Den Glauben bewahren - Auszug

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Marius Timmermans Den Glauben bewahren



Marius TiMMerMans

Den Glauben bewahren Heidelberger Trilogie band 3

Auf der Reise zum wahren Glauben


1. Auflage 2016 © Marius Timmermans, 1999 Erschienen bei B.V. Uitgeverij de Banier, Utrecht (NL) Originaltitel: Hegt geloof behouden © der deutschen Übersetzung Betanien Verlag 2016 Postfach 1457 · 33807 Oerlinghausen www.betanien.de · info@betanien.de Übersetzung: Carsten Evers, Hermann Grabe Redaktion: Hans-Werner Deppe Cover: Sara Pieper, Betanien Verlag Umschlagbilder: Zeichnung Adri Burghout Fotos: istockphoto.com · Mann: amazingmikael, Frau: Studio-Annika Satz: Betanien Verlag Druck: Druckhaus Nord, Bremen ISBN 978-3-945716-23-6


Inhalt 1 Der falsche Bettelmönch

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2 Im besetzten Gebiet 18 3 Ein würdiges Begräbnis 33 4 Der nächtliche Überfall 44 5 Der kleine Hügel 56 6 Arbeiten bis zum Umfallen 66 7 Die Überfahrt 76 8 Wie auch wir vergeben …? 86 9 Ein neuer Anfang? 99 10 Die Entfremdung 107 11 Ankunft bei Fremden 121 12 Zufall gibt es nicht 136 13 Das Leben im Wald 150 14 Wenn alles ungünstig scheint 163 15 In der Tiefe Gott begegnen 170 16 Nach dem Leid schenkt er die Freude 182 17 Flüchtlingshilfe 196 18 Die große Überraschung 209 19 Der polnische Offizier 222 20 Die Aussöhnung 235 21 Annehmen oder warten? 248


22 In großer Gefahr 264 23 Die Rache des Hauptmanns 279 24 Seid nicht besorgt 290 25 Unbemerkt im Widerstand 307 26 Die Hochzeit in Frankenthal 320 27 Auf alten Spuren 330 28 … mehr, als wir zu bitten wagen 342 29 Die große Wende 358 30 Den Glauben bewahren 369 Nachwort 395


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Der falsche Bettelmönch

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ettelmönche waren Hungerleider. Sie mussten ausschließlich von dem leben, was ihnen gegeben wurde. Und auch das Betteln musste gelernt werden. Das war die Erfahrung des jungen ›Bettelmönchs‹ Johann, der mit einigen Schwierigkeiten einen Baum hochgeklettert war. Der ›Bettelmönch‹ Johann hatte das große Dorf schon eine Viertelstunde lang von diesem Baum aus beobachtet. Er saß relativ sicher, weil er sich mit seinen Armen an einem stabilen Ast festhalten konnte. Von dort aus konnte er, wenn er einen Zweig zur Seite schob, das gesamte Dorf überblicken. Auf einem Platz neben einem großen Haus stand eine Truppe Dragoner. Unverkennbar handelte es sich um feindliche Soldaten der katholischen kaiserlichen Truppen. Auf irgendetwas warteten sie. Reiter schwärmten aus und verschwanden in alle Richtungen. Wohin würden sie später ziehen? Johanns Augen schweiften weiter umher. Waren dort bei der Kirche nicht einige Stände und Kaufleute? Wie war das möglich, dass die Dragoner alles mitnahmen, ohne einen Pfennig zu bezahlen? Die Maisonne schien warm auf Johanns dunkelbraune Kutte. Er hätte es hier bestens ausgehalten, wenn sein Magen ihm nicht zu schaffen gemacht hätte. Er bekam zunehmend Hunger. Darum öffnete er den Baumwollsack. Der Brocken Brot, der noch von seinem kargen Frühstück im Heuschober übriggeblieben war, schien doch sehr klein zu sein. Außerdem war keine Ziegenmilch mehr in der Kanne. 7


In Gedanken sah er sein Elternhaus vor sich. Wie herrlich ruhig war das Leben dort gewesen, bevor all der Kummer begonnen hatte! Der fing mit den Berichten über den Krieg in Böhmen an und mit den schrecklichen Dingen, die man dort den Protestanten angetan hatte. Von Rudolf, dem mutigen Torwächter, war noch das Wissen um die Schlacht am Weißen Berg dazugekommen, die Ende 1620 in Böhmen etwa fünftausend protestantischen Soldaten das Leben gekostet hatte. Durch die Versammlung in Johanns Heimatstadt Freinsheim, bei der Karl so nachdrücklich zur Vereinigung der Städte aufgerufen hatte, war sich jeder der Gefahr bevorstehender Notzeiten bewusst geworden. Wenn er nun einfach zu Weihnachten oder Neujahr bei Meister Siegler die Arbeit niedergelegt hätte und bei Vater in der Schmiede und bei Kaspar in der Pferdestallung tätig geworden wäre? Hatte er das nicht ursprünglich vorgehabt? Dann hätte er auf Donars Rücken zu Mechthild nach Frankenthal reiten können, um dort ab und zu einen Sonntag zu verbringen. Nur eine Schwierigkeit hätte weiterhin bestanden: Trotz allem hätte er nicht mit ihr und ihrem Vater und Bruder Philip zur katholischen Kirche gehen können. Aber nun war alles ganz anders verlaufen! Erst ging es gemeinsam mit Karl auf die Reise über Emden und über die Nordsee mit der ›Fortune‹ nach Kopenhagen. Allein das würde er nie wieder vergessen. Dann kam ihr Aufenthalt in Dänemark und ihre ängstliche Anspannung, bis sie von Karl-Erik Frandsen hörten, dass ihr Heimatland, die Pfalz, von dem mächtigen Feind überrannt worden war. Und dann der Hinterhalt entlang des Rheins! Was dort geschah, hatte sich in seinem Gedächtnis für immer eingebrannt. Karl versank mit seinem Pferd im kalten Strom des Rheins! Wie viele Kugeln mögen ihn getroffen haben? Er hatte noch einmal gewinkt und dann … 8


Oh, solch einen Freund entbehren zu müssen! Es schauderte ihn. Doch plötzlich bedachte er, dass er durch Gottes Gnade einen anderen Freund an dessen Stelle bekommen hatte. Einen Freund, so groß, so herrlich und mächtig! Einen Freund, der freiwillig stellvertretend für ihn in den Tod gegangen war, den grausamen, verfluchten Tod am Kreuz, um ihn, Johann Breitenfeld, für ewig glückselig zu machen. Das war die größte Gnadengabe und der einzige Trost im Leben und Sterben – das, was Gott, der Herr, ihm geschenkt hatte. Unerwartet und unverdient wurde er erlöst von der bleiernen Last seiner verkehrten Gedanken, Worte und Werke. Nun verstand er auch die weise Einteilung des Heidelberger Katechismus in die drei aufeinanderfolgenden Hauptteile: erstens das Elend der Sünde, zweitens die Erlösung von der Sünde und drittens die Dankbarkeit dafür. Aber er erkannte auch, dass echte Dankbarkeit, die zu solch einer großen Wohltat passte, ebenfalls eine unverdiente Gabe Gottes war. Fortan wollte er mit Gottes Hilfe sein Leben darauf ausrichten, so wie Karl es getan hatte. Wie war sein Freund doch immerzu voll gesunder Lebenslust gewesen! Selten hatte man ihn niedergeschlagen gesehen. Ja, Karl war ein starker Pilger zur Ewigkeit gewesen, seit Gott ihm den Glauben an seinen Heiland geschenkt hatte. Wie gerne würde er so werden, wie Karl gewesen war. Aber seine Reise ging weiter. Nach dem Abschied von Peter, dem alten Fischer, war er den Pfad zur ausgebrannten Burgruine gegangen. Unterwegs schaute er immer äußerst behutsam in beide Richtungen. Später dann war er innerlich etwas weniger angespannt. Eine Begegnung mit feindlichen Truppen oder marodierenden, also plündernden und verwüstenden Soldaten würde ohnehin nicht zu vermeiden sein. Ob ihn wohl die Mönchskutte schützen konnte? Ja, würde Gott es wohl gutheißen, dass er 9


von einer Maskerade Gebrauch machte? Und dann noch die Schweigepflicht der Bettelmönche … Sollte er sich auch da­ ran halten? Ob in dem Buch, das er bei sich trug, auch etwas über das Leben der Mönche steht? ›Imitatio Christi‹ war der Titel. Johann vermutete, dass es etwas mit dem Christsein zu tun hatte, wie man Jesus nachfolgen solle. Es war sicher kein schlechtes Buch, aber er hätte es lieber gegen eine Bibel in Deutsch eingetauscht. Gestern Abend hatte er kurz vor Einbruch der Dunkelheit an die Tür eines Bauernhofes geklopft. Niemand kam, um zu öffnen. Aber die Tür war nicht verschlossen, wie er festgestellt hatte. Zögernd ging er hinein. Im größten Raum standen die Möbel noch an ihrem Platz. Aber alle kleinen Gegenstände waren verschwunden. Im Stall war kein Tier mehr zu sehen. Er fand es seltsam, im Haus anderer Menschen herumzustöbern. Ihm wurde klar, dass die Bewohner die Flucht ergriffen hatten, als der Feind sich näherte. Offensichtlich hatten sie so viel wie möglich mitgenommen. Er ging durch alle Räume und stieg auch die Treppe zum Dachboden hi­ nauf. In den Ecken machte sich bereits die Dunkelheit breit. In einer der Holzkisten fand sich noch eine dünne Schicht Weizenkörner. Ob er die wohl so einfach mitnehmen darf? Nachdenklich ließ er die Körner durch seine Hände rinnen. Er kniete sich vor der Kiste nieder und brachte seine Situation vor den Herrn und bat ihn um seine Hilfe. In seinem Herzen spürte er den Trost des Heiligen Geistes. Da er nun eine neue Natur hatte, war das Beten anders als früher. Damals hatte er nur mit seinem Verstand gebetet. Das war zwar nicht falsch gewesen. Oft hatte er um Dinge gebetet, von denen er aus der Bibel und aus anderen Büchern wusste, dass es vernünftig war, um sie zu bitten. Nun aber 10


war es ganz anders. Seine Worte schöpfte er nicht mehr nur aus Büchern oder Gesprächen, sondern aus seinem neuen Herzen. Er wusste sich mit Herz und Seele dem Herrn verbunden. Das hatte der Heilige Geist durch Gottes Wort in ihm gewirkt. Dieses unaussprechlich große Wunder führte ihn stets zu demütiger Dankbarkeit. Seine Hoffnung wurde erneuert und es war sein Verlangen, in allen Dingen als Kind Gottes zu leben. Nun gab es für ihn keinen Zweifel mehr, ob wirklich Gott ein Werk an ihm getan hatte. Die Liebe Gottes, die in sein Herz ausgegossen war, ließ derartige Zweifel einfach nicht zu. Durch die Zusagen von Gottes Wort hatte Johann neue Kraft und neue Hoffnung. Und er war überzeugt, dass diese Hoffnung ihn niemals verlassen wird, wenn auch die Zukunft nicht gerade rosig aussah. Die Freude behielt die Oberhand. Oft war die Freude so stark, dass er aus voller Kehle Gottes Wohltaten und Treue besang. Manchmal ging dabei der Gesang in Schluchzen über, doch die Freude blieb erhalten. Den Weg zum verlassenen Bauernhof, den der Fischer ihm beschrieben hatte, legte er wie im Traum zurück. Wenn er Gefahr vermutete, war er in die Sträucher oder Wälder geflüchtet. Betend hatte er dort gewartet, bis die Luft wieder rein war. Aber er hatte verstanden, dass nicht nur gebetet, sondern auch gearbeitet werden müsse. Man muss mit Gottvertrauen, aber auch mit Verstand handeln. Darum war er auch nicht im verlassenen Bauernhof geblieben, um dort zu schlafen. Ausgelassene Soldaten hätten ihn dort nur allzu leicht im Schlaf umbringen können, indem sie beispielsweise das Rieddach in Brand setzten. Als er wieder draußen stand, schaute er in der Dämmerung gründlich umher. Ungefähr hundert Fuß entfernt ent11


deckte er zwischen den Bäumen Wagenspuren und dahinter ein spitzes Dach. Das müsste eine Strohscheune sein. Zügig lief er darauf zu. Zu zügig, denn er trat auf das Unterteil seiner Kutte, stolperte und stürzte, wobei er sich die Hand verletzte. Er stand auf, rieb die aufgeschürfte Hand an der rauen Kutte und dachte: ›Wenn Mechthild und meine Schwester Anna das gesehen hätten, was würden sie denken?‹ Wie sehr ihn doch nach Mechthild verlangte! Und auch nach all den anderen in seiner Heimat. Mit der schmerzenden Hand hob er seinen langen Frack an wie eine Frau ihr langes Kleid. Etwas vorsichtiger ging er nun auf den Strohschober zu. Er dachte, das sei ein ausgezeichneter Platz zum Schlafen. Aber wie sollte er nach oben kommen? Der Schober war ungefähr vier Meter hoch und war oben breiter als unten. Hinten im Bauernhof fand er dann unter dem Heuboden, was er benötigte: eine alte selbstgezimmerte lange Leiter. Sie war viel zu lang für sein Vorhaben. Wie sollte er mit seiner schmerzhaften Hand dieses Ding auf die richtige Länge bringen? Er schaute auf die schweren Stützbalken, auf denen das Scheunendach ruhte, und hatte eine Idee. Das eine Ende der Leiter stellte er hinter einen der Stützbalken, und mit voller Kraft lief er an dem anderen Balken entlang. Mit einem trockenen Knacksen brachen die beiden Stangen der Leiter gleichzeitig in der passenden Länge ab. Mit der besseren Hälfte eilte er wieder zum Strohschober. Er sah, dass es unter dem Strohdach bereits dunkel war. Stufe für Stufe erklomm er die Leiter und ließ sich oben seitwärts auf das Heu fallen. Der Leinensack mit seinem Brot, der Milchkanne und dem Buch war sicher oben angekommen. Als er so steif dalag, zog er die Leiter hinauf und legte sie an die Rückseite des Schobers gegen zwei feste Pfähle, auf denen das Dach ruhte. 12


Wenn er sich gerade hinsetzte, konnte er noch unter dem Rand des Daches hindurchschauen. Er suchte die Umgebung ab. Alles schien sicher zu sein. Drei Amseln wetteiferten miteinander in ihrer Sangeskunst. Sie nutzten das letzte Tageslicht, um zur Ehre ihres Schöpfers zu singen. Johann hörte lächelnd zu. Sein neues Herz war dankbar für dieses schöne Lied. Er kniete sich ins Heu und faltete die Hände. »Herr, ich danke dir für deine bewahrende Hand. Bitte sei stets mein Helfer. Amen.« Dann richtete er sein Lager so ein, dass er gerade noch auf den Weg schauen konnte. Die dreieckige Mütze der Kutte diente ihm als Kissen. Hoch oben sah er die vom Abendrot schimmernden Wolken still vorüberziehen. Er ließ seinen Gedanken freien Lauf. Hatten die Soldaten dort am Rhein wohl seine Lammwolldecke und sein Geusenschiffchen aufgesammelt und mitgenommen? Wahrscheinlich schon. Kriegsbeute nannte man das. Wie wunderlich hatte der Herr alles geführt. Merkwürdig, dass Johann sich bekümmert und zugleich auch freudig fühlte. So arm wie ein echter Bettelmönch, lediglich mit einem Stück Brot für den folgenden Tag ausgestattet, und doch mit einem Gefühl, als besäße er den größten Reichtum der Welt. Gerade, als er eingenickt war, fuhr er erschrocken wieder hoch. Ganz nahe schrie eine Waldeule, die ihre Jagd begann. Er richtete sich halb auf und schaute spähend umher. Alles war wieder still. Wie mochte es Mechthild gehen? Ob der Krieg ihr wohl Schwierigkeiten bereitet hat? Noch einmal schaute er schräg durch den Dachrand hinauf. Da stand der Abendstern glänzend wie ein funkelnder Edelstein. Hierin sah er Gottes Treue für sein ganzes Volk, die auch ihm galt. Dann legte er sich wieder hin und schlief den Schlaf des Gerechten. 13


Den Engeln war es eine große Freude, ihren Dienst auszuüben, indem sie Wache rund um den Strohschober hielten. Hatten sie nicht kürzlich Johanns Freund Karl mit Freuden zu den zahlreichen Wohnungen des ewigen Vaterhauses geführt? Auch das Haupttor dieses unvergleichlichen Palastes durften sie frei mit diesem Königskind passieren, bis es selbst vor dem Thron stand. Sie wussten, dass noch viele hinzugefügt werden mussten, ehe sie selbst ein für alle Mal bleiben durften. Ihre Arbeit als Wächter und Helfer bereitete ihnen immer große Freude, weil sie damit dem allerhöchsten König dienten. Weder von Zeit noch Raum gehindert, konnten sie sich mit ihren Gefährten hoch oben über dem strahlenden Licht des Himmels beraten. Einer von ihnen blieb nach der ersten Begegnung von Karl mit dem König der Könige bei den Lobesengeln. Die anderen schlossen sich den unzählbaren Scharen des himmlischen Heeres an. Mit Dankbarkeit und voller Eifer vernahmen sie die letzten Befehle: »Sorgt dafür, dass Karls Leichnam bewahrt bleibt bis zum Tage der letzten Posaune, wenn er wieder auferstehen wird! Geht hin zu Diensten von Johann Breitenfeld. Spornt ihn an zu Gehorsam und Heiligkeit. Steht ihm allezeit zu Diensten, bis zu seiner Heimkunft im ewigen Vaterhaus.« Ihre erstaunten Erwartungen richteten sich auch diesmal wieder auf die ferne Zukunft. Wie würde ihr allmächtiger Schöpfer dies alles später einmal in Vollkommenheit vollenden? Wie herrlich, ein Teil seines großen Planes zu sein! Johann schlief in friedlicher Ruhe und sammelte Kraft für Leib und Seele für die anstehenden Ereignisse. Als er aufwachte, waren die drei Amseln von gestern Abend schon rund um den Strohschober kräftig am Singen. Von ihren hohen Plätzen aus frohlockten sie der aufgehenden rotgolde14


nen Sonne entgegen. Wie gut es doch war, Gott nach dem Aufstehen zu danken! Nachdem Johann die Leiter heruntergelassen hatte, kletterte er vorsichtig auf den morschen Stufen nach unten. Neben dem Hof fand er, was er suchte: einen Brunnen. Mit Hilfe des langen Schöpfbaumes zog er den Eimer hinauf. Er spülte die Milchreste aus der kleinen Kanne und füllte sie mit frischem Wasser. Mit einem zweiten Eimer wusch er sich. Er aß das letzte Stückchen Brot und begab sich auf den Weg. Nach ungefähr vier Stunden erreichte er das erwähnte Dorf und bestieg den Baum. Zurückdenkend an die lange Wanderung holte Johann wieder das inzwischen lauwarme Wasser hervor und nahm einen Schluck. Zu seiner Erleichterung sah er nun, dass die Reitergruppe das Dorf verließ. Die Reiter begaben sich auf den Weg nach Süden. Ob dies wohl die Truppen waren, die abgelöst wurden? ›Komm, jetzt nicht länger zögern.‹ Vielleicht könnte er unterwegs irgendwo wenigstens ein Neues Testament kaufen. Oder sollten fünf Taler und etwas Kleingeld dafür nicht ausreichen? Peter hatte ihm das Geld mitgegeben, um auf jeden Fall etwas zu essen zu kaufen. Peter würde es ihm doch wohl nicht verübeln, wenn er sich dafür ein Neues Testament anschaffte? Während er darüber nachdachte, ließ er sich vorsichtig von einem auf den nächsten Ast hinuntergleiten. Mit dem Baumwollsack und seinen Hab­seligkeiten ging er äußerst vorsichtig um. Johann befand sich noch keine zehn Minuten auf dem Weg. Ob er gar nicht hörte, dass in der Ferne hinter ihm die Hufe eines Reiters klapperten? Seine ganze Aufmerksamkeit war auf das Dorf gerichtet. Als er an der Baumreihe vorbei war, sah er die ersten Häuser. Darum erschrak er zunächst und wollte sich erst noch rasch in den Sträuchern am Weges15


rand verstecken. Nein, das sollte er lieber sein lassen. Später würde er auch unter andere Menschen kommen. Der Reiter kam schnell näher, beachtete den Bettelmönch aber kaum. Es war sicherlich ein Bauer, der eine eilige Botschaft zu überbringen hatte. Johann hob zögernd die Hand, um den Mann in seiner plumpen Kleidung zu grüßen. Doch dieser stob vorbei und schaute sich nicht nach ihm um. Johann blickte ihm nach. Nun, der Kerl konnte ziemlich gut reiten, Mann! Felsenfest saß er im Sattel. Wie schön wäre es doch, selbst ein Pferd zu reiten, mit Mechthild neben sich, und dann zur alten Mine im Wald. Sie war so ängstlich gewesen, als er in voller Fahrt die Böschung hinabritt. Und Anna war auch dabei gewesen. Sollte er beim erstbesten Haus nach Brot fragen? Sein Herz schlug ihm bis zur Kehle, als er das Anwesen eines Bauernhofs betrat und sich der Tür an der Seitenfront näherte. Johann ergriff die Türklinke erst vorsichtig, dann fest. Verschlossen! Er ging zu dem Fenster mit den kleinen Scheiben. Da die Sonne auf die grünlichen Scheiben schien, hielt er die Hand über die Augen und spähte hinein. Die einfach eingerichtete Wohnung sah nicht verlassen aus. Dort war noch eine Außentür. Also probierte er es auch da. Er bewegte den Riegel durch den Eisenring. Die Tür öffnete sich. Während Johann der strenge Stallgeruch entgegenschlug, schaute er hinein. In dem halbdunklen Gang starrte ihn ein vielleicht dreijähriges Mädchen erschrocken an. Sie saß mit einigen Spielsachen auf ein paar leeren Säcken. Johann lächelte ihr zu und sagte: »Guten Tag. Spielst du schön?« Das Kind stand auf, schaute nun etwas weniger ängstlich und rannte zum Ende des Ganges. Sie verschwand nach links und rief: »Mama!« Hinter dem Holzverschlag sah Johann den Rücken einer Kuh und hörte das Geräusch eines Kälbchens im Stroh. 16


