei dabei die gewissenhafte Lektorierung durch Frau Ulla Enßlin sowie die Herren Thomas Frenzel und Frank Reinisch.

Leipzig, im Oktober 2016

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Anselm Hartinger, Christoph Wolff, Peter Wollny

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Abkürzungen 800 Jahre Thomana 800 Jahre Thomana. Glauben – Singen – Lernen. Festschrift zum Jubiläum von Thomaskirche, Thomanerchor, Thomasschule, hrsg. von Stefan Altner und Martin Petzoldt, Wettin-Löbejün OT Dößel 2012 A f Mw

Archiv für Musikwissenschaft, Bückeburg und Leipzig 1918–1926, Trossingen 1952–1961, Wiesbaden 1963ff.

AMZ

Allgemeine Musikalische Zeitung, Leipzig 1798–1848

AMZ . NF

Allgemeine Musikalische Zeitung. Neue Folge, Leipzig 1863–1865

BC

Hans-Joachim Schulze und Christoph Wolff, Bach Compendium. Analytisch-bibliographisches Repertorium der Werke Johann Sebastian Bachs, Bd. I/ 1–4, Leipzig 1986–1989

BG

J. S. Bachs Werke. Gesamtausgabe der Bachgesellschaft, Leipzig 1851–1899

BJ

Bach-Jahrbuch, 1904ff.

Breitkopf 1761

Johann Gottlob Immanuel Breitkopf, Verzeichniß Musicalischer Werke, allein zur Praxis, sowohl zum Singen, als für alle Instrumente, welche nicht durch den Druck bekannt gemacht worden, Leipzig 1761

Breitkopf 1769

Bernhard Christoph Breitkopf und Johann Gottlob Immanuel Breitkopf, Verzeichniß lateinischer und italiänischer KirchenMusiken an Motetten, Hymnen und Liedern, Psalmen, Magnificat, Leipzig 1769

Breitkopf 1770

Bernhard Christoph Breitkopf und Johann Gottlob Immanuel Breitkopf, Verzeichniß Musicalischer Werke allein zur Praxis, sowohl zum singen, als für alle Instrumente, welche nicht durch den Druck bekannt gemacht worden, Leipzig 1770

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Dok I–III, V–VII

Abkürzungen

Bach-Dokumente, herausgegeben vom Bach-Archiv Leipzig. Supplement zu Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Band I: Schriftstücke von der Hand Johann Sebastian Bachs. Vorgelegt und erläutert von Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze, Leipzig / Kassel 1963 Band II: Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs 1685–1750. Vorgelegt und erläutert von Werner Neumann und Hans-Joachim Schulze, Leipzig / Kassel 1969 Band III: Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1750–1800. Vorgelegt und erläutert von Hans-Joachim Schulze, Leipzig / Kassel 1972 Band V: Dokumente zu Leben, Werk und Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1685–1800. Neue Dokumente. Nachträge und Berichtigungen zu Band I–III, vorgelegt und erläutert von HansJoachim Schulze unter Mitarbeit von Andreas Glöckner, Kassel 2007 Band VI: Ausgewählte Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1801–1850. Herausgegeben und erläutert von Andreas Glöckner / Anselm Hartinger / Karen Lehmann, Kassel 2007 Band VII: Johann Nikolaus Forkel. Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke (Leipzig 1802). Editionen. Quellen. Materialien. Vorgelegt und erläutert von Christoph Wolff unter Mitarbeit von Michael Maul, Kassel 2008

Hauptmann Briefe Briefe von Moritz Hauptmann an Franz Hauser, hrsg. von Alfred Schöne, 2 Bde., Leipzig 1871 HoWV

Uwe Wolf, Gottfried August Homilius. Thematisches Verzeichnis der musikalischen Werke. HoWV, Stuttgart 2014 (Gottfried August Homilius. Ausgewählte Werke. Reihe 5, Bd. 2)

LAMZ

Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung, Leipzig 1866–1868

LBzBF 11

Andreas Glöckner, Die ältere Notenbibliothek der Thomasschule zu Leipzig. Verzeichnis eines weitgehend verschollenen Bestands, Hildesheim 2011 (Leipziger Beiträge zur Bach-Forschung. 11.)

MGG

Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, herausgegeben von Friedrich Blume, Kassel 1949– 1986

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Abkürzungen

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Musikgeschichte Leipzigs I–III Band 1: Rudolf Wustmann, Musikgeschichte Leipzigs. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, Leipzig 1909 Band 2: Arnold Schering, Musikgeschichte Leipzigs. Von 1650 bis 1723, Leipzig 1926 Band 3: Arnold Schering, Musikgeschichte Leipzigs. Johann Sebastian Bach und das Musikleben Leipzigs im 18. Jahrhundert. Von 1723 bis 1800, Leipzig 1941 NBA

Neue Bach-Ausgabe. Johann Sebastian Bach. Neue Ausgabe sämtlicher Werke, herausgegeben vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Leipzig und Kassel 1954–2007

NZf M

Neue Zeitschrift für Musik, Leipzig 1834ff.

RISM

Repertoire International des Sources Musicales. Internationales Quellenlexikon der Musik Serie A / I: Einzeldrucke vor 1800, Kassel 1971ff. Serie A / II: Musikhandschriften nach 1600 (http://opac.rism.info/)

Archivalien D-B

Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv

D-Bga

Berlin, Geheimes Staatsarchiv – Preußischer Kulturbesitz

D-Budka

Berlin, Universität der Künste, Universitätsarchiv

D-Bekbo

Landeskirchliches Archiv der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg – schlesische Oberlausitz

D-Dla

Dresden, Sächsisches Hauptstaatsarchiv

D-LEsa

Leipzig, Stadtarchiv

D-LEsm

Leipzig, Stadtgeschichtliches Museum

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I.

Der Thomanerchor zwischen Tradition und Umbruch

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Christoph Wolff Bach, die Thomaner und das Leipziger Musikleben Einführungsvortrag *

Das Jahr 2012 steht hier in Leipzig, und damit auch für dieses Symposium, ganz im Zeichen des 800-jährigen Thomana-Jubiläums. Bereits bei Bachs Amtsantritt konnte sich der Thomanerchor auf eine 500 Jahre alte Geschichte berufen und erfreute sich damals seit mehr als einhundert Jahren – dank einer Reihe herausragender Kantoren von Seth Calvisius bis Johann Kuhnau – einer Vorrangstellung im protestantischen Deutschland, ja im europäischen Maßstab weit darüber hinaus. Dennoch stellt sich aus heutiger Sicht die Frage: Wie stünde es nicht nur um die Berühmtheit des Thomanerchores, sondern überhaupt um den Charakter Leipzigs als einer historischen Musikstadt ohne die 27-jährige Amtszeit Johann Sebastian Bachs? Ganze drei Prozent der 800-jährigen Geschichte hat der Kantor Bach gestaltet. Freilich hat er selbst nach 1750 wie kein anderer durch sein Nachwirken nicht nur die weitere Tradition des Thomanerchores mitbestimmt, sondern in zunehmendem Maß die Musikgeschichte der Stadt wesentlich geprägt. Damit wäre wohl auch die Antwort auf die eben gestellte Frage gegeben. Denn aus unserer Perspektive zählt eben nicht nur Bachs Amtszeit, sondern auch seine Ausstrahlung auf die Folgezeit – zudem eine Ausstrahlung, die seit eh und je weit über die Thomana hinausging. Allerdings, dass der Name Bachs nicht nur der Stadt Leipzig und ihrem Thomanerchor bleibenden Glanz, sondern der gesamten Musikgeschichte eine neue Richtung weisen würde, war 1750 bei Bachs Tod keineswegs zu erkennen. Im Gegenteil, die bei den Stadtratsverhandlungen um Bachs Nachfolge knapp und trocken ausgesprochenen Worte des damaligen Bürgermeisters Christian Ludwig Stieglitz, „die Schule brauche einen Cantorem u. keinen CapellMeister“,1 lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Nun setzte sich Stieglitz als Vorsteher der Thomasschule (selbst ehemaliger Thomaner) seinerzeit bewusst für eine Erneuerung der Schulbildung ein, die notwendigerweise eine Zurückstufung der dominierenden Rolle der Musik voraussetzte – eine bildungspolitisch durchaus verständliche Tendenz, die im Zeitalter der Aufklärung allenthalben sichtbar wurde. Gleichwohl geben die Stichworte Kantor und Kapellmeister den entscheidenden Hinweis auf ein Missverhältnis: nämlich die Diskrepanz zwischen dem traditionellen Schulamt eines Kantors und dem unter der Bezeichnung Kapellmeister subsumierten Begriff eines prominenten Musikers mit

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Die Diktion des mündlichen Vortrags wurde weitgehend beibehalten. Literaturnachweise erfolgen nur bei Zitaten. Dok II, S. 479.

