Aspekte Nr. 70

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ASPEKTE der Jugendsozialarbeit

So wirkungsvoll ist Jugendsozialarbeit.

Nr.

70


Inhaltsverzeichnis

Editorial ································································································· 3

Leitartikel - Aufbauen, Verstetigen, Absichern Wirksame Jugendsozialarbeit braucht politisches Engagement ····················· 4

Konkret – Forderungen, Positionen, Projektbeispiele ··································12

Allen jungen Menschen Teilhabe ermöglichen Jugendarmut verhindern – Prävention ausbauen! ········································13 „Recht auf Ausbildung“ als Grundrecht verankern ····································· 18 Case Management, Vernetzungsarbeit und neue Strukturen Erfahrungen und Erträge aus den Programmstandorten am Beispiel einer Koordinierungsstelle 2. Chance ······················································· 23

Impressum Herausgeber: Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. Carl-Mosterts-Platz 1 40477 Düsseldorf Fon: 0211 94485-0 Fax: 0211 486509 bagkjs@jugendsozialarbeit.de www.bagkjs.de

Verantwortlich: Andreas Lorenz (Geschäftsführer)

Konzept: qpoint - Agentur für Social Marketing und Fundraising

Redaktion: Silke Starke-Uekermann, Annette Sailer, José Torrejón; mit Material aus den Jahresberichten der Fachreferentinnen und -referenten

Gestaltung und Layout: qpoint - Agentur für Social Marketing und Fundraising, www.qpoint.de Druck: Schöttler Druck 40878 Ratingen ISSN: 1612-9105

Bildnachweise: Warren Goldswain / shutterstock.com, krockenmitte / photocase.com, maradonna 8888 / shutterstock. com, aussi97 / photocase.com, © Stefan Rajewski - Fotolia.com, JSchilke / photocase.com, Mr.Michbeck / photocase.com, seewhatmitchsee / shutterstock.com, © momius - Fotolia.com, LindaYolanda / istockphoto.com, Eugenia-Petrenko / shutterstock.com, © Mellimage - Fotolia.com, klausio / photocase.com, runzelkorn / shutterstock.com, John Dow / photocase.com, Miss Jones / photocase.com


Editorial Andreas Lorenz Geschäftsführer

Liebe Leserin, lieber Leser! Wenn sich in einer Jugendberufshilfeeinrichtung Jugendliche um eine Werkbank versammeln und zur selben Zeit, aber an einem anderen Ort eine Runde von Fachleute um einen Konferenztisch, dann scheinen das Bilder aus völlig verschiedenen Welten zu sein. Und doch sind es zwei Szenen derselben Wirklichkeit: Es geht um Perspektiven für junge Menschen. Besonders am Übergang von der Schule in einen Beruf haben viele Jugendliche Bedarf an Begleitung und Unterstützung. Dazu braucht es passende Angebote, attraktive Einrichtungen und qualifizierte Fachkräfte; diese wiederum sind auf eine verlässliche Finanzierung angewiesen, auf die Vernetzung mit Partnern und die Verankerung im sozialräumlichen und kommunalen Umfeld, auf günstige rechtliche und politische Rahmenbedingungen, nicht zuletzt auch auf ein gesellschaftliches Klima, das für die Anliegen junger Menschen offen ist. Die konkrete Arbeit mit Teilnehmerinnen und Teilnehmern einer Maßnahme vor Ort und die politische Lobbyarbeit gehören zusammen. An den Schnittstellen zwischen diesen unterschiedlichen Ebenen von Jugendsozialarbeit bewegt sich das Engagement der BAG KJS und ihrer Partner. Und davon handelt die vorliegende Ausgabe unserer ASPEKTE. Bei der Lektüre unseres Leitartikels gewinnen Sie sowohl Einblicke in die politische Arbeit der BAG KJS, ihrer Mitgliedsorganisationen und Partner im Kooperationsverbund als auch in die vielfältige Angebotslandschaft der Jugendsozialarbeit in katholischer Trägerschaft. Sie können sich ein Bild davon machen, wie Jugendsozialarbeit wirkt. Und davon, dass politische Lobbyarbeit nicht darin besteht – wie manchmal gemutmaßt wird – lediglich die finanziellen Interessen von Trägern zu vertreten; vielmehr geht es um die Frage, wie junge Menschen in unserer Gesellschaft aufwachsen, wie sie teilhaben, Lebenszuversicht entwickeln und ihre Talente entfalten können. Das Ziel dieser Lobbyarbeit geht also letztlich auch über die Zielgruppen unserer Arbeit hinaus. Sie ist ein Beitrag zu einer lebenswerten Gesellschaft für alle. Und diese Arbeit ist so bunt und vielfältig wie die Lebensentwürfe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, so bunt und vielfältig wie die vielen Verbände, Organisationen und Angebotsträger, die wir als Bundesarbeitsgemeinschaft vertreten. Die Themen und Aktionen, auf die wir auf den folgenden Seiten näher eingehen, mögen daher lediglich als Beispiel dienen. Und wenn die Lektüre Sie neugierig macht, Positionen der BAG KJS oder Perspektiven für die Praxis näher kennenzulernen, finden Sie im Anschluss an den Leitartikel ausgewählte Texte dokumentiert. Herzlich Ihr

Andreas Lorenz Geschäftsführer

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Aufbauen, Verstetigen, Absichern Wirksame Jugendsozialarbeit braucht politisches Engagement „Jeder hat das Recht auf eine berufliche Ausbildung.“ Der Satz steht nicht im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, doch eigentlich gehört er hinein; das jedenfalls fordert die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) in einem Beschluss ihrer Mitgliederversammlung vom Frühjahr 2013. Nach ihrem Willen soll ein solches Grundrecht Verfassungsrang erhalten. Nur so könne eine – in der politischen Debatte schon lange thematisierte – Ausbildungsgarantie wirklich umgesetzt werden. Doch wozu und warum gerade jetzt? Wo liegt das Problem, wenn in den Medien regelmäßig von unbesetzten Ausbildungsplätzen und Fachkräftemangel die Rede ist? Die nackten Zahlen sprechen allerdings eine deutliche Sprache: Das Bundesverfassungsgericht definierte schon 1980 ein „auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen“ als einen Überhang von 12,5 Prozent der vorhandenen Ausbildungsstellen gegenüber der Zahl der Bewerberinnen und Bewerber. Davon ist Deutschland noch weit entfernt. Selbst die aktuell günstige Ausbildungsmarktlage ändert nichts an der Tatsache, dass rund 1,5 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss bleiben. Sie sehen sich einer erheblichen Armutsgefährdung ausgesetzt und könnten die Langzeitarbeitslosen von morgen werden. Ohne Ausbildung haben sie kaum Chancen, einen Platz in der Gemeinschaft einzunehmen, sich zu entfalten und teilzuhaben. Die gesellschaftlichen Folgekosten unzureichender Förderung und Integration sind immens – und zwar nicht nur im Sinne sozialer Transferleistungen, sondern auch im Horizont des demographischen Wandels. Die älter werdende Gesellschaft kann es sich schlicht nicht erlauben, die Talente und Ressourcen so vieler Menschen brach liegen zu lassen – ja, schlichtweg zu vergeuden.