Dann kam eine junge Frau um die Ecke. Sie trocknete ihre Hände an ihrer Schürze ab und erschrak, als sie den Bettelmönch sah. Ob sie wohl eine Protestantin war? Was nun? Ohne etwas zu sagen, streckte er mit einer Bettelgebärde seine Hand aus. Oh, hätte er doch in seinem Mönchsbuch nachlesen können, wie sich ein Bettelmönch verhalten musste! Die Frau schaute misstrauisch von seiner Hand zu seinem Gesicht. Bemerkte sie, dass sein Hinterkopf gar nicht geschoren war? Verlegen zog Johann seine Hand zurück. Dann sagte sie keineswegs unfreundlich: »Warte eben.« Kurz daraufhin kam sie mit einem dunkelbraunen Brot und einem ordentlichen Stück Käse zurück. Das Mädchen stand neugierig neben ihr und hielt sich am Rock ihrer Mutter fest. Sie streckte ihre Hände mit einem Apfel darin aus. Freundlich sagte sie: »Für dich.« Johann hatte einen Kloß im Hals. Tränen brannten in seinen Augen. Er durfte ja nichts sagen, aber würde auch sowieso kein Wort herausbringen. Seine Hand griff erst den Apfel und dann die gute Gabe der Frau. Zuletzt nickte er und dankte mit einer leichten Verbeugung. Schnellstmöglich wollte er ihren prüfenden Augen entweichen. Er ging einen Schritt zurück und hob die Hand, während er sich beinahe zu Tode schämte. Die Frau schloss die Tür hinter dem vermeintlichen jungen Mönch. Johann hörte das Mädchen noch fragen, wo denn der Mann heute Nacht schlafen würde. »Das weiß ich nicht«, antwortete die Frau. Langsam ging er zum Weg und wählte die Richtung zu den Marktständen. Er rieb sich die Augen und dachte: ›Wie soll das bloß weitergehen? Ich glaube nicht, dass ich als Bettelmönch etwas tauge.‹ 17


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Im besetzten Gebiet

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er junge Mann in der Kutte ging etwas vornübergebeugt zum Dorf hinein. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die Bettelmönche sonst üblicherweise Sandalen trugen. Er selbst trug braune Lederschuhe. Hohe feste Schuhe mit Lederschnürsenkel. Hatte Ambrosius nicht die Zeit gehabt, um auf alles Acht zu geben, als er den Plan faste, ihn als Bettelmönch reisen zu lassen? Wichtiger war allerdings, ob einer der Kaufleute ihm etwas aus der Pfalz berichten könnte. Sollte er bei ihnen etwas Essbares kaufen können? Johann musste versuchen, in diesem Dorf seinen Proviant etwas aufzufüllen. Man konnte nicht wissen, wie es ihm später ergehen würde. Er fühlte sich unglücklich, da er nicht er selbst sein konnte. Im Augenblick aber galt es, ganz scharf aufzupassen! Die Häuser standen hier dicht beieinander. Bei einem waren die Fensterscheiben zerbrochen. Weiter vorne in der Straße sah er ein abgebranntes Haus. Das Haus daneben war ebenfalls beschädigt. Die Leute hier waren offensichtlich ebenfalls nicht mit heiler Haut davongekommen. Augenblick mal! Hier konnte er rechts abbiegen, dann würde er zu dem Platz mit den Marktständen gelangen. Bevor Johann um die Ecke bog, schaute er nochmals die Hauptstraße entlang. Er sah einen Mann mit einer rot-weißen Schürze, der links und rechts den Weg ausspähte. Wonach suchte der wohl? Johann sah ihn verschwinden und kurze Zeit später mit einem Holzständer voller geräucherter 18


Würste zurückkommen! Offensichtlich wollte der Metzger wieder einmal etwas verdienen. Johann änderte seinen Kurs und steuerte auf den Metzgerladen zu. Da er niemanden sah, zog er am Klingelseil. Er öffnete seinen Rucksack und kramte nach den Münzen. Plötzlich stand der Fleischer vor ihm und schaute ihn enttäuscht an. Hastig zeigte Johann auf die Räucherwürste, streckte zwei Finger hoch und reichte dem Mann einen Taler. Dieser schaute verwundert und lachte. Ein Bettelmönch der gerne zahlen wollte und noch gut und reichlich dazu? Johann legte seinen Finger auf die geschlossenen Lippen. Der Mann zuckte mit seinen Achseln und brummte dann: »Ich werde dich gut behandeln, Bruder.« Er ging an Johann vorbei nach draußen, nahm gewandt vier dicke Räucherwürste von einem Querholz und sagte: »Hier, die bleiben bestimmt wochenlang gut. Davon wirst du stark.« Dann nahm er die Münze und Johann ließ die herrlich duftenden Leckereien in seinen Rucksack gleiten. Er nickte dem Metzger freundlich zu und setzte seine Erkundungen fort. Er wollte ja noch die Marktstände aufsuchen. Wer weiß, was es dort noch zu kaufen gab. Nun, großer Betrieb herrschte auf diesem Markt wirklich nicht. Ein Bauer mit einem schönen jungen Hund an der Leine schaute sich vor einem Stand um, auf dem sich Körbe mit Eiern befanden, daneben einige Töpfe. Etwas verlegen schaute Johann umher. Er sah, dass sowohl die kleinen als auch die großen Töpfe mit Honig und Fruchtpüree gefüllt waren. Am Stand daneben lagen allerlei Frühjahrsgemüsesorten in Körben. Auch einzelne Kisten mit Gemüse waren ausgestellt. An einem Baum war ein Pferd mit einem langen Seil angebunden. Am Rande des Marktes konnte das Tier reichlich grasen. Hinter einem Stand befand sich ein flacher Wagen mit flachen abnehmbaren Seitenwänden. Johann stellte fest, dass der gesamte Handel von zwei Brüdern 19


betrieben wurde, die zusammen mit einem noch deutlich jüngeren Bruder etwas zu verdienen versuchten. Sie wirkten sehr freundlich. Sollte er sie ins Vertrauen ziehen? Der Hund des Bauern schnüffelte inzwischen an Johanns Leinensack herum. Johann streichelte das Tier, das ihn erwartungsvoll anschaute. Er stütze sich auf ein Knie, brach ein Stückchen der Wurst ab und hielt es ein wenig hoch. Prompt setzte sich das Tier nieder und hielt seine Pfote hin. »Brav«, sagte Johann spontan und streckte ihm das Wurst­ ende hin. Gleich wurde ihm bewusst, dass er schon wieder sprach. Wie dumm! Glücklicherweise hatten die Leute um ihn herum es offensichtlich nicht bemerkt. Einer der Brüder sagte zu dem Bauern: »Dein Hund ist gut erzogen. Benötigst du sonst noch etwas und wie möchtest du es mitnehmen?« Der Bauer faltete den Leinensack, der über seinem Arm hing, auseinander und sagte: »Tut mal alles hier rein.« Während er bezahlte, schaute Johann, ob sich am Stand noch etwas nach seinem Geschmack finden würde. Alles war essbar, aber was brauchte er am nötigsten? Er zeigte auf einen kleinen Topf mit Honig und fragte, was dieser koste. Der Kaufmann nannte einen Preis. Dann meinte Johann etwas verlegen, dass er den so nicht tragen könne. »Kein Problem«, sagte der Mann. Er beugte sich herunter und griff aus einem Tragekorb unter dem Stand einen gleichen Behälter, der mit einem Leinentuch und einem Holzstöpsel verschlossen war. Johann erbat noch zwei Töpfchen mit verschiedenen eingemachten Früchten. Darin waren Kirschen und Aprikosen. Während Johann bezahlte, fragte er: »Wie traut ihr euch, hier zu stehen? Die Soldaten sind gerade erst weg. Ihr könnt leicht alles verlieren!« 20


Der Früchtehändler meinte: »Das habe ich gestern Abend und heute Morgen auch schon gesagt, aber mein Bruder hat nicht lockergelassen. Er sagte: ›Wir müssen doch irgendwo und irgendwann wieder mit unserem Handel anfangen. Ich denke, dass es tagsüber mitten in einem Dorf oder einer Stadt kein Problem ist. Überall gehen hier Offiziere herum.‹ Er wollte vorige Woche schon beginnen, aber davon wollte Mutter nichts hören.« »Seid ihr auch katholisch?«, fragte Johann zögerlich. »Ja, aber das hat alles nichts zu sagen. In unserem Dorf sind auch drei Familien unserer Kirche der Raubsucht dieser Halunken zum Opfer gefallen. Wenn die auf Beutezug sind, und das in betrunkenem Kopf – nun, dann sieh zu, dass du wegkommst«, meinte der Kaufmann resigniert. Während der Bauer sich mit einem Gruß entfernte, kamen die anderen Brüder auch hinzu. Johann hatte nun den Mut, mehr zu fragen. »Wie ist denn augenblicklich die Kriegssituation?« »Weißt du das denn nicht?« »Nein, ich war eine Zeitlang in einem abgelegenen Kloster«, sagte Johann, »und da hört man nicht alles.« »Nun, ich kann dir schon etwas erzählen«, meinte der junge Kaufmann weiter. »Unter den Protestanten hat es viele Opfer gegeben, vor allem an jenen Orten, wo viel Widerstand geleistet wurde. Ich finde das schon tragisch. Aber eigentlich haben sie es ja nicht anders gewollt. Wenn man Ketzer wird, riskiert man halt auch die Strafe«, konstatierte der Händler trocken. »Ich habe gehört, dass sie sogar Männer an ihren eigenen Türpfosten aufgehängt haben. Vielen wurden die Güter geraubt und ihre Häuser wurden in Brand gesetzt. Ich habe auch gehört, dass die Gefängnisse vollgestopft sind. Vorläufig dürfte für uns nicht viel zu verdienen sein und für Bettelmönche wenig zu holen«, kicherte der Kaufmann. 21


»Es ist sicherlich gut, dass du noch ein bisschen Geld bei dir hast.« Johann nickte bedrückt. Dann fragte er, ob sie wüssten, ob sich hier irgendwo ein Bäcker befände. Der kleine Junge sagte: »Ja, auf der anderen Seite der Dorfstraße, ein kleines Stück weiter. Soll ich den Weg zeigen?« Er schaute zu seinem älteren Bruder hinüber. Dieser nickte: »Geh ruhig mal mit. Aber komm sofort wieder her!« Johann hob die Hand und wünschte den beiden noch einen guten Tag. Kurz darauf ging er mit dem kleinen Burschen um die Ecke. Der Junge sagte, dass er froh sei, nicht betteln zu müssen, und fragte: »Ist Betteln schwierig?« »Ja«, nickte Johann, »ganz bestimmt. Und manche Bettelmönche dürfen auch nicht reden. Immer den Mund zu halten, meine ich, das ist noch viel schwieriger.« Nun nickte der Junge verständig. Denn er plauderte ja so gerne, und immer schweigen zu müssen, das wäre nichts für ihn. »Du darfst ja zum Glück noch reden«, meinte er dann, um Johann zu trösten. Als sie das abgebrannte Haus passierten, fragte Johann, ob die feindlichen Soldaten das angerichtet hätten. »Da bin ich mir sicher«, sagte der Bursche. »Vielleicht wollten die Menschen nicht alles abgeben, oder der Vater ließ sie nicht ins Haus.« Er sah nicht, wie Johann beim Gedanken an all das Leid erschauderte. Johanns Augen schauten gründlich umher. Er sah nun auch, dass dieses Dorf eine große katholische Kirche hatte und dabei ein stattliches Pfarrhaus. Als sie die Abzweigung zu dem Platz, an dem morgens noch die Truppen gestanden hatten, hinter sich ließen, meinte der Junge: »Hier rechts wohnt der Bäcker. Und ich muss nun zurück zu Heino und Rudolf.« 22


Johann schlug ihm auf die Schulter und sagte: »Vielen Dank und Gott segne dich!« Der Junge nickte und eilte im Laufschritt zurück zu seinen Brüdern. Johann blickte zur Bäckerei. »Natürlich ist die um diese Zeit geschlossen«, murmelte er. Dann ging er zum Seiteneingang des Hauses. Musste er nun wieder den Stummen spielen? Das widerstrebte ihm so sehr. Er bekam wenig Zeit, um gründlich darüber nachzudenken. Während er an einem Fenster vorbeischritt, schaute ihn eine Frau dahinter verwundert an. Kaum befand er sich vor der Tür, öffnete sich diese schon. Die Frau fragte: »Kann ich Euch irgendwie helfen, Hochwürden?« Johann zeigte zunächst noch auf seinen Magen und seinen Mund, meinte dann aber plötzlich: »Ich möchte gerne ein paar Brote bei ihnen kaufen.« Alles Brot schien tatsächlich verkauft worden zu sein, aber die freundliche Person wollte den Bettelmönch nicht mit leeren Händen wegschicken. Sie gab ihm ein rundes Brot aus ihrem eigenen Brotkasten mit und wollte absolut kein Geld dafür annehmen. Johann bedankte sich herzlich und stopfte das Brot in den Leinensack, der nun zunehmend voller wurde. Ob die Verschnürung das Ganze noch halten konnte? Es dauerte nicht lange, bis seine Finger schmerzten. Daher zog er den Sack hoch und band ihn sich mit den Schnüren als Rucksack um. So konnte man ihn besser tragen. Zweimal kamen ihm noch Menschen entgegen: Zunächst zwei Frauen, von denen eine einen Korb trug. Und außerhalb des Dorfes überholte ihn ein Bauernwagen, auf dem einige Leute unter einer Plane saßen, wahrscheinlich eine ganze Familie. Johann hob die Hand zum Gruß, was vom Fuhrmann 23


durch Heben der Peitsche beantwortet wurde. Er wünschte Johann zudem einen guten Tag. Ach, nun hatte er vergessen, nach dem Weg zum Fluss zu fragen. Oder sollte er seine Reise lieber hier im Hinterland fortsetzen, um dann so schnell wie möglich nach Franken­ thal zu gelangen? Die Straße am Rhein entlang wäre mit Sicherheit viel stärker frequentiert. Er ging zügig vorwärts und trank hier und da einen Schluck Wasser aus seiner Kanne. Sehr frisch schmeckte es nicht mehr, und außerdem war es bald aufgebraucht. Bevor er ein Nachtlager suchte, musste er zusehen, dass er die Kanne wieder auffüllte. Trinken war vielleicht noch wichtiger als Essen. Das Problem war glücklicherweise schnell gelöst. Kurz nachdem er bemerkt hatte, dass hier die Hügel etwas höher wurden, hörte er schon das plätschernde Geräusch eines Baches. Unmittelbar vor ihm kam ein Flüsschen unter den Sträuchern hervor. Das lief ungefähr zehn Meter parallel zum Weg und verschwand dann darunter. Auf der anderen Seite plätscherte es wieder hervor, um im Tal zu verschwinden. Ob das Wasser wohl sauber war? Er stellte den Sack neben sich, streifte seine Ärmel hoch, schöpfte beide Hände voll, roch daran und probierte vorsichtig. Es war nichts daran auszusetzen. Dann wusch er zunächst seine Hände und kühlte sein erhitztes Gesicht. Anschließend trank er nach Herzenslust. Die Kanne spülte er von innen und außen gründlich aus und füllte sie bis an den Rand. Er fand das Wasser wunderbar erfrischend. Inzwischen meldete sich auch der Hunger. Ungefähr die Hälfte des Käses und ein dickes Stück Brot hatte er bereits verspeist. Er wusste, dass er sparsam damit umgehen musste. Nun, er sollte einfach mit dem Apfel beginnen; der war noch saftig und schmeckte köstlich. Wie konnte der Bauer einen Apfel so lange schmackhaft halten? 24


In einem etwas langsameren Tempo setzte er den Weg fort. Die Sonne stand hoch. War es schon Mittag? Er dachte an das kleine Mädchen mit dem Apfel. Dann stieg in seinem Herzen plötzlich deutlich das auf, was schon die ganze Zeit dort geschlummert hatte. Er wollte ja nun so gerne zur Ehre Gottes leben, aber seinem Eindruck nach gelang es ihm nicht! Sagte das neunte Gebot nicht: ›Du sollst kein falsches Zeugnis reden gegen deinen Nächsten‹? Nicht lügen, nichts verdrehen. Ehrlich sein! War sein gesamtes Auftreten als Mönch nicht eine große Lüge? Seine Kleidung war eine Lüge, aber auch seine gesamte Erscheinung. Er gab sich als Bettelmönch aus, während er mit der gesamten römischen Religion nichts zu tun haben wollte. Der Herr hatte sich in seiner unbegreiflichen Güte um ihn gekümmert und mit Herz und Seele gelehrt, dass es richtig und gerecht war, die Wahrheit zu sagen und der Wahrheit entsprechend zu leben. Gott selbst war die Wahrheit. Und nun …? War Johann nicht eine wandelnde Lüge? Seine Augen suchten am Wegesrand eine geeignete Stelle, um zu beten. Als er kein passendes Plätzchen fand, schob er sich durch die unteren Zweige der Büsche hindurch, die den Weg säumten. Dort kniete er nieder und schüttete sein Herz aus. »Lügen und betrügen sind die wahren Werke des Teufels. Wie kann ich damit weitermachen? Herr Jesus, vergib mir! Ich will nichts Böses tun, um deinen Zorn zu erregen. Und ich hatte mir auch ehrlich vorgenommen, alle deine guten Gebote zu halten.« War er aufrichtig in seinem Reden, Tun und Lassen gewesen? Nein, er betrog seinen Nächsten als Bettelmönch. Sollte er zurückgehen, um der Bäckersfrau und der jungen Bäuerin Geld anzubieten? Seine Worte waren nicht zur Ehre Gottes gewesen. Oh, wie sehr brauchte er den Mittler, um für ihn einzutreten! 25


Johann war sich selbst zuwider. Sein neugeborener Teil wollte aufrichtig vor Gott leben, aber es fand sich auch etwas in ihm, das versuchte, die Sünde schönzureden. ›Es ging doch nicht anders, Johann. Du hast dich gerade von deiner Verwundung erholt und du bist doch auf dem Weg nach Hause, umgeben von so vielen Gefahren‹, redete sich seine alte Natur ein. Aber sein zartes erneuertes Gewissen sagte ihm, dass es nicht gut war, was er tat. Gott war doch mächtig genug, ihm als normalen Flüchtling zu helfen? Plötzlich war ihm die braune Kutte schrecklich zuwider. Hätte er doch nur seine alten Kleider noch! Er brachte alle seine Zweifel und Sorgen vor seinen Gott. Unter dem Gebet glätteten sich die Wogen. Seine Zuversicht kehrte zurück. Er war sich noch nicht bewusst, dass der Herr ja an die Zusagen seines Bundes denkt, wenn Gottes Kinder sich zu Recht schuldig bekennen. Gott gibt denen Mut und Kraft, die auf ihn hoffen. Johann erhob sich, zwängte sich durch die Zweige zurück auf den Weg und ging entschlossen nach Süden. Er musste nicht gleich zurückkehren. Wenn der Herr ihm die Gelegenheit gäbe, dem Fischer seinen Aufwand zurückzuzahlen, wollte er auch jenen Menschen seine Entschuldigung anbieten, die er betrogen hatte. Sobald es möglich wäre, würde er auch die Kutte ablegen, aber wie und wo, das wusste er noch nicht. Im Weitergehen fasste er einen Plan. Er wollte den erstbesten Weg rechts abbiegen und den großen durchgängigen Weg entlang des Rheins suchen. Ihn zog es zu diesem bekannten Weg hin. Tagsüber würde er versuchen, zu schlafen oder zu ruhen, und nachts weitergehen. So kam er in seinem Herzen allmählich etwas zur Ruhe. Aus Gewohnheit spähte er den Weg vor ihm aus. Dann brach er ein ordentliches Stück von einer seiner Räucherwürste ab und ging essend und mit schnellen Schritten wei26


ter. Kurze Zeit später sang er leise einige Psalmen, die er auswendig kannte. Dann passierte er einen kleinen Weiler mit einigen wenigen Häusern. Menschen sah er nicht, wohl aber folgte ihm ein magerer Hund, der ihm grimmig nachbellte. Johann ging weiter, aber dieses Tier lief ihm weiter hinterher und biss sogar nach seiner Kutte. ›Nun, der hat sicherlich keine gute Erinnerung an Fremde‹, dachte Johann. Als er das kläffende Tier satt hatte, dreht er sich blitzartig um und tat so, als ob er es fassen wolle. »Abhauen, sag ich dir, oder du bekommst einen kräftigen Tritt.« Erschrocken blieb das abgemagerte Tier stehen, kläffte noch heftiger, traute sich aber nicht, wieder näherzukommen. Schließlich zog der Hund ab und trollte sich zurück zu den Häusern. Johann begann allmählich seine Beine zu spüren. Aber Moment mal! War dort vorne nicht eine Weggabelung? Ja, glücklicherweise, das konnte eigentlich auch nicht ausbleiben. Es musste ja in regelmäßigen Abständen Querverbindungen zum Hinterland geben. Mit neuem Mut lief er weiter in Richtung Rheintal. Schließlich war er so müde, dass er ausruhen musste, obwohl er eigentlich so lange weitergehen wollte, bis er erneut Wasser finden würde. Zwischen den Sträuchern in der Senke sah er ein kleines Feld voll dichten Farngestrüpps. Er stapfte über die Pflanzen hinweg oder zwängte sich zwischen sie durch. Am Boden schlugen die Pflanzen wie mit aufgerollten Zungen aus. Die abgestorbenen Blätter aber hatten fast die gleiche Farbe wie seine Kutte. Ein wenig außerhalb der Sichtweite vom Weg aus kniete er nieder und bat den Herrn, dass er doch bitte bald seine liebe Familie und Mechthild wiedersehen möge. Dann machte 27


er sich mit einem großen Arm voller Farnblätter, die er übereinanderlegte, ein Ruhebett. Als er alles hergerichtet hatte, lag er anschließend gar nicht so schlecht da. Er war wirklich müde. Wie weit war er heute wohl schon gewandert? Er lag gut, und dank seiner Mönchskutte war ihm auch gar nicht kalt. In dieser Hinsicht hatte er eine ausgezeichnete Reisebekleidung. Er schloss die Augen und versuchte, ein wenig zu schlafen. Wie lange er dort so lag, wusste er nicht, aber plötzlich hörte er ein quietschendes Geräusch, als ob sich ein ungeöltes Rad drehte. Es kam näher, bis es ihm direkt gegenüber war. Sollte er kurz schauen? Nein, lieber nicht, es ist bestimmt ein Bauernkarren. Das Geräusch entfernte sich, und Johann kuschelte sich in seine Kutte. Er fiel in tiefen Schlaf, aus dem er erst Stunden später erwachte. Als er einen Kreis brauner und hoher Blätter um sich herum sah, wurde ihm gleich wieder bewusst, wo er war. Er stand vorsichtig auf und schaute über die Farnpflanzen hinweg in Richtung des Weges. Den konnte er nur zu einem kleinen Teil einsehen. Dann streckte er sich und bewegte die Glieder, um sie wieder geschmeidig zu machen. Er beugte sich auf die Knie und bat Gott um Bewahrung und den Segen für das Essen, das er nun zu sich nehmen wollte. Ein tüchtiges Stück Wurst und die Hälfte des Wassers aus dem Krug mundeten ihm wie ein Königsmahl. Beim Danken betete er zum Herrn, dass er eine Bibel bekommt. Wie gerne würde er nun einen Abschnitt über das Werk und die Worte Jesu lesen! Mit Freuden würde er die Bibel mittragen. Und er schämte sich bei dem Gedanken, wie oft er in der Kirche das wertvolle Wort ohne oder mit wenig Interesse gehört hatte. Er würde zehn Goldstücke dafür geben, wenn er am heutigen Abend einem Diener des Herrn zuhören könne. 28