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Christoph Wolff

den Eigenschaften eines Virtuosen, Komponisten und Musikdirektors. Mit dem Begriff des Kapellmeisters umschreibt Stieglitz die ungewöhnliche Art der Amtsführung von Johann Sebastian Bach. Die Bezugnahme auf Bachs verhältnismäßig kurze Amtszeit innerhalb der 800jährigen Geschichte der Thomana verdeutlicht, wie sehr ein einzelner Name die Geschichte einer Institution zu prägen vermag, aber auch, wie sehr sich eine bedeutende Gestalt der Geschichte ihren historischen Stellenwert gerade unter Bezug auf ihren Arbeitsplatz erhalten kann. So gilt es festzustellen, inwieweit das Thomaskantorat Bachs künstlerische Identität und das Gewicht seiner Nachwirkungen auf die Folgezeit, insbesondere auf die geistliche Musik und Chortradition bestimmen hilft. Lassen Sie mich dazu in gebührender Kürze einige Punkte aufzeigen und erläutern, soweit sie als besonders wesentlich anzusehen sind. Als entscheidender erster Punkt scheint mir wichtig, dass Bachs sich bereits um 1800 klar abzeichnende Reputation keineswegs auf seiner Rolle als Chorerzieher und Schöpfer geistlicher Vokalwerke beruht, sondern auf seiner ganz allgemeinen Stellung als paradigmatischer Komponist – um eine überschwängliche Formulierung Johann Friedrich Reichardts aus den 1780er Jahren aufzugreifen, als „größter Harmoniker aller Zeiten und Völker“.2 Damit war nicht etwa Bezug genommen auf die h-Moll-Messe oder die MatthäusPassion, sondern auf den wahren Begründer der „Kunst des reinen Satzes in der Musik“ (so der Titel der Kompositionslehre des Bach-Schülers Johann Philipp Kirnberger). Dieses Verständnis von Bachs historischer Leistung für die Kompositionsgeschichte klingt bereits im Nekrolog auf Johann Sebastian Bach an. Diesmal wohl in der Formulierung seines Schülers Johann Friedrich Agricola heißt es dort: „Hat jemals ein Componist die Vollstimmigkeit in ihrer größten Stärke gezeiget; so war es gewiß unser seeliger Bach. Hat jemals ein Tonkünstler die verstecktesten Geheimnisse der Harmonie in die künstlichste Ausübung gebracht; so war es gewiß unser Bach“.3 Der eigentliche Bezugspunkt für die Einschätzung Bachs etwa bei Haydn, Mozart und Beethoven und in deren Zeit waren allem voran die Präludien und Fugen des Wohltemperierten Claviers und das damit begründete neue Tonsystem sowie das Prinzip des freien und strengen Satzes. Dieser allgemeine Hintergrund war denn wohl auch die Folie, auf der sich – noch zaghaft im 18. Jahrhundert und umso gewichtiger im frühen 19. Jahrhundert – Bachs wachsende Bedeutung als großer Vokalkomponist abzeichnete. Die Grundlagen dafür hatte – wie könnte es auch anders sein – Bach selbst geschaffen, und zwar gleich zu Beginn seiner Leipziger Amtstätigkeit. Denn als er nach sechs Jahren als Hofkapellmeister des Fürsten Leopold zu Anhalt-Köthen nach Leipzig kam, war klar, welche Veränderungen sich in seinem Berufsleben ergeben würden. Er gab die Arbeit an der Spitze einer kleinen Elite-Hofkapelle auf, um in ein Schulkollegium 2 3

Dok III, S. 343. Dok III, S. 87.

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Bach, die Thomaner und das Leipziger Musikleben

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einzutreten, in dem ihm ein Rektor und Konrektor übergeordnet waren. Auch trat er ein Amt mit einem streng geordneten und gefüllten Tages-, Wochen- und Jahresverlauf an, das sich mit dem lockeren Dienst der Hofkapelle eines kleinen Fürstenhofes kaum vergleichen ließ. Die Köthener Stelle aber wurde nicht wieder besetzt, denn Bach behielt sie als Titularkapellmeister mit minimalen Ehrenaufgaben bei. Nach dem Tod des Fürsten Leopold übernahm er den Titular-Kapellmeisterposten am Weißenfelser Hof und erhielt 1736 nach dem Tod des Fürsten Christian den Titel eines königlich-polnischen und kurfürstlich-sächsischen Hofcompositeurs. Anders als seine Vorgänger und Nachfolger war Bach also nie nur Kantor, sondern auch Kapellmeister, und hatte sozusagen immer ein Standbein außerhalb Leipzigs. Das war kein Zufall, sondern Plan. Denn damit war gegenüber den Schulkollegen, der Kirche, dem Stadtrat und der Öffentlichkeit seine Position aufgewertet und gab dem Kantor höheres Prestige und damit größeren Spielraum. Auch kannte der Kapellmeister-Kantor durchaus seinen Wert, hatte er doch bereits als Weimarer Konzertmeister dem regierenden Herzog die Stirn geboten und dafür vier Wochen Arrest in Kauf genommen. So überrascht es auch kaum, wenn er bereits in seinem zweiten Leipziger Jahr anlässlich eines Konfliktes mit der Universitätsbehörde sich sogleich mit einem persönlichen Handschreiben unmittelbar an den obersten Dienstherrn der Universität, den König selbst, wandte. „AllerDurchlauchtigster, Großmächtigster König und ChurFürst, Allergnädigster Herr“ 4 schrieb er in der Anrede – wohl wissend, dass der König selbst den Brief nie lesen würde. Trotzdem, er wandte sich ohne Umschweife an den Landesherrn. Das hatte noch nie ein Thomaskantor getan. Die geradezu selbstverständliche Art, mit der sich Bach als Kapellmeister-Kantor in Leipzig einführte, war von Anbeginn auch in ihren musikalischen Konsequenzen spürbar. Gleich sein erster Jahrgang von Kirchenkantaten stellte den Anspruch und die Ambitionen des Kapellmeister-Kantors unter Beweis. Unmittelbar deutlich wird der Unterschied zur vorangegangen Ära in der Gegenüberstellung etwa zweier Kompositionen über denselben Text und mit derselben Funktion: das für den Vespergottesdienst an hohen Feiertagen bestimmte Magnificat in den Vertonungen Bachs und seines Amtsvorgängers Kuhnau. Der ungleich aufwendigere, technisch wesentlich anspruchsvollere und ausgesprochen virtuose Chor- und Orchestersatz Bachs bietet Kuhnau gegenüber einen Kontrast wie Tag und Nacht. Doch was Bach im Magnificat zeigt, gilt insgesamt für seine Kirchenmusik. Wir sind heute mit Bachs Werk leider viel zu sehr vertraut, als dass wir uns vorstellen könnten, wie aufrüttelnd neuartig seine Musik damals auf die Leipziger gewirkt haben muss. Wie das Magnificat-Beispiel erweist, zeichnen sich Bachs Vokalwerke gegenüber der Musik seiner Amtsvorgänger, aber auch der seiner Zeitgenossen durch einen dramatisch hohen gesangs- und spieltechnischen Qualitätssprung aus, den die Musiker sofort verspürt haben dürften. Bach schrieb riskante Musik, die oftmals die Grenzen des Möglichen streifte. Folglich galt es aufzupassen und vor allem zu üben. Schon 4

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Christoph Wolff

in Weimar hatte Bach unmittelbar nach seiner Ernennung zum Konzertmeister eine Neuregelung der Proben verfügt. Daraus wird ersichtlich, wie wichtig ihm die Vorbereitung der Auff ührungen unter seiner Leitung war. Nun ist nirgendwo dokumentiert, dass seine Musiker wegen überzogener Anforderungen Widerstand geleistet hätten. Doch könnten etwa die kritischen Bemerkungen des Bürgermeisters Stieglitz gerade auch in Richtung allzu starker zeitlicher Beanspruchung der Thomasschüler durch den Kapellmeister Bach gedeutet werden. Um das technisch notwendige Niveau seiner Auff ührungsanforderungen zu erzielen, hat Bach sich offenbar sofort nach Antritt des Kantorates um eine Steigerung der sängerischen Leistungen bemüht. Denn gleich seine ersten für Leipzig geschriebenen Kantaten stellen erhöhte Erwartungen an die Musiker. Ein großer Vorteil für Bach bestand darin, dass er als überaus routinierter Praktiker seinen Musikern ein gutes Vorbild bot, da er ihnen nahezu alles vormachen konnte. Als Knabe selbst Chorschüler, hat er sich offenbar zeitlebens im Gesang geübt. Wenn Carl Philipp Emanuel Bach später berichtet, sein Vater habe eine „gute durchdringende Stimme von großer Weite [gemeint ist ihr Ambitus], u. gute Singart“ 5 gehabt, so wird damit nicht auf die Intonationsaufgaben des Kantors abgezielt, sondern auf seine solistischen Leistungen. Offenbar hat Bach die Bass-Solopartien seiner Vokalwerke häufig selbst ausgeführt. Ähnliches gilt für die Streichersoli, von der Continuo-Begleitung ganz zu schweigen. Die täglichen Singestunden des Thomanerchores dienten dazu, die Leistungsfähigkeit der Sänger aller Stufen zu gewährleisten. Leider wissen wir so gut wie nichts über die Art, wie Bach die Gesangsstunden und Chorproben durchführte. Aber die Anforderungen seiner Motetten mit ihren verschiedenartigen drei-, vier-, fünf- und achtstimmigen Sätzen, die offenbar regelmäßig (und noch unter seinen Nachfolgern) als Choretüden dienten, bieten ungefähre Hinweise. Wichtig dabei ist, dass er sich in seiner ersten Kantorei (dem unter seiner Leitung stehenden Kantatenchor) wie bereits seine Vorgänger auf ein Doppelquartett besonders qualifizierter und erfahrener Sänger verlassen konnte: acht Concertisten, je zwei Soprane, Alte, Tenöre und Bässe, die auch finanziell bevorzugt wurden. Damit besaß der Kantor die Möglichkeit, bei plötzlichem Ausfall eines Solisten, etwa wegen Krankheit, sofortigen Ersatz parat zu haben. Da im Allgemeinen die erste Kantorei mit drei bis vier Sängern pro Stimme besetzt war, standen die Ripienisten, das heißt die noch nicht solofähigen Sänger, am Notenpult unmittelbar neben den Concertisten, damit sie von ihnen lernen konnten, um später auf deren Stellen nachzurücken. Denn der Schülerchor befand sich durch Neuzugänge und Abgänge in stetem Wandel. Man muss sich nur vorstellen, welche Herausforderungen eine Chorübung wie die Motette Singet dem Herrn ein neues Lied bot. Sie gab jedoch dem Kantor die Möglichkeit, sein Ensemble auf Höchstleistung zu trimmen. Es ist denn auch keine Überraschung, dass nach 1750 gerade Bachs Motetten zum Thomaner-Repertoire par excellence wurden. Und der Bericht über Mozarts Ausspruch, als er 1789 unter Doles 5

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Bach, die Thomaner und das Leipziger Musikleben