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In der aktuellen gesellschaftlichen Debatte wird häufig argumentiert, Jugendliche müssten in der Schule lediglich eng begleitet und über Berufswahlangebote auf den Einstieg in die Ausbildung vorbereitet werden; es gebe schließlich mehr Stellen als Bewerberinnen und Bewerber. Diese Schieflage der Debatte verdankt sich nicht zuletzt den Statistiken der Agentur für Arbeit. Dort sind als Bewerberinnen oder Bewerber lediglich diejenigen Jugendlichen geführt, die wahrscheinlich einen Schulabschluss erreichen werden und sich auch erfolgreich auf Ausbildungsstellen bewerben können. Alle anderen Jugendlichen wie jene ohne Abschluss oder mit multiplen Problemlagen zählen lediglich als „Ratsuchende“ und erscheinen daher gar nicht als „unversorgte Bewerber“ in den Statistiken. Insofern werden sie gleichsam gesellschaftlich unsichtbar gemacht. Genau so wenig sichtbar sind diejenigen Jugendlichen, die sich im sogenannten Übergangssystem befinden und somit bereits als „versorgt“ eingestuft werden. Gänzlich aus dem Blick von Politik und Öffentlichkeit fallen schlussendlich jene, denen der Start in eine Ausbildung dauerhaft nicht gelingt; sie bewerben sich nicht mehr, beziehen aber auch keine Transferleistungen: Jugendliche, die nach der Ausbildung nicht übernommen wurden und keinen Anschlussbetrieb finden; junge Erwachsene, die zu Hause leben und von ihren Eltern unterhalten werden. Manchmal sind es auch junge Menschen, die selbst nicht um Hilfe nachfragen können, weil sie erkrankt sind. Ihnen eröffnen Einrichtungen der Jugendberufshilfe Wege in die berufliche Eingliederung. Ein großer Teil der Angebote am Übergang von der Schule in den Beruf zielt auf die möglichst schnelle Integration in Ausbildung oder Arbeit. Diese Instrumente nach dem Sozialgesetzbuch II und III überfordern mit ihrem einseitigen Focus einen Teil der Jugendlichen und führen aufgrund mangelnder Passgenauigkeit zu Maßnahmeabbrüchen. Entscheidend ist aus Sicht der BAG KJS demgegenüber ein verlässliches und jugendhilfeorientiertes Förderangebot: Die Angebote der Jugendhilfe eröffnen Gestaltungsräume, ermöglichen eine längerfristige Lebens- und Berufsperspektive und befähigen zu gesellschaftlicher Teilhabe. „Nicht die Jugendlichen müssen den Angeboten folgen, sondern die Angebote den Bedarfen der Jugendlichen“, heißt es in dem erwähnten Beschluss der Mitgliederversammlung vom Frühjahr. Insofern müssen die Instrumente aus dem SGB II, also die Grundsicherung für Arbeitsuchende und aus dem SGB III, also die Arbeitsförderung mit der Kinder- und Jugendhilfe kombinierbar sein, wie sie im SGB VIII normiert ist. Denn die Jugendlichen benötigen neben schulischen, beruflichen und Alltagskompetenzen die Fähigkeit zur Selbstorganisation, sie benötigen Bewältigungsstrategien zur Gestaltung von Übergängen

Jugendliche verschwinden aus den Statistiken und werden gesellschaftlich unsichtbar gemacht. und zur Überwindung persönlicher Problemlagen. Eine zentrale Bildungsaufgabe aus Sicht der Jugendhilfe besteht eben gerade in dem Ziel, dass biografische Brüche nicht zu Resignation und Demotivation führen, sondern dass junge Menschen nach Abbrüchen und Rückschritten eine zweite oder auch dritte Chance erhalten. Voraussetzung dafür ist ein kontinuierliches personales Angebot. Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht stellt fest, dass Begleitung und Förderung durch unterstützende Personen nachweislich stabilisierend wirken. Hilfreich dürfte auch in diesem Zusammenhang sein, dass Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart haben, „die weitgehende Sanktionierungsregelung und -praxis im SGB II für unter 25-Jährige auf ihre Wirkung und möglichen Anpassungsbedarf hin [zu] überprüfen und Lücken zwischen der Jugendhilfe und anderen Hilfesystemen weiter reduzieren.“

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„Wir wollen eine Politik, die Fehler verzeiht und zweite, dritte und jede weitere Chance gewährt, die ein junger Mensch braucht, um seinen Weg zu finden“, sagt auch die Bildungs- und Sozialexpertin Michelle Münterfering. Seit der Bundestagswahl vertritt sie als Mitglied der SPD-Fraktion ihren Ruhrgebiets-Wahlkreis in Berlin. In einem Antwortschreiben auf die Forderungen der BAG KJS zur Bundestagswahl formulierte sie ihr Politikverständnis: „Gute Jugendpolitik ist integrierte soziale Lebenslaufpolitik, die in der jeweiligen Lebenslage die optimale Unterstützung gewährt.“ Münteferings Fraktionskollegin Christina Kampmann will, dass „passgenaue Rahmenbedingungen an den differenten Bedürfnissen und Lebenssituationen der jungen Menschen ausgerichtet werden.“ Das bedeute, dass Jugendliche lokale, zeitliche, partizipative und ökonomische Freiräume erlangen könnten, so die Abgeordnete aus Güterlosh. „Besondere Bedeutung besitzen dabei die Kommunen, die eine stabile und finanzielle Ausstattung benötigen, um die genannten Rahmenbedingungen für die Jugendlichen aufrechterhalten zu können.“ Die qualitativ hochwertige Arbeit in der beruflichen Bildung für benachteiligte Jugendliche müsse sichergestellt werden. Genau darauf zielt das Engagement der BAG KJS und ihrer Partner in der politischen Lobbyarbeit.

Projekte verstetigen, Infrastrukturen ausbauen Im Jahr 2009 hatte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) die Initiative JUGEND STÄRKEN ins Leben gerufen und die damals vorhandenen Programme für junge Menschen mit und ohne Migrationshintergrund unter das Dach der Initiative gestellt. Dazu gehörten die aus Mitteln des Bundes finanzierten Jugendmigrationsdienste (JMD) sowie die Programme „Schulverweigerung – Die 2. Chance“, die Kompetenzagenturen und das 2011 ausgelaufene Programm „STÄRKEN vor Ort“; letztere drei finanziert aus den Mitteln des Europäischen Sozialfonds (EFS). 2011 ist das Modellprogramm „Aktiv in der Region“ und 2012 als weiterer Baustein „Junge Wirtschaft macht mit!“ hinzugekommen.