So legte er dem Allmächtigen seine Gefühle ehrlich dar. Und der treue Vater gab seinem Kind, das erst vor wenigen Tagen den ›schmalen Weg‹ betreten hatte und Unterweisung brauchte, die nötige Kraft. Gleich kamen Johann die Worte aus 5. Mose 31 in den Sinn: »… ich werde dich nicht versäumen noch verlassen.« Während er zum Weg ging, teilte er mit den Händen die Farnsträucher. Er konnte kaum aus den Augen sehen, weil sie voller Tränen des Staunens und Dankens dafür waren, dass Gott ihn nicht alleinließ. Davon war er überzeugt. Als er auf den Weg gelangte, antwortete sein berührtes Herz mit Psalm 116: »Das ist mir lieb, dass der Herr meine Stimme und mein Flehen hört. Denn er neigte sein Ohr zu mir; darum will ich mein Leben lang ihn anrufen.« Die Freude seines jungen Herzens über den großen Schatz, den er empfangen hatte, suchte immer wieder einen Ausweg. Wenn er doch mit jemandem darüber reden könnte! Könnte er doch jemandem berichten, wie unbegreiflich gut Gott ihm, dem armen Landstreicher war! Wenn er nun einmal Friedrich oder Kaspar treffen könnte. Dann würde er ihnen das sicherlich erzählen. Johann verlangte nach seinen Verwandten und Freunden, am meisten aber nach Mechthild. Sonst brauchte er nichts. Während er den letzten Hügel, der ihn noch vom Rheintal trennte, hinauflief, dachte er weiter über Gottes Gesetz nach. Wie gut hatte Karl es doch ausgelegt, wie trefflich konnte er es erklären – nicht allein nach dem Buchstaben, sondern auch nach dem Geist und was es bedeutete. Das letzte Gebot lautet: ›Du sollst nicht begehren.‹ Nichts von meinem Nächsten. Kein Haus, nicht seine Frau oder einen Knecht, nichts was meinem Nächsten gehört. Johann forschte in seinem eigenen Kopf und Herzen. Ehrlich konnte er in diesem Moment sagen, dass er auch kein Verlangen hatte, et29


was vom seinem Nächsten haben zu wollen. Wenn der Herr ihm nahebliebe, würde die tiefe Freude in seinem Herz auch bleiben. Was sollte er noch mehr begehren wollen? Gott würde für ihn sorgen. Johann wollte so gerne nach allen Geboten Gottes leben. Er hatte nicht die geringste Lust, eine einzige Sünde gegen diesen wohltätigen Gott in seinem Herzen zuzulassen. Mit seinem ganzen Herzen wollte er zu Gottes Ehre leben, weil er wusste, dass sein Gesetz gut war. Ihn verlangte sogar danach, dies öffentlich unter Beweis zu stellen. Johann wollte gerne wieder arbeiten gehen, im tiefsten Inneren nun aber im Dienst seines Gottes im Himmel. Als er schließlich auf der Hügelspitze angelangte, war die Sonne schon tief gesunken. Jedoch sah er lediglich Bäume. Erst bei der zweiten Biegung hatte er eine freie Aussicht, und die löste einen Freudenschrei in ihm aus: »Der Rhein!« Während die Sonne zwischen den Bäumen an der anderen Seite des Tales verschwand, lief er zügig den leicht abfallenden Weg hinunter. Kaum auf halbem Weg hörte er Lärm hinter sich. Eine Gruppe Reiter kam schnell näher. Sollte er sich verstecken? Nein, er zog die Kapuze über den Kopf und blickte erst ein wenig auf, als sie direkt neben ihm waren. Der Anführer würdigte ihn keines Blickes, aber manche Reiter riefen ihm etwas zu. Sie hatten Helme auf und trugen Brustpanzer. Es waren Kürassiere – Reitersoldaten mit schweren Brustpanzern. Einer von ihnen rief dem Mönch zu: »He, streckst du deine Hand nicht mehr aus, oder brauchst du nichts mehr? Unser alter Ferdinand ist immer freigiebig gegenüber armen Menschen!« Er kramte in seinem Oberhemd und warf einen Silbertaler hinter sich, als er an dem jungen Mann vorbeigeritten war. 30


Die hintersten Männer lachten und einer rief: »Aber dann muss dein eigener Sack erst einmal voll sein, Ferdi!« Johann schaute ihnen nach, bis sie um die Biegung verschwunden waren. Dann bückte er sich, rieb den Sand von der Münze und steckte sie zu den anderen, die noch in seinem Beutel klimperten. Es traf sich gut, dass der Weg abwärts verlief. Es ging leicht, obwohl Johann schon wieder müde wurde. Hier und da sah er das Wasser blinken. Und eigentlich fühlte er sich doch recht einsam und das Verlassensein überkam ihn wieder. Die Frage, was er zu Hause antreffen würde, bereitete ihm dabei die größte Sorge. Dann stellte er sich vor, dass alle getötet waren, oder dass manche der Überlebenden verschleppt worden waren. Würde sein Glaube stark genug sein, das auszuhalten? Würde er dann Gott auch noch lieben, so wie jetzt? Dann erinnerte er sich, dass er früher immer wieder in Sünde gefallen war, wenn er sich aufrichtig vorgenommen hatte, Gutes zu tun. Gottes Gebote waren sicherlich gut, denn sie stammten von seinem liebevollen Vater, aber würde er sie immer halten können? Wieder suchte er den Wegesrand auf und legte im Gebet Gott seine Sorgen und Zweifel hin. Er bekannte, dass er an seinen eigenen Fähigkeiten verzweifelte, aber da Gottes Liebe ihn überwältigte, wollte er niemals das Werk, das Gott im Haus des Fischers in ihm gewirkt hatte, in Frage stellen. Er beendete das Gebet mit der Bitte, dass Gott sein aufrechtes Verlangen, immer lauter in seinen Augen zu wandeln, erhalten möge. Und dass Gott ihm gibt, zu seiner Ehre leben zu können. Beim Licht des aufsteigenden Mondes und der Sterne kam er auf dem Hauptweg entlang des Rheins schnell voran. Doch auf seinem Weg nach Süden konnte er es nicht unterlassen, sich eine Viertelstunde Zeit zu nehmen, um ans 31


Wasser zu treten. Vorsichtig ging er über die losen Steine zum Fluss. Er schöpfte mit den Händen etwas Wasser und spritzte es hoch. Es war frisch, aber lange nicht so eiskalt wie damals im Winter, als er hier in der Gegend ausgerutscht und halb in den Rhein gefallen war. Er wusch sein warmes Gesicht und den Hals. Auch die Kanne füllte er wieder. Dann schaute er umher und ging zurück an die hohe Uferböschung. Dort setzte er sich nieder und seine Augen folgten nachdenklich der silbernen Fährte des Mondlichts auf dem Wasser des Rheins. Gleich wollte er versuchen, so weit wie möglich zu gehen, ehe es hell würde. Wie weit er hier wohl schon entfernt war von jenem Platz, an dem Karl angeschossen wurde und in den Fluten versunken war? Warum musste das auch geschehen? Wie viel Halt er doch durch seinen Freund erfahren hätte, wenn sie weiter zusammen hätten reisen können! Nun musste er sich allein zurechtfinden. Andererseits: Wie wäre es gewesen, wenn er Karl niemals kennengelernt hätte? Ob er im Innersten dann der Gleiche geworden wäre? Vielleicht wäre er mit Vater und Kaspar gefangen genommen worden? Oder wäre er zum Versteck von Friedrich geflüchtet? Ach, auf diese Weise zurückzublicken, das hatte wenig Sinn. Er musste vorwärtsschauen. Gottes mächtige Hand fand sich in all diesen Dingen, und seiner Sorge wollte er sich anvertrauen. Er nahm sich vor, noch etwas auszuruhen und etwas von seinem Vorrat zu essen, um dann wieder auf dem Weg entlang des Flusses weiterzumarschieren – an dem Fluss, an dem so viel passiert war.

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Ein würdiges Begräbnis

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in armer Fischer trug in seiner linken Hand einen silbern schimmernden, blankgeschliffenen Spaten. Unter seinem rechten Arm trug er ein Kreuz. Dessen Holz war nahezu so glatt geschmirgelt wie der Handgriff seines Spatens. Das Kreuz hatte er zudem gründlich mit Öl eingerieben. Er ging zügig und entschlossen, aber dennoch sehr aufmerksam den Weg entlang. In dieser Zeit des tausendfachen Mordes und Totschlags konnte man nicht vorsichtig genug sein. Gertrude, seine Frau, hatte noch gesagt: »Nimm doch besser den Weg entlang der Weiden, um das Kreuz aufzustellen. Dort ist es ruhig und sicher.« Er hatte versucht, sie zu beruhigen. »Ich werde wirklich Umschau halten, aber ich möchte überprüfen, was ein zufällig Vorübergehender vom Weg aus alles sehen kann. Ich möchte gerne, dass unser Platz dort einsam und still bleibt.« Es war noch so früh am Morgen, dass die Sonne noch keine Möglichkeit hatte, die Tautropfen zu trocknen. Nach ungefähr zehn Minuten überquerte der Mann mit seiner merkwürdigen Last den Weg. Er reckte seinen Hals und versuchte immer wieder, zwischen den Sträuchern hindurch den dahinterliegenden Waldrand zu beobachten. Das wiederholte er so lange, bis er eine Gruppe dunkelgrüner Nadelbäume hoch über sich sah. Ja, hier war es. Er suche zwischen den Sträuchern und dem frischen Grün nach einem Durchgang. Die ersten zehn Meter ging alles leicht, aber danach musste er seinen starken 33


Körper hier und dort durch das frische Grün hindurchwinden, während er das Kreuz vorsichtig hochhielt. Er hatte zu lange daran gearbeitet, um es nun zu beschädigen. Auch wenn der Verstand des Mannes recht einfältig war, so waren seine Treue und seine Hingabe sehr groß. Seine sanftmütige Frau hatte gestern Abend noch gesagt: »Hört endlich damit auf, Bernd. Wie glatt du das Kreuz auch schmirgelst, der Zahn der Zeit und der Wettereinfluss werden doch ihre Spuren hinterlassen. Schau mal nach dem Kreuz unseres Helenchens. Das steht noch keine zwei Jahre da und man kann schon die Verwitterung sehen.« Er hatte auf seine Frau gehört und das Polieren eingestellt. Still hatte er dann zu seiner Gattin hinübergeschaut. Wie erwartet war sie schon wieder in anderen Gedanken versunken. Das war immer so, wenn ihre viel zu jung gestorbene Tochter erwähnt wurde. Noch nie hatte es ihm Schwierigkeiten bereitet, dem guten Rat seiner gottesfürchtigen jungen Frau zu folgen. Als Ebenbild ihrer eigenen Mutter war sie viel vernünftiger als er. Es war ihm manchmal verwunderlich, dass so eine schöne Frau mit so einer Gabe an Weisheit und Demut gerade ihn geheiratet hatte. Auch wenn sie völlig verarmt waren und er mit seinen starken Armen kaum den Lebensunterhalt verdienen konnte, waren sie dennoch glücklich gewesen, bis Helene so ernstlich krank wurde. Auch für Martin war das Sterben seines vierjährigen Schwesterchens eine einschneidende Erfahrung gewesen. Er war nun acht Jahre alt und manchmal etwas zu übermütig, aber niemals mehr so wie vor jener Zeit. Jedoch wusste der Junge von der guten Hoffnung seiner Eltern: dass Helene jetzt beim Herrn Jesus ist und einst wieder auferstehen wird. »Halt, Bernd, behalte deine Gedanken bei der Arbeit«, brummte er, wie so oft, zu sich selbst. Dann erreichte er einen fast kahlen Landstreifen mit einigen Birken, deren weiß 34


glänzende Stämme den Glanz der Morgensonne reflektierten. Hier ging es wieder etwas leichter voran. Eine Sache war klar: Wer hier nichts zu suchen hatte, würde nicht zu dieser Stelle gehen, die er nun aufsuchte. Bernd überquerte die Birkenlichtung und lief dann erneut zwischen den Sträuchern und dichtem Gebüsch hindurch. Jetzt gelangte er zu dem kleinen offenen Streifen, wo der Hang steil anstieg. An der Oberseite standen drei sehr hohe Tannen und dazwischen einige kleinere. Der Mittlere Stamm hatte bis ungefähr zur Mitte hin wenig Grün, aber die beiden Äußeren neigten ihre prächtigen grün glänzenden Zweige wie Schleier zu Boden. Die Untersten waren am längsten und berührten fast das Moos, das über den Steinen gewachsen war. Mitten vor der Baumreihe befanden sich zwei Gräber. Ein kleines Grab war mit einzelnen weißen Steinen abgegrenzt. Auf diesem Grab befand sich ein kleines Holzkreuz, auf dem mit schwarzen Ziffern und Buchstaben ein Geburts- und ein Sterbedatum versehen waren. In der Mitte war der Name ›Helene‹ in schönen Buchstaben eingraviert. Aus Gewohnheit nahm Bernd seine Mütze ab. Er sah, dass Boden, Steine und Holz auf dem großen Grab daneben noch ein wenig eingesackt waren. Vorsichtig legte er das Kreuz auf das Gras und suchte ein Fleckchen, um ein Loch dafür zu graben. Dabei achtete er darauf, dass dieses Loch in einer Linie mit dem Grab seiner Tochter aufgestellt wurde. Was er befürchtete, trat ein: Fast überall stieß sein Spaten auf feste Baumwurzeln oder auf Fels. Dann fand er doch noch eine Lücke im Erdreich. Er musste nur ein paar Stiche tief schaufeln. Der Fischer stellte das Kreuz an der Vorderseite des Grabes auf und befestigte es noch mit ein paar Steinen, die er daneben in den Boden klopfte. Nachdem er die restliche Erde schön verteilt hatte, trat er an jene Stelle zurück, wo das Gras stärker wuchs. Dann fiel 35


der Fischer auf ein Knie, während er sich mit seinen Händen am Stiel seines Spatens festhielt, auf den er seine Mütze gesteckt hatte. Auf dem rechten Querbalken des Kreuzes stand ›April 1622‹. Die Buchstaben waren auf dieselbe Art und Weise eingraviert wie beim Kreuz seiner Tochter. Kritisch betrachtete der Mann sein Werk. Ja, so war es gut. Er verharrte so einen Augenblick, bis er vom Fluss den Wind durch den grünen Schleier kommen hörte – sanft heulend, wie ein Klagelied. »Ruhe sanft, liebe Kleine. Ruhe in Frieden, Fremdling!«, flüsterte er. Ihm war sehr trübselig bei dem Gedanken zumute, dass dieser junge Edelmann zu Hause vielleicht auch Frau und Kinder hatte, die vergeblich auf ihn warteten. Doch nun musste er nach Hause! Er rieb sich mit seiner Mütze noch einmal den Schweiß von der Stirn. Seine Frau würde unruhig werden. Heute Morgen sagte sie als Erstes: »Wer weiß, wie nun überall gelitten wird. Wie viele Tränen werden heute wieder geweint? Was tun sich die Menschen nach dem Sündenfall doch alles an!« Als Bernd sich einige Fuß weit von dem stillen, friedvollen Plätzchen entfernt hatte, drehte er sich noch einmal um. Er konnte die Worte und Ziffern noch gut lesen. Er ging zurück auf den Wildpfad und von dort in Richtung zum Dorf. Das bedeutete eine halbe Stunde Fußweg, obwohl sein Haus eines der Ersten im Tal war. Als er ankam und seine Stiefel auszog, hörte er, dass Martin auch schon wach war. Sanft wurde er von seiner Frau mit einem Kuss begrüßt. »Papa, hast du das Kreuz eingegraben? Jetzt ist da ein kleiner Friedhof«, sagte der achtjährige Martin gleich. Seine Mutter meinte: »Du darfst niemals mit anderen Menschen darüber sprechen. Hörst du, Junge? Die Menschen kommen schon selbst irgendwann dahinter, dass dort nun zwei Gräber sind.« 36


»Ja, aber zu Papa darf ich das doch sagen, oder?« »Natürlich, aber bevor du eine Antwort von Vater bekommst, hast du schon vieles andere erzählt«, meinte sie mahnend. Bernd selbst hatte das gar nicht richtig verstanden. Seine Frau dachte immer so flink. Seiner Ansicht nach hatte sie mehr Weisheit und Verstand als alle studierten Leute, die er kannte. Sollte dies daher rühren, dass sie etwas von Gott, aber auch über sich selbst erkannt hatte? Bernd nickte und sagte: »Ich habe das Kreuz am Kopf­ ende des Grabes fest eingegraben.« Er schaute seine Frau an. »Ich gehe jetzt erstmal zum Zimmermann, um das Holz von voriger Woche zu bezahlen.« Sie nickte und drehte sich zum Schrank um. Dann kram­ te sie in einer Tonschüssel und gab ihrem Mann ein paar Silbermünzen. Das sah der gewitzte Martin ganz erstaunt und meinte: »Mama, wir waren doch immer so arm. Wo hast du denn nun plötzlich das Geld her?« Seine Mutter seufzte und sagte dann: »Das muss Papa dir heute Abend einmal erzählen, Martin, zumindest, wenn du versprichst, niemand anderem davon etwas zu sagen.« Die treuen Augen des Jungen schauten sie an. »Ja, Mama, darauf kannst du dich verlassen.« Um die Mittagszeit herum erinnerte Martin seine Eltern an das Versprechen, erfahren zu dürfen, woher das Geld käme. Er fragte auch, ob seine Mutter noch mehr Geld hätte. Dann könnte Vater ein paar Pistolen kaufen, um böse Männer zu erschießen. Wenn er dann noch den Rest wegjagen würde, weil er doch so stark ist, nun, dann brauchte er keine Angst mehr zu haben. An diesem Mittag ging er mit seinem Vater ins Dorf zum Tischler und konnte es kaum erwarten, dass es Abend wurde. 37


Als sie nach dem Abendbrot an ihrem geliebten Plätzchen hinter dem Haus neben dem Schuppen saßen, holte der Vater eine alte Decke für Mutter und ein paar alte Jacken für Martin und sich herbei. Später würde es doch zu kühl, um so dazusitzen. Eigentlich war es zu kühl für diese Jahreszeit. Bald sahen sie die Sonne als glühenden feuerroten Ball hinter den Hügeln untergehen, aber ihre Strahlen versetzten den Himmel in ein oranges und rotes Leuchten. Der Fischer wusste mittlerweile, wie sehr seine Frau die Sonne liebte, am Morgen ebenso wie am Abend. Sie hatte einmal erzählt, dass sie darin ein Gleichnis des Herrn Jesus sehen würde, der die Herzen seines Volkes erleuchtet und erwärmt. »Papa, soll ich dir deine Pfeife holen, oder hast du noch keinen Tabak gekauft?«, rief Martin auf einmal. Der Fischer sagte lachend: »Nein, Martin, so reich sind wir noch nicht.« »Erzähl es ihm nun ruhig, Bernd«, sagte Mutter. »Ja, Gertrude, ich werde versuchen, meine Gedanken in Worte zu fassen. Wenn ich etwas vergesse, musst du mir helfen. Übrigens, manches weiß er natürlich schon.« »Hör zu, Martin«, sagte der Vater weiter. »Vorige Woche Dienstag war ich sehr früh aufgestanden. Ich hatte bereits direkt nach dem Sonntag drei Netze an einem ruhigen Winkel des Rheinarms ausgeworfen, zwei etwas weiter hinten und eines dicht hinter der ersten Bucht. Das eine hatte ich mit zwei Seilen an Pfählen befestigt, die ich mit ihren eisernen Spitzen tief eingeschlagen hatte. Das ist ja wegen der starken Strömung nötig. Ich musste bis zur Hüfte ins Wasser hinein. Du weißt, dass deine Mutter mich gebeten hatte, wegen des Krieges über eine Woche lang zu Hause zu bleiben. Darum war ich nun froh, dass bestimmt zwanzig Fische in den beiden vorderen Netzen waren. Als ich die Fische in meinen Karren gelegt hatte, fiel mir auf, dass eins der Netze 38


irgendwie merkwürdig straff gespannt war. Als ich nachsah, erblickte ich zu meinem großen Entsetzen unter Wasser eine Menschenhand. Der Leichnam des ertrunkenen Mannes, den du mir zu begraben geholfen hast, war hinter meinem Netz hängengeblieben.« »Warum warst du so erschrocken, Papa? Du bist doch sonst nicht so bange?«, fragte Martin neugierig. »Würdest du denn nicht erschrecken, wenn du plötzlich einen leblosen Menschenkörper im Wasser siehst? Und außerdem war das Gesicht des Mannes sehr von einer Verwundung entstellt. Da ist es doch normal, dass man erschrickt, oder nicht? Es ist wirklich unheimlich, so etwas zu erleben.« »Für einen Augenblick dachte ich: Man sollte die Leiche losmachen und sie vom Strom wegtreiben lassen Aber dann hätte ich sie weiter in den Fluss befördern müssen.« »Warum wolltest du das tun, Papa?«, fragte Martin. Bernd schaute seine Frau an. Sie nickte ihm liebevoll zu. »Hör mal, Martin, du weißt doch noch, wie schwer sich der katholische Pfarrer damit tat, als unser Helenchen begraben werden sollte. Nun, wenn ich dann auch noch mit einem fremden Leichnam angekommen wäre …« »Ja, wir sind Ketzer, oder Papa? Und Pfarrer Albrecht und der Rest unseres Dorfes sind Katholiken.« »Ja, Martin, ›römische Katholiken‹ sagt deine Mutter immer. Eigentlich ist der Schuhmacher auch Protestant, aber das weiß er selbst noch nicht. Oh, was bin ich doch froh, dass ich die Leiche nicht habe wegtreiben lassen. Ich habe den Mann dann aus dem Netz geholt und vorsichtig auf die Seite unter eine Lage Schilf gelegt. »Und deshalb hast du mir gesagt, dass ich draußen spielen soll, oder?« »Ja Martin, weil ich dann gar nicht mehr wusste, was ich weiter tun sollte. Bei unserer Helene kam der Pfarrer dann 39


doch zu uns, um zu erklären, dass wir sie doch begraben dürften, aber da hatten wir sie schon an dieser Stelle im Wald begraben, die du ja kennst.« Dann fragte Martin: »Hat Mama dann gesagt, dass du Holz beim Zimmermann kaufen sollst?« Er schaute zu seiner Mutter. Die lachte. »Gut aufgepasst, Martin, und zudem musste Vater auch noch losgehen, um zu fragen, ob er Albrechts Pferd und Wagen ausleihen darf.« »Nun, Martin«, meinte er weiter, »den Rest weißt du bestimmt schon selbst. Am Abend hatte ich mit Mutter vorsichtig die Stiefel und die Oberbekleidung des Ertrunkenen ausgezogen. Sein Gesicht und seine linke Schulter und die Brust waren stark verwundet. Er muss sehr schnell an diesen Schusswunden gestorben sein.« Martin hörte zu und dachte intensiv mit, da er von dieser Sache so unmittelbar betroffen war. »Mama«, fragte er dann leise, »konnte man an der Kleidung Löcher von den Gewehrkugeln sehen? Du hast sie doch gewaschen, oder?« »Ja, Martin, alles von dem Mann liegt trocken oben auf dem Dachboden in der neuen Kiste, die Papa gezimmert hat. Später kannst du dir das vielleicht einmal anschauen.« Er nickte ernsthaft und blickte wieder zu seinem Vater. »Und dann, Papa?« »Nun, Martin, in seiner Kleidung fand Mutter dann einen Lederbeutel mit Geld. Zusammen waren darin vier Goldstücke und noch mehrere Silbertaler, daneben noch etwas Kupfergeld. Jetzt weißt du, warum ich den Zimmermann so rasch bezahlen konnte.« »Aber Papa, dürfen wir denn sein Geld einfach so behalten? Das ist doch unehrlich!« Martin merkte, dass sein Vater aufschluckte und nach Worten suchte. »Mama, was sagst du dazu?« 40