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die Motette Singet dem Herrn ein neues Lied zu hören bekam und mit den Worten reagiert haben soll, „So ein Chor haben wir in Wien nicht“,6 ist denn auch durchaus glaubhaft. Bachs Kantatenwerk bezeugt an sehr vielen Beispielen, welch ungewöhnliche Anforderungen Bach an seine Sänger und Spieler stellte. Die Arie Frohe Hirten, eilt, ach eilet für Tenor, Flöte und Basso continuo ist darunter einer der nicht seltenen Fälle, wo Bach sängerische Leistungen verlangt, wie sie selbst in der Barockoper nur schwer zu finden sind. Das Zusammenwirken mit einer ebenfalls virtuosen instrumentalen Obligatstimme kommt dort praktisch nicht vor. Als Gesangs- und Instrumentalpädagoge sowie als Musikerzieher im umfassenden Sinn übertraf Bach offenbar alle Erwartungen, die üblicherweise an die pädagogischen Fähigkeiten der Kantoren gestellt wurden. Zwar hat er nicht wie seinerzeit Calvisius einen Singetraktat geschrieben, doch erscheint es immerhin bemerkenswert, dass die wichtigsten deutschen Singlehren im 18. Jahrhundert von Bach-Schülern stammen, darunter Agricolas Übersetzung der Tosi’schen Gesangslehre unter dem Titel Anleitung zur Singekunst von 1757 oder Kirnbergers Anleitung zur Singecomposition von 1782. Und es überrascht nicht, wenn aus Bachs Leipziger Schule mehr namhafte professionelle Musiker kamen, als sie sonst irgendwo nachweisbar sind, und darunter nicht nur seine eigenen Söhne und Neffen. Aber darin bestand letztlich Bachs Problem: Die Idee, der Thomasschule stärker im Sinne einer Musikschule die Richtung zu weisen, widersprach den erzieherischen Grundsätzen und bildungspolitischen Zielen, wie sie das heraufziehende Aufklärungszeitalter forderte. Dennoch bleibt erstaunlich, dass gerade die Thomasschule bis zum heutigen Tage von der widerspenstigen Beharrlichkeit Bachs profitiert. Ein letzter Punkt meines einleitenden Beitrages zum Thema „Geistliche Musik und Chortradition“: Bach war sich gewiss der Tatsache bewusst, dass seine Matthäus-Passion als Monumentalwerk ohne Vorbild und Parallele dastand. Und allein die Tatsache, dass er dieses Werk im Laufe seiner Amtszeit mehr als einmal auff ührte, lässt erkennen, dass die Erstauff ührung des Werkes nicht an mangelnder Qualität der Ausführenden gescheitert war und ihm den Mut gab, dasselbe gar mit weiter ausgebautem Ensemble aus drei Chören und zwei kompletten Orchestern noch mehrmals darzubieten. Außerdem gab ihm die auf die Johannes-Passionen von 1724 und 1725 gefolgte Matthäus-Passion offenbar die Idee, nicht nur 1731 eine dritte Passionsmusik nach Markus folgen zu lassen (deren Musik verschollen ist), sondern darüber hinaus weitere Großwerke in Arbeit zu nehmen. In diesem Zusammenhang entstanden in den 1730er Jahren die Oratorien zu Weihnachten, Ostern und Himmelfahrt, die Neufassung des Magnificat sowie die fünf Kyrie-Gloria-Messen in h-Moll, F-Dur, G-Dur, g-Moll und A-Dur, wovon die erste später zur vollständigen Messe erweitert wurde. Nach den 1720er Jahren 6

H.-J. Schulze, „So ein Chor haben wir in Wien nicht“. Mozarts Begegnung mit dem Leipziger Thomanerchor und den Motetten Johann Sebastian Bachs, in: Mozart in Kursachsen, hrsg. von B. Richter, Leipzig 1991, S. 50–62.

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komponierte Bach vergleichsweise wenig an neuer Kirchenmusik, dafür revidierte und verfeinerte er in stetigen Wiederauff ührungen das wesentlich in den 1720er Jahren geschaffene Repertoire, sodass es den eigenen und immer wachsenden Ansprüchen gerecht wurde. Insofern hat auch Bachs Kirchenmusik gerade aus der Abkehr von ihr letztlich nur gewonnen. Weder die Matthäus-Passion noch die h-Moll-Messe wären ohne die Revisionen und Zutaten der 1730er und 1740er Jahre zu jener Form gelangt, in der sie dann letztlich überliefert wurden. Bachs Hinwendung zu Werken dieser Art hat denn auch die frühe Rezeption seiner geistlichen Vokalwerke neben den Motetten entscheidend mitgeprägt. Die 1786 unter Carl Philipp Emanuel Bach in Hamburg erfolgte Auff ührung des Symbolum Nicenum und die bald nach 1800 erfolgte Drucklegung der A-Dur-Messe und des Magnificat sowie die spätestens 1818 nachweisbaren Bemühungen um die Veröffentlichung der h-Moll-Messe sprechen für sich. Ich komme zum Schluss, hoffe jedoch, in dieser notwendigerweise verkürzten Darstellung plausibel gemacht zu haben, worin das Ungewöhnliche an Bachs Kantorat bestand: in einer schier unglaublich intensiven, breiten, tiefen und vielseitigen musikalischen Tätigkeit, ja in einer echten Auseinandersetzung mit Musik auf allen denkbaren Ebenen, zumal dem anspruchsvollen Spielen und Singen auf Solo- und Ensemblebasis. Für die Thomasschule und die Thomaner standen diese 27 Jahre mit Bach ohne Zweifel im Zeichen eines permanenten Ausnahmezustands, eines Dauerstresses. Und unter diesem Aspekt erscheint es durchaus nachvollziehbar, wenn Bürgermeister Stieglitz (der von den ständigen Beschwerden über die von Bach provozierten Vorfälle vermutlich ebenfalls erschöpft war) dafür plädierte, als Nachfolger keinen Kapellmeister, sondern einen Kantor zu wählen. Sein Ziel war, das Thomaskantorat auf bewährtes Normalmaß zu bringen, was denn auch kein Kunststück war. Dass jedoch der für ihn inakzeptable Ausnahmezustand unter Bach der geistlichen Musik und der Chortradition nicht nur im späteren 18. und im 19. Jahrhundert, sondern bis zum heutigen Tag die Perspektiven wies, konnte er schwerlich voraussehen.

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Stefan Altner Institutionelle Reform und lebendige Ensembletradition: Die Thomaner im späten 18. und im 19. Jahrhundert – Versuch einer kursorischen Übersicht Vorbemerkung: Die Niederschrift eines frei anhand von Bildern und Tonaufnahmen gehaltenen Vortrags gestaltet sich kompliziert. Dennoch sollen hier einige der Grundzüge des Vortrags zusammengetragen werden. Im Wesentlichen fußen diese auf bereits vorliegenden Arbeiten 1 des Vortragenden, die hier zum Teil wörtlich mit verwendet werden, ohne dass sie als Zitate besonders gekennzeichnet sind. Primär- und Sekundärquellen werden selbstverständlich bezeichnet. Die Kernaufgabe des Thomanerchores im städtischen und kirchenmusikalischen Gefüge Leipzigs war seit der Gründung 1212 gleich, und sie ist es großteils auch noch heute: die Mitwirkung bei der Ausgestaltung der musica sacra in der Thomaskirche.2 Diese Grundfeste hat sich als Kontinuum beharrlich erhalten, womit eine scheinbare Zeitlosigkeit konstatiert werden kann. Dennoch haben sich gerade mit den Zeitläuften nach Bachs Tod und im ganzen 19. Jahrhundert die Rahmenbedingungen, in denen die Thomasschule, der Thomanerchor und auch die Orte der kirchlichen Musikauff ührungen eingebunden sind, elementar geändert, ja es bestand zeitweise gar Sorge um den Fortbestand des Thomanerchores, der ältesten Leipziger Kultureinrichtung.3 Allein wenn man sich die rasanten Veränderungen des Weichbildes der Stadt Leipzig vergegenwärtigt, ausgehend am Ende des 18. Jahrhunderts von einer Kommune innerhalb der Ringstadtmauern mit

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S. Altner, J. S. Bach und die Thomaner – bis zur großen Bach-Renaissance im 19. Jahrhundert, in: Thomaner-Almanach 4. Beiträge zur Geschichte und Gegenwart des Thomanerchors, hrsg. von S. Altner, Leipzig 2000, S. 4–7; ders., Moritz Hauptmann, Thomaskantor von 1842 bis 1868 zur Zeit der Romantik sowie der Bach-Renaissance, in seinen Briefen an Franz Hauser, in: ebenda, S. 8–41 (angereichert mit zahlreichen ergänzenden Dokumenten aus dem Archiv des Thomanerchores); ders., Eine Jugend für die Musik? Die Thomaner in der Bach-Zeit und bis zur großen Bach-Renaissance im 19. Jahrhundert, in: Leipziger Blätter 36 (Frühjahr 2000), S. 12f.; ders., Das Thomaskantorat im 19. Jahrhundert. Bewerber und Kandidaten für das Leipziger Thomaskantorat in den Jahren 1842 bis 1918, 2. Auflage, Leipzig 2007 sowie 800 Jahre Thomana. Vormals wurde auch in anderen Stadtkirchen (vor allem bis 1940 in der Nikolaikirche) musiziert, und das Singen zu städtischen, kirchlichen und universitären Kasualien nahm großen Raum ein, was heutzutage kaum noch vorkommt. An deren Stelle sind andere Aufgaben wie Konzertreisen, Medienproduktionen etc. getreten. Nach Einführung der Reformation in Leipzig übernahm die Stadt Leipzig die Alimentierung des Thomanerchores (wie einst auch die der Thomasschule und der Thomaskirche). Der Thomaskantor ist seit dieser Zeit somit ein Angestellter der Stadt Leipzig.

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ca. 30.000 Einwohnern bis hin zu einer bedeutenden Großstadt im Deutschen Reich am Ende des 19. Jahrhunderts mit ca. 400.000 Einwohnern, dann ist deutlich zu erkennen, wie sich die über Jahrhunderte gewachsene zentrale Alleinstellung der Thomana (hier als Trias von Schule, Chor und Kirche zu verstehen), weil bis dahin konkurrenzlos, neu etablieren musste. Die Thomasschule hat sich von einer Lateinschule mit zugehörigem Alumnat mit einst etwa 250 Schülern hin zu einem neuhumanistischen Gymnasium – seit 1877 an neuem Standort in der Schreberstraße – mit etwa 700 Schülern verändert. Das Alumnat kam erst 1881 hinzu, nach äußerst angespannter Zeit der Diskussionen um den Fortbestand. Die etwa 60 Thomaner (Choristen) wurden im neuen Schulkomplex bei weitem nicht mehr als für den gesamten Schulalltag allein maßgeblich betrachtet. Zudem waren nunmehr auch nicht mehr wie zur Bach-Zeit fast ausnahmslos auswärtige Alumnen, also Zöglinge und Sänger zugleich, im Alumnat untergebracht, aus denen sich die Chorsänger rekrutierten. Zur Bach-Zeit gab es neben dem Thomas- und Nikolaigymnasium wenige andere Schulangebote in Leipzig. Mit der Vergrößerung der Stadt und dem rapiden Anwachsen der Einwohnerzahl wurden zahlreiche neue und moderne Schulen mit unterschiedlichen Unterrichtsangeboten errichtet. Sachsen wurde mit dem Ende des alten Reiches 1806 zum Königreich erhoben und erlitt nach der Teilung 1815 große Gebietsverluste, wodurch erhebliche wirtschaftliche Schäden entstanden. Erst ab etwa Mitte der 1830er Jahre kam es zum wirtschaftlichen Aufschwung (nach dem Beitritt zum Zollverein, dem Aufbau einer Eisenbahn etc.). Die Thomasschule ist wie durch ein Wunder heil aus den zahlreichen Kampf- und Lazarettzwängen herausgehalten worden, anders als die benachbarte Thomaskirche. In Leipzig gab es die in Sachsen einzige Landesuniversität, die übrigens von vielen ehemaligen Kruzianern besucht wurde. Aus dem Chor heraus entstanden im Zuge der burschenschaftlichen Freiheitsbewegung Männerchorvereinigungen wie 1849 der Gesangsverein „Arion“, der als ein Ableger der Thomana zu betrachten ist und dem mit wenigen Ausnahmen alle Alumnen beitraten, die in die oberen Klassen versetzt wurden.4 Dank des 1843 von Felix Mendelssohn Bartholdy initiierten Konservatoriums wurde Leipzig ein weithin beachtetes Zentrum der Musikerausbildung, in dem die Thomaskantoren stets eine wichtige Rolle spielten.