Die Förderung der Projekte endet – der Unterstützungsbedarf der Jugendlichen aber nicht. Kompetenzagenturen unterstützen besonders benachteiligte Jugendliche dabei, ihren Weg in einen Beruf und in die Gesellschaft zu finden. Sie bieten Hilfen für diejenigen, die vom bestehenden System der Hilfeangebote für den Übergang von der Schule in den Beruf nicht oder nicht mehr erreicht werden. Ansprechpartnerinnen und -partner suchen die Jugendlichen auf, vereinbaren gemeinsam mit ihnen individuelle Förder- und Integrationspläne und kontrollieren die Umsetzung. Sie begleiten die Jugendlichen langfristig und beziehen dabei ihr familiäres und persönliches Umfeld ein. Die Kompetenzagenturen liefen in einer Modellphase ab 2002 mit einigen wenigen Modellstandorten an, bevor sie seit September 2008 als Programm des Jugendministeriums in der ESF-Förderperiode finanziert und 2009 in die Initiative Jugendarmut integriert wurden. Aktuell gibt es 195 Standorte. Das Programm „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ richtet sich an Jugendliche, die ihren Hauptschulabschluss durch aktive oder passive Schulverweigerung gefährden. Ziel des Programms ist es, diese Jugend-

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lichen in das Schulsystem zurückzuführen und ihre Chancen auf einen Schulabschluss zu verbessern. Bundesweit stehen 191 Anlauf- und Beratungsstellen zur Verfügung. 2011, also mitten im Umsetzungszeitraum, traten politische Bestrebungen zutage, die Mittel für die Programme zu kürzen. Gemeinsam mit ihren Partnern im Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit intervenierte die BAG KJS daraufhin konsequent bei den zuständigen Abgeordneten im Bundestag – und das mit Erfolg. Auch Pläne zur Änderung der Kofinanzierungs-Möglichkeiten konnten im Gespräch mit Ländervertretern abgemildert werden, indem der Bundesrat im Frühjahr 2011 die Bundesregierung zur Beibehaltung der Finanzierungsbedingungen aufforderte. So konnten die Kompetenzagenturen bis Ende 2011 aus Mitteln der Grundsicherung für Arbeitsuchende und der Arbeitsförderung zu mindestens zwanzig Prozent der Gesamtkosten kofinanzieren. „Die Kompetenzagenturen unterstützen sozial benachteiligte und mehrfach beeinträchtigte Jugendliche beim Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf“, heißt es in einer Pressemitteilung des Bundesrates. „Da die Agenturen bisher rund 77.000 Fälle betreut haben, ist die Weiterführung des Programms als wichtiger Baustein zu bewerten“, so der Beschluss der Länderkammer. Hier zeigt sich Beispielhaft der Erfolg der nachhaltigen politischen Anwaltsfunktion im Interesse junger Menschen, die die BAG KJS wahrnimmt. Voraussetzung solcher politischer Erfolge ist nicht zuletzt der Umstand, dass die BAG sich in der Umsetzung von Programmen zugleich als verlässlicher und kreativer Partner des BMFSFJ erweist, etwa im Bereich des Eingliederungsprogramms, aber auch bei der Umsetzung der ESF-Programme. Derzeit befinden sich 163 der insgesamt 852 Programmstandorte von JUGEND STÄRKEN in katholischer Trägerschaft, im Einzelnen 111 Jugendmigrationsdienste, 24 Kompetenzagenturen und 28 Koordinierungsstellen des Programms 2. Chance. Hinzu kommt noch die Umsetzung zahlreicher „Lückenschlussprojekte“ im Programm „Aktiv in der Region“ in katholischer Trägerschaft; besonders aktiv sind hier der Caritasverband in Berlin-Lichtenberg und die Katholische Mädchensozialarbeit (IN VIA) mit Standorten in Hamburg, Ulm und im Landkreis Osnabrück. Auch im Programmteil „Junge Wirtschaft macht mit“ sind die katholischen Träger beteiligt, so die Caritas mit der Kompetenzagentur Erfurt und dem JMD Oberberg, IN VIA mit dem JMD Schwäbisch-Gmünd, die Katholische Jugendfürsorge mit dem JMD Schwandorf und der JMD München von IN VIA Bayern e. V., der sich an einem Regionalworkshop mit den Wirtschaftsjunioren im September in München beteiligte. Jugendmigrationsdienste leisten seit Jahrzehnten erfolgreiche Integrationsarbeit für junge Zuwanderinnen und Zuwanderer bis zum 27. Lebensjahr. Es gibt sie in konfessioneller Trägerschaft oder unter den Dächern der Arbeiterwohlfahrt, des DRK, des Internationalen Bundes oder des Paritätischen Gesamtverbandes. Die Integration junger Menschen mit Migrationshintergrund ist ein wichtiger Baustein der Kinderund Jugendpolitik des Bundes. Als Bestandteil des Kinder- und Jugendplans und der Initiative JUGEND STÄRKEN versteht das BMFSFJ die Integrationspolitik als Motor zur Erhöhung der Chancengerechtigkeit

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und Verbesserung der Rahmenbedingungen und Zugangschancen von jungen Migrantinnen und Migranten insbesondere an den Nahtstellen von Schule, Ausbildung und Beruf. Die Jugendmigrationsdienste unterstützen junge Menschen mit dem Verfahren des Case Managements und dem Instrument des individuellen Integrationsförderplans. Sie bieten ihrer Zielgruppe auch die sozialpädagogische Begleitung vor, während und nach den vom Zuwanderungsgesetz vorgeschriebenen Integrationskursen (§ 45 AufenthaltsG) und den Sprachkursen auf der Grundlage des Garantiefonds für den Hochschulbereich (RL GF H) an. Zugleich beteiligen sich die Einrichtungen aktiv an der Vernetzung der Angebote für Jugendliche in den Sozialräumen und bei der interkulturellen Öffnung der Einrichtungen und Dienste in sozialen Handlungsfeldern. Verstärkt zählen auch junge Flüchtlinge zu Rat- und Hilfesuchenden, die die Unterstützung der JMD in Anspruch nehmen.