»Martin, mein Junge, hör mal, wir haben allein schon Geld für das Begräbnis gebraucht, und um eine Kiste für seine Habseligkeiten zu machen. Wir haben auch ein wenig für uns selbst genommen, da wir es nun so dringend brauchten. Aber sobald dein Vater wieder etwas verdient, geben wir es so schnell wie möglich zurück und das andere auch noch.« »Zurückgeben? An wen denn, Mama?« »Nun, ich lege alles oben in die Kiste. Wenn wir vielleicht einmal jemanden von seiner Familie ausfindig gemacht haben, seine Frau vielleicht, bekommt sie alles feinsäuberlich zurück, auch das Geld, Martin.« Martin nickte erneut, war aber dennoch voller Fragen. »Ich habe dir doch gut geholfen beim Ausschachten des tiefen Grabes, nicht wahr, Papa? Liegt unser Helenchen auch so tief unter der Erde?« »Ja, Martin, das muss so sein«, sagte Bernd dann leise zu seinem Jungen. »Du hast mir prima geholfen.« Martin saß in Gedanken da. Dann rückte er zu seiner Mutter hinüber, griff ihre Hand und sagte: »Warum habt ihr unsere Schafsfelle unter seinen Leichnam gelegt? Das konnte er doch nicht mehr fühlen! Und warum musste ein neues Laken über ihn gelegt werden? War das, weil der Mann so reich war? War er vielleicht ein Offizier?« Geduldig antwortete seine Mutter. »Martin, das haben wir aus Respekt vor dem Toten getan und … weil nur wir für ihn sorgen konnten und durften.« Dann fragte Martin nachdenklich: »Wie konnte der Mann so freundlich ausschauen, als er totgeschossen wurde, Mama? Es sah so aus, als ob er nur friedlich schläft. Und warum dachtest du, dass du seine Kleidung irgendwoher kennen würdest?« »Solche Kleidung habe ich schon einmal in einem Buch bei Oma gesehen, Martin. Nur wusste ich nicht mehr, zu 41


was sie gehörte. Und was sein Gesicht angeht, fand auch dein Vater, dass er sehr friedevoll aussah. Vielleicht war der Mann Christ und durfte zum Herrn Jesus kommen. Martin, ich habe schon viel darüber nachgedacht. Wir sind in jedem Fall froh, dass er nun neben unserem Helenchen begraben liegt.« Plötzlich schwieg sie. Sie hörten von ihrem Platz hinter dem Haus deutlich, wie es an der Haustür klopfte. Bernd sprang auf und ging rein, während seine Frau und Martin ebenfalls etwas erschrocken von ihren Stühlen aufstanden. Wer kann das bloß sein, so spät noch?« Dann erklang eine kräftige Stimme: »Seid ihr da?« Bernd sagte: »Das scheint unser alter Fischer zu sein.« Immer noch gespannt warteten der Junge und die Frau, was passieren würde. Dann kam der Vater mit seinem Gast zum Platz bei der Scheune. »Schaut mal, wer hier ist.« Seine Frau schaute im Halbdunkeln auf den Mann und meinte dann überrascht: »Peter, der Holländer! Was führt dich so spät am Abend zu unserem einsamen Haus?« »Das kann man wohl fragen«, meinte der späte Gast. »Ich hätte schon früher kommen wollen, aber eine Begegnung mit den Halunken des Räuberhauptmanns Tilly hat mich aufgehalten.« Seine Stimme klang ärgerlich. Daraufhin meinte Gertrude freundlich: »Kannst du denn deine vielen Tiere so lange alleine lassen?« Der alte Fischer mit dem zerfurchten Gesicht erklärte: »Ja, Gertrude, ich habe sie bei jemanden untergebracht, so dass ich etwas länger wegbleiben kann. Sofern ich euch nicht zur Last falle.« »Das musst du selbst wissen, Peter. Das Bett oben auf dem Dachboden kannst du benutzen, wenn du magst.« Der Fischer hörte an ihrer Stimme, dass sie wirklich meinte, was sie sagte. Dankbar sagte er: »Tag Martin, was bist du so groß geworden. Musst du noch nicht ins Bett?« 42


»Nein, Peter, ich durfte aufbleiben. Gehst du morgen mit Papa fischen? So wie letztes Jahr?« Dann meinte Bernd: »Peter ist kaum hier und schon willst du ihn schon wieder an die Arbeit treiben. Komm, Martin, es ist nun höchste Zeit … ich werde dich jetzt schleunigst ins Bett bringen.«

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Der nächtliche Überfall

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ohann saß noch immer gedankenversunken im Mondlicht an der Uferböschung. Es stimmte ihn sehr betrüblich, dass er die schreckliche Nachricht von Karls Tod an dessen Frau Lotte in Worms überbringen musste. Über das Wasser des Rheins starrend, versuchte er sich vorzustellen, wie weit der Körper von Karl wohl weggetrieben sein könnte. Vielleicht sogar bis in die Niederlande? Hätte Lotte ihrem Mann doch nur ein ehrwürdiges Begräbnis bereiten können! Das hätte helfen können, den Kummer besser zu verarbeiten. Aber nun … Er würde ihr wohl berichten müssen, wie alles endete. Da würde er nicht drum herumkommen. Sie würde sicherlich auch darauf drängen. Die Sache trieb ihn ins Gebet, aber auch nach dem Gebet nahmen seine Gedanken ihren Lauf. Er sah der Begegnung mit Schrecken entgegen! Er wusste, wie sehr Lotte ihren Karl liebte. Selbst als sie einmal an ihm herumnörgelte, konnte man dennoch spüren, wie viel sie von ihm hielt. Karls Tochter, mit der Mechthild gespielt hatte, war noch sehr klein, aber Kurt dürfte inzwischen fünf Jahre alt sein. Der verstand sehr wohl, dass sein Vater nie wieder nach Hause kommen würde. Und wenn Worms schon vom Feind besetzt war, haben sie vielleicht schon viel mehr Schwierigkeiten. Karl hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er ganz und gar hinter der Sache der Protestanten stand. Zudem hatte er als Kurier ein öffentliches Amt, durch das viele ihn kannten. Nein, seine Frau mit 44


ihrem schön geflochtenen Haar würde sicherlich eine Welle des Kummers erleben. Wenn er doch nur helfen könnte! Auch durfte er mit der Überbringung der Nachricht nicht zu lange warten. Zunächst einmal wollte er aber nach Frankenthal zu Mechthild, dann nach Hause zu seiner Familie und dann so rasch wie möglich nach Worms aufbrechen. Wie viele Menschen würde er dort noch antreffen, wenn es endlich soweit ist? Hier saß er nun, tief versunken in seiner Mönchskutte und mit den Händen sich die Haare raufend. Wie stand es nun um seinen Glauben und sein Vertrauen? Von dem Stein an der Böschung, auf dem er saß, ließ er seine Füße über dem Kies baumeln. Johann merkte nicht, dass sich entlang des Weges Gestalten näherten. Sie schlichen wie Katzen umher. Der eine hatte eine schussbereite Pistole in der Faust, der andere einen langen Dolch. Etwas weiter hintern näherte sich noch eine dunkel gekleidete dritte Person, ob bewaffnet, war nicht zu sehen. Obwohl Johann sich gut umgeschaut hatte, als er an die Kreuzung gelangte, hatte er nicht gesehen, dass ungefähr eine Viertelmeile vor ihm aufmerksame Augen ihn beobachtet hatten. Etwas weiter oben hatte sich nämlich ein großer Trupp Soldaten versteckt gehalten. Der Trupp wiederum bestand aus verschiedenen Unterabteilungen. Es war nicht so, dass sich diese Soldaten auf dem Schlachtfeld besonders hervorgetan hätten. Nein, Rauben und Plündern lag ihnen besser. Und das mit möglichst wenig Risiko für ihr eigenes Leben. Der befehlshabende Kroate erlaubte sich mehr Freiheiten, als so ein mittlerer Offizier es gewöhnlich tun durfte. Das kam daher, weil er in großer Gunst bei Feldherr Wallenstein stand, dem Herzog von Friedland. 45


Dieser katholische Herzog aus Böhmen war allmählich der berüchtigtste Reitergeneral des gesamten Krieges geworden. Seine wilde Kühnheit und Grausamkeit waren fast genauso groß wie seine Habsucht. In dem Kroaten Roska erkannte Wallenstein viel von sich selbst. Als dieser kroatische Offizier die Chance sah, als einer der ersten nach Heidelberg durchzubrechen, ließ Wallenstein danach Roska zu sich rufen. Die Unterhaltung verlief zur vollsten Zufriedenheit beider. Als Roska dann auch noch etwas melden konnte, woraus der Herzog große Vorteile zu ziehen vermochte, waren die beiden unzertrennlich. Herzog Wallenstein hatte nicht nur seinem elterlichen protestantischen Glauben abgeschworen, indem er zum Katholizismus konvertierte, sondern sein Gewissen war auch derart abgestumpft, dass für ihn nur der Profit zählte. Und zwar nicht nur Gewinn an Geld und Gütern, sondern auch an Ehre und Macht. Leider hatten all diese Dinge seinen Scharfsinn keineswegs geschmälert. Wallstein erkannte, dass Roska ein williges Werkzeug sein würde, wenn er ihm hier und da etwas zuschanzen würde. In Heidelberg hatte es bei der Einnahme der Stadt in diesem Monat zu viele Zuschauer gegeben. Wallenstein hatte Roska versichert, dass es ihm zum Vorteil gereichen würde, wenn er seine Augen und Ohren bei allen möglichen Gelegenheiten gut offenhielte. Auch sollte er die Offiziere bespitzeln. Der Kroate hatte das gut verstanden. Er schaffte es im weiteren Verlauf, eine eigene Truppe zu kommandieren, die nur gegenüber Wallenstein Rechenschaft schuldig war. Und nun, diese Gelegenheit …! Sein Kundschafter hatte gestern über ein großes, offensichtlich reiches Dorf Meldung erstattet, das lediglich fünf Kilometer vom Hauptweg entfernt lag. Offenbar war dieses 46


Dorf noch nicht von anderen Truppen überfallen worden. Der kleine, gerissene Spion hatte kein einziges abgebranntes Haus gesichtet. Roska wollte zur Sicherheit erst um vier Uhr in den Morgenstunden angreifen. Dann dürfte die Wachsamkeit, sofern überhaupt vorhanden, am geringsten sein. Die Habsucht hatte ihn geschult, große Gelegenheiten auf Beute nicht zu verspielen. Ein strebsamer Fähnrich und zwei stramme Burschen wurden als Wache postiert. »Stellt sicher, dass ihr nicht gesehen werdet, aber behaltet selbst alles im Blick«, lautete sein Befehl. »Wenn unser Überfall gelingt, werde ich euch nicht vergessen, sondern reich belohnen.« Roska hatte seinen Männern eingeschärft, beim Überfall auf das Dorf bloß kein Feuer zu legen. Das Licht oder der Rauch könnte sie verraten. »Ein kleines Geräusch und die Bewohner des Dorfes flüchten in den Wald«, hatte er gewarnt. »Wer soll uns dann die vergrabenen Golddukaten zeigen? Später dürft ihr nach Herzenslust alles abfackeln.« Ihr zauderndes Gemurre hörte sofort auf. Die Männer fürchteten Roskas Wutausbrüche, die manches Mal unerwartet wie ein plötzliches Ungewitter losbrachen. Außerdem wussten sie, so wurde zumindest unter den Männern geflüstert, dass ihr Kommandant nicht nur in der Gunst des Herzogs stand, sondern auch ausgezeichnete Kontakte zum Bischof von München unterhielt. Nein, sie sollten ihn besser zum Freund haben. Zwei der Wachen hatten eben noch einen Wortwechsel gehabt. Der Mann mit dem Dolch hatte nämlich Johann den Weg überqueren sehen. Sofort stieß er seinen Kameraden an. »Schau mal, da geht ein Mönch entlang.« »Pssst«, erklang es von der Oberseite des Weges. Es war der Fähnrich, der wissen wollte, worüber sie sprachen. 47


»Da ging jemand rüber, Fähnrich, weiter dort, ein Stück vor der Biegung. Ich bin mir sicher. Hast du nichts gesehen, Fritz?« »Nein, er muss schon auf der anderen Seite gewesen sein.« Die drei Strauchdiebe in Soldatenkleidung warteten erst eine Zeitlang, aber als es still blieb, meinte eine der Wachen: »Was machen wir jetzt? Sollen wir ihn schnappen, oder lassen wir ihn laufen?« Fritz meinte dann: »Wenn er hierherkommt, läuft er uns von selbst in die Hände, und wenn er in die andere Richtung geht, sind wir ihn los.« »Döskopp«, entgegnete der andere Wächter, »er kann das Dorf warnen.« Der Fähnrich schritt ein. Er wollte sich gerne gegenüber seinem Befehlshaber hervortun. »Wir warten noch kurz. Wenn er nicht hierherkommt, holen wir ihn – und wenn er nicht freiwillig kommt, dann eben mit Gewalt.« Johann, der noch immer an der gleichen Stelle auf der Uferböschung saß, war sich keines Unheils bewusst. Als er ein Geräusch hörte, erschrocken aufsprang und aufblickte, sprang eine Gestalt auf ihn zu, die drohend rief: »Bleib sitzen oder ich steche zu!« In diesem Augenblick war es, als würde sein Herz stillstehen. Sein Atem stockte ihm in der Kehle. Das war für ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Aus dem Augenwinkel heraus erkannte er im sanften weißen Mondlicht eine weitere Figur: »Steh auf. Wer bist du?« Das war der Fähnrich. Mit einem Mal riss er die Kapuze von Johanns Kutte und musterte ihn neugierig. Von den beiden Soldaten ging eine derart starke Bedrohung aus, dass Johann sogleich beschloss, nichts zu sagen. Dann kam ein dritter Mann in dunkler Uniform auf ihn zu. Als er seine schwere Pistole zurück in den Halfter steckte, 48


fragte er: »Wie steht es, Mönchlein? Was tust du hier? Bist du aus dem Kloster geflohen? Das muss doch nicht sein, oder? Die Klöster müssen wir bedauerlicherweise in Frieden lassen«, meinte er zynisch. Johann holte wieder Atem, wenn auch immer noch völlig erschrocken und mit klopfendem Herzen. Sein Kopf arbeitete fieberhaft. Dann streckte er seine Hand mit dem Beutel, in dem sich alles befand, was er bei sich hatte, aus. Mit Nachdruck zeigte er mit der anderen Hand darauf. »Was will er, Fritz? Kitzel ihn doch mal mit der Pistole an den Rippen.« Während Fritz seine Waffe wieder zog, holte Johann so friedfertig wie möglich sein Buch aus dem Beutel und hielt es ihnen vor. Plötzlich meinte der Fähnrich fröhlich: »Oh, ich verstehe jetzt, natürlich darf er nichts sagen. Nun, da wird unser Hauptmann wohl ein Mittel wissen, ihn zum Reden zu bringen. Komm mal mit, Kerlchen. Und keine Mätzchen. Los, hinter ihn, Fritz, und gib ihm nicht die Möglichkeit, zu entkommen.« Zwei der Männer nahmen ihn in die Mitte und der dritte ging hinterher. »Warte mal. Warst du denn allein, Bursche?« Johann nickte einige Male. »Wehe, wenn du lügst. Und denk daran: Eine Kugel ist schneller als deine Beine, Kerlchen.« In kürzester Zeit gelangten sie zum Truppenlager. Der Fähnrich befahl den beiden Wachen, den Mönch zu bewachen, bis er gefesselt sei. Er wollte nicht das Risiko eingehen, dass er noch in letzter Sekunde davonlief. Innerhalb weniger Minuten kam Fritz mit einem Stück Seil zurück und Johanns Hände wurden so fest auf dem Rücken zusammengebunden, dass er sie kein Stück mehr bewegen konnte und das Seil tief in die Haut drückte. Der Fähnrich nahm ihn mit zu einem Zelt, wo eine Gruppe unter einem anderen Fahnenjunker in Bereitschaft saß. 49


Der Fähnrich sagte: »Sobald er wach ist, berichte Roska, dass ich einen Mönch gefangen habe. Dieser heilige Wanderer hat sich wohl die Schweigepflicht auferlegt, aber der Hauptmann wird ihn schon zum Sprechen bringen. Wenn nötig, mit glühendem Eisen.« Die rauen Soldaten lachten, denn sie sahen die Situation als willkommene Abwechslung an. Während sich der Fähnrich zurück auf den Weg begab, wurde Johann von allen Seiten begutachtet. Er zeigte auf seinen Mund und zog die Schultern hoch. Dann wies ihm ein Soldat eine Ecke im Zelt zu, in der Johann versuchte, sich mit gebundenen Händen hinzusetzen. Als einer der Soldaten den Beutel von Johanns Schultern zog, sagte er: »Schau mal, Fahnenjunker, der Mönch hat unterwegs einiges gesammelt. Das riecht nicht schlecht.« Der Fahnenjunker inspizierte den Leinensack und fischte die Wurst heraus. Das Buch wurde nur flüchtig angesehen und auch das Brot und die Kanne wurden gleichgültig zurückgetan. Die Würste aber wurden in Stücke geteilt und von den Männern unverzüglich verspeist. Sie lachten dabei und priesen die Qualität. Dann rief einer von ihnen: »Seht mal, Jungs: wenn wir an solche Sachen nicht selbst herankommen können, werden sie uns gebracht!« Spottend stopfte der Fahnenjunker das letzte Stückchen Wurst Johann zwischen die Lippen. »Hier Mönch, du magst doch sicher auch etwas essen! Das ist die Belohnung für dein Schweigen und für die leckere Wurst, die du mitgebracht hast.« Johann erschrak vor den harten Blicken. Wenn all diese Männer so waren, wie würde dann erst ihr Anführer sein? Er schob sich ein wenig nach hinten und machte sich so klein wie möglich. 50


Etliche Stunden zogen vorbei. Die Männer im Zelt schlugen die Zeit mit Würfeln und Trinken tot. Johann war erschrocken über ihre rohe und bösartige Sprache, wobei er davon überzeugt war, dass einige sich sogar noch zurückhielten. Eines war klar: Von dieser Art von Leuten war wenig Gutes zu erwarten. Aus seinem Herzen stieg manches Gebet empor. Sein Glaube war in die wogende Brandung geworfen und wurde kräftig auf die Probe gestellt. Erneut war er in den Händen brutaler Feinde. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit gehabt, nach Hause zu gelangen. Warum ließ der Herr das zu? Könnte das etwa mit den Lügen seiner Bettelkutte und dem vorgetäuschten Schweigegelübde zu tun haben? Gott war ein Gott der Wahrheit, aber andererseits hatte er ihm nach seinem aufrichtigen Entschluss, bei nächster Gelegenheit die Kutte abzulegen, Frieden ins Herz gegeben. Plötzlich stand der Fahnenjunker auf: »Bald ist es vier Uhr. Zeit, das Dorf zu überfallen. Ich muss den Kommandanten wecken, Männer. Räumt eure Sachen auf und wartet auf mein Signal. Wir werden bald aufbrechen.« Kurze Zeit später erklangen überall gedämpfte Kommandos, leises Waffengeklirr und hier und da ein Fluchen. Da der Mond sich jetzt immer häufiger hinter die Wolken schob, behinderten sich die Männer gegenseitig. Rasch wurde die Zeltplane zusammengepackt und der Fahnenjunker meinte: »Nun müssen wir den Mönch auch noch mitschleppen. Roska hat keine Zeit für ihn. Er meinte, er wolle ihm später auf den Zahn fühlen. Ihr zwei da, bindet ihn auf dem Pferd fest. Und du, Helmut, sorge dafür, dass er nicht entkommt, auf keinen Fall vor dem Angriff.« Helmut entgegnete: »Fahnenjunker, wo bleibe ich denn während des Überfalls? Ich will gerne mit dabei sein.« »Mach das mit dir selbst aus. Hauptsache, er entkommt nicht. Dafür bist du verantwortlich.« 51