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Handbuch der Deutschen Sängerschaft, bearbeitet von W. von Quillfeldt, Dresden 1928, S. 100f.: „Seit seiner Gründung nimmt der Arion eine bedeutende Stellung in der Musikwelt Leipzigs ein. [...] Seine gesanglichen Leistungen werden dadurch verbürgt, daß überlieferungsgemäß die Alumnen der beiden weltberühmten Schulen Thomana und Cruciana beim Arion aktiv zu werden pflegen. Bis vor kurzem vertrat der Arion während der Ferien den Thomanerchor in seinen Motetten. Wegen musiktechnischer Schwierigkeiten mußte leider von dieser Gepflogenheit abgesehen werden. Die beiden öffentlichen Konzerte und das Weihnachtsstück des Arion bilden Ereignisse, die das regste Interesse der künstlerischen und musikalischen Welt Leipzigs und auch weit über dessen Grenzen hinaus erregen.“

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Die internen Veränderungen im Schul- und Chorreglement waren bis zu den Umzügen in das neue Schulgebäude 1877 und in das Alumnat 1881 eher gering, sodass man nicht allzu fehl geht, wenn man Vieles gleichartig fortbestehend in den Jahrzehnten nach Bach ansieht. Die Ämter, die Thomaner von alters her übernehmen, um den Choralltag zu bewerkstelligen, haben sich kaum geändert. Noch immer gibt es Präfekten, Domestikus, Quästor, Famuli etc. Ein wesentliches Amt, der Leichenfamulus, fiel weg, seit das Singen der Thomaner zu Beerdigungen 1876 abgeschaff t wurde; der Calfactor wurde mit den neuen Gebäuden in der Westvorstadt ebenfalls überflüssig. Wie heute mussten musikalische Präfekten dem Thomaskantor bei der Probenarbeit helfen, die Motetten dirigieren, den Orchesterpart am Klavier spielen.5 Erst 1837 fielen die dreihundert Jahre lang üblich gewesenen Singumgänge – die Kurrende – und das Büchsentragen weg. Der damit einhergehende Ausfall an Einkünften sollte durch zwei jährliche Konzerte wettgemacht werden. Das Singen zu Beerdigungen, die Leichenbegängnisse, wurde erst 1876 ganz abgeschaff t. Die finanziellen Ausfälle mussten von der Stadt Leipzig kompensiert werden. Zur Chorkleidung ist bekannt, dass die Choristen schwarze Mäntel (Schalaune) trugen, sowie eine Perücke, Dreispitz und eine schwarze Halsbinde. Die Kleiderordnung der Thomaner wandelte sich im 19. Jahrhundert entscheidend. Bei Carl Augustin Grenser 6 findet sich unter dem Jahr 1791 der lapidare Eintrag: „Die Thomasschüler tragen noch Mäntel und Stutzperücken“.7 Nachdem seit 1793 keine Perücken und außerhalb der musikalischen Dienste auch keine schwarzen Chormäntel mehr getragen werden mussten, trugen die Thomaner seit 1812 anstatt der bisherigen Dreispitze

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Im Führer durch die musikalische Welt. Adressbuch, Chronik und Statistik aller Städte von Bedeutung. Leipzig, hrsg. von B. Senff, Leipzig 1868, finden sich die Angaben zum Thomanerchor auf S. 2f. unter „Kirchenmusik, Concert- und Kammermusik, Oper“: „[...] Die Functionen des Cantors bestehen im Einstudiren und Leiten der Kirchenmusiken, welche allsonntäglich in den beiden Hauptkirchen zu St. Thomä und St. Nicolai abwechselnd stattfinden und von einem Theil der Alumnen und dem Stadtorchester besorgt werden. Auch der Chor besteht nach wie vor aus 60 Alumnen, die in vier Chöre getheilt sind, von denen jedes einen sogenannten Präfecten (meist musikalisch vorgerückte Primaner) an der Spitze hat. Diese vier Chöre haben den gottesdienstlichen Gesang in den Kirchen St. Thomä, St. Nicolai, St. Petri und in der Neukirche zu versehen, das erste derselben als das stärkste und aus den besten Kräften bestehende wirkt außerdem noch in den erwähnten Kirchenmusiken mit. Alle vier vereinigt führen sie die Motetten aus, welche jeden Sonnabend Nachmittag ½ 2 Uhr (meist zwei an der Zahl) in der Thomaskirche schon seit langer Zeit stehend geworden sind und von den Präfecten unter Oberaufsicht des Cantors einstudirt und dirigirt werden. Gegen Entgelt singt das Thomanerchor bei Begräbnissen, Trauungen etc., sowie es auch bei Chorauff ührungen im Gewandhause mitwirkt. Die sogenannten ‚Umgänge‘ oder das Currende-Singen haben seit den dreißiger Jahren aufgehört.“ Carl Augustin Grenser (* 14. 12. 1794 in Dresden, † 26. 5. 1864 in Leipzig), seit 1814 Flötist im Gewandhausorchester, 1843 Lehrer am neu gegründeten Konservatorium. C. A. Grenser, Geschichte der Musik hauptsächlich aber des großen Conzert- und TheaterOrchesters in Leipzig, 1750 –1838, hrsg. von O. W. Förster, Leipzig 2005, S. 56.

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Abbildung 1: „PaulunerKirche“ [!] mit Leichenzug, von Thomanern begleitet (kolorierter Stich von Karl Georg Schwarze, 1789, „Suite von Leipzig“, Archiv des Thomanerchores)

hohe, schwarze Hüte (Dohlen).8 In seiner biografischen Studie über den Weg Gottfried Stallbaums vom Thomasschüler bis zum Rektor der Thomasschule beschreibt Albert Brause 9 einige Veränderungen. Seit den 1830er Jahren verfolgten die Thomaner die Abschaff ung der Chormäntel, die sie ab 1837 nur noch zur Kommunion tragen mussten. Am 27. Februar 1847 wurden sie abgeschaff t. Nun wollten sich die Schüler 8

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Siehe A. Brause, Johann Gottfried Stallbaum. Ein Beitrag zur Geschichte der Thomasschule in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, I. Teil, Leipzig 1897, S. 24f. Außerdem: Alumnatsordnung von 1829, 1837 von Rektor Stallbaum bestätigt, siehe D-LEsa, Thomasschule 323 (Entwürfe von Schulordnungen u. Instruktionen für Angestellte der Thomasschule 1723–1873), fol. 307– 325: „VI. Kleider-Ordnung / §. 45. Außer dem Hause müßen die Alumnen stets in schwarzer Kleidung erscheinen, und im öffentlichen Dienste (das große Concert ausgenommen) mit dem Mantel. Im Hause ebenfalls vollständig gekleidet bey’m Gebete, in den Lectionen so wie bey’m Mittagstisch. Bey’m Studiren ist ihnen ein dunkler Oberrock erlaubt, dessen sie sich auch im Garten; ferner bey Eintritt strenger Winterkälte, in den Kirchen, ingleichen bey Beerdigungen (hier jedoch nicht ohne Mantel) so wie bey’m Spazierengehen bedienen dürfen. / §. 46. Mützen statt der Hüte, so wie irgend eine bunte Abzeichnung an irgend einem Theile der Kleidung zu tragen, ist verboten; dagegen, ohne Unterschied, Halb-Stiefeln unter den Beinkleidern zu tragen erlaubt ist. Daß die Kleidung stets rein und unzerrissen seyn müße, versteht sich ohnehin.“ Albert Brause (* 10. 3. 1852 in Spahndorf, † 28. 9. 1924 in Gaschwitz), Lehrer der Thomasschule von Ostern 1876 bis 31. 12. 1905 im Ruhestand. Siehe G. Tesmer und W. Müller, Ehrentafel der Thomasschule zu Leipzig. Die Lehrer und Abiturienten der Thomasschule zu Leipzig 1912–1932, Leipzig 1934, S. 10.