Ausbildungsmobilität und damit Jugendwohnen müssen auf europäischer Ebene in die Diskussionen eingebracht werden. Vor einer neuen Herausforderung stehen die Träger ganz aktuell, denn mit dem Auslaufen der ESF-Förderperiode endet die „Programmgeneration“ JUGEND STÄRKEN zum 31.12.2013 – nicht jedoch der Unterstützungsbedarf für die betroffenen jungen Menschen, wie Andreas Lorenz und Michael Fähndrich, die Geschäftsführer der katholischen und der evangelischen Bundesarbeitsgemeinschaften in einer gemeinsamen Handreichung für den Kooperationsverbund betonen. „Damit diese modellhaften Ansätze auch zukünftig passend zu den Bedürfnissen der jungen Menschen gestaltet und wirksam weiterentwickelt werden können, sind eine kommunale Anschlussperspektive und die Kooperation der involvierten Akteure notwendig. Um die Bedeutung von Teilhabechancen und gelungener Integration von individuell beeinträchtigten und sozial benachteiligten jungen Menschen zu untermauern, bedarf es einer langfristig über Projektansätze hinausgehenden jugendpolitischen Strategie und strukturell abgesicherter Unterstützung und Förderung.“ Die Schrift mit dem Titel „Jugendsozialarbeit verstetigen – Junge Menschen nachhaltig stärken. Eine Handreichung der BAG KJS und der BAG EJSA zur kommunalen Verankerung von Programmstandorten und Projekten der Jugendsozialarbeit“, herausgegeben vom Kooperationsverbund Jugendsozialarbeit, kann bei der BAG KJS angefordert werden. Eine zuverlässige Infrastruktur für Jugendliche und junge Erwachsene in jeder Kommune fordert Andrea Pingel, Referentin in der Stabsstelle des Kooperationsverbundes Jugendsozialarbeit, in einem Beitrag der Handreichung. Dazu gehören für sie etwa Jugend(beratungs)häuser, Schulsozialarbeit, Jugendwohnheime, Übergangslotsen, Kompetenzagenturen oder Streetwork und Jugendwerkstätten. Nur so könne die Jugendhilfe durch Jugendsozialarbeit – als dem Übergangsprofi in der Jugendhilfe – auch solche Jugendlichen noch rechtzeitig erreichen, die den Anschluss an andere Systeme verloren haben und selbst die Schule vermeiden. Faktisch ist die Jugendsozialarbeit nur ein kleiner Arbeitsbereich, laut Jugendhilfestatistik macht ihr Anteil an den Gesamtausgaben der Kommunen für die Kinder- und Jugendhilfe bundesweit nicht mehr als 1,2 Prozent aus. Das Personal in den arbeitsweltbezogenen Angeboten der Jugendsozialarbeit stagniert auf sehr niedrigem Niveau und ist seit 1998 sogar zurückgegangen. Zuwächse – aktuell ca. 3.000 Stellen bundesweit – hat nur der Bereich der Schulsozialarbeit zu verzeichnen. Ein erheblicher Teil der rund 600 Jugendämter setzt in dem Arbeitsfeld Jugendsozialarbeit/Jugendberufshilfe gar kein Personal ein und nur 34 Prozent berücksichtigen die Jugendsozialarbeit in ihrer Jugendhilfeplanung. Das Case Management der Kompetenzagenturen an der Schnittstelle zur Arbeitsförderung sowie die neuen Ansätze der Koordinierungsstellen „2. Chance“ haben gute Erfolge erzielt und wesentliche Entwicklungen angestoßen, wie Andrea Pingel ausführt. Die Verstetigung dieser Angebote der Jugendsozialarbeit

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und die Weiterentwicklung von einstmals befristeten Projekten, die schon auf umfangreiche Erfahrungen aufbauen können, bieten nun die Chance, zu einer stärkeren kommunalen Übergangsstruktur zu gelangen oder diese überhaupt erst (wieder) zu verankern. Die Handreichung spricht von einer „Win-Win“ Situation, von der sowohl öffentliche als auch freie Träger profitieren können. Ein konkretes Beispiel liefert Annette Sailer, die beim Caritasverband für das Erzbistum Berlin die Koordinierungsstelle der „2. Chance“ in Berlin-Lichtenberg leitet. „Wir begleiten Jugendliche mit einer Schulproblematik sehr intensiv und individuell“, berichtet Annette Sailer. „Als Koordinierungsstelle bieten wir einen Ort, an dem sich die Jugendlichen angenommen fühlen und wo sie mit Wertschätzung behandelt werden. Hier können sie im Umgang mit Erwachsenen und in kleinen Gruppen neues Verhalten erlernen, Schulstoff nachholen und langsam positive und realistische Zukunftsentwürfe entwickeln. Wir arbeiten in einem multiprofessionellen Team und haben nicht nur die Belange der Jugendlichen im Blick, sondern auch Angebote für die Eltern entwickelt. Wir arbeiten mit sehr vielen Partnern aus Schule und Jugendhilfe, aber auch aus dem Gesundheitswesen und vielen anderen Bereichen zusammen.“ Dazu gehören vor allem zwei Kooperationsschulen aus dem Stadtbezirk. Die Sozialpädagoginnen sind entweder direkt in der Schule oder in unmittelbarer Nähe angesiedelt. Sie haben in der Schule Sprechzeiten, nehmen an Konferenzen teil und sind in ständigem Kontakt mit Lehrerinnen und Lehrern. Wie an vielen Projektstandorten im Bundesgebiet lag auch in Berlin-Lichtenberg der besondere Focus während des letzten Projektjahres auf der Frage der Verstetigung. Besonders wichtig findet Annette Sailer in diesem Zusammenhang die Workshops für Lehrerinnen und Lehrer. Hier soll sowohl theoretisches Wissen um das Phänomen der Schulverweigerung vermittelt als auch praktisches Handwerkszeug, wie funktionierende Methoden, Elternarbeit oder gelingende Kommunikation weitergegeben werden. Um die besonders wichtige Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe zu unterstützen, werden die Ergebnisse der Projektarbeit in der kommunalen AG Schuldistanz und in der Steuerungsrunde Schule-Jugendhilfe vorgestellt und diskutiert. Ziel ist, dass die Erfahrungen gelingender Kooperation in diese Gremien und deren Entscheidungen einfließen. Bei ihren Bemühungen um Verstetigung befindet sich die Koordinierungsstelle in Verhandlung mit einer der beiden Kooperationsschulen. Die Schule sei gewillt, die Finanzierung der Personalkosten für eine Stelle zu übernehmen, um die bisher geleistete Arbeit fortzusetzen. Außerdem versuchen Annette Sailer und ihre Kolleginnen, die Personalstelle, die aus dem Landesprogramm „Jugendsozialarbeit an Berliner Schulen“ finanziert wird, über das Projektende hinaus zu erhalten. Das wird allerdings auch von Entwicklungen auf Bundesebene abhängen, so Annette Sailer. Hier schließt sich gewissermaßen ein Kreis – es wird deutlich, auf welche Weise das anwaltliche Engagement der einzelnen Träger innerhalb der kommunalen Jugendpolitik vor Ort und die bundespolitische Arbeit der BAG KJS ineinandergreifen. Für einzelne Träger hält die erwähnte Handreichung eine Fülle von Beispielen und Handlungsansätzen bereit, die für das Bemühen um eine Verstetigung und kommunale Verankerung der Projekte von Nutzen sein können.