Johanns Füße wurden unter dem Bauch des Pferdes zusammengebunden. Gemütlich war etwas anderes. Aber zumindest konnte er nicht vom Pferd fallen, wo doch seine Hände gefesselt waren. Der Bewacher hinter ihm sagte kein Wort zu ihm. Nur der Geruch von Bier war überall zu riechen. Was würde diese Truppe angreifen wollen? Ein befestigtes Dorf? Eine Burg? Würde er die Möglichkeit bekommen, während des Gefechtes die Flucht zu ergreifen? Johann schlug seine Augen zu den Sternen auf, als würde er von dort Hilfe erwarten. Keine Stunde später hielt die gesamte Truppe an einem abgelegenen Weg an. Leise wurden einzelne Namen aufgerufen. Es waren Kundschafter. Unter Leitung des Spions gingen sie nach vorn. Der Trupp musste still abwarten. Dann hörte Johann wieder deutliche Geräusche, und kurze Zeit später zog die Mannschaft weiter. An einer Stelle, wo ein Pfad den Weg kreuzte, stand der Fahnenjunker. Die Truppe wurde hier in drei ungefähr gleichgroße Gruppen aufgeteilt. Johanns Bewacher sollte mit einer Gruppe geradeaus gehen. Johann begriff, dass das Dorf umzingelt werden sollte. Sein Aufpasser zog den Säbel, während die Männer um ihn herum rege mit Kugelbeuteln, Pulverhörnern und Schulterriemen beschäftigt waren. Ihn schauderte bei der Bedrohung, die von all dem ausging. Johanns Bewacher ritt nun neben ihm. Kaum hatte Johann im Dunkeln vage ein Hausdach erkannt, führte sein Aufpasser sein Pferd und das von Johann an die Seite des Weges. Dann blieb es einen Augenblick lang still. ›Worauf wartet man?‹, dachte Johann. ›Sollte ich nicht jetzt einfach laut rufen? Würde das die Dorfbewohner war52


nen?‹ Er blickte auf und sah den blinkenden Säbel in der Faust seines Begleiters. Ihm war klar, dass er eine solche verräterische Warnung mit dem Tod bezahlen müsste. Mit seinen gefesselten Händen und Füßen würde er einem Säbelhieb nicht ausweichen können. Er wunderte sich aber, dass solch raue Burschen noch so viel Disziplin aufbrachten. Wie zielbewusst sie zu Werke gingen! Solche Gräueltaten, wie sie jetzt vorhatten, haben sie sicher schon öfter begangen. Plötzlich erklang ein heller Trompetenstoß, dem unmittelbar etliche Schüsse folgten. Unverzüglich stürmten alle Reiter nach vorn. »Angriff! Angriff!«, ertönte es von allen Seiten. Sein Aufpasser fing nun auch an zu schreien. »He, du da drüben, hilf mir mal mit dem Mönch! Ich will das Fest der Plünderung auch mitmachen!« Einer der Reiter schien zu reagieren und bewegte sein Pferd neben ihn. »Die anderen sorgen für sich selbst und ich muss mich um den Bettler kümmern!«, murrte Johanns Bewacher mit einem Fluchen. »Komm her, schnell. Wir schmeißen ihn gefesselt irgendwo hin und holen ihn später wieder ab.« Schließlich ritten die beiden samt Johann auch dem Getöse entgegen. Neben dem Lärm hörte Johann nun auch Frauen und Kinder schreien. Er beugte sich vor, um besser sehen zu können, was dort vor sich ging, bekam aber sogleich einen gemeinen Stoß in seine Seite. »Sitz still, Mönch!« Von allen Seiten hörte Johann Pistolenschüsse. Schriller Krach und schmerzliches Geschrei ertönten. ›Oh, Herr! Sie überfallen einfach so ein Bauerndorf!‹, wimmerte es in ihm. Schnell ritten die drei Reiter nun an einem Holzschuppen vorbei. Als sie den passiert hatten, sah Johann eine Gruppe Häuser, von denen die meisten in einem großen Kreis standen. Beim Licht einzelner Fackeln und dem Blitzen 53


von Schüssen sah er Soldaten in die Häuser eindringen. Vor einem der Häuser stand eine Gruppe von fünf oder sechs Dorfbewohnern mit Knüppeln und Heugabeln, die verzweifelt versuchten, sich zu verteidigen. Johann bekam wenig Gelegenheit, noch mehr zu sehen. Sein Pferd wurde zur Seite geführt. Sein Bewacher band hastig seine Füße los. »Los, los mit ihm! Wir schmeißen ihn hier in die Scheune. Später schnappen wir ihn uns wieder.« Als Johann vom Pferd rutschte, fing der Mann ihn mit nur einer Hand auf. Mit Mühe schaffte Johann es, sich an das Pferd zu lehnen und so auf den Beinen zu halten. Von den Soldaten wurde er in Richtung der Scheune gedrängt. Der Gehilfe schoss auf das Scheunentor zu. Der Holzbalken wurde gelöst und auf die Seite geworfen. Johanns Füße wurden rasch wieder gefesselt. »Sollten wir seinen Mund knebeln?« »Ach nein, wozu soll das gut sein? Pack mit an, wir legen ihn hier rüber.« Die Männer schleppten ihn bis zum Ende der dunklen Scheune und ließen ihn an die Holzwand sacken. Dass er mit einer Schulter auf einem Stapel Brennholz lag, interessierte sie nicht. Hastig gingen sie fort und machten sich nicht einmal die Mühe, mit dem Holzbalken die Tür wieder zu versperren. Das Geschrei und Heulen der Opfer und das Gebrüll der Angreifer schien noch zuzunehmen. Johann erschauderte, als er einen Soldaten lachen hörte. Wie konnte der bei einem derartig teuflischen Gemetzel so fröhlich sein? Das dort draußen Menschen ermordet wurden, war offenkundig. Sein Herz, das durch die frischen und lebendigen Eindrücke der Gnade und Güte Gottes so empfindsam geworden war, bebte unter dieser Gewalt und war tief bestürzt von dem abscheulichen Geschehen. Er schüttelte sich vor Grauen. 54


Dann lag er plötzlich regungslos da. Trotz allem versuchte er sich im Gebet an Gott zu wenden. »Herr Jesus, hilf mir bitte, und hilf diesen armen Dorfbewohnern! Wie kann ich nun zu deiner Ehre leben? Muss ich denn tatenlos hier liegen? Hilf diesen armen Menschen doch! Du hast doch verheißen: ›Ich werde die Hand nicht von dir abziehen, noch dich verlassen.‹ Und führe auch die brutalen Sodaten zur Buße.« Er seufzte einige Male tief und kam etwas zur Ruhe. Auch sein Mut kehrte wieder zurück. Er lebte noch und war selbst nicht verwundet.

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Der kleine Hügel

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ährend das Toben und Schreien weiterging, hörte Johann plötzlich ein leises Knistern von Feuer. Er erschrak. Wenn diese Verrückten eines oder mehrere Häuser in Brand stecken würden, könnte das Feuer vielleicht auch auf diese Scheune übergreifen. Er konnte nicht weg und die beiden Soldaten würden sich nicht die Mühe machen, ihn zu retten. Oder vielleicht doch, weil sie ihn zu ihrem Kommandanten bringen mussten? ›Jetzt ruhig bleiben, Johann‹, sagte er sich. ›Keine Panik, aber tu, was du kannst.‹ ›Bete und arbeite‹ stand bei seiner Mutter auf einem Holzbrett an der Schlafkammerwand. Merkwürdig, dass er nun daran dachte. Vorsichtig schob er seine schmerzende Schulter vom Holz weg. Dann bewegte er sich quasi rollend an dem großen Holzstapel entlang. Mit der Schulter stützte er sich gegen die Wand, richtete sich auf seine Knie und arbeite sich so hoch. Vorsichtig schob er sich zur Seite. Seine Augen suchten nach einer Öffnung, Ja, dort! Es war zwar nur ein Spalt, aber er arbeitete sich dorthin und spähte hinaus. Er sah, dass er fast ringsumher von Feuer umgeben war. Es griff schnell um sich und setzte ein Rieddach nach dem anderen lichterloh in Brand. Das Prasseln des Feuers nahm zu und war trotz allem anderen Lärm deutlich zu hören. Johann sah bei dem roten Licht des Feuers, dass gerade einer der letzten Verteidiger niedergeschlagen wurde und die Angreifer auch in dieses Haus hineinstürmten. 56


Sein Atem stockte. So vieles geschah gleichzeitig! Soldaten schleiften einen armen Bauern nach draußen und schlugen ihn, dass er aufschrie. Dabei riefen sie immerzu: »Wo ist dein Geld?« Andere schleppten einen Mann herbei und quälten ihn mit einem brennenden Zweig. Der Mann krümmte sich, dann wurde er getreten und gezwungen, zum Haus voran zu gehen. Einige andere Soldaten schlugen mit aller Kraft Gegenstände aus Kupfer platt, um sie anschließend in Säcke zu stopfen. Dann hörte man plötzlich das Quieken von Schweinen. Hier und da huschten Gestalten zwischen den Häusern mit Säbeln und Schwertern in den Händen vorüber. Johann konnte es nicht fassen, als er sah, wie sie ohne mit der Wimper zu zucken Menschen und Tiere töteten. Durch seine verdrehte Körperhaltung tat ihm sein Nacken schrecklich weh. Aber er biss die Zähne zusammen und zwang sich weiter, alles zu beobachten. Da ein ganz nahes Rieddach nun einem Flammenmeer glich, wurde die Szene schauerlich rot beleuchtet. Brennende Riedstücke fielen neben das Haus. Die Vordertür flog auf und Stapel von Tellern und Schüsseln wurden zerschmettert. Wenn er den Spalt zwischen den Brettern doch etwas größer machen könnte! Dann aber senkte Johann seinen Kopf und schloss die Augen. Er konnte es nicht mehr mit ansehen. Es war zu schlimm! Wieder hörte er einen grellen Schrei. Er musste hinschauen, ob er wollte oder nicht. Aus einem anderen Haus flogen Strohmatratzen und Stühle nach draußen. Ein Soldat rannte hinterher. Seine Sporen blinkten im Licht des Feuers. Er versuchte, die Sachen in Brand zu setzen. Hatte dieser Narr denn nicht schon genug Feuer um sich herum? Eine Gruppe Soldaten sammelte anscheinend besonders wertvolle Dinge zusammen und legte sie auf einen Haufen. 57


Die Raserei nahm kein Ende. Plötzlich begannen die Kirchenglocken zu läuten. Johann schlug seinen Kopf gegen die rauen Planken und schrie: »Hilf bitte! Hilf bitte! Hilf bitte!« Schon bald hörte das Läuten auf. Ob sie den Glöckner erschlagen hatten? Lediglich das Prasseln des Feuers verblieb und kam Johann darum noch bedrohlicher vor. Dann schwoll auch der übrige Lärm wieder an. Die Gewalt schien kein Ende zu nehmen. Plötzlich hörte Johann vor der Scheune eine helle Stimme schreien. Er konnte nicht sehen, was dort passierte. Mit einem Knall wurde eine der Schuppentüren aufgetreten und gegen das Licht des Feuers zeichneten sich zwei Gestalten ab. Zu seinem Entsetzen sah Johann, dass es ein Soldat und ein Mädchen waren. Sie trat und wand sich heftig. Ihr Geschrei verstummte, als er ihr die Kehle zudrückte und sie hineinschleppte. Voller Grauen sah Johann, dass der Kerl hastig an ihren Kleidern zu zerren begann. ›Was kann ich bloß tun?‹, fragte Johann sich. Dann schrie er, so laut er konnte: »Gott wird dich strafen, Frauenschänder! Hau ab!« Der Rohling erstarrte. Verstört blickte er umher, sah aber niemanden. Dann ließ er das Mädchen los und rannte zur Tür hinaus. Das Mädchen sank auf dem Boden zusammen. Blitzartig wurde Johann klar, dass nun Schnelligkeit geboten war. »Komm, hierher!«, sagte er eindringlich. »Ich bin ein Gefangener. Wir müssen uns gegenseitig helfen.« Er hörte sie schluchzen, sah aber, dass sie aufstand. »Komm nur«, sagte er. »Der Kerl kommt nicht wieder. Ich bin an den Händen und Füßen gefesselt. Geh einfach hier am Holzstapel entlang.« Er sah sie auf sich zukommen, bis sie aus dem Lichtstreifen verschwand. Das Mädchen tastete an seinen Händen und den Seilen hinter seinem Rücken herum. Sie zog und zupfte. »Ich kriege 58


die Knoten nicht auf«, flüsterte sie verzweifelt. »Sie sind zu fest. Kannst du nicht ins Licht kommen?« »Nein, meine Füße sind ja auch gefesselt«, sagte Johann grimmig. »Du musst erst fühlen, wo der oberste Knoten ist. Zur Not musst du den mit den Zähnen lockern.« Das Mädchen ließ sich hinter Johann auf die Knie sinken. Nun spürte er den warmen Atem auf seinen Händen. Mit ihren Zähnen und mit Hilfe ihrer Finger konnte sie schließlich den obersten Knoten lösen. »Jetzt die anderen«, sagte Johann. Auch das glückte. Rasch wickelte sie das Seil von den Händen. Johann rieb kräftig seine Hände, um die Starre und das Prickeln loszuwerden. »Wie heißt du?«, fragte er hastig. »Und seid ihr hier alles Protestanten?« »Erst die Füße noch losbinden«, meinte das Mädchen. Sie begriff, dass dieser Gefangene das nur schwerlich selbst konnte. An seiner Stimme hörte sie, dass er noch jung war. Jetzt erst sah sie, dass er eine Mönchskutte trug. »Du bist Mönch? Ich heiße Antonia.« »Komm, wir müssen so schnell wie möglich hier weg«, trieb Johann zur Eile an. Er bückte sich und gemeinsam machten sie das Seil los. Das kostete jetzt nur noch wenig Mühe. Johann stand auf. Er taumelte kurz. Dann hielt er sich an ihrer Schulter fest und sagte: »Ich heiße Johann. Ich bin kein Mönch. Aber das erzähle ich dir später. Komm, wir flüchten in den Wald.« Johann und Antonia liefen rasch zur Scheune hinaus. Hoch über dem Flammenmeer sah Johann im Feuerschein, wie Vögel umherflogen. Es waren verzweifelte Tauben, deren Jungen in den Taubenschlägen verbrannten. Neben ihm stieß Antonia plötzlich einen unterdrückten Schrei aus. Entsetzt zeigte sie auf einen Reiter, der auf seinem 59


Pferd an der Scheune entlangkam. Johann erkannte ihn. Es war sein Bewacher. Ein Mädchen lag vor ihm quer auf dem Pferd. Ihre langen Haare wirbelten wild umher. »Hilfe! Hilfe!«, schrie sie. »Oh!«, rief Antonia. »Dieser Schuft! Er hat meine Freundin Siglind geschnappt! Hilf ihr, bitte!« Johann dachte rasch nach. »Du bleibst hier«, flüsterte er. »Lass dich nicht sehen!« Er schnellte in die Scheune zurück und hastete zum Holzhaufen. Vielleicht fand er dort, was er suchte … Etwas später sah Antonia ihn mit einem langen, faustdicken Ast aus der Scheune rennen. Johann sah den Burschen vor sich her reiten. Plötzlich hielt der Kerl sein Pferd an und stieg mühsam ab. Johann schlich schnell auf den Mann zu, während er das Pferd als Deckung gebrauchte. Der Soldat fing an, Siglinds Kleider herunterzureißen, aber als Johann sich von schräg hinter dem Pferd näherte, sah er, dass das Mädchen nicht so leicht aufgab. Sie kratzte ihrem Bedränger durchs Gesicht und schrie dabei fürchterlich. Das Pferd begann zu wiehern, aber der Kerl beachtete es nicht. Er hob die Hand und verpasste dem Mädchens heftige Ohrfeigen. Sie fiel zu Boden. Johann hatte noch nie die Absicht gehabt, jemanden zu töten, nun aber legte er all seine Entrüstung in diesen Schlag. Er schlug dem Soldaten so fest er konnte auf den Kopf. Der trug nur eine Mütze. Darum fiel er wie vom Blitz getroffen hin. Entschlossen löste Johann den Gürtel des Soldaten, zog seine lästige Kutte etwas hoch und band sie mit dem Soldatengürtel fest. Dann ergriff er den Säbel des Feindes und rollte seinen Körper an die Seite. Schnell blickte er über das Dorf. Nein, glücklicherweise kamen keine Soldaten. Er nahm das Pferd bei den Zügeln 60


und meinte zu dem Mädchen, das erstaunt wieder aufstand: »Warte, ich bringe dich gleich zusammen mit deiner Freundin Antonia in Sicherheit.« Schnell führte er das Pferd durch die Sträucher hindurch und band es ein Stück weiter an einem Ast fest. Er eilte zurück. Dabei peitschte ihm ein Zweig ins Gesicht, dass ihm Hören und Sehen verging. Doch schon einen Augenblick später stand er bei Siglind, die ihn immer noch verwundert anstarrte. »Komm, rasch. Wir holen Antonia.« Das Mädchen schnaufte und schluckte. »Wer, wer bist du?«, stieß sie hervor. »Das erkläre ich später«, antwortete Johann. Johann passte genauestens auf, ob ihnen jemand folgte. Jeden Augenblick konnte einer der Räuber auftauchen. Als er auf die Scheune zuging, rannte Antonia auf die beiden zu. Als sie Siglind sah, fielen sich die beiden Mädchen in die Arme. Johann war froh, wenigstens zwei Menschen geholfen zu haben, sagte aber gleich: »Kommt, wir müssen weg hier!« Er drängte die Mädchen, vor ihm her den Weg bergauf zu laufen, fort von dem brennenden Dorf. Siglind begann, haltlos zu weinen. Wer weiß, was sie noch alles mitgemacht hatte. Plötzlich dachte Johann: ›Hier wird doch wohl kein Wachposten stehen? Schließlich hatten sie das Dorf umzingelt.‹ Er fragte Antonia: »Gibt es hier eine Stelle, wo man das Dorf sehen und dabei selbst in Sicherheit sein kann?« Er bemerkte nämlich, dass es bereits heller wurde, und zwar nicht vom Feuer, sondern von der Morgendämmerung. Das Mädchen sagte: »Auf der anderen Seite kann man von dem Hügel aus auf unser Dorf blicken und in den Wald flüchten. Dort wohnen keine Menschen.« 61


Johann legte seinen Arm auf Siglinds Schulter und sagte: »Keine Sorge, ich bringe dich in Sicherheit und auch so schnell wie möglich wieder nach Hause.« Er schaute zu Antonia hinüber, die ihn verstand und nun ihre Freundin einhakte. »Komm«, sagte sie tapfer. »Die Soldaten kriegen uns nicht mehr.« Siglind weinte leise. Tieftraurig sagte sie: »Sie haben meinen Vater angeschossen und meine Mutter niedergeschlagen. Und dann hat der Soldat mich mitgeschleift.« Johann versuchte zu trösten: »Ja, das ist alles sehr furchtbar, aber vielleicht findest du deine Mutter schon bald wieder«. Dann wandte er sich an die Freundin und fragte: »Ist es weit bis zu der Anhöhe?« Antonia sagte: »Nein, nicht so sehr. Aber wir müssen einen kleinen Umweg machen, weil der Weg um den Berg herumführt.« Antonia marschierte los und stütze dabei Siglind. Es ging langsam, aber sie kamen vorwärts. Auf halbem Weg zur Hügelkuppe blickten alle drei zum Dorf zurück. Ihre Augen suchten nach der Feuerglut. Diese schien etwas abgeklungen zu sein und das Morgenlicht aus dem Osten nahm zu. »Komm nun«, mahnte Antonia. »Später können wir alles besser überschauen.« Keine zehn Minuten später befanden sie sich auf der Anhöhe, wo sie das Dorf überblicken konnten. Mindestens zehn Häuser standen in Flammen. Die Mädchen schauten mit großen, ängstlichen Augen hinüber. Siglind fing wieder leise an zu weinen. »Werden sie dort Menschen verbrennen lassen?«, fragte sie. »Ob vielleicht mein Vater und meine Mutter auch dabei sind?« Auch Antonia wurde bei diesem schauerlichen Anblick ihres geliebten Dorfes tief erschüttert. Selbst bis hier oben 62


klang der Lärm der grölenden Soldaten, obwohl er schon abzuflauen begann. »Schaut, so ist Krieg«, meinte Johann verbittert. »Auf diese Art und Weise wollen der Papst und der Kaiser unser Volk besiegen. Die römische Kirche meint, so könne sie Menschen zu sich bekehren.« Er knirschte mit den Zähnen. »Tiere sind das. Was sage ich da? Schlimmer als Tiere. Tiere töten nämlich nur, wenn sie fressen müssen.« Antonia schaute ihn an. »Nein, ich glaube wirklich, dass du kein Mönch bist.« Johann nickte nur. Er war todmüde und ließ sich auf den Boden sinken. Er hatte Hunger und Durst. »Soll ich einmal schauen, ob es hier irgendwo Wasser gibt?«, fragte er. Ängstlich hielt Siglind ihn an seiner Kutte fest. »Du lässt uns doch nicht im Stich? Bitte, bleib bei uns.« Auch Antonia schaute ihn ängstlich an. »Nun gut, dann warte ich hier. Bald sind die Soldaten sicher verschwunden und dann gehen wir so schnell wie möglich zum Dorf zurück. Dort werden sie unsere Hilfe sicher gut gebrauchen können. Dann solltet ihr aber vorausgehen, denn wenn die Überlebenden einen Mönch sehen, wird das wohl niemanden in freundliche Stimmung versetzen.« Antonia starrte zum Dorf. »Oh, was werden wir dort bloß vorfinden? Wie viele Tote und Verwundete werden dort sein? Das halbe Dorf steht ja in Flammen.« Nach einer Weile erhob Johann sich. Auf der anderen Seite des Hügels sah er die Sonne aufgehen. Die rote Scheibe begann sich golden zu färben und verbreitete zunehmend Licht und Wärme. Er sagte: »Ich möchte einen Blick durch die Bäume auf die andere Seite werfen. Das ist nur einige Schritte von hier.« Johann ging über die Hügelkuppe und überblickte die Landschaft. Dieser wunderschöne Morgen im strahlenden 63


Sonnenschein erinnerte ihn daran, dass der himmlische Vater trotz allen Elends, das die bösen Menschen angerichtet hatten, immer noch alles in der Hand hielt. Der blaue Himmel und das frischgrüne, lichtdurchflutete Hügelland begrüßte ihn und stimmten ihn innerlich ruhig. Doch als er sich zurückwandte, erschütterte der ungeheure Gegensatz zur anderen Seite des Hügels den Frieden in seinem Herzen. Er ging zu den Mädchen zurück und sagte freundlich: »Kommt doch einmal mit zur anderen Seite.« Bereitwillig folgten sie ihm. Dann standen sie nebeneinander und betrachteten die herrliche Aussicht. Die Majestät und die Herrlichkeit der aufsteigenden Sonne war für Johann und vielleicht auch für die Mädchen ein strahlendes Bild für den Sohn der Gerechtigkeit, Jesus Christus. Still standen alle drei da. Hier war der Lärm aus dem Dorf nicht mehr zu hören. Johann seufzte tief. »Lasst uns doch zusammen beten«, sagte er leise. Er kniete sich auf die Kiefernadeln. Die Mädchen taten das Gleiche. »Herr, du weißt und siehst alles, was sündige Adamskinder tun, auch das, was die grausamen Soldaten dort machen. Du kennst aber auch uns. Wir sind aus dem gleichen Holz geschnitzt, aber dennoch wolltest du uns verschonen. Du hast deinen geliebten Sohn auf diese gottlose Erde gesandt. Auch er wurde unschuldig ermordet. Aber er starb, um dein Volk vor dem ewigen Tod zu retten. Später wird er wiederkommen, noch viel herrlicher als die aufgehende Sonne. Danke, dass dein geliebter Sohn unser Hirte ist. Deine Gebote sind rein und gut. Lehre uns, unsere sündige, böse Natur zu erkennen, und umso begieriger nach deiner Vergebung und nach der Gerechtigkeit allein in Christus zu suchen. Schenk uns die Hilfe deines Heiligen Geistes. Bitte gib, dass dein Geist uns in dein Bild umgestaltet und deinen Willen ins Herz gibt. Gibt uns Kraft, nachher diesen armen 64


Dorfbewohnern zu helfen. Tröste Antonia und Siglind und gib doch bitte, dass ihre Familien überlebt haben. Und gib doch bitte, dass sie alle deine Kinder werden, falls sie es noch nicht sind. Lehre uns beten in Geist und Wahrheit, so wie es Jesus seinen Jüngern beibrachte. Unser Vater, der du bist im Himmel! Geheiligt werde dein Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auch auf Erden. Gib uns heute unser tägliches Brot. Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern errette uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.« Das Letzte hatten die beiden Mädchen mitgebetet und alle wurden durch das Beten ruhiger und bekamen wieder ein wenig Zuversicht.