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auch noch vom schwarzen Frack und dem hohen Hut befreien und hoff ten, dass sie im Sommer auch helle Überröcke und Mützen tragen dürften. Laut Thomasschulrektor Johann Gottfried Stallbaum war der Hut ein guter Hüter. Mit dem Tragen bunter Kleidung sah man eine gefährliche Gesinnung der nach deutscher Einheit strebenden burschenschaftlichen Bewegung verbunden. Thomaskantor Moritz Hauptmann,10 Thomasschulrektor Stallbaum und andere Lehrer waren strikt gegen die Änderungen. Es wurde ab Januar 1849 gestattet, dunkle Überröcke zu tragen, der Hut wurde nicht abgeschaff t. Der nur zwei Jahre wirkende Rektor Friedrich Kraner 11 hat das Verdienst der „Abschaff ung des Zopfes auf dem Alumnat. Der hohe Hut, vulgo Esse, den jeder Alumnus zum Gespötte der Leute, stets tragen mußte, brauchte blos noch beim Kirchgang und bei Leichen getragen werden.“ 12 Wann genau dieser Hut gänzlich wegfiel, konnte nicht ermittelt werden.13 Auch ließ sich nicht mit Bestimmtheit ermitteln, wann bei den Thomanern der bis heute tradierte Konzertanzug, die sogenannte Kieler Bluse, für die „Knaben“ (Sopran und Alt) eingeführt wurde. Aus dem viktorianischen England kommend, wurde in ganz Europa (in Deutschland seit 1889) der Kieler Anzug oder Kieler Bluse von der Mode eingeführt. Maßgeblich dafür war sicher auch die besondere Affinität des Deutschen Kaisers Wilhelm II.14 zur Marine. In einem „Verzeichnis der in der Thomasschule nöthig scheinenden Baulichkeiten und Reparaturen“ 15 von 1829 bittet Rektor Stallbaum neben kleineren Arbeiten um die Erlaubnis der Entrümpelung, davon sind auch „Claviere“ betroffen: Unter anderem ist zu lesen: „6.) Im Musiksaale fehlen einige Notenpulte, indem die alten zusammengebrochen sind. / 7.) [...] / Auf dem Schulboden sind mehrere alte Geräthschaften, die nur den Raum wegnehmen, und zu nichts mehr brauchbar sind, z. B. alte Claviere, Gestelle. u. s. f. Wäre es nicht wünschenswerth denselben davon zu befreien?“ Hier sind immerhin einmal Hinweise auf mögliche Übinstrumente der Alumnen zu finden, wenn davon auszugehen ist, dass besagte „alte Claviere“ Clavichorde gewesen sein werden. Wer, wann und mit welchem Zeitaufwand und welcher Effizienz den Unterricht an welchen Instrumenten, mit welchen Noten erteilt hat, ist bisher nicht umfassend erforscht. Alle Alumnen kann der Kantor im Instrumentalunterricht nicht übernommen haben! 10 Moritz Hauptmann (* 13. 10. 1792 in Dresden, † 3. 1. 1868 in Leipzig), Geiger, Musiktheoretiker, Herausgeber, Komponist und 1842 –1868 Thomaskantor. 11 Friedrich Kraner (* 15. 10. 1812 in Eibenstock, † 17. 1. 1863 am Typhus in Leipzig), Rektor der Thomasschule 1862 –1863. 12 Archiv des Thomanerchors Leipzig, Manuskript ohne Signatur, S. 243. 13 Noch 1898 liest man bei A. Brause, Stallbaum (wie Fußnote 8), II. Teil, Leipzig 1898, S. 21: „So dauerte denn diese an das Mittelalter gemahnende Tracht noch fort. Sie hat bis in die neueste Zeit herein fortbestanden, bis [...] endlich [...] die jugendliche Sängerschar mit dem bunten Rocke und der grünen Mütze auf dem Kopfe auch bei Beerdigungen und im Gottesdienst erscheint.“ 14 Wilhelm II. (* 27. 1. 1856 in Berlin, † 4. 6. 1941 in Doorn), König von Preußen und Deutscher Kaiser 1888 –1918. 15 D-LEsa, Stift. VIII B 36, Vol. I (Acta, Baue und Reparaturen am Thomasschulgebäude s. w. d. a. betr.), fol. 65.

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Das Gewandhausorchester, das bis heute bei Bach-Auff ührungen der Thomaner mitwirkt, lässt sich auf die Stadtpfeifer zurückführen, die großteils alle benötigten Musikinstrumente abdecken konnten, wie Violine, Oboe, Querflöte, Trompete und Waldhorn sowie die gebräuchlichen Bassinstrumente. Doch die Thomaner müssen sich am Ende des 18. Jahrhunderts neben ihren sängerischen Fähigkeiten ganz wacker auf zahlreichen Instrumenten geschlagen haben, wie Thomaskantor Johann Adam Hiller 1793 die musikalischen Aufgaben der Thomaner beschreibt, die nicht nur das Singen einschlossen: Unter meinen 56 jungen Leuten zwischen 13 und 21 darf höchstens einer amusis sein; es befinden sich darunter mehrere Talente für das Klavier- und Orgelspiel, der eine der Schüler kann Pauke, ein anderer Baßposaune spielen; auch sind 5 gute Violinspieler da und weitere 5–6 eifern ihnen nach. In den Übungsstunden Montag, Mittwoch und Freitag von 11–12 Uhr sind die Violinen wenigstens mit 30 Spielern besetzt, die Bratschen dreifach, die Bässe mit 2 Contreviolones, 2 Violoncellen, 2 Fagotten. Dazu kommen 2 Flöten und 2 Waldhörner, so daß sich das Personale der Instrumente wenigstens auf 23 beläuft und für den Gesang der Chöre noch immer 32 übrigbleiben. In Wahrheit ist es ein Institut, das Leipzig zu großer Ehre gereicht. Welche Stadt in Deutschland, außer Dresden, hat etwas, das unserm Alumneo gleichkäme? 16

Fünfzig Jahre später, 1844, hat Thomaskantor Moritz Hauptmann Nöte, die in den Partituren von Bach vorgesehenen Instrumente zu besetzen, und ersetzt sie durch die im romantischen Orchester gebräuchlichen. Wir haben am Palmsonntag und Charfreitag als Passionsoratorium die Passion nach dem Johannes gegeben; die ist doch auch sehr respectabel: der erste Chor, die Judenchöre, z. B. ‚wäre dieser nicht ein Uebelthäter‘, das ‚Kreuzige‘, dann auch mehrere Arien – einige mußte ich weglassen; die Baßarie mit der Laute macht sich sehr schön, die Lautenfigur für die Violen und Clarinette (tiefe Lage), die Viole d’amour in den Geigen – die Altarien sang Susette [Hauptmanns Ehefrau] sehr schön; die zweite die blos mit Viola da Gamba und Baß ist, ließ ich auf dem Corno inglese blasen, den bezifferten Baß für Violoncells und Violen [an Stelle der Orgel oder des Cembalos; Instrumente, die Hauptmann ablehnte]; es klang sehr schön und hat sehr gefallen, auch die Baßarie mit dem ‚Wohin‘ des Chors. Es ging alles ganz glatt weg.17

Die Musik Bachs wurde mit der Zeit zu einem Steinbruch, man nahm sich daraus, was passte, und führte sie nur bruchstückhaft auf. Wie zu Zeiten Bachs bewohnte der Kantor gemeinsam mit dem Rektor und den 54 bzw. 56 Alumnen sowie den Wocheninspektoren das Thomasschulhaus am Thomaskirchhof, das, nach der großen Erweiterung 1730/32, 1828/29 nochmals saniert und erweitert wurde. Die hygienischen Bedingungen müssen zeitweise grausig gewesen 16 J. A. Hiller in der Berlinischen Musikalischen Zeitung 1793, Nr. 8 (30. März), zitiert nach St. Thomas zu Leipzig. Schule und Chor. Stätte des Wirkens von Johann Sebastian Bach. Bilder und Dokumente zur Geschichte der Thomasschule und des Thomanerchores mit ihren zeitgeschichtlichen Beziehungen, hrsg. von B. Knick, Wiesbaden 1963, S. 252. 17 Susette Hauptmann, geb. Hummel (* 12. 3. 1811 in Paris, † 30. 10. 1890 in Leipzig). Zitiert nach Hauptmann Briefe, Bd. 2, S. 16f.

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Abbildung 2: Moritz Hauptmann (Fotografie, 1860er Jahre)

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Abbildung 3: Susette Hauptmann (Fotografie, 1860er Jahre; Fotoalbum aus einer Sammlung von Dr. Friederike Treff tz, Dresden, mit Bildern Leipziger Musikerpersönlichkeiten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, jetzt im Mendelssohn-Haus Leipzig)

sein. Von Ratten und sonstigem Ungeziefer wird noch bis weit in das 19. Jahrhundert berichtet.18 Dass Thomaner nicht nur Engel waren und es eine dauerhaft geäußerte Unzufriedenheit der Thomaskantoren mit den Leistungen der Thomaner gab, davon zeugen zahlreiche Überlieferungen in den Schul-, Chor-, Kirchen- und Ratsarchivalien. 18 Ein häufiges Problem in den Akten stellt das massenhafte Auftreten und die Vertilgung von Ungeziefer im gesamten Haus dar: D-LE sa, Stift. VIII B 36, Vol. I (Acta, Baue und Reparaturen am Thomasschulgebäude s. w. d. a. betr.), fol. 221 (Bericht aus dem Jahr 1862): „Dringend nothwendig ist es, daß recht bald etwas zur Vertilgung der Mäuse und Ratten geschieht, welche trotz der Jagden, die die Alumnen täglich auf dieselben machen, in entsetzlicher Weise überhand nehmen, eben sowie die Wanzen in den Betten der Alumnen.“ Um dem Übelstand abzuhelfen, wurden Ungeziefervernichter bestellt, die aber nur bezahlt werden sollten, falls ein Erfolg sich einstellt, was in Zeiten ohne chemische Hilfsmittel fraglich war.

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Über den Eintritt in den Chor im 18. Jahrhundert erfahren wir von Friedrich Rochlitz 1785: Doles 19 bedurfte eben eines guten Sopranisten, der ich war: da drang er auf meine Annahme, und der gelehrte, rauhe Rector, Johann Friedrich Fischer,20 sonst in Allem sein erklärter Gegner, gab diesmal nach, weniger ihm, als jenen Umständen. Ich aber – der noch nicht dreizehnjährige, von Natur und mehr noch von immerwährendem Stubenleben keineswegs robuste, an sorgsame, sittige, liebreiche Behandlung gewöhnte Knabe – bekam auf einem Institute, wo damals noch der crasseste Pennalismus herrschte, wo die Untern den Obern ausser den Schulstunden wahrhaft als Sclaven und zu den niedrigsten Diensten, zu ganz unbedingtem Gehorsam, willkürlichen Demüthigungen und selbst Züchtigungen hingegeben waren: ich bekam das Schwierige und Lastende jenes Ungewöhnlichen und Vorzeitigen meiner Aufnahme schmerzlich genug zu empfinden.