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Woanders wohnen: ein Schritt in Richtung Ausbildung Für alle Jugendliche und junge Erwachsene ein großer Schritt, das Elternhaus zu verlassen, vielleicht in eine andere Stadt zu ziehen. Und für manche junge Menschen bieten die Angebote des Jugendwohnens sogar die grundlegende Ermöglichung, überhaupt eine Ausbildung zu beginnen. Jugendwohnen schafft Beweglichkeit – immer öfter auch über Staatsgrenzen hinweg, denn mit dem Fachkräftemangel und der daraus resultierenden Diskussionen wächst die Betonung des Jugendwohnens für eine erfolgreiche europäische Mobilität. Häufig ergeben sich daraus weitere Überlegungen und Gespräche für eine Einbindung des Jugendwohnens in die europäische Mobilitätsdiskussion, wie Matthias von Schlichtkrull-Guse vom Verband der Kolpinghäuser (VKH) erläutert: „Ausbildungsmobilität und damit Jugendwohnen müssen vermehrt auf europäischer Ebene in die Diskussionen und Überlegungen zur Umsetzung der Europa2020-Strategie und zur weiteren Entwicklung der Mobilität zu Lernzwecken eingebracht werden.“ Während sich das deutsche Modell der dualen Ausbildung derzeit als Exportschlager erweist und in anderen europäischen Ländern erprobt wird, werben deutsche Unternehmen zugleich junge Europäer für eine duale Ausbildung in Deutschland an. Hier sieht von Schlichtkrull-Guse sowohl große Chancen als auch viele Herausforderungen für das Jugendwohnen. Erforderlich sei die Weiterarbeit an Forschung und Praxisentwicklung, aber auch an der Öffentlichkeitsarbeit und Vermarktung, an Interessenvertretung in Form politischer Gespräche und an der Schulung von Einrichtungen. Abgeordnete des Europäischen Parlamentes und die EU-Kommission wurden über das Jugendwohnen informiert: Jugendwohnen bietet im Rahmen der europäischen Mobilitätsprogramme viele Unterstützungsmöglichkeiten, gerade vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels in Deutschland und steigender Jugendarbeitslosigkeit in einigen europäischen Ländern. Jugendwohnheime sind mit ihrem Potenzial und ihrer erfolgreichen Arbeit im Sinne junger Menschen und gesellschaftlich erwünschter Zielvorstellungen bekannter geworden. Mit zunehmender Tendenz kommen Betriebe auf den VKH zu, um Informationen über Jugendwohnen zu bekommen und Kontakte zu Einrichtungen vor Ort zu erhalten. Einzelne Kammern und Betriebe interessieren sich für die Neugründung von Jugendwohnheimen vor Ort. Jugendwohnen ist ein wichtiges Angebot im Rahmen der Ausbildungsmobilität. Gerade die bauinvestiven Zuschüsse müssen in den nächsten beiden Jahren intensiv beworben und genutzt werden, um die Einrichtungen zu sanieren und baulich auf einen guten Stand zu bringen. Zwar war im SGB III zuletzt die Förderung von Einrichtungen des Jugendwohnens durch bauinvestive Zuschüsse oder Darlehn fortgefallen. Doch die BAG KJS machte sich erfolgreich für die Wiederaufnahme dieser Fördermöglichkeit in das Sozialgesetzbuch stark. Nun ist mit der jüngsten Instrumentenreform die bauinvestive Förderung wieder möglich. Der Verwaltungsrat der Bundesagentur für Arbeit erließ eine entsprechende Anordnung. Voraussetzung der Förderung ist, dass sie zu einem Ausgleich am Ausbildungsstellenmarkt beiträgt. Der VKH als Mitgliedsorganisation der BAG KJS beteiligt sich zudem an einer Modellversuchsreihe des Bundesinstituts für Berufsbildung (BiBB) unter dem Titel „Heterogenität in der Ausbildung“. Während des dreijährigen Projektzeitraums werden Konzepte im Jugendwohnen zur Unterstützung des erfolgreichen dualen Ausbildungsabschlusses von jungen Menschen mit

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Jugendmigrationsdienste in katholischer Trägerschaft: Zahlen und Fakten:

2011

13.581

8.179

2012

17.482

11.118

2013

10.228

0

5.000

10.000

junge Menschen davon in der Altersspanne 19 – 27

15.823

15.000

20.000

besonderen Bedarfen analysiert, evaluiert und weiterentwickelt; gegebenenfalls sollen auch neue Konzepte entstehen. Die Träger wollen die Angebote des Jugendwohnens mit lokalen Partnern vernetzen und ergänzen, um den jungen Menschen die maximale Unterstützung zu ermöglichen. Partner in diesen Netzwerken sind in erster Linie Betriebe, Jugendwohneinrichtungen, Handwerkskammern und Jugendämter. In diesem Rahmen laufen achtzehn Modellversuche mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Der VKH setzt seinen Focus dabei auf die Frage der Fachkräftesicherung; sein Beitrag unter dem Titel „Heterogenität in der Ausbildung – Ausbildung als Vielfalt“ startete im April 2011 und läuft bis zum kommenden März. Es handle sich um einen ganzheitlichen Ansatz, in dem sowohl die Übergänge als auch wichtige Phasen der Ausbildung und deren Perspektiven in der Beschäftigung analysiert und gestaltet werden, erläutern die Projektverantwortlichen Andreas Osinski und Joachim Ritzerfeld; im Blickpunkt stehe die Gesamtheit der Jugendlichen in ihrer Vielfalt und Heterogenität sowie das Zusammenwirken im Bildungsprozess. Die individuelle Förderung und die soziale Orientierung müssten untrennbar verbunden werden, um eine Verengung auf einzelne Zielgruppen zu überwinden, so die Projektverantwortlichen. Weitere Informationen finden sich auf der Website www.ausbildung-in-vielfalt.de. Mit diesem Modellversuch wie auch mit dem Fachforum AUSWÄRTS ZUHAUSE sei es gelungen, Jugendwohnen in den Kreisen der Jugendsozialarbeit, in der Politik, Wirtschaft und Wissenschaft und in der Öffentlichkeit bekannter zu machen und für das Thema zu sensibilisieren, bilanziert Matthias von Schlichtkrull-Guse. „Zahlreiche Jugendwohnheime zeigen ein großes Interesse an Veranstaltungen zur Beratung und Schulung, der fachlichen Zusammenarbeit und Vernetzung. Viele Vertreter von Einrichtungen des Jugendwohnens stellen fest, dass dieses weiterhin intensiv benötigt wird.“ In den Bundesländern und Landesarbeitsgemeinschaften entwickle sich eine Sensibilität für die Notwendigkeit, Leistungsentgeltvereinbarungen mit Rahmenverträgen, Standards und so weiter auszuhandeln; es finden vermehrt Entgeltverhandlungen statt.“ Nicht zuletzt, um diese wichtigen Prozesse zu unterstützen, gab die BAG KJS zuletzt die Broschüre „Jugendwohnen in katholischer Trägerschaft. Selbstverständnis und Zielgruppen“ heraus, die in der Geschäftsstelle angefordert werden kann. Der Einsatz für das Jugendwohnen – als Träger in der direkten Arbeit mit jungen Menschen, in der fachlichen Weiterentwicklung und in der politischen Lobbyarbeit – fügt sich als einer von vielen Bausteinen ein in das große Ziel, allen jungen Menschen eine Ausbildung und damit gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen. Wer über aktuelle Entwicklungen in Jugend- und Sozialforschung, Jugend- und Sozialpolitik und die Arbeit der BAG KJS wie ihrer Partner im Kooperationsverbund immer zeitnah auf dem Laufenden bleiben möchte, abonniert den Newsletter „Jugendsozialarbeit News“. Mit seinen 32 bis 37 Ausgaben pro Jahr erreicht der stets aktuelle Informationsdienst der BAG KJS knapp viertausend Abonnenten, darunter Praktikerinnen und Praktiker der Jugendsozialarbeit wie auch Entscheidungsträgerinnen und -träger in Verbänden, Einrichtungen und Behörden, Parteien und Ministerien.