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Arbeiten bis zum Umfallen

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ach dem ›Amen‹ erhob sich Johann. Dann betrachtete er die beiden Mädchen genauer. Siglind hatte dunkle Augen und dunkelbraunes Haar, während Antonia ein wasch­ echtes Landeskind mit blondem Haar und blauen Augen war. Die schlug sie allerdings schnell nieder, als Johann sie anschaute. Dann sagte sie stockend: »Du hast uns beide vor einer großen Schmach bewahrt, Johann. Wir müssen dir sehr dankbar sein.« »Ach, das war doch nichts«, winkte Johann ab. Er merkte selbst, dass dies merkwürdig klang. »Ich würde das sofort wieder tun«, sagte er darum rasch hinterher. »Ja«, sagte sie, »ich weiß, dass du so bist.« Sie wurde ein wenig verlegen. »Komm, wir schauen, ob die Schufte schon weg sind. Solche Mörder hassen das Tageslicht. Darum dürfte es nicht mehr lange dauern, bis sie verschwinden.« Sie begaben sich auf die andere Seite des Hügels zurück. Antonia sagte: »Schau, Johann, dort kann man den Weg sehen. Wenn sie aufbrechen, müssen sie dort entlang. Sie werden sicher wieder auf dem Hauptweg am Rhein entlang weiterziehen wollen.« Johann erkannte, was sie meinte. Er schaute zu den brennenden Bauernhöfen und Häusern. Das Feuer schien weniger heftig zu sein, da die Sonne nun schon recht hoch stand. Eine dicke Rauchsäule trieb allerdings noch langsam in süd66


liche Richtung. Das Geschrei war verstummt. Was würden sie wohl nachher dort vorfinden? Johann setzte sich zu Siglind und sah ihre bekümmerten, unruhigen Augen. »Erklär mir doch mal: Wie sind die Soldaten so rasch zu euch hineingelangt? Hatte dein Vater die Tür nicht gut verschlossen? Es war doch Nacht.« Das Mädchen dachte kurz nach. »Doch, die Tür war gut verriegelt. Ich wurde von dem Lärm wach und hörte Mutter schreien, dass Feinde kommen und wir in den Keller flüchten sollten. Kaum hatten wir uns angezogen, wurde wild gegen die Tür gehämmert. Vater ging hin, um zu schauen, ob die Riegel festsaßen. Drei oder vier Männer schrien, dass wir die Tür öffnen sollten. Dann schossen sie einfach durch die Tür. Vater wurde dabei getroffen. Ich rannte auf ihn zu und Mutter sank auf einen Stuhl. Vater lag blutüberströmt da. Ich versuchte, ihn von der Tür weg zu schleppen. Dann wurde fest gegen die Tür geschlagen. Es war wirklich eine stabile Tür, aber auf einmal flog sie auf. Sie war mit einem dicken Balken aufgebrochen worden. Gleich drangen die Soldaten ein und fingen an zu rauben und zu plündern. Dann spürte ich einen Schmerz an meinem Kopf. Ich glaube, dass ich von einem Knüppel getroffen wurde.« Johann sah, dass sie eine große Beule am Kopf hatte. Siglind tastete danach und schaute sich dann ihre Finger an. »Ich blute«, sagte sie erschrocken. »Später einfach mit kaltem Wasser abwaschen«, meinte Johann lakonisch. »Wie ging es weiter?« »Nun, ich habe mich dann an den Tisch gesetzt, bis der eine Kerl Mutter schlug. Er rief immerfort: »Wo ist das Geld?« Der andere gaffte mich an. Dann sprang er plötzlich auf mich zu und zog mich nach draußen. Sein Pferd stand neben unserer Scheune. Oh …« Sie konnte nicht mehr weiterreden und weinte hemmungslos. 67


»Den Rest kenne ich schon«, sagte Johann mitfühlend. Tröstend legte er seinen Arm auf ihre Schulter. »Ist schon gut; du kommst bald darüber hinweg. Du weißt doch, dass Gott dir helfen kann? Er kann …« Dann rief Antonia: »Sieh, Johann! Sie ziehen ab!« Johann stand auf. Ja, es war offensichtlich. In Gruppen verließen die Soldaten das Dorf. Sie schleppten allerlei Sachen mit. Das meiste hatten sie rasch in Betttücher gewickelt. Dann sah Johann einen Reiter mit blitzendem Helm mit roter Feder. »Da ist der Anführer der Mörder!«, rief er entrüstet. »Diese Schurken haben auch das Leben meines Freundes Karl auf dem Gewissen. Oh, Gott, wann kommst du, um unserem armen Volk zu helfen? Wann bekommen wir eine Armee, die diese Räuber und Frauenschänder auf dem Schlachtfeld besiegt? Bei dir ist doch nichts unmöglich!« Siglind war nun auch aufgestanden. Sie schauten der Räuberbande nach, wie sie wegzog. Hier und da kam noch ein Karren mit geraubten Gegenständen nach. Siglind deutete auf etwas: »Schaut, ein paar von ihnen sind auch verwundet worden!« Etwas später erklang ein Hornsignal. Schon bald waren auch die letzten Feinde im Wald verschwunden. Die drei jungen Leute warteten noch eine Zeitlang. Dann sagte Siglind angespannt: »Kommt, gehen wir nun ins Dorf?« Einem schmalen Pfad folgend gingen sie den Hügel hinab. Antonia lief voraus. Als sie sich dem Dorf näherten, hörten sie immer noch das Knacken und Knistern von Feuer. Hier und da hörten sie das Geräusch einstürzender Balken. Siglind eilte voraus, aber Johann rief: »Vorsichtig! Nicht zu dicht an die brennenden Häuser heran! Das ist lebensgefährlich.« Er lief rasch hinter ihr her und hielt sie auf. In weitem Bogen gingen sie um die brennenden Häuser herum. So kamen sie bei einer Bauernwohnung vorbei, 68


bei dem man die Fenster herausgerissen hatte. Die Tür hing schräg in den Angeln. Als sie ängstlich hineinstarrten, sahen sie niemanden. Vor dem Haus konnten sie das Chaos überblicken. Der Anblick war grauenerregend. Der ganze Hausrat, den die Räuber nicht mitnehmen wollten, lag kreuz und quer über den Weg verstreut herum. Zwischen zerschlagenen und zertretenen Gegenständen sah Johann auch Menschenleiber vor und zwischen den Häusern liegen. Drei Häuser waren offenbar vollständig ausgebrannt. Die Rieddächer waren eingestürzt. Lediglich Bruchstücke von Mauern standen noch aufrecht da. Hinter den Bauernhäusern sah man noch einige rauchende Strohschober. Und glimmende Misthaufen glühten nach und gaben noch viel Hitze ab. Weiter oben stand ein Bauernhof noch immer in Brand. Einige Bäume waren durch das Feuer versengt. Glücklicherweise war der Wind nicht so stark, sonst wären noch mehr Gebäude rund um den Dorfplatz in Flammen aufgegangen. Dann sah Johann plötzlich, wie sich jemand auf dem Boden bewegte. Es war ein junger Mann. Er rollte sich um und richtete sich mühsam auf. Eine blutig rote Wunde zeichnete sein Gesicht. Ein Säbelhieb? »Lasst uns versuchen, diesem Mann zu helfen«, rief Johann. Er kniete sich zu dem Mann nieder und hielt seine Hand fest, weil der mit seinen schmutzigen Fingern sein Gesicht abtasten wollte. »Was haben sie dir angetan, Klaus?«, fragte Antonia. Der junge Mann wollte etwas sagen, aber sein Gesicht verzog sich und die Wunde begann erneut zu bluten. »Warte eben«, sagte Johann. »Wir müssen dich erst einmal verbinden. Kommt, Mädchen, dort liegt noch Bettzeug. Davon können wir sicherlich Streifen reißen, um ihn damit 69


zu verbinden. Ich besorge Wasser.« Ihm war bewusst, dass er schnell zu handeln hatte. Mitten auf dem Platz stand ein Brunnen mit einem langen Schöpfbaum darüber. Aber als Johann den Schöpfeimer heraufziehen wollte, bewegte der sich nicht. Johann beugte sich über den Rand des Brunnens und sah mit Ekel und Entsetzen, dass man ein blutiges Schwein in den Brunnen geworfen hatte. Wie gemein, auf diese Art und Weise zu versuchen, den Brunnen unbrauchbar zu machen! Wen sie nicht abgeschlachtet hatten, der sollte so vergiftet werden – einfach abscheulich! Siglind traf ihren Vater und ihre Mutter glücklicherweise noch lebend an. Obgleich er verwundet war, hatte sie aber gute Hoffnung, dass er wieder auf die Beine kommen würde. Johann war den ganzen Tag so beschäftigt, dass er abends beinahe vor Müdigkeit umfiel. Mit Hilfe von Antonia war er an einem dicken Seil in den Brunnen hinabgestiegen. Das Heraushieven des Schweins aus dem Brunnen und dann das viele Wasserschöpfen, bis alles wieder klar und sauber war, hatte viel Kraft gekostet. Glücklicherweise kamen im Laufe des Morgens einzelne Menschen aus dem Wald, in den sie in der Nacht geflüchtet waren. Einige waren verwundet, aber alle anderen packten zügig mit an. Sie waren ja hartes Arbeiten gewohnt. Woher Johann die Kraft und die Fähigkeit genommen hatte, die Führung bei den Arbeiten zu übernehmen, begriff er erst später. Die Verwundeten wurden im größten Haus untergebracht. Zum Glück waren die meisten Kühe draußen auf den Weiden gewesen und die Ställe darum leer und sauber. An einem kühlen Platz im Schatten, so weit wie nur möglich von den noch qualmenden Häusern entfernt, lagen die Leiber der Menschen, die während des brutalen Überfalls umgekommen waren. Da im Laufe des Tages noch ei70


nige Schwerverwundete starben, waren insgesamt achtzehn Todesopfer zu beklagen. Wie viele überlebt hatten, hatte Johann nicht erfahren. Er half beim Tragen der Verwundeten, leistete Einsatz bei den Nachlöscharbeiten und deckte sogar die Leichen zweier Feinde zu, die ihre Raubsucht mit dem Leben bezahlt hatten. Mit Mühe hatte er verhindern können, dass die gestorbenen Soldaten von den wütenden Dorfbewohnern in eines der brennenden Häuser geworfen wurden. »Kommt, Freunde«, rief er, »tut das nicht. Wir kämpfen doch nicht gegen Tote oder Verwundete? Begrabt sie gesondert von euren Lieben.« Glücklicherweise hörte man auf ihn. Im Ganzen wurde ihm von den Dorfbewohnern viel Respekt und Dankbarkeit entgegengebracht, besonders, als sie davon hörten, dass er die beiden Mädchen gerettet hatte. Viel Unterstützung fand Johann bei Antonias Vater. Der war zwar auch schwer verwundet, aber von seinem Lehnstuhl aus gab er ihm manchen guten Rat. Er war es auch, der einen Boten zum protestantischen Pfarrer in die Nachbarstadt schickte. Gegen Abend des folgenden Tages traf der Pfarrer im Dorf ein. Wie schon am Tag zuvor fiel Johann am Abend todmüde auf ein Strohlager und schlief trotz mancher Schmerzen an Rücken und Händen sofort ein. Am Morgen konnte ihn Antonia kaum wach bekommen, trotz einer Schale Milch, in die viel hartes Brot eingeweicht war. Dennoch war Johann schon gleich wieder eifrig bei der Arbeit. Natürlich musste er zuerst tüchtig essen, dann aber fühlte er sich wieder bei Kräften, um sich an die Arbeit zu machen. Weil er den Eindruck hatte, dass Antonia sich auffällig oft in seiner Nähe aufhielt, sagte er ihr, dass er auf dem Heimweg zu seiner Verlobten sei. Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie enttäuscht war und sorgte wie bisher weiter für ihn. 71


Nachdem sie sich ein wenig ausgeruht hatten, fragte er sie, ob sie ihn mit Kleidung versorgen könne. »Ich bin es so satt, in der Mönchskutte herumzulaufen«, sagte er. Und er erzählte ihr, dass diese Bekleidung nicht nur sehr hinderlich bei der Arbeit war, sondern ihm auch sein Gewissen belastete, weil Gott will, dass wir ehrlich sind. »Wann gehst du nach Hause, Johann?«, fragte Antonia. »Sobald ihr mich hier entbehren könnt.« »Oh, das ist vielleicht schon morgen, denn heute am Morgen sind sicherlich zehn Leute aus der Umgebung hergekommen, um uns zu helfen. Vater hat ein paar Frauen und Mädchen gebeten, für heute Mittag Essen zu kochen.« »Prima«, meinte Johann und wusste gleich, dass er ihr einen großen Schmerz zufügte. So fragte er im nächsten Augenblick nach Siglind und nach deren Vater. Antonia sagte: »Sie ist noch voller Kummer, wie eigentlich jeder hier. Aber ihr Vater erholt sich glücklicherweise wieder etwas. Es wird aber wohl noch eine Weile dauern, bis er wieder gesund ist.« Antonia ging zu ihrem Vater und fragte: »Vater, Johann hätte gerne etwas einfache Kleidung. Darf ich ihm ein paar von deinen Sachen geben? Ihr seid ja ungefähr gleich groß.« »So, junger Mann, etwas ausgeruht?«, fragte ihr Vater ihn, als Johann vor ihm stand. Johann nickte und meinte: »Ewig könnte ich so nicht weitermachen. Ich habe gestern Abend meinen verwundeten Arm wieder gespürt. Der Alte schlug vor, dass seine Tochter bei einem Nachbarn um Kleidung für Johann bitten sollte. »Von deren drei Söhnen ist einer gestorben und ein anderer wurde wohl als Gefangener mitgenommen.« Johann erkundete sich, ob denn viele Dorfbewohner verschleppt worden waren. Das konnte der Vater nicht ein72


deutig beantworten und sagte bekümmert: »Wir waren hier dreiundneunzig Menschen, klein und groß. Achtzehn Tote haben wir zu beklagen. Etwa vierzig Dorfbewohner wurden leicht oder schwer verwundet. Und nur ungefähr zehn Leuten fehlt nichts. Wo der Rest ist, wissen wir nicht. Vielleicht sind noch Menschen auf abgelegenen Bauernhöfen untergetaucht. Es ist schrecklich, was über unser Dorf gekommen ist, Johann. Es wird Jahre dauern, bis wir darüber hinweggekommen sind. Und das Schlimmste ist, dass es nächste Woche wieder geschehen kann. Ich möchte am liebsten nach dem Begräbnis flüchten. Aber wohin? Hier sind wir auf jeden Fall so gut wie wehrlos.« Johann dachte kurz nach. »Ihr solltet Tag und Nacht Wachen aufstellen. Die können euch dann warnen, wenn Gefahr in Verzug ist. Dann können die Menschen zumindest rechtzeitig versuchen, die Flucht zu ergreifen.« »So einfach ist das nicht, Johann. Wir hatten in jener Nacht auch zwei Wachen an beiden Zugängen des Dorfes. Das hat nichts geholfen. Der eine wurde mit einem Dolch in seinem Rücken gefunden und der andere ist verschwunden.« Betrübt schüttelte er den Kopf. »Allein der Herr kann uns weiterhelfen. Er ist allmächtig«, sagte Johann. »Ja, das glaube ich auch, aber warum musste er das alles zulassen? Das beschäftigt mich nun andauernd.« Johann wollte keine billige Antwort geben. Darum ging er wieder mit Antonia nach draußen. Selbst jetzt noch rauchten die Trümmerhaufen. Doch sah Johann auch, dass nun wieder ein bisschen Ordnung in das kleine Dorf eingezogen war. Eine ganze Menge Leute waren mit Aufräumen und Saubermachen beschäftigt. Ständig wurde Wasser geschöpft. »Habt ihr denn immer genug Wasser?«, fragte Johann Antonia. 73


»Ja, Vater sagte, je mehr Wasser man schöpft, desto mehr strömt nach. Außerdem ist das Trinkwasser glücklicherweise sehr gut.« Johann nickte. Einen Augenblick lang saß er da und dachte nach. »So ist es auch mit dem Herrn Jesus. Er ist der Brunnen lebendigen Wassers. Hast du schon davon getrunken, Antonia?« Sie schaute ihn mit großen Augen an, sagte aber nichts. Gemeinsam gingen sie zum Nachbarn, um zu fragen, ob Johann etwas Kleidung bekommen könne. Der Mutter bereitete das zwar einiges an Herzschmerz, aber Johann erhielt, was er benötigte. Johann legte mit großem Vergnügen die Kutte ab, und als er das einfache Zeug des Nachbarn übergezogen hatte, blickte er an sich herunter. ›So, nun darf ich wieder guten Gewissens in einen Spiegel blicken!‹, dachte er. Routine und gewohnte Abläufe fanden wieder Eingang im Leben der Dorfbewohner. Johann war dann auch dankbar, als Antonias Vater über seine Abreise sprach. »Morgen willst du sicher noch dem Begräbnis beiwohnen, Johann. Wenn du möchtest, kannst du danach gerne aufbrechen. Wir kommen hier jetzt wieder allein zurecht. Ich habe den Pfarrer gebeten, dass er dich noch aufsucht, ehe du abreist. Er hat mir das versprochen.« Als der Prediger im Dorf eingetroffen war, besuchte er zunächst die Familien, die Tote zu beklagen hatten. Und Antonias Vater war froh, dass der Pastor da war und das morgige Begräbnis leiten konnte. »Gefällt es dir besser, normale Kleidung zu tragen, Johann?«, fragte er. Johann wies zunächst auf den Schmerz der Mutter des Verstorbenen hin, dessen Kleidung er freundlicherweise bekommen hatte. 74


Der Pfarrer sagte: »Ja, in den vergangenen Tagen wurden viele Tränen geweint. Wir sind dir viel Dank schuldig, junger Mann. Ich habe mal mit einigen Bauern geredet. Sie haben etwas zusammengelegt; hier hast du einen Beutel mit etwas Geld. Das ist wohl das Mindeste, was wir für dich tun können.« »Das kann ich nicht annehmen. Euch wurde doch fast alles geraubt!«, meinte Johann. »Die Leute bestehen darauf, dass du es annimmst, junger Mann. Schließlich bist du auch ein Flüchtling.« Er holte einen Dolch aus der Tischschublade. »Und hier, diesen Dolch wirst du sicherlich nicht ablehnen. Schau mal, ob der Gürtel, der dazugehört, dir passt. Ich hoffe, dass du ihn nicht brauchen wirst. Aber man kann ja nie wissen.« »Das hoffe ich auch«, sagte Johann. Er bedankte sich herzlich bei dem alten Bauern, dem bewusst war, dass Johann noch ein weiter Heimweg bevorstand. Er fragte sich, was Johann in seiner Heimat wohl antreffen wird. So drängte sich ihm die Frage auf: »Woher holst du den Mut und die Kraft, um Menschen so zu helfen, Johann? Ich habe dich die ganze Zeit mit Erstaunen beobachtet.« Zögernd meinte Johann: »Ich denke, dass der Herr Jesus mir geholfen hat. Ich habe ihn lieb.« Der Pfarrer nickte nur. Er war offensichtlich berührt, konnte aber nicht wirklich etwas damit anfangen. Als Johann schließlich auf seinem Strohsack lag, betete er für alle hier im Dorf und für seine Lieben daheim, bis ihn der Schlaf übermannte.