Rektor Rost 21 beschreibt 1810 den Kräfteverschleiß der Thomaner in der Rede an den neuen Kantor Schicht in schönstem Latein: „nam crede mihi, aliis, haud pauci huius scholae ergregii discipuli ob nimiam vocis et pulmonum, omniumque corporis virium intentionem lenta tabe aliisue morbis misere consumti sunt, [...]; multi per, continuam in musicis occupationem animum ad literas adiicere prohibite, [...]“ (Denn glaube mir, nicht wenige treffliche Schüler sind durch allzu große Anstrengung [...] an Schwindsucht oder anderen Krankheiten elend zugrundegegangen [, ...] viele durch fortwährende Beschäftigung mit der Musik von wissenschaftlichen Studien abgehalten [...].) Und als Fußnote erklärt Rost auf Deutsch: Wenn [...] Knaben, zuweilen in der strengsten Winterkälte, ohne etwas im Leibe und nicht viel auf dem Leibe zu haben, oft an einem und demselben Tage in aller Frühe auf den entfernten Begräbnißplatz laufen und an den Gräbern singen, dann zu dem Frühgottesdienst in die kalten Stadtkirchen zurückeilen, von da in die Universitätskirche, schließlich zum Mittagsgottesdienste, dann zur Vesper sich einfinden, nach deren Beendigung zur Currende und aufs neue zu den Leichen, und endlich wieder ins Concert bis auf den späten Abend gehen müssen; so frage ich, ob ihnen das nichts schaden soll. [...] Die Aeltern übergeben ihre Kinder nicht unserer Willkür, sondern unserer väterlichen und vernünftigen Fürsorge, von der wir ihnen zwar nicht in gleicher Form, aber aus eben so wichtigen Gründen, als der Obrigkeit selbst, Rechenschaft zu geben schuldig sind. Unsere Schüler werden dereinst unsere Richter seyn.22

19 Johann Friedrich Doles (* 23. 4. 1715 in Steinberg-Hallenberg, † 8. 2. 1797 in Leipzig), Thomaskantor 175 6–1789. 20 Johann Heinrich Fischer (* 10. 10. 1726 in Coburg, † 11. 10. 1799 in Leipzig), seit 1748 Lehrer, seit 1751 Konrektor und 1767–1799 Rektor der Thomasschule. 21 Friedrich Wilhelm Ehrenfried Rost (* 11. 4. 1768 in Bautzen, † 12. 4. 1835 in Leipzig), Rektor der Thomasschule 1800 –1835. 22 F. W. E. Rost, ORATIO AD INAVGVRANDVM SCHOLAE THOMANAE CANTOREM DIE XXX. APRIL. A. CHR. 1810, Leipzig 1810, S. 30ff.

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Abbildung 4: Ludwig Richter (zugeschrieben), Ein Ständchen der Thomaner, 1858. Druck nach einer verschollenen Bleistiftzeichnung, Leipzig 1920er Jahre (Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Foto: Christoph Kaufmann)

Zur Auff ührungspraxis Bachscher Musik mit den Thomanern und in ihrem Umfeld Bei Moritz Hauptmann ist über „Vortrag und Besetzung Bach’scher Cantaten- und Oratorienmusik“ nachzulesen.23 Darin wird unter anderem ausführlich auf die Behelfssituation der Klarinetteninstrumente verwiesen. Hauptmann klagt darin zudem wiederholt über die zu sehr instrumental-virtuos geführten Singstimmen bei Bach, deren Verwendung im krassen Widerspruch zu seinem eigenen Chorstil stand. Der Brief stammt vom 15. Februar 1858 an Franz Xaver Schnyder von Wartensee 24. Man kann sehr gut nachvollziehen, wie sehr sich Hauptmann mit den auff ührungspraktischen Problemen Bachscher Musik auseinandergesetzt hat. Dies betraf die nicht mehr gebräuchlichen Instrumente, die Aufstellung des Chors, die musikalische Umsetzung wie Schlussritardandi, die er nur als kurzes Innehalten vor der letzten Note haben wollte, wie den Verzicht auf Klangnuancierungen bei Chorälen, da sie die Gemeinde repräsentieren, den Wegfall von Crescendi durch Instrumentendopplungen bei kontrapunktischer Musik usf.25 Ganz andere Bestrebungen gab es in Hauptmanns musikalischer Umwelt zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In den Konzerten der aufstrebenden bürgerlichen Chor-

23 E. R. Jacobi, „Vortrag und Besetzung Bach’scher Cantaten- und Oratorienmusik“. Ein unbekannter Brief von Moritz Hauptmann an Johannes Brahms (15. Februar 1859), in: BJ 55 (1969), S. 78–86. Siehe auch die korrigierte Zuweisung bei E. R. Jacobi, Nochmals: „Vortrag und Besetzung Bach’scher Cantaten- und Oratorienmusik“. Ein Nachtrag zum gleichnamigen Artikel im BJ 1969, in: BJ 57 (1971), S. 82–90. 24 Franz Xaver Schnyder von Wartensee (* 18. 4. 1786 in Luzern, † 27. 8. 1868 in Frankfurt / Main), Komponist, 1852 –1868 Mitglied im Ausschuss der Bach-Gesellschaft. Siehe den Personenartikel von P. O. Schneider, in: MGG, Bd. 11, Sp. 1922 und Jacobi, Nochmals: „Vortrag und Besetzung“ (wie Fußnote 23). 25 Siehe B. F. Richter, Johann Sebastian Bach im Gottesdienst der Thomaner, in: BJ 12 (1915), S. 1–38, hier S. 14.

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Abbildung 5: Bernhard Friedrich Richter (Fotografie, ca. 1920, Archiv des Thomanerchores)

vereinigungen in den Kirchen und im Konzertbetrieb in den Konzertsälen kamen die Werke Bachs und Händels zumeist mit aufgebauschten Orchestrierungen zur Aufführung. Die Chorvereinigungen brachten mitunter ca. 300 Mitwirkende auf, um z. B. die Bachsche Matthäus-Passion aufzuführen. Dem Thomaskantor standen von der Anzahl her weiterhin nur seine Thomaner und wenige Gewandhausmusiker zur Verfügung. Nach Bernhard Friedrich Richter 26 waren es nur die pensionsberechtigten Mitglieder des Stadtorchesters: acht Geiger, zwei Spieler der Bratsche, zwei Cellisten und zwei Kontrabassisten. Hinzu kamen noch je zwei Bläser für Flöte, Oboe, Klarinette und Fagott. Für Choralbegleitungen an Festtagen gab es auch noch Blechbläser.27 So ist es nicht verwunderlich, dass sich Hauptmann im Vergleich zu dem um ihn herum sich neu formierenden Musikbetrieb, der mit großen Chor- und Orchesterbesetzungen aufwartete, als ein anachronistisches Überbleibsel aus alter Zeit sieht. Laut Bernhard Friedrich Richter soll 1864 bei einer Auff ührung der Bach-Kantate BWV 106 (Actus tragicus) im Riedel-Verein die Baßarie „Bestelle dein Haus“ mit un26 Bernhard Friedrich Richter (* 1. 8. 1850 in Leipzig, † 16. 4. 1931 in Leipzig), Organist, Kantor, Lehrer und Musikschriftsteller. 27 Über den Umgang Hauptmanns mit Bachschen Werken siehe B. F. Richter, Bach im Gottesdienst der Thomaner (wie Fußnote 25), S. 8–16.

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gefähr 150 Bassisten gesungen worden sein.28 Der Riedelsche Gesangverein bescherte dem Thomaskantor Verdruss und schaff te Konkurrenz zum tradierten Gesangsstil der Thomaner. In einem Brief vom 21. März 1858 an Franz Hauser 29 beklagt sich Hauptmann und ist zugleich wehrhaft selbstbewusst in seiner Kritik: Was das Leben betriff t, da ist jetzt hier ein Gesangverein seit etlichen Jahren ‚ins Leben getreten‘, der Riedelsche, von dem Sie wohl schon gelesen haben. Er führt nur alte Musik auf. Dessen Eifer und Fleiß ist gewiß recht zu loben; nun muß man aber die Zeitungen sehen, durchgängig, da ist nicht der gute Wille und das bedingte Gelingen gelobt – sondern die allerhöchste Vortreff lichkeit aller Leistungen und aller Mittel die dabei mitwirken, so daß es auch heißt, die Auff ührungen des Riedelschen Vereins sind gegenwärtig der Schwerpunkt auf dem das Leipziger Musikleben beruht; daß da die Singacademie und der Thomanerchor schlecht wegkommen als abgestandene Anstalten ohne Energie und Lebenskraft, versteht sich von selbst. [...] Daß in jeder bedeutenden Stadt ein Verein für alte Musik existire ist ganz gut. Ist’s auch nicht immer von musikalisch erquicklicher Bedeutung, so ist’s doch historisch interessant. Diese Antiquisten werden aber gleich so versessen und vernagelt, daß sie, gerad wie die Zukunftsleute, alle Gegenwart und was ihr nahe ist für überwundnen Standpunct halten. Bei solcher Bornirtheit kann vieles Gute sein, die Bornirtheit selbst ist aber Uebel. Zu den Riedelschen Auff ührungen werden 3000 Freibillets ausgegeben (für die Kirche), bezahlte giebt’s nicht. Und dann wird von der großen allgemeinen Theilnahme des Publikums gesprochen, von der wieder auf die Vortrefflichkeit der Production und des Producirten geschlossen wird. Wenn aber Sachen aufgeführt werden wie die Passion von H. Schütz, dilettantisch zugestutzt, hinein- und herauscomponirt um’s auff ührbar zu machen, aus 4 Passionen eine gemacht, mit den ‚schönsten Stellen‘ aus allen vier – das meiste aber, nehmlich den ganzen Evangelientext, außer den Worten, die, wie bei Bach, schon von Schütz für Chor gesetzt sind, neu componirt in affectirt alterthümlicher Weise und das dem großen Publikum als etwas absolut Schönes vorgeführt und in Programmen angepriesen wird – so führt das nur zu Kunstheuchelei. Recht innerlich ansprechen kann es die Leute wahrhaftig nicht und sie meinen sagen zu müssen, es sei wunderschön. Der Verein wird unterstützt von wohlhabenden Leuten – die man als nichtmitsingende die Blechinstrumente nennt. Ihr M. H.30

Die Renaissance der Werke der beiden Komponisten des Hochbarocks, Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel, später auch derer von Heinrich Schütz und anderen, entfachte unter den Herausgebern der Werke und unter den vorrangig praktischen Musikern einen langanhaltenden Streit über die Auff ührung des Basso continuo und zudem darüber, wie die nicht mehr gebräuchlichen Blasinstrumente zu ersetzen sein sollten. Hinzu kam die Frage nach der Besetzungsstärke für ein Werk wie etwa die Bachsche Matthäus-Passion und welchen Einfluss die Chorstärke auf eine nötige Neuinstrumentierung hat. In der ausführlichen Rezension von 28 Ebenda, S. 27. 29 Franz Hauser (* 12. 1. 1794 in Krasowitz bei Prag, † 14. 8. 1870 in Freiburg / Br.), Sänger und Gesangslehrer, Sammler von Bachiana. Siehe den Personenartikel von A. Dürr, in: MGG, Bd. 5, Sp. 1838 –1840. 30 Hauptmann Briefe, Bd. 2, S. 149–151.