Silke Starke-Uekermann

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Konkret – Forderungen, Positionen, Projektbeispiele Zur Vertiefung einiger der im Leitartikel angesprochenen Themen dokumentiert ASPEKTE auf den nachfolgenden Seiten die Forderungen der BAG KJS zur jüngsten Bundestagswahl, das Positionspapier „Recht auf Ausbildung“ und einen Beitrag aus der erwähnten Handreichung „Jugendsozialarbeit verstetigen – junge Menschen stärken.“

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Allen jungen Menschen Teilhabe ermöglichen Jugendarmut verhindern – Prävention ausbauen! Forderungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. zur Bundestagswahl 2013 Beschluss der Mitgliederversammlung vom 23. April 2013

Aktuelle Herausforderungen Junge Menschen sind fortlaufend herausgefordert, ihren Weg in ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben zu finden. Gegenwärtig ist in Deutschland jedoch vor allem die Altersgruppe der 14- bis 27-Jährigen überdurchschnittlich stark von Armut betroffen und von Teilhabe ausgeschlossen. Unter „Armut“ ist neben einer materiellen Unterversorgung auch emotionale, soziale und kulturelle Armut zu verstehen. Dort, wo Übergänge in ein selbstbestimmtes Leben noch nicht gelingen, sind sozialpädagogische Hilfe und finanzielle Unterstützung notwendig. Politik und Gesellschaft sind deshalb angesprochen, Jugend-

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liche verstärkt so zu unterstützen, dass sie ihren eigenen Weg gehen können. Die gesellschaftliche Teilhabe aller jungen Menschen zu ermöglichen, ist nicht nur aus christlicher Sicht eine zentrale Forderung der Jugendsozialarbeit. Seit einigen Jahren engagieren sich die Mitglieder der BAG KJS entschieden gegen Jugendarmut. Notwendig sind bessere Bildungschancen, Zugang zu Berufsausbildungen und eine verlässliche soziale Absicherung für alle jungen Menschen, insbesondere auch für diejenigen mit schlechten Startbedingungen oder Migrationshintergrund.

Bildung Bildungsgerechtigkeit für alle jungen Menschen durchsetzen In Deutschland ist nach wie vor der Bildungserfolg junger Menschen in erheblichem Maße von ihrer sozialen Herkunft abhängig. Um diesem Umstand entgegenzuwirken, muss sich künftig der jugend- und bildungspolitische Blick noch stärker auf die Interessen und Bedarfslagen von (bildungs-)benachteiligten Kindern und Jugendlichen und ihren Familien richten. Zum Abbau der Selektivität im deutschen Bildungssystem sind der Ausbau von Ganztagsangeboten in allen Bundesländern sowie längeres gemeinsames Lernen erforderlich.

14- bis 27- Jährige sind überdurchschnittlich stark von Armut betroffen. Bildungs- und Teilhabepaket in eine Regelleistung umwandeln Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket wurde in den vergangenen Jahren mehr Beteiligung für Benachteiligte angestrebt. Jedoch gibt es erheblichen Nachbesserungsbedarf. Die bürokratischen Hürden zur Inanspruchnahme sind abzubauen. Zur dauerhaften Unterstützung von Teilhabe sind die Leistungen nach Ende des Bildungs- und Teilhabepaketes in eine Regelleistung zu überführen.

Schulbezogene Jugendsozialarbeit dauerhaft absichern – Kooperationsverbot aufheben Der Ausbau der Schulsozialarbeit bzw. Jugendsozialarbeit an Schulen darf nicht gestoppt werden und bedarf einer finanziellen Absicherung. Diese kann durch die Aufhebung des Kooperationsverbotes und durch finanzielle Beteiligung des Bundes ermöglicht werden. Schulsozialarbeit bzw. Jugendsozialarbeit an Schulen muss an allen Schulen in Deutschland zum Regelangebot werden, da von ihren Angeboten alle Kinder und Jugendlichen profitieren. In besonderem Maße bietet dieses jugendhilfeorientierte Angebot an Schulen jedoch auch Unterstützung und Anlaufstellen für benachteiligte junge Menschen. Es werden Freiräume für non-formales und informelles Lernen geschaffen; die Persönlichkeitsentwicklung erfährt eine unverzichtbare Unterstützung.

Bildungschancen für junge Migrantinnen und Migranten verbessern Junge Zuwanderer und Zuwanderinnen sind im deutschen Bildungssystem benachteiligt. Sie brauchen gezielte Unterstützung und Beratung. Für nicht mehr schulpflichtige junge Zuwanderer/-innen müssen mehr Angebote geschaffen werden, nicht anerkannte (Schul-)Abschlüsse zügig nachzuholen, damit sie eine Chance auf dem deutschen Ausbildungsmarkt haben. Die Förderung schulischer und sprachlicher Vorbereitung auf eine akademische Laufbahn ist bis heute auf einen begrenzten Teil der Zuwanderer und Zuwanderinnen beschränkt. Eine studienvorbereitende Förderung muss für alle Neuzuwanderer und Neu-

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zuwanderinnen möglich sein. Die Fördermöglichkeit nach den Richtlinien Garantiefonds Hochschulbereich ist mindestens auf alle in § 8 BAföG genannten förderberechtigten Personen zu erweitern, um für junge Migrantinnen und Migranten mehr Chancengerechtigkeit beim Erwerb der Hochschulreife und beim Hochschulzugang in Deutschland zu erreichen.

Ausbildung und Beruf Recht auf Ausbildung garantieren Ein entscheidender Schritt zur Überwindung der Jugendarmut kann mit der rechtlichen Verankerung einer Ausbildungsgarantie realisiert werden. Die ca. 1,5 Mio. jungen Erwachsenen ohne Berufsabschluss zwischen 20 und 29 Jahren sind überproportional von Armut betroffen und drohen ihre Perspektive zu verlieren. Die Ausbildungsgarantie soll prioritär durch betriebliche Ausbildung unterstützt und durch solidarische Finanzierungsinstrumente eingelöst werden. Wo dies nicht möglich ist, muss ausreichendes Angebot außerbetriebliches Ausbildungsangebot bereitgestellt werden. Formen assistierter Ausbildung sollten mit Blick auf die Situation am Ausbildungsmarkt zeitnah und flächendeckend aufgebaut und etabliert werden.