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Die Überfahrt

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m folgenden Morgen schüttelte ihn jemand wach. Im Halbdunkeln musste Johann genau schauen, wer das war. Dann erkannte er den Pfarrer. »Ich möchte dich gerne noch sprechen, ehe du abreist. Vorher hatte ich dazu keine Zeit gehabt. Zieh dich erst einmal an. Ich warte solange draußen.« Johann spritze etwas Wasser aus einem Eimer in sein Gesicht und kleidete sich rasch an. »Hier, junger Mann, trink erst einmal einen Becher Milch. Das Brot kannst du aus der Hand essen, während ihr euch unterhaltet«, sagte Antonias Vater. »Du kannst ihm ruhig alles erzählen. Er ist überaus gelehrt, aber glücklicherweise ist er auch ein guter Hirte. Ich habe ihm aus tiefstem Herzen meinen Dank ausgesprochen für seinen Trost und seine Führung in diesen schwierigen Tagen. Er war Tag und Nacht auf den Beinen.« »Wie heißt er eigentlich?«, wollte Johann wissen. »Pfarrer, oder eigentlich müsste ich Professor sagen, Tossanus. Ich bin dankbar, zu wissen, wo ich ihn finden konnte und dass er in der Lage war, zu kommen.« »Ich glaube fest daran, dass Gott alle Dinge lenkt«, sagte Johann. »Aber komm, ich sollte ihn nicht warten lassen.« Zusammen mit dem Pfarrer begab sich Johann in der beginnenden Morgendämmerung auf die Anhöhe. Der Pfarrer, der ungefähr Mitte fünfzig war, fragte, wo Johann herkäme und warum er denn eine Mönchskutte getragen hatte. 76


Johann erzählte ihm alles. Die Art, wie der junge Mann sprach, bewegte den Pastor. »Hast du das wirklich so erlebt, Johann? Das ist einfach wundervoll. Der gute Hirte weiß genau, für was alles gut ist. Vergiss das nie.« Johann spürte sehr schnell die große Weisheit dieses Mannes. »Ich würde gerne eine Zeitlang bei Euch bleiben wollen, Herr Pfarrer«, meinte er. »Als mein Freund Karl noch lebte, konnte ich ihn alles fragen. Ich vermisse ihn sehr. Und ich habe auch Angst vor dem, was ich zu Hause vorfinden werde. Sie haben selbst mitbekommen, was diese Menschen in ihrer Grausamkeit anrichten können.« »Es sind auch Adamskinder, Johann. Allerdings haben sie Gottes heilige Gebote schwer übertreten.« Dann wechselte er das Thema und sagte: »Ich hörte von jedermann hier, dass du viel für die Leute hier getan hast. Das finde ich großartig und möchte mich in ihrem Namen bedanken. Und hinsichtlich deiner Anmerkung, dass du gerne eine Zeitlang bei mir sein möchtest, kann ich dir sagen, dass du gerne morgen mit mir zusammen nach Nassau wandern kannst, denn dorthin führt mich mein Weg. Aber erzähl mal: Hast du von klein auf versucht, Gottes Gebote zu halten?« »Herr Pastor, ich habe Gottes Gebote oft übertreten. Vor Mord und dergleichen hat der Herr mich bewahrt, aber ich weiß sehr gut, dass in meinem Herzen allerlei Böses wohnt. Zunächst versuchte ich, die Schuld bei anderen zu suchen, aber seit kurzem weiß ich, dass die Schuld bei mir selbst liegt. Und nun möchte ich von ganzem Herzen und immer wieder aufs Neue, gerne und gänzlich nach seinem Willen leben.« Der Pfarrer lächelte. Einfach und klar konnte er Johann erläutern, dass Gott es für die Gläubigen so fügen wolle, dass sie stets mehr und tiefer begreifen, wie sündig ihr Wesen ist, und dass dies alles mit Gottes weiser Absicht dazu dienen 77


soll, immer intensiver nach Christi Gerechtigkeit zu suchen. »Das gnädige Wirken des Heiligen Geistes ist ständig erforderlich, um uns immer wieder und immer mehr in Gottes Bild zu verwandeln, das wir im Paradies verloren haben. Ich kann Studenten unterrichten, aber den göttlichen Lehrmeister und seine Lektionen habe ich selbst fortlaufend nötig. Sonst würde ich nicht lange als lebendiger Stein in Gottes Bauwerk passen.« Johann hörte mit ganzem Herzen zu. Seine Verbundenheit mit dem Pastor nahm zu, weil er so offen reden konnte. Zwischen den Bäumen hindurch ging Johann mit dem Pfarrer auf die Kuppe des Hügels zu. »Wohin führst du mich, Johann? Ich muss noch einige Familien besuchen und anschließend möchte ich mich noch zurückziehen, um mich auf das Begräbnis vorzubereiten.« »Das verstehe ich, Herr Pfarrer. Schaut doch einmal. Seht Ihr das Morgenlicht aufsteigen?« Er zeigte auf die herrlich aufgehende Sonne. Johann war tief ergriffen. »Hier habe ich mit den beiden Mädchen gebetet. Und ich glaube fest daran, dass der Herr mich erhört hat. Ich durfte viel Kraft empfangen, um im Dorf tüchtig helfen zu können. Ich bin auch gewiss, dass der Herr Euch bei dem Begräbnis beistehen wird.« Der Prediger nickte ihm dankbar zu. »Er wird unser Helfer sein, Johann, wenn wir von Herzen und andauernd darum bitten. Das Gebet des Herrn, das Vaterunser, enthält sowohl Bitten als auch Dank. Das ist für einen Christen absolut notwendig. Das Gebet ist das wichtigste und stärkste Mittel, Dankbarkeit zum Ausdruck zu bringen.« Gemeinsam blickten sie auf die aufgehende Sonne. Eine dünne Wolke hatte sich davorgesetzt, und das Sonnenlicht strahlte sanft hindurch. Johann meinte leise: »Ich bin froh, dass Ihr etwas Zeit für mich hattet, Herr Pfarrer. Sie müssen nun zurück zu 78


den Leuten. Heute Mittag gehe ich nach Hause. Würdet Ihr noch für mich und für Euch selbst und auch für unser Volk beten?« Der Prediger nickte und kniete sich neben dem jungen Mann hin. Johann würde noch oft an dieses Bittgebet zurückdenken. Der Prediger bekannte, dass sie unwürdig sind und geistlich und leiblich vollkommen abhängig vom Herrn. Aber Gott sieht aus seinem weitgeöffneten Himmel hier auf sie herab. Er ist der Einzige, den sie brauchten. Er allein kann Gnade geben. Johann betete dieses Bittgebet um Kraft und Weisheit von Herzen mit. Wie passend es doch war, an diesem Ort um Gnade zu flehen und die Verdienste Jesu Christi zu preisen. Der Prediger schloss mit dem Gebet, das sein großer Herr seine Jünger gelehrt hatte. Auf dem Rückweg erzählte er Johann noch etwas über seine Lehrtätigkeit in Heidelberg, wo er schon mehr als zehn Jahre tätig sein durfte. Natürlich sprachen sie auch über den Krieg und wie lange der Herr diese Zustände wohl noch zulassen wird. Johann berichtete, dass vielleicht noch Hilfe aus Nordeuropa herbeikommen könne, wenn Gott dies bewirken und segnen würde. Der Prediger stimmte ihm zu, dass Gott hier eingreifen musste, da Regierungen und Könige meistens nur politische oder wirtschaftliche Vorteile interessieren würden und nicht das geistliche Wohl ihrer Untertanen. Das Begräbnis verlief schlicht und feierlich, aber sehr herz­ ergreifend. Der erfahrene Prediger wählte als Textabschnitt Lukas 13,4, wo von jenen achtzehn Toten gesprochen wird, auf die der Turm von Siloah gefallen war. Die sich aus dem 79


Text ergebende ernste Warnung, aber auch der einzige Trost im Leben und Sterben wurde gepredigt. Gesetz und Evangelium, Segen und Fluch wurden in passender Weise präsentiert. Niemals würde Johann das laute Weinen vergessen, das erklang, als die rau gezimmerten Kisten eine nach der anderen in ein großes Gemeinschaftsgrab heruntergelassen wurden. Vor allem die Kinder, die ihre Eltern verloren hatten, hätte er am liebsten alle in die Arme genommen. Es war für ihn ein schönes Bild, als er sah, wie Antonia ein kleines Mädchen auf dem Arm trug. Durch den brutalen Überfall war das Kind eine Waise geworden. Selbst einzelne Männer mit schweren Verwundungen konnten dem Begräbnis beiwohnen. Alle Häupter waren tief gebeugt, als der Prediger für die so hart Getroffenen um Halt für jetzt und später bat. Ein paar Stunden später stand Johann abreisebereit da. Er hatte das Gefühl, dass von nun an sein Leben nie mehr so wie früher sein würde. Antonia sagte so vergnügt wie sie konnte: »Ich hoffe, dass du glücklich werden wirst, Johann, und dass deine Familie noch lebt.« Dann drehte sie sich rasch um und verschwand im Haus. Johann wollte ihr erst noch nachlaufen, aber da er schon Abschied vom Vater genommen hatte, sah er davon ab. Er hatte jedem im Dorf die Hand gegeben und versprach noch einmal wiederzukehren – wenn Frieden wäre. Am Nachmittag befand sich Johann in Bauernkleidung und mit einem schweren Rucksack auf dem Weg. Seine Kutte hatte er einem einfachen Bauern gegeben, der sie als Decke gebrauchen konnte. Das Pferd des Soldaten, den er bewusstlos geschlagen hatte, war nicht mehr aufzufinden. Was für eine Zeit hatte er hier mitgemacht! Und dann dieses Begräbnis! 80


So ist also der Krieg, dachte Johann. Und dann wagte er nicht einmal an eine Feldschlacht zu denken, denn bei einer solchen kamen meist Hunderte oder gar Tausende Soldaten um. Das Angebot, zusammen mit dem Pfarrer zu wandern, konnte er nicht annehmen, da ihn der Weg nicht in Richtung Heimat geführt hätte. Das Marschieren auf dem glatten Weg tat ihm gut und er fühlte sich wohl, wenn er auch nicht wusste, wo er die kommende Nacht verbringen würde. Von einem der Bauern im Dorf hätte er eine Lutherbibel bekommen können. Aber da diese Menschen schon so vieles verloren hatten, wollte er sie nicht annehmen. In der Nacht fand er eine Unterkunft bei einsam wohnenden Bauersleuten, die aber dennoch auf dem Laufenden über die Geschehnisse in ihrer Umgebung waren. Sie waren sehr ängstlich, vor allem die alte Mutter der Bauersfrau. Johann versuchte, sie zu beruhigen. Solange die Soldaten noch zehn oder mehr Häuser, die als Dorf beieinanderstanden, gleichzeitig berauben konnten, würden sie hier sicherlich nicht auftauchen. Am folgenden Morgen traf er die Bäuerin und ihren Sohn in der Küche an. Sie waren die ganze Nacht nicht im Bett gewesen. Die Frau hatte im Lehnstuhl und der Sohn mit den Armen auf dem Tisch gedöst. Johann hatte gut geschlafen und setzte seine Reise mit neuem Mut fort. Ein wunderbares Gefühl überkam ihn, als er erneut auf den Weg entlang des Rheins gelangte und die Umgebung wiedererkannte. Dadurch wurde das Verlangen nach Zuhause noch viel stärker. Trotzdem war er nun äußerst vorsichtig und war fest entschlossen, sich auf keinen Fall mehr gefangen nehmen zu lassen. Die zwei Male hatten ihm schon mehr als genug Elend eingebracht. Doch wusste er andererseits: Der Mensch denkt, Gott lenkt. 81


Sein Verlangen nach Hause trieb ihn zum Fluss. Würde er ihn irgendwo überqueren können? Das würde ihm ein ganzes Stück Fußweg ersparen. Die Fährschiffe dürften sicherlich gut bewacht sein; von denen sollte er sich lieber fernhalten. Und schwimmen? Aber der Fluss hatte hier eine starke Strömung, weil das Flussbett an dieser Stelle recht schmal war. Schwimmen wäre hier viel zu gefährlich, und er wollte sein Leben nicht unnötig in Gefahr bringen. Von einem Felsen aus blickte er auf den Fluss. Kleine Strudel warnten ihn vor besonderen Gefahren. Dort jedenfalls, und auch an anderen Stellen, würde er sicher weit abgetrieben werden. In der Nacht fand er als Schlafplatz einen kleinen Schuppen, den er mit Gras ausstopfte. Am folgenden Morgen konnte er Gott für die Nahrung aus seinem reich gefülltem Rucksack und für das anhaltend schöne Frühlingswetter danken. Allmählich verbreiterte sich der Fluss und die Strömung wurde schwächer. Johann richtete seine Aufmerksamkeit auf den Weg und auf das Flussufer. Plötzlich entdeckte er ein Haufen angespültes Holz, das sich hinter einem Felsen gesammelt hatte. Er stieg bis zu den Knien ins Wasser und sah sich das Holz an. Dazu gehörten auch einige Baumstämme mit vielen abgebrochenen Ästen. Nein, so konnte er damit nichts anfangen. Er benötigte eine Axt und etwas Seil. Dann könnte er versuchen, ein Floß daraus zu bauen. Wenn es gelingen würde, damit den Fluss zu überqueren, hätte er eine riesige Abkürzung gefunden und würde dann auf der anderen Rheinseite weitermarschieren. Durch Worms wollte er noch nicht reisen, da er dann Lotte sofort die traurige Botschaft hätte überbringen müssen. Aber er könnte schon morgen in 82


Frankenthal sein. Ob das aber machbar war, das wollte er Gott überlassen. Beim erstbesten Bauernhof erkundigte er sich nach einer Axt und einem Seil. Erst gab sich der Bauer ein wenig abweisend, aber als er hörte, dass der junge Mann so schnell wie möglich zu seinen Eltern wollte, wurde er entgegenkommender. Wenn Johann sich richtig auf das Floß setzte, mit einem Bein an jeder Seite, dürfte in der Tat nichts schiefgehen, erklärte der Bauer. »Deine Beine werden allerdings ziemlich kalt werden, aber das wirst du schon überstehen. Wenn dein Floß irgendwo gegen einen Felsen stößt, musst du ruhig bleiben und versuchen, drumherum zu steuern.« Johann wollte ihm einen Taler geben und meinte: »Die Axt bekommt Ihr natürlich wieder. Wenn es Euch recht ist, lass ich sie bei der Felsspitze hier auf dieser Seite liegen.« Der Bauer dachte kurz nach. »Wenn ich meine Axt zurückbekomme, ist ein Taler sehr viel für das Stück Seil. Warte, dann wollen wir auch ein stabiles Paddel für dich machen.« Dankbar schaute Johann zu, wie der Bauer ein Stück Eichenbrett an einem langen Stiel befestigte. »Hast du genug Brot?«, fragte der Bauer, als Johann sich freundlich bedankte. Und als der junge Mann etwas verlegen seinen Kopf schüttelte, holte der Bauer ein ganzes selbstgebackenes Brot aus dem Haus. Sie verabschiedeten sich und Johann ging zum Fluss. Seine Füße und Beine waren bereits kaltgefroren, als er das Floß fertig hatte. Von zwei Stämmen hackte er alle Seitenäste ab. Dann band er sie zusammen. Zuletzt betrachtete er sein Werk und überlegte, ob er noch ein Stückchen Brett obendrauf binden sollte, wo er sitzen konnte. Doch er entschied sich dagegen, weil dadurch das Risiko, umzukippen, nur erhöht wurde. 83


Er ging ein Stück am Ufer entlang, um zu prüfen, welches Ziel er am besten ansteuern sollte. Würde er an der Bucht vorbeikommen? Er war sich vollkommen bewusst, dass er Gottes Bewahrung nötig hatte. Die Sonne blinkte über das Wasser. ›Komm, Johann, los geht’s‹, sagte er zu sich selbst. Das letzte Mal, wo Wassergefahr aufkam, war auf der ›Fortune‹ von Kapitän Roobol. Dieses Gefährt sah allerdings ganz anders aus. Er musste beinahe lachen. Als er das Ufer inspizierte, hielt er in der Hand das Seil, mit dem er das Floß zusammengebunden hatte und schleppte es zu dem Punkt, wo die Strömung dicht ans Ufer kam. Dann schaute er sich noch einmal um, setzte sich vorsichtig auf die Mitte des Floßes und begann zu paddeln. Der Strom ergriff sogleich das Floß. Johann war klar, dass er sich zunächst einfach ein Stückchen mit dem Strom treiben lassen musste. Auch das Steuern mit dem Paddel gelang ihm ziemlich schnell. Man musste es nur gegen die Strömung drücken, dann bewegte sich sein Gefährt in die entgegengesetzte Richtung. Doch er war noch nicht halb am Ziel angelangt, als die Angst ihn überfiel. Wie kalt war doch das Wasser und der Fluss so schrecklich breit! Ach, dass Karl in diesem Fluss ertrinken musste! Aber Karl war ja schon schwer verwundet gewesen und hätte auch nicht überlebt, wenn ihn jemand herausgefischt hätte. Johann riss sich zusammen und steuerte das Floß immer weiter schräg auf das andere Ufer zu. Dann hörte er jemand rufen und schaute sich vorsichtig um. Aha, da war der freundliche Bauer. Der kam sicher, um seine Sachen abzuholen. Natürlich war der Bauer auch neugierig, ob dieses Abenteuer gelingen würde. Zum Gruß streckte Johann sein Paddel hoch und konzentrierte sich dann wieder auf das Steuern. 84


So kam er dem anderen Ufer immer näher. Hier war die Strömung etwas stärker. Er sichtete auch wieder einige Strudel. Dann entdeckte er einen kleinen Flussarm. Voller Kraft paddelte er darauf zu, und schließlich stieß das Floß auf festen Grund und seine Füße berührten den Boden. Kurze Zeit später watete er am Ufer entlang. Gott sei Dank! Das war gutgegangen! Mit etwas Mühe machte er das Seil los und ließ die einzelnen Teile seines Gefährts von der Strömung forttreiben. Vielleicht würde er das Seil ja noch irgendwann einmal brauchen. Er sah, dass der Bauer noch immer an der gleichen Stelle stand. Er winkte ihm zu und der Bauer winkte zurück. Johann stieg den Deich hinauf und bahnte sich durch einige Sträucher hindurch den Weg zur Straße, die auch an dieser Seite am Strom entlang führte. Aber zunächst kniete er sich hin und dankte Gott für die sichere Überfahrt. Allmählich wurden seine Beine durch das Laufen in der Sonne wieder wärmer. Das Wissen darum, dass er bald zu Hause sein würde, gab ihm Mut, zügig weiterzumarschieren. Erst an einer Abzweigung gönnte er sich Zeit, um etwas zu essen und zu trinken. Das Brot des Bauern schmeckte ihm wie ein leckerer Kuchen. Nach dem Danken fiel ihm das Wunder des Herrn Jesus ein, wie er mit fünf Broten und zwei Fischen eine Masse von fünftausend Menschen speiste. Dabei vermisste Johann seine Bibel. Wie schön wäre es doch jetzt gewesen, diesen Abschnitt in Gottes Wort nachzulesen! Er nahm sich vor, jeden Tag in der Bibel zu lesen, sobald sein Leben wieder einigermaßen in ordentlichen Bahnen verlaufen würde. Aber so weit war es noch lange nicht!

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8

Wie auch wir vergeben …?

I

n den folgenden Tagen sah Johann noch mehr Spuren des Krieges in den Dörfern, durch die er kam. Den wenigen Soldaten, die er sichtete, ging er so weit wie möglich aus dem Weg. Heute war sein neunzehnter Geburtstag. Leider war er immer noch nicht zu Hause. Als er zu einem der Dörfer gelangte, sah er zwei exakt gleiche Bauernhöfe nebeneinander. Selbst die Scheunen und Heuhaufen waren identisch. Johann war der Auffassung, dass die Bewohner den Angriff gut überstanden hatten, aber er hatte sich sehr geirrt. Selten hatte er so viel Verbitterung angetroffen wie bei diesen Menschen. Auf sein Anklopfen wurde zögerlich geöffnet. Johann sah, dass der Mann, der in der Türöffnung erschien, sein Gewehr bei sich hatte. Die Dreschflegel, die er im Innern des Hauses erblickte, waren sicher auch als Verteidigungswaffen gedacht. In den sehr kräftigen Händen des Bauern mochte solch ein Dreschflegel eine furchterregende Waffe darstellen, dachte er. Als die Bewohner begriffen, dass sie es mit einem Glaubensgenossen zu tun hatten, der auf der Flucht vor dem Feind war, hießen sie ihn von Herzen willkommen. Da es aber erst sechs Uhr abends war, wollte Johann zunächst weiterreisen. Dann aber ließ er sich überreden, hier die Nacht zu verbringen. Am Abend kam der Bruder dieses Bauers mit seiner Familie aus dem Nachbarhaus herüber. Gemeinsam hatten sie 86


vor einigen Jahren diese Bauernhöfe gebaut und danach gedeihlich bewirtschaftet. Aber nun … Keinen Pfennig hatten sie mehr im Haus. An einem Tag im April hatte ein Trupp Musketiere die Bauernhöfe umzingelt. Der Anführer hatte laut geschrien, sie könnten froh sein, dass seine Leute keine blutrünstigen Räuber seien. Wenn die Bauern ihr Geld hergäben, würde man selbst die Hühner im Stall in Ruhe lassen. Dem wollten die Bauern natürlich nicht nachkommen. So viele Jahre harter Arbeit und großer Sparsamkeit sollten umsonst sein, und sie sollten alles diesen Halunken geben? Das war wirklich zu viel verlangt. Auf den Wink des Anführers hin wurde dann einer der Bauern ergriffen und in den Backofen gesteckt. Die eiserne Ofentür wurde zugeschlagen, und es würde nur wenige Augenblicke dauern, bis das Holz darunter brannte. Als seine Frau das sah und begriff, was die Räuber vorhatten – ihren Mann bei lebendigem Leib zu verbrennen –, fing sie an laut zu weinen und fiel vor dem Anführer auf die Knie. »Ich werde sagen, wo das Geld ist!«, schrie sie. »Lasst ihn sofort raus!« Auf einen erneuten Wink des Anführers wurde ihr Mann aus dem Ofen befreit. Nachdem das Geld ausgehändigt war, zogen die Soldaten tatsächlich ab. Johann ließ es sich an dem dennoch reich gedeckten Tisch gutgehen. Als er meinte, es sagen zu dürfen, meinte er vorsichtig: »Trotz allem dürft ihr dankbar sein.« Aber damit brachte er die ganze Familie gegen sich auf. Selbst als er für deren Reaktion Verständnis zeigte, und ihnen erzählte, was er in Antonias Dorf erlebt hatte, besserte sich die Stimmung keineswegs. Als er keinen Rat mehr wusste, sagte er: »Ihr seid doch Protestanten? Wir wissen doch, dass die geistlichen Dinge für uns das Wichtigste sein müssen, oder? Die Bibel sagt 87


doch, dass die geistlichen Dinge wichtiger sind als die irdischen, oder nicht?« Aber Johann konnte sich den Mund fusselig reden, sie blieben überzeugt davon, dass sie sehr zu Unrecht geschädigt worden waren. Letztlich schwieg er dann und war froh, als jeder früh sein Bett aufsuchte. Als die Bäuerin am folgenden Morgen seinen Proviant auffüllte, meinte Johann: »So viele Soldaten sind hier in der Nordpfalz gar nicht mehr. Anscheinend sind das nur noch einzelne zurückgebliebene Truppen. Oder denkt ihr, ich muss im Süden noch mit mehreren von ihnen rechnen?« Der Bauer hatte überraschende Neuigkeiten. Ich habe im Dorf erzählen gehört, dass sie alle in Richtung Mainz abgezogen sind und dann in Richtung Höchst. Die verbündeten Protestanten halten dort eine starke Stellung unter Herzog Christian von Braunschweig-Wolfenbüttel. Ich hörte auch, dass Ernst von Mansfeld versuchte, sich ihnen anzuschließen. Aber ich glaube ganz sicher, dass das kaiserliche Heer unter Tilly versuchen wird, sie zu besiegen. Wenn denen das gelingt, können die Räuber ungestraft ganz Deutschland leerplündern.« Johann seufzte, als er das hörte. »Noch gibt es Hoffnung«, sagte er. »Gott kann den Protestanten den Sieg schenken.« Der Bauer schaute ihn sehr skeptisch an. »Denkst du das immer noch? Tilly wurde noch nie geschlagen, junger Mann. Und seine Armee ist viel größer.« »Ja, das weiß ich schon, aber Gott hat David auch den Sieg gegeben«, sagte Johann. »Ich hoffe so sehr, dass unsere Leute gewinnen!« »Ja, das hoffe ich doch auch, aber…«, sagte der Bauer deprimiert. »Dann bekämen wir vielleicht auch unser Geld noch zurück. Aber wenn die kaiserlichen Truppen siegen, haben wir alles verloren.« Der Bauer seufzte tief. 88