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Selmar Bagge 31 über die Auff ührung der Matthäus-Passion am Karfreitag 1863 unter Carl Reinecke in der Thomaskirche erfährt man aus heutiger Sicht Erstaunliches. Einerseits beklagt sich Bagge über die Kürzung von Rezitativ-Teilen und zwölf Arien und Chorälen, wobei die Auff ührung dann immer noch drei Stunden dauerte, andererseits findet er es doch überlegenswert: „Sollte es nicht möglich sein, diese nicht minder werthvollen Perlen unter Bach’s Arien zeitweise zu berücksichtigen und dafür andere wegzulassen?“ Über die Besetzung ist zu erfahren: Die Besetzung der Chöre könnte gleicher und ausgiebiger gedacht werden, als sie war, da die hiesigen Gesangvereine bei der Passion je als Körperschaft mitwirken, so ist eine gewisse Regelmäßigkeit des Stimmenverhältnisses und eine Auswahl der besten Mitglieder nicht möglich; kein Wunder daher, wenn Alt und Tenor von Sopran und Bass etwas gedrückt erschienen. – Die Besetzung des Knabenchors in der Eingangsnummer war gegenüber dem dabei verwendeten Blech (zwei Trompeten und eine Alt-Posaune in der tieferen Oktave) 32 viel zu schwach, denn man

31 Selmar Bagge (* 30. 6. 1823 in Coburg, † 16. 7. 1896 in Basel), Cellist, Organist, Komponist, Chorleiter und Musikschriftsteller. Er redigierte 1863 –1868 in Leipzig die von Breitkopf & Härtel erneut ins Leben gerufene Allgemeine musikalische Zeitung und leitete daneben als Nachfolger von Robert Franz die Singakadamie in Halle. 1868 ging er nach Basel an die Musikschule und übernahm 1876 auch das musikwissenschaftliche Lektorat an der Universität Basel. Siehe den Personenartikel von I. Fellinger, in: MGG, Bd. 15, Sp. 411f. 32 In der von Robert Franz bei Breitkopf & Härtel 1867 erschienenen Bearbeitung der Matthäus-Passion von J. S. Bach ist der Choral im Eingangschor durch Klarinetten, DiskantPosaune (oder Trompete) „gestützt“. In der Tenorarie „Ich will bei meinem Jesu wachen“ treten bei dem Choreinsatz „So schlafen unsre Sünden ein“ gedeckte Pauken und Hörner hinzu. „Im Schlußchor Nr. 78 besteht die instrumentale Zuthat ausser den Clarinetten und Fagotten noch aus vier Hörnern in C und Es, drei Posaunen und zwei gedeckten Pauken. Nur die Hörner und Pauken wirken auch in den Ritornellen mit, die übrigen Instrumente treten erst mit dem Chor hinzu. Die Orgel greift in den beiden ersten Strophen nur beim Forte der Schlußtakte ein; im Mittelsatz begleitet sie zuerst den zweiten Chor mit seinem ‚Ruhe sanfte!‘, dann die Worte des ersten Chors‚ soll dem ängstlichen Gewissen etc.“ Siehe J. Schaeffer, Ueber die Bearbeitung der Bach’schen Matthäus-Passion durch Rob. Franz, in: LAMZ 3, Nr. 3 (15. Januar 1868), S. 17–19, hier S. 19. Selmar Bagge beklagt bei seiner Rückschau auf das Konzertjahr 1867/68 in Leipzig die uninspirierte Abnutzung der MatthäusPassion bei den jährlichen Auff ührungen zugunsten des Witwenfonds am Karfreitag: „So gewiss es ist, dass für diesen Tag kein anderes Werk (höchstens eine andere Passion Bach’s oder Händel’s) in so hohem Grad geeignet ist, so müssen wir doch gegen den unbeugsamen Stabilismus protestiren, der erstens ein solches Werk, durch zu häufige Auff ührung einer unvermeidlichen Gleichgültigkeit von Seite der Hörer aussetzt, zweitens aber sich über alle Anforderungen hinwegbegiebt, die in Folge wissenschaftlichen Eindringens und des natürlichen Verlangens nach immer würdigerer, den Intentionen des Meisters gerechter werdenden Ausführung von Seite Einsichtsvoller erhoben werden. Merkwürdig ist und bleibt es, dass weder z. B. Franz’ Bearbeitung in der Stadt, wo sie erschien, Berücksichtigung findet, noch irgend ein anderer wohlgemeinter Vorschlag auf fruchtbaren Boden fällt. Man huldigt offenbar dem Grundsatz: ‚Ist es bisher so gegangen, so kann es auch ferner so gehen‘. Solche Grundsätze haben sich aber allezeit als geisttödtend erwiesen und sollten von Künstlern, die an der Leitung Theil nehmen, nicht adoptirt werden.“ Siehe LAMZ 3, Nr. 17 (22. April 1868), Sp. 131.

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hörte thatsächlich vom Gesang des Chorals nicht das Geringste. [...] Ein wichtiger Punkt sind ferner die Tempi. [Bagge beklagt u. a. ein Wegrennen und den damit verbundenen Verlust der Majestät im Eingangschor und rät:] Wir bitten Herrn Reinecke, sich in solchen Fällen ja nicht zu geniren, sondern den Takt allenfalls laut auf das Pult zu schlagen: wir werden dieses Verfahren allemal mit dem entschiedensten Dank anerkennen.33

Mit diesen Ausführungen sind wir mitten in dem über Jahrzehnte andauernden und erbitterten Streit über die Auff ührung der kirchenmusikalischen Werke Bachs. Dieser Streit wurde erst nach 1904 etwas entschärft, als in einer Grundsatzdiskussion der Neuen Bachgesellschaft Richtlinien für die Ausführung des Basso continuo ausgehandelt wurden. Im Bach-Jahrbuch 1904 ist in dem Aufsatz Praktische Bearbeitungen Bachscher Kompositionen von Max Seiffert 34 der Sachstand ausführlich nachzulesen. Die Thomaner konnten sich ihr eigenes Urteil über die divergierenden Aufführungspraktiken verschaffen. Als nur ein Beispiel dafür sei hier das Konzert des Riedel-Vereins erwähnt, das am 9. November 1882 als Vorfeier des 400. Geburtstags von Martin Luther in der Thomaskirche stattfand und in dem sowohl der Thomaskantor Wilhelm Rust als auch Carl Riedel dirigierten. Es fanden sich dichtgedrängt Mitglieder der folgenden Chöre zusammen: Arion, Bach-Verein, Gewandhauschor, RiedelVerein, Singakademie und der volle Thomanerchor, um gemeinsam mit dem Gewandhausorchester Bachs „Reformationskantate“, dirigiert von Wilhelm Rust, und Albert Beckers „Reformationskantate“, dirigiert von Carl Riedel, aufzuführen. Besser kann die Spannung zwischen der Besetzungsgröße zweier etablierter Aufführungspraktiken in einer Kirche kaum dargestellt werden. Es ist zwingend, dass die Orchesterstärke wesentlich vergrößert werden musste. Hier konnte also nicht mehr von einer Einrichtung des Notenmaterials, sondern nur von einer Bearbeitung gesprochen werden, die weit über den Streit zur „Orgelfrage“ hinausgehen musste. Die Aufführungen Bachscher Werke mit den Thomanern im Sonntagsgottesdienst konnten sich nah an die Partiturvorgaben halten, da die Chorstärke in der Regel keine vergrößerte, Orchesterinstrumente verdoppelnde Einrichtung beziehungsweise Bearbeitung erzwang. So kam es, dass die Erfahrungen mit den Bach-Bearbeitungen von Robert Franz, zum Beispiel der h-Moll-Messe, der Matthäus-Passion und der Johannes-Passion sowie des Weihnachts-Oratoriums, nur bei Fremdveranstaltungen gesammelt werden konnten.

33 AMZ. NF 1, Nr. 16 (15. April 1863), Sp. 279f. 34 Max Seiffert (* 9. 2. 1868 in Beeskow, † 13. 4. 1948 in Schleswig), Musikforscher und Herausgeber. Siehe C. Dahlhaus, H. H. Eggebrecht und K. Oehl, Brockhaus Riemann Musiklexikon in vier Bänden und einem Ergänzungsband, 2. Auflage, Bd. 4, Mainz 1995, S. 145. – Max Seiffert hat eine Vielzahl von in Orgel- und Cembalostimmen geteilten Continuo-Aussetzungen Bachscher Werke hinterlassen, die sehr häufig auch in der Thomaskirche erklangen.

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Davon unbeeinflusst wird der Auff ührungsstil nicht gewesen sein. Die Thomaskantoren werden zunächst nicht ohne Wehmut die viel größeren, farbenreicheren Möglichkeiten der anderen Chöre betrachtet haben. Letztlich lag in dem Korsett, das durch die Chorstärke der Thomaner angelegt war, aber eine große Chance für die Wiedererstarkung des Thomanerchors. Er wurde als mustergültig, noch von der Bach-Zeit herrührend, betrachtet für den sich allmählich verstärkenden Trend hin zu kleiner besetzten, an die historischen Vorgaben angelehnten Auff ührungen. Dies betraf die Chor- und Orchestergröße, den historischen Ort und die liturgische Einbindung der Bachschen Werke. Hierfür wurde dem Thomanerchor eine wichtige Rolle zugewiesen, die gern kopiert wurde. Wie ist es gelungen, den Thomanerchor durch die vielen Widrigkeiten der Zeitläufte zu bringen, ihn nicht nur am Leben zu erhalten, sondern seine Stellung innerhalb der Leipziger Musikwelt sogar noch zu festigen? Ein wesentlicher Grundstein hierfür wurde schon in früheren Zeiten gelegt. In der Thomaskirche hat es seit Jahrhunderten eine hochstehende Figuralmusik- und Motettenkultur gegeben, die nicht erst durch Johann Sebastian Bach ein herausragendes Qualitätssiegel erhalten hat. Bach setzte hier allerdings neue Maßstäbe, und er galt allen nachfolgenden Kantoren als Maß der Dinge, an dem sie sich auch wirklich gemessen haben. Die tägliche Beschäftigung mit der althergebrachten, oft instrumental-virtuos gedachten und polyphonen Motettenform brachte notwendigerweise eine hochprofessionelle Musikausübung mit sich, die an den Werken von Heinrich Schütz, Johann Hermann Schein, Johann Sebastian Bach, Johann Friedrich Doles und Johann Adam Hiller geschult war. Auch die wesentlichen A-cappella-Werke von Johann Gottfried Schicht, Christian Theodor Weinlig, Moritz Hauptmann, Ernst Friedrich Richter, Wilhelm Rust, Gustav Ernst Schreck und die von ihnen aufgeführten fremden Werke sind an den Vorgaben der Motetten Bachs zu messen, wobei einige den Vergleich nicht zu scheuen brauchen. Bachs Motetten bedurften bei den Thomanern, anders als die Passionen und die meisten Kantaten, keiner Renaissance, denn sie waren stets, wenn auch nur in Auszügen, in Gebrauch. Die Motette Singet dem Herrn ein neues Lied zum Beispiel war fester Bestandteil vieler schulischer Festakte. In Leipzig bildete sich in diesem Kontext ein eigener Motettenstil aus, zu dessen Vertretern neben den sehr produktiven Thomaskantoren Schicht, Weinlig, Hauptmann, Richter, Rust und Schreck auch im weiteren Sinne die vom Berliner Kreis beeinflussten Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Volkmann, Albert Becker und Johannes Brahms gerechnet werden können, die sich allerdings nicht nur auf Johann Sebastian Bach beriefen. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts schufen die zahlreichen Verlage in Leipzig die Möglichkeit einer schnellen Verbreitung von neuen Werken. Wiederaufgefundene und kommentierte Werke wurden wieder zugänglich, der ehemalige Thomaner Friedrich