Angebote unterschiedlicher Rechtskreise kombinieren Um Ausbildungsabbrüche, Beschäftigung als Ungelernte(r) und damit verbunden ein erhöhtes Arbeitslosigkeitsrisiko und in der Folge Armut zu verhindern, müssen Arbeitsförderungs- und Jugendberufshilfemaßnahmen verstärkt nach den Grundsätzen der Jugendhilfe ausgerichtet werden. Die Persönlichkeitsentwicklung der jungen Menschen hat im Vordergrund der Hilfeleistung zu stehen, nicht die

Jugendpolitik als Zukunftspolitik. Arbeitsmarktverwertbarkeit. Dazu ist eine kontinuierliche sozialpädagogische Begleitung zu gewährleisten. Für solche Hilfen müssen die Förderangebote der Rechtskreise SGB II, III und VIII miteinander kombinierbar sein. Dadurch wird eine kohärente Förderung benachteiligter Jugendlicher ermöglicht.

Verlässliche Angebote für „schwer erreichbare Jugendliche“ schaffen Um gleichberechtigte Chancen zur gesellschaftlichen Teilhabe für alle (jungen) Menschen zu gewähren, ist die Ausweitung von Unterstützungsangeboten für Jugendliche, die von den Regelmaßnahmen der

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Grundsicherungsträger und der Arbeitsförderung nicht (mehr) erreicht werden, zwingend erforderlich. Die Angebote müssen individuell zugeschnitten und mit erhöhter sozialpädagogischer Begleitung rechtskreisübergreifend bedingungslos zur Verfügung stehen und dabei verstärkt aufsuchende und nachgehende Arbeitsmethoden realisieren. Die BAG KJS setzt sich für einen flächendeckenden Ausbau und die Verstetigung von bereits existierenden und erfolgreich arbeitenden Projekten ein und fordert daher die verpflichtende Anwendung der genannten Ansätze nach § 13 SGB VIII, die konsequente Verwendung der freien Förderung nach § 16f SGB II und die Aufnahme von aufsuchenden Ansätzen im Rahmen von Maßnahmen der Aktivierung und beruflichen Eingliederung nach § 45 SGB III.

Mobilität fördern – Angebotsvielfalt in der Jugendhilfe wieder herstellen Als mobilitätsförderndes Strukturelement ist Jugendwohnen unverzichtbar. Die Leistungen können nur angemessen angeboten werden, wenn die Immobilie analog zu den Internaten der überbetrieblichen Ausbildungsstätten und den Studentenwohnheimen öffentlich gefördert wird d. h., die laufenden Betriebskosten durch Zuschüsse an die Bewohner/-innen finanziert werden. Ein Entgeltsatz nach §78 a-g SGB VIII muss für alle Bewohner/-innen durch die verschiedenen Kostenträger (Bundesagentur für Arbeit, Jugendämter, BAföG-Ämter) anerkannt werden. Eine Unterscheidung der Leistungen für minder- und volljährige Bewohner/-innen ist ab zu schaffen. Die bauinvestiven Zuschüsse nach §80a SGB III sind auch über das Jahr 2014 hinaus notwendig. Die Integration und Partizipation im Jugendwohnen ist für die jungen Menschen sehr wichtig; deutsche und europäische Jugendliche erhalten durch das Jugendwohnen wesentliche bessere Chancen auf einen erfolgreichen Abschluss ihrer dualen Berufsausbildung. Jugendwohnen ist als Teil der europäischen Mobilitätsstrategie und zur Sicherung des Fachkräftebedarfes mitzudenken.

Soziale Sicherung Sanktionsvorschriften des SGB II verändern Die Sanktionsvorschriften des SGB II sehen für die unter 25-Jährigen, außer bei Meldeversäumnissen, Sanktionen von 100 Prozent und bei Wiederholung auch Streichung der Kosten der Unterkunft vor. Dies treibt junge Menschen in die Wohnungslosigkeit und zum Teil auch in die illegale Beschaffung der notwendigen Ressourcen. Junge Menschen werden durch die Jobcenter mehr als doppelt so häufig sanktioniert als andere Leistungsempfänger. Die Sanktionsregeln für unter 25-Jährige müssen abgeschafft werden, um nicht noch mehr junge Menschen ihrer Existenzgrundlage komplett zu berauben. Sie sind auch mit den Prinzipien menschenwürdiger Lebensbedingungen nicht zu vereinen.

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Auszugsverbot für junge Volljährige im ALG IIBezug aufheben Junge Menschen unter 25 Jahren im ALG II-Bezug sind zum Verbleib in der familiären Bedarfsgemeinschaft gezwungen. Steigende Zahlen unter jungen wohnungslosen Menschen waren in den vergangen Jahren zu verzeichnen. Gerade in Familien mit ALG II-Bezug ist der Verbleib junger Volljähriger in der Bedarfsgemeinschaft oftmals kontraproduktiv, da es häufig schwer ist, Unterstützung und Motivation für ein eigenständiges Erwerbsleben zu erhalten. Bei jungen Erwachsenen, für deren weitere Entwicklung der Verbleib in der Bedarfsgemeinschaft nicht förderlich ist, muss das selbstständige Wohnen aktiv unterstützt werden.

Kinderrechte auch für minderjährige Flüchtlinge garantieren Die Ziele der UN-Kinderrechtskonvention sind in allen gesetzlichen Regelungen sicherzustellen, die minderjährige Flüchtlinge betreffen. Das gilt auch für 16- und 17-jährige unbegleitete Flüchtlinge. Die Verfahrensfähigkeit nach dem Asyl- und Aufenthaltsrecht muss von 16 auf 18 Jahre angehoben werden. Inhaftierungen von Minderjährigen aus asyl- und ausländerrechtlichen Gründen müssen verbindlich ausgeschlossen werden. Hier ist die Jugendhilfe als zentrale Instanz in der Begleitung, Betreuung und Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen zu stärken. Jugendmigrationsdienste können unterstützend wertvolle Dienste leisten.

Eigenständige Jugendpolitik Als Zukunftspolitik muss jugendpolitisches Handeln Perspektiven und Teilhabe mit und für alle jungen Menschen eröffnen. Die vielfältigen Herausforderungen Jugendlicher müssen in die gesellschaftliche Debatte eingebracht werden. Im Sinne einer eigenständigen Jugendpolitik ist die inklusionsgerechte Gestaltung jugendlicher Lebenslagen gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dabei muss jugendpolitisches Handeln gerade die heterogenen Lebenslagen in den Blick nehmen und darf dabei auch die Jugendlichen mit besonderem Unterstützungsbedarf nicht abhängen. Es bedarf dazu einer ressortübergreifenden, national wie europäisch ausgerichteter Querschnittspolitik. Wir befürworten eine Politik, die Jugendliche bei ihrer Suche nach Lebenssinn und Orientierung sowie bei der Erprobung von Lebensentwürfen unterstützt und zur Befähigung der jungen Menschen beiträgt, die mit erschwerten Bedingungen zurechtkommen müssen.

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„Recht auf Ausbildung“ als Grundrecht verankern Beschluss der Mitgliederversammlung, veröffentlicht am 15. Mai 2013 Trotz guter Konjunktur und günstiger Lage auf dem Ausbildungsmarkt sind immer noch rund 1,5 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss. Von einem auswahlfähigen Angebot an Ausbildungsplätzen sind wir in Deutschland weit entfernt. Offiziell galten im letzten Ausbildungsjahr 15.650 Jugendliche als unversorgt. Hinzu kommen 60.379 junge Menschen in Alternativen, die ihren Ausbildungswusch aufrechterhalten, sowie 90.000 junge Menschen, deren Verbleib der Bundesagentur für Arbeit unbekannt ist. Mindestens 27.000 von ihnen sind arbeitslos. Jugendliche, denen dauerhaft kein Start in Ausbildung gelingt, drohen gänzlich aus dem Blick von Politik und Öffentlichkeit zu geraten. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) fordert daher eine Verankerung des Rechts auf Ausbildung im Grundgesetz.

Worum es uns geht Nach wie vor bleiben zu viele junge Menschen ohne eine Berufsausbildung. Trotz der für Bewerber und Bewerberinnen günstigeren Ausbildungsmarktlage hat sich dies nicht grundlegend verändert. Immer noch sind rund 1,5 Millionen junge Menschen im Alter zwischen 20 und 29 Jahren ohne Berufsabschluss. Diese Jugendlichen sind einer erheblichen Armutsgefährdung ausgesetzt und tragen ein sehr hohes Risiko, die Langzeitarbeitslosen von morgen zu werden. Ihnen fehlen Chancen, einen Platz in der Gemeinschaft einzunehmen, sich zu entfalten und teilzuhaben. Auch die gesellschaftlichen Folgekosten unzureichender

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Förderung und Integration sind immens. Und schließlich hat die Gesellschaft Bedarf an Fachkräften, um die Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft und der Betriebe zu erhalten. Hierzu müssen alle Kräfte mobilisiert werden. Die BAG KJS legt deshalb ein Positionspapier zu den Herausforderungen der Integration benachteiligter junger Menschen in Ausbildung vor. Ausgehend von den Zielgruppen, die den Weg von der Schule in Ausbildung und Beruf nicht ohne Hilfe bewältigen können, beschreiben wir notwendige Veränderungen am Übergangsbereich Schule – Beruf. Eine zentrale Forderung besteht in der Orientierung an den Zielen und Arbeitsweisen der Jugendhilfe. Das derzeitige Ausbildungsverhalten der Betriebe, die nach wie vor (zu) wenig Ausbildungsstellen anbieten, ist Anlass für die BAG KJS, ein „Recht auf Ausbildung“ einzufordern, denn von einem auswahlfähigen Angebot an Ausbildungsplätzen (12,5 Prozent mehr Ausbildungsstellen als Bewerber/-innen; vgl. Bundesverfassungsgericht 1980) sind wir in Deutschland immer noch weit entfernt.

Warum ein „Recht auf Ausbildung“ notwendig ist Da es nicht gelingt, benachteiligte junge Menschen in ausreichendem Maß an der dualen Berufsausbildung teilhaben zu lassen, ist eine Ausbildungsgarantie für diese Jugendlichen notwendig. Dadurch wird ihnen ermöglicht, das im Grundgesetz verbriefte Recht auf die freie Wahl eines Ausbildungsplatzes einzulösen. Um dem Anspruch einer Ausbildungsgarantie für alle Jugendlichen nachzukommen, schlägt die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit die gesetzliche Verankerung eines Rechtes auf Ausbildung vor. Dieser Rechtsanspruch soll vorrangig über betriebliche Ausbildungsplätze eingelöst werden. Hierzu sollen gesetzlich geregelte und verbindliche Finanzierungselemente für eine betriebliche Ausbildung unter Berücksichtigung des brancheninternen Lösungsprinzips geschaffen werden. Die betriebliche Ausbildung soll bedarfsgerecht durch ausbildungsbegleitende Hilfen unterstützt werden. Für besonders benachteiligte Jugendliche sollen zudem gesetzliche Regelungen für eine „assistierte Ausbildung“ geschaffen werden, in welcher durch die Kooperation von Betrieb, Berufsschule und Einrichtungen der Jugendberufshilfe das Ausbildungsverhältnis individuell unterstützt und gefördert werden kann. Zur Ergänzung der betrieblichen Ausbildung und für diejenigen Jugendlichen, die mit einer betrieblichen Ausbildung überfordert wären, muss eine ausreichende Anzahl außerbetrieblicher Ausbildungsplätze weiterhin bereitgestellt werden.

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Um wen es geht In der aktuellen gesellschaftlichen Debatte wird häufig argumentiert, Jugendliche müssten in der Schule lediglich eng begleitet und gut über Berufswahlangebote auf den Einstieg in die Ausbildung vorbereitet werden und schon wäre das Übergangssystem mit nach wie vor rund 300.000 Jugendlichen überflüssig; es gebe mehr Stellen als Bewerber/-innen. Dies verwundert nicht, da die Statistiken der Agentur für Arbeit als Bewerber lediglich diejenigen Jugendlichen führen, die wahrscheinlich einen Schulabschluss erreichen werden und sich auch erfolgreich auf Ausbildungsstellen bewerben können. Alle anderen Jugendlichen, z. B. jene ohne Abschluss oder mit multiplen Problemlagen werden lediglich als Ratsuchende gezählt und erscheinen daher auch nicht als „unversorgte Bewerber“ in den Statistiken. Sie werden damit gesellschaftlich unsichtbar. Ebenfalls gesellschaftlich nicht sichtbar sind all diejenigen Jugendlichen, die sich im sogenannten Übergangssystem befinden und somit als „versorgt“ eingestuft werden. Gänzlich aus dem Blick von Politik und Öffentlichkeit sind diejenigen Jugendlichen geraten, welchen dauerhaft nicht der Start in Ausbildung gelingt, die sich auch nicht mehr bewerben, aber auch keine Transferleistungen beziehen. Es sind junge Menschen, die nach der Ausbildung nicht übernommen wurden und keinen Anschlussbetrieb finden; es sind junge Erwachsene, die zuhause leben und von ihren Eltern unterhalten werden. Manchmal sind es auch junge Menschen, die selbst nicht um Hilfe nachfragen können, weil sie erkrankt sind. All diesen jungen Menschen eröffnen Einrichtungen der Jugendberufshilfe Wege in die berufliche Eingliederung.

Jugendliche brauchen eine 2. oder auch 3. Chance. Welche