Bald nahm Johann Abschied, während er darüber nachdachte, was Karl über Menschen gesagt hatte, denen es nur um irdische Güter ging. Mit Freude begab er sich auf den Weg. Plötzlich erschrak er, als ein junger Mann aus den Gebüsch hervorkam. Instinktiv griff er nach dem Dolch, den er von Antonias Vater bekommen hatte. Dann aber erkannte er den Sohn eines der beiden Bauern von gestern Abend. Der schaute ihn verlegen an und sagte: »Ich finde, du hattest recht gestern Abend. Vater und Onkel Gerold sind gute Menschen. Sie arbeiten hart, aber sie legen zu großen Wert aufs Geld. Wenn etwas nicht für den Hof ist, darf es nichts kosten. Arbeiten, arbeiten und niemals eine Abwechslung. Daran musste ich die letzten Tage ständig denken – jetzt, wo alles weg ist. Und dann hast du ihnen gestern von den Opfern in dem Dorf berichtet.« Johann nickte ihm freundlich zu. »Dann wirst du sicherlich einmal hier wegziehen, so wie der verlorene Sohn aus der Bibel, nicht wahr? Oder doch eher zu Hause bleiben, wie der älteste Sohn? Was würdest du wählen?« Während sie gemeinsam weitergingen, entwickelte sich ein Gespräch, in dem Johann mit Liebe und Begeisterung über den Vater aus dem Gleichnis vom verlorenen Sohn sprach. Es gefiel ihm, mit jemandem, der etwas jünger war als er, über Glaubensthemen zu sprechen. Plötzlich blieb der Junge erschrocken stehen. »Ich muss unbedingt zurück«, sagte er. »Sie werden böse sein, wenn ich einfach fortgehe.« Johann lachte und gab ihm die Hand. »Ich wollte dich ja gar nicht bitten, mich zu begleiten. Aber hör einmal, du solltest zum Geburtstag deines Vaters einen Text für ihn auf ein Schild schreiben mit den Worten aus Matthäus 6: ›Trachtet vielmehr nach dem Reich Gottes, so wird euch dies alles hinzugefügt werden!‹« 89


Der Junge schaute ihn kopfschüttelnd an, dann meinte er: »Danke, Johann, für die Idee. Ich wünsche dir alles erdenklich Gute!« Ungefähr drei Meilen vor Frankenthal hörte er seitlich des Weges jemanden rufen. Vorsichtig schlich er sich näher. Nun hörte er ein leises Jammern. Was war da los? Auf alles Mögliche gefasst, verließ er rasch den Weg und schlich sich zwischen den Bäumen hindurch näher in Richtung der Stimme. »Oh, heilige Anna! Hilf! Heilige Maria, erbarme dich über uns!«, hörte er nun deutlich. War das ein Mann? Vielleicht ein Verwundeter? Als es einen Moment lang still blieb, spähte Johann um einen dicken Baum herum. Was sah er da? Ein Mann beugte sich über jemanden, der am Boden lag. Der Mann am Boden hatte eine Pistole und einen Dolch an seinem Gürtel hängen. Johann meinte gleich, den Mann am Boden zu kennen. Er dachte fieberhaft nach. Vorsichtig schlich er noch etwas näher heran. Stumm vor Staunen schaute er zum Ort des Geschehens. Wer lag denn da am Boden? Der böse Junker in prächtiger Offizierskleidung! Es war jener Junker, der ihn so niederträchtig behandelt hatte, als er mit Mechthild die Pferdeschlittenfahrt unternommen hatte. Und dann hatte er Johann im Kloster foltern wollen! Der Waffenknecht des Junkers beugte sich über ihn. Selbst von hier aus war zu sehen, dass der junge Edelmann von Blut überströmt war. Das Gesicht schien sehr verwundet zu sein. Dann hörte Johann von etwas weiter entfernt ein Geräusch. Sein Erstaunen verwandelte sich in jubelnde Freude, denn dort drüben stand ein schwarzes Pferd! Es war sein eigener Donar, der heftig schnaubte, mit weit geöffneten Nüstern und verdrehten Augen. Wie abgemagert das arme Tier 90


inzwischen war! Seine Flanken waren voller Narben und Wunden vom grausamen Antreiben mit den scharfen Sporen. Offensichtlich hatte es einen heftigen Konflikt zwischen dem Pferd und seinem Reiter gegeben. Gewaltige Entrüstung loderte in Johann auf. War denn niemand sicher vor diesem Gewaltmenschen? Müssen denn Mensch und Tier immerzu leiden unter diesem Kerl? Das geschieht ihm recht, dass er so daliegt! Ohne weiter nachzudenken lief er auf die beiden zu und sagte: »Das kommt davon, wenn man sich als Rohling aufspielt! Ist er tot?« Der Waffenknecht schaute erschrocken auf und begann zu jammern. »Ich weiß nicht, ob er tot ist. Was soll ich jetzt machen? Wenn mich nur der alte Baron nicht dafür verantwortlich macht. Wie soll ich ihn denn tragen?« ›Nun mal langsam‹, dachte Johann. ›Der Bursche ist nicht sonderlich gescheit. Dass werde ich ausnutzen.‹ Er beugte sich zum Junker hinunter und erschrak. Eine schreckliche Wunde klaffte am Hinterkopf des Edelmannes. Noch immer floss viel Blut heraus. Er schaute zum Knecht und meinte barsch: »Warum hast du nicht besser auf deinen Herrn aufgepasst? Er ist furchtbar an seinem Kopf verwundert.« In seiner Ratlosigkeit streckte der Mann seine Hände in die Luft und rief ängstlich: »Ich konnte nichts machen! Er ritt immer schneller und schneller. Der Schwarze schlug zurück. Er bäumte sich auf. Der Junker schlug weiter auf ihn ein. Und auf einmal wurde das Pferd wild und schlug nach hinten aus und dann wieder hoch. Der Edelmann fiel hinunter, aber sein Fuß blieb im Steigbügel hängen, und dann …« Er schlug sich die Hände vor sein Gesicht. »Ich kenne dich gut«, sagte Johann erbost. »Du hast vergangenen Winter die Kutscher des Bierbrauers Bauer aus Frankenthal bedroht. Wer weiß, was du noch so alles 91


angestellt hast. Es sieht ziemlich schlecht für dich aus. Wenn ich du wäre, würde ich nun gut zuhören, sonst kannst du dich auf allerhand Ärger gefasst machen.« In Johann brodelte eine enorme, bittere Abneigung gegen den Junker. Dennoch fühlte er seinen Puls. Ja, in dem Mann war noch Leben. Nun merkte er auch, dass er schwach atmete. Er sah, wie der Knecht ihn fragend anschaute. »Ja, er lebt noch«, sagte Johann. Gleich schoss es ihm durch den Kopf: ›Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldnern.‹ Oh, er erkannte die Stimme und dieses Gefühl, das ihm einredete: ›Wie viele Chancen würde dieser verwundete Mistkerl seinem Opfer wohl geben?‹ Doch die Stimme seiner neuen Natur hielt dagegen: ›Nein, so nicht, Johann! Gott sagt, dass ihm die Rache und Vergeltung zusteht, nicht dir.‹ Er biss sich auf die Lippe und sah vor seinem inneren Auge wieder, wie Karl seinen Arm zum letzten Gruß aus dem Wasser des Rheins streckte. Wehrlos wie eine Taube war er abgeschossen worden. Er seufzte: »Oh, Herr, dein Wille geschehe.« Der Waffenknecht starrte ihn verständnislos an. »Hast du keinen Verband?«, fragte Johann ihn. »Er lebt noch, aber du musst nun genau tun, was ich sage.« Der Mann nickte erleichtert, meinte dann aber: »Verband habe ich keinen.« Johann seufzte nochmals tief. »Oh Herr Jesus, was muss ich noch alles lernen. Selbst als sie dich ans Kreuz nagelten, betetest du noch für deine Feinde.« Der Knecht starrte ihn weiter verständnislos an. ›Ach, der ist halt nicht so klug‹, dachte Johann. ›Aber nun muss ich sehr vorsichtig sein.‹ Dann erklärte er: »Ich werde dir helfen, aber dann versprich mir jetzt, dass ich mein Pferd zurückbekomme und dass ich später ohne Schwierigkeiten 92


wieder die Burg des Barons verlassen kann. Wenn nicht, dann lasse ich dich hier alleine und erzähle in Frankenthal, was hier passiert ist.« »Ich verspreche alles«, sagte der Mann rasch. »Was muss ich denn tun?« »Du musst nur tun, was ich sage!« Johann sprach wie zu einem Kind. Der Mann nickte. Er war überhaupt schon froh darüber, dass er nicht selbst denken musste. Johann zog seine Jacke aus, anschließend sein Oberhemd und zur Überraschung des Knechtes auch sein leinernes Unterhemd. Dann kleidete er sich wieder an, hielt dem Mann das Unterhemd hin und sagte: »Hier, gut festhalten, dann schneide ich Streifen davon.« Nun leistete der Dolch von Antonias Vater doch noch einen guten Dienst. Ohne dieses Werkzeug wäre es schwierig gewesen. Johann schnitt das Hemd in drei Streifen, und einen davon teilte er noch in der Mitte. Mit Hilfe des Knechtes verband er den stark verwundeten Kopf so gut wie möglich und machte dann den Verband mit dem schmalen Streifen gut fest. »Komm«, sagte er dann. »Wir machen eine Trage. Hier ist Holz genug. Wie heißt du eigentlich?« »Hannes«, brummte der Mann. »Nun, wir werden wohl eine Zeitlang zusammenarbeiten müssen, um deinen Herrn zur Burg zu bekommen. Dort kann er dann weiter gepflegt werden. Ich hoffe für dich, dass er es bis dorthin schafft.« Während sie die Trage bauten, sah Johann auf einmal ein braunes Pferd, das an einem Baum festgebunden ruhig dastand. »Sag mal, hast du den Braunen deines Herrn von jenem Tag an geritten, als er mir mein Pferd stahl?« Hannes nickte überrascht. »Ja, so ist es«, meinte er nur. 93


Nach ungefähr einer halben Stunde brach der merkwürdige Tross auf. Mit Mühe hatte Johann Donar beruhigen können. Als der Junker vom Pferd über den Boden geschleift wurde, war sein Kopf wahrscheinlich gegen einen Stein geschlagen. Sehr vorsichtig ging Johann voraus. Donar, den er an einem kurzen Zügel hielt, ging daneben. Er sprach sanft zu dem verängstigten, scheuen Tier, das ihn aber doch erkannte. Währenddessen behielt er den Knecht im Auge, der den Braunen mitführte. Der Junker lag auf einer Trage zwischen den Tieren, die exakt nebeneinander hergehen mussten. Johann war überrascht über den Lauf der Dinge. Sogar das Seil des Floßes hatte noch seinen Dienst getan. Als sie zu einer Weggabelung gelangten, fragte er: »Alles in Ordnung?« »Ja, nur das Blut läuft weiterhin aus der Wunde.« Johann hielt Donar an und schaute sich um. Ja, der Verband verfärbte sich zunehmend. Vielleicht hätte man den Junker doch noch stillliegen lassen sollen? Aber das ging ja auch nicht. Sie mussten weiter. »Wie weit ist es noch zur Burg?« Hannes dachte kurz nach und meinte dann: »Wenn wir hier entlang gehen, kommt bald ein Pfad, der die Böschung hinaufführt. Dann kommt man hinter der Burg raus. Das spart ein ganzes Stück. Sonst müssen wir um den Hügel herumgehen, um zum Haupttor zu gelangen.« »Und schaffen wir es denn mit dem Verwundeten hier entlang? Ist es zwischen den Bäumen nicht zu eng?« Hannes schüttelte seinen Kopf. »Nein, das geht schon. Wir reiten häufig hier entlang. Glücklicherweise war der Pfad tatsächlich begehbar. Als Johann sah, dass sie sich der Burg näherten, setzte er den Knecht noch einmal unter Druck. »Du weißt, was wir abgesprochen haben, klar?« 94


Der Knecht nickte eifrig. Die Aufregung in der Burg war groß. Johann musste den Vorfall dreimal nacheinander erzählen, weil Hannes alles durcheinanderbrachte. Am Abend hatte Johann noch eine interessante Unterhaltung mit dem alten Baron. Johann sagte unverblümt: »Euer Sohn hat mir viel Leid zugefügt und viel Angst eingejagt. Ich werde gewiss Stillschweigen darüber bewahren, wenn Ihr mir einen Brief mit Eurem Siegel mitgebt, in dem mir freies Geleit nach Frankenthal zugesichert wird. Und mein Pferd möchte ich natürlich auch zurückhaben.« Der alte Edelmann schaute ihn betrübt und nachdenklich an. »In Ordnung«, sagte er schließlich. »Ich habe Angst, dass mein Sohn es nicht überlebt. Er hat schon hohes Fieber bekommen. Mein Burgvogt meint, selbst wenn er es überlebt, würden Schäden zurückbleiben. Noch heute Abend wird der Arzt eintreffen. Dann wissen wir mehr. Ich möchte mich gerne bei dir bedanken. Du hast sogar dein Hemd gegeben, um ihn zu verbinden.« Johann nickte und fragte: »Kann Euer Schreiber noch heute Abend den Brief aufstellen? Ich möchte gleich morgen früh weiterreisen.« Den letzten Satz musste Johann wiederholen, da der alte Edelmann nur dasaß und mit seinen Gedanken ganz woanders war. Doch er bekam, was er wünschte und in einem feinen Bett dachte er mit Dankbarkeit an den Brief, der nun unter seinen Kleidern lag. In diesem stand kurz und bündig, dass der Baron mit Dringlichkeit darum bat, dass der Besitzer dieses Schreibens auf keinen Fall zu behindern sei, sondern dass man Johann Breitenfeld vielmehr in allen Dingen behilflich sein solle, die er für nötig erachtete. Die Handschrift und das Siegel gaben dem Brief ein amtliches Aussehen. 95


Bewegt dachte Johann daran, wie er Gott darum gebeten hatte, die Mönchskutte loszuwerden, ohne zu wissen, wie es weiterging. Und nun: freies Geleit und das eigene Pferd zurück! Und morgen noch am Vormittag könnte er bei Mechthild sein! Er betete, eine Bibel zu bekommen, und wenn es möglich sei, würde er auch gerne wieder ein Exemplar des kleinen christlichen Lehrbuchs, den Heidelberger Katechismus, haben! Am folgenden Morgen war er schon sehr früh auf. Der alte Baron schlief noch. Er erfuhr, dass der Junker noch lebte, der Arzt aber wenig Hoffnung gab. Die ganze Nacht war man mit dem Verwundeten beschäftigt gewesen. Johann wurde gut behandelt. Sogar Donar wurde eine Schicht Salbe auf die ramponierten Flanken gestrichen. Johann wollte nun gerne losziehen und war froh, als er mit seinem Gepäck oben auf dem Pferd zum Haupttor hinausreiten konnte. Genau im Augenblick, als er sich fragte, ob es richtig sei, wegzugehen, ohne sich von Hannes zu verabschieden, rief der Waffenknecht nach ihm. »Hier, Johann, das ist noch von dir.« Überrascht hielt er Donar an, der noch immer schreckhaft war. Dann sah er Hannes vor der offenen Stalltür stehen mit etwas in der Hand: dem Kasten mit dem Geusenschiffchen! Johann stieg ab und konnte vor Freude kaum sprechen. Hannes meinte: »Ich wusste, dass es oben auf dem Kamin im kleinen Saal stand. Ich wusste auch noch, wo das Kästchen war. Schau, die meisten Holzspäne sind noch drin.« Er hob den Deckel an und Johann sah, dass das Schiffchen noch tadellos in Ordnung war. In kleinen weißen Buchstaben stand auf dem hellbraunen Eichenholz unter dem Vordersteven der Name ›Fortune‹. 96


Hannes half sogar, das Kästchen gut am Sattel festzubinden. ›Muss ich mich jetzt bedanken?‹, fragte Johann sich. Er schluckte, streckte die Hand aus und sagte: »Frag den Baron, ob du jetzt nach deiner eigenen Familie schauen kannst, nun, wo der Junker dich nicht braucht. Ihr habt doch eine große Familie, oder?« Der Mann nickte beschämt. Johann hatte keine Rachegedanken gegen ihn, legte seine Hand auf Hannes’ Schulter und sagte ernst: »Bekehre dich zum Herrn Jesus, Hannes. Beginne ein neues Leben. Gott gibt dir noch die Gelegenheit, dich zu ändern und nach seinem Willen zu leben«. Dann stieg er vorsichtig auf und zog los. Aber kaum hatte er die Burg hinter sich gelassen, stieg er wieder ab und kniete nieder. In seinen andächtigen Gedanken kam er zu der Erkenntnis, dass Christus seinen Jüngern – und damit allen, die durch ihn erlöst waren – geboten hatte, Gott als ›unseren Vater im Himmel‹ anzusprechen. Die ersten Worte des allervollkommensten Gebetes, ›Unser Vater, der du bist im Himmel‹, führten ihn zu einem innigen, kindlichen Vertrauen auf Gott den Vater. Eine tiefe Dankbarkeit stieg in ihm auf, weil er durch Gottes lenkende Hand nun ausgerüstet und bewahrt weitergehen konnte. Gott war kein irdischer Vater, der seinen Kindern bei einer berechtigten Bitte gern Gehör schenkt, aber oft nicht wirklich helfen kann. Nein, er ist der allmächtige, allwissende und barmherzige Gott, dem alles zu Gebote steht. Die Erkenntnis von Gottes Majestät, der sich so voller Erbarmen zu einem sündigen Menschenkind, wie er es war, niederbeugte, drängte alle irdischen Dinge in den Hintergrund. Gott wollte in seiner unerschöpflichen Größe in Christus sein Vater sein, für ihn sorgen, ihn festhalten in Kummer und Mühe, ihn erfreuen zu seiner Zeit und auf seine Weise. So ging sein Danken wie von selbst in Anbetung über. Er 97


durfte fest daran glauben, dass Gott aus seiner ewigen, vollen Schatzkammer all seine leiblichen, seelischen und geistlichen Bedürfnisse erfüllen würde. Er wusste nicht mehr, wie lange er sich dort niedergekniet hatte. Plötzlich merkte er, dass es anfing zu stürmen und dass Regentropfen niederfielen. Nachdem er aufgestanden war, streichelte er sein Pferd, und nach einem Kilometer konnte er das Tier vorsichtig zu einem ruhigen Trab antreiben. Als er sah, dass Donars Ohren sich nervös bewegten, sprach er ermutigend auf ihn ein. Er begriff, dass das Tier erneut Vertrauen zu den Menschen finden musste und dass dies Zeit kosten würde. Ruhig überreichte er etwas später den Brief des Barons an den Torwächter von Frankenthal. Der lief damit zum Torgebäude hinein. Johann rief ihm nach: »Pass auf, dass der Brief nicht nass wird!« Kurz darauf konnte er ohne Probleme in die Stadt einziehen; natürlich hatte er erst den Brief sorgfältig verstaut. Während er mit Donar am Zügel die Hauptstraße entlangschritt, schaute er neugierig umher. Voll Sehnsucht und auch banger Hoffnung steuerte er nun direkt auf Mechthilds Haus zu.

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9

Ein neuer Anfang?

I

n der Hauptstraße blickten die Leute kaum auf. Sie waren verängstigt. Johann spürte eine unheimliche Atmosphäre. Ein vages Gefühl von drohender Gefahr lag in der Luft. Es war die Bedrohung, die über der Stadt und dem Lande schwebte. Eine feindliche Macht konnte in jedem Augenblick willkürlich angreifen und eingreifen. Frankenthal war besetztes Gebiet. Die Protestanten waren entweder geflüchtet oder saßen im Gefängnis. Im besten Fall lebten sie in ihren ausgeplünderten Häusern. Sie waren an strenge Regeln gebunden und ihre Kirchen und Schulen waren beschlagnahmt worden. Still beklagten sie ihre Toten. Es schien, als ob es mit der Reformation ein für alle Mal vorbei war. Johann erkannte überall Spuren von Gewalt. Hier und da waren Leute damit beschäftigt, Schutt wegzuräumen. Später würde er sicherlich Näheres darüber erfahren. Ob Mechthild ihm öffnen würde? Ob sie noch dieselbe sein würde? Und ihre Eltern und ihr Bruder Philip? Sie waren reich und katholisch, folglich dürfte ihnen nichts zugestoßen sein. Dennoch schlug sein Herz bis zur Kehle, als er Donar angebunden hatte und den Klopfer gegen die Tür der Familie Bauer fallen ließ. Leise seufzte er: »Herr, lass alles gut sein!« Er hörte, wie die Türriegel zur Seite geschoben wurden. Langsam öffnete sich die Tür. Ein Freudenschrei klang aus dem Spalt und Philip blickte ihn erstaunt und mit großen Augen an: »Johann, bist du es wirklich? Oh …!« Plötzlich 99


hielt er inne und blickte ängstlich zur Straße hinaus. »Komm schnell rein«, sagte er ängstlich. Johann fragte: »Ist alles in Ordnung bei euch?« Philip nickte und schob schnell die Riegel zurück an ihren Platz. Es schien, als wollte er etwas von draußen fernhalten. Er griff Johann bei der Schulter und ließ ein wenig von seiner alten Fröhlichkeit aufblitzen, als er sagte: »Ha, der Schmied! Wie werden Mechthild und Mutter sich freuen! Komm nur. Mutter ist allein in der Küche, und Mechthild erledigt einen Botengang zu den Nonnen. Sie wird bald zurück sein. Vater ist auf Reisen und gestern aufgebrochen.« Er ging Johann zur vertrauten Küche voraus. Fröhlich überrascht begrüßte die freundliche Frau ihn. Die Falten um ihren Mund waren etwas tiefer und vielleicht war sie auch ein wenig grauer geworden. Sie sorgte für Getränke und meinte dann: »Du bleibst doch zum Essen, oder? Bist du denn allein? Wo ist dein Freund?« Johann wollte gerade antworten, aber da hörten sie schon Mechthild an der Hintertür. Sie schaute nicht durchs Fenster, sondern stapfte zunächst durch den Flur und stand dann in der Küchentür. Sogleich spürte sie ihrer lächelnden Mutter ab, dass etwas Besonderes passiert war. Johann war aufgestanden und hörte sie fragen: »Was ist los, Mutter?« Dann kam sie durch die Tür und sah Johann. Sie schauten einander an und sagten einen Augenblick lang nichts. Aber dann flog Mechthild ihm um den Hals und rief: »Oh, wie schön, dass ich dich wiederhabe!« Johann gab ihr einen Kuss und sagte freudig: »Du siehst gut aus, Mädchen! Wie froh bin ich, dass ich dich endlich wiedersehe!« Sie schaute ihm in seine Augen. Sah sie, dass sich etwas in ihm verändert hatte? 100


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