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Rochlitz 35 hat als Publizist und Herausgeber hierzu viel beigetragen. Einen Teil seiner Bibliothek hinterließ er der Thomana. Ein weiterer entscheidender Grund für die Hilfe zum Überleben und zum Weiterwachsen lag wohl darin, dass alle Thomaskantoren seit der Gründung des Leipziger Konservatoriums im Jahr 1843 an diesem Institut einflussreiche Lehrer waren und darüber hinaus als Privatlehrer wirkten. So konnten sie durch ihre Schüler weitreichende Lehrinhalte in die musikalische Welt tragen. Ihre gründlichen Kenntnisse in Musiktheorie und Komposition waren für viele Generationen hindurch, über den Tod der Begründer hinaus, durch ihre Lehrbücher beständig und richtungweisend. Erinnert sei hier an die Unterrichtswerke von Weinlig zur Fuge, an die zur Harmonielehre und Musiktheorie von Hauptmann und Richter, aber auch an die mustergültigen Bach-Editionen von Hauptmann und vor allem von Rust. Im Zusammenwirken von schulischer und chorischer Ausbildung kamen die Thomaner mit täglichen Proben, die vom Thomaskantor, von den Präfekten und zusätzlich auch von dem Gesangslehrer an der Thomasschule durchgeführt wurden,36 auf eine professionelle Stufe der Musikausübung, die so schnell von den neu aufkeimenden Chören in Leipzig nicht erklommen werden konnte. Die in den überlieferten Schulordnungen ausgewiesenen Probenzeiten wurden nicht sklavisch beachtet. Die Chorwerke wurden so lange geprobt, bis das Ergebnis dem selbstgesetzten hohen Anspruch gerecht wurde. Ohne die Beibehaltung des Alumnats hätte der Chor nicht

35 Johann Friedrich Rochlitz (* 12. 2. 1769 in Leipzig, † 16. 12. 1842 in Leipzig), Thomaner unter Doles, Komponist, Herausgeber und einflussreicher Musikschriftsteller. Siehe D-LEsa, Stift. VIII B 34 (Cap. III, Nr. 29, Schularchiv) (Acta, Die Thomasschule betr. Vol. III. 1839), fol. 138 (Auszug aus dem Testament des am 16. Dezember 1842 verstorbenen Hrn. Hofrath Friedrich Rochlitz, das er im November 1839 niedergelegt hat): „Testament: / II, 11. Von meiner Sammlung Musikalien werden die zahlreichen Werke für Kirchenmusik (Oratorien mit eingeschloßen,) mögen sie gestochen, in Typen gedruckt oder in Handschriften seyn, ausgesondert; und diese vermache ich der so dürftigen Bibliothek der hiesigen Thomasschule: alles Uebrige wird als Anhang zu meiner Büchersammlung und zu Gunsten meines Bruders versteigert. / Codicill. / zu Testament II, 11. Die Partituren aus meiner Musikaliensammlung, welche ich für die musikalische Bibliothek der Thomasschule bestimmt habe, und die aus den übrigen ausgesondert werden sollten, sind nun, von mir selbst ausgesondert, in drey Lagen gebracht, auch durch ein schriftliches Beyblatt bezeichnet, so daß sie ganz so, wie man sie findet, zu übergeben sind. / Ergebenst mitgetheilt den 18ten Januar 1843 von deßen Bruder und Universalerben Joh. Christ. Wilhelm Rochlitz.“. 36 Am 25. März 1872 gibt Rektor Eckstein auf Wunsch von Bürgermeister Koch ein Gutachten zum Beschluss der Stadtverordneten, in dem er die Beibehaltung des Alumnats eindringlich fordert unter Einräumung aller möglichen Schwierigkeiten, die er aber auch in anderen Schulgemeinschaften, nicht nur im Alumnat, erkennt: „Die Einübung der kirchlichen Gesänge erfordert zahlreiche Proben. Die musikalische Bildung der Zöglinge regelmäßigen Unterricht. Diesen Unterricht zu ertheilen wäre leicht, weil er an bestimmte Stunden gebunden ist. Das kann bei den Proben, bzw. zu den Motetten nicht geschehen; die Abendstunden werden dazu verwendet und wenn es nach wiederholten Proben noch nicht recht geht, auch außerordentliche Vor- und Nachmittagsstunden. Solche Ansetzungen machen bei dem Zusammenleben keine Schwierigkeit.“ Siehe D-LEsa, Stift. VIII B 60 (Cap. III Nr. 43, Schularchiv) (Kap. 57 C 2 Acta, den Neubau der Thomasschule Vol. I, betr. d. a. 1866).

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so souverän überstehen können.37 Hinzu kam noch, dass die dauerhafte Präsenz der Thomaner in der Öffentlichkeit – auch nach dem Wegfall der Singumgänge und sonstiger Dienstleistungen als Singende bei den Leipziger Bürgern – in den Motetten und in den sonntäglichen Kirchenmusiken mit Orchester in den beiden Hauptkirchen St. Thomas und St. Nikolai eine Gewähr war gegen das Abseitsdrängen. Auch dass die Stadt Leipzig diese Musikunternehmungen in der Kirche mitfinanzierte, brachte erhebliche Wettbewerbsvorteile. Die Thomaner selbst haben sich – so liest man in zahlreichen Berichten – mit klarem Stolz, gepaart mit einem erstaunlichen Verantwortungsbewusstsein, stets beste Leistungen zu bringen, immer als Teil einer langen, großen, zu erhaltenden Traditionslinie betrachtet. Thomaner haben zunächst als Aushilfen bei den neu entstandenen, bekannten Chören zahlreiche Aufgaben im größer werdenden städtischen Musikwesen zusätzlich übernommen. Man findet in den Chören ehemalige Thomaner und Kruzianer zusammen, da ihre gut ausgebildeten Stimmen gebraucht wurden. Die musikalische Gottesdienstform der Motetten (in der Regel mit zwei A-cappella-Teilen) in der Thomaskirche entwickelte sich zu einem festen Besuchermagneten für viele Leipziger und auswärtige Besucher. Hier wurden zahlreiche Werke erstaufgeführt. Die Thomasschule und damit die einstige Arbeitsstätte Bachs wurde zwar 1902 abgerissen, „seinen“ Chor hatte man aber noch immer. Die Thomaskantoren stellten sich an die Spitze der Wiederbelebung Bachscher Werke im gottesdienstlichen Kontext.

37 Diese Auffassung gab es schon 1870, als es erneut in einer in der Presse berichteten Diskussion aus dem Stadtrat um das Für und Wider der Beibehaltung des Alumnats ging. Ein Fürsprecher wird im Leipziger Tageblatt vom 23. April 1870 anonym zitiert: „Warum stehen die Sängerchöre an den nicht angeschlossenen Anstalten so weit zurück gegen die Thomaner? Doch gewiß nicht darum, weil wir uns die zum Gesange befähigten Knaben uns aussuchen! Aber die Regelmäßigkeit und Pünctlichkeit der Uebungen, die Tüchtigkeit der Leiter und das Gefühl alten bewährten Ruhmes sichert uns unser Gesanginstitut, das so einzig dasteht in der evangelischen Welt.“

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Im Jahre 2012 konnte der Thomanerchor sein 800-jähriges Bestehen feiern. Das Jubiläum war Anlass für ein Leipziger Symposium zum institutionellen und musikalischen Wandel chorischer Traditionen im 18. und 19. Jahrhundert. Die in diesem Band versammelten Beiträge dieses Symposiums stellen aus unterschiedlichen Perspektiven aufführungspraktische Aspekte wie das verfügbare Instrumentarium oder das Mutationsalter der Sänger vor und behandeln institutionelle Fragen wie das Präfektendirigat, die autonome Selbsterziehung und die Repertoirewahl der ThomasAlumnen.

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Geistliche Musik und Chortradition im 18. und 19. Jahrhundert Institutionen, Klangideale und Repertoires im Umbruch

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eben der Orgelmusik galt im 18. und 19. Jahrhundert der Chorgesang als die wichtigste kirchenmusikalische Ausdrucksform. Dass für die Neuaneignung Bachs gerade Chorgesang und Chormusik eine bedeutende Rolle spielten, scheint konsequent. Die Napoleonische Ära veränderte jedoch mit ihren politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen die Musikpflege und bedeutete nicht zuletzt durch das postaufklärerische Neuverständnis von Gottesdienst, Kirchenmusik und schulischer Bildung für manche altehrwürdige Musikeinrichtung das Ende. Die Leipziger Thomasschule mit ihrem musikalischen Alumnat widerstand jedoch diesen unruhigen Zeitläuften. In einem langwierigen Umgestaltungsprozess verzahnte sie sich mit dem Gewandhaus, das Mitte des 18. Jahrhunderts aus einer bürgerlichen Sozietät hervorgegangenen war.

Geistliche Musik und Chortradition im 18. und 19. Jahrhundert Institutionen, Klangideale und Repertoires im Umbruch

Breitkopf & Härtel


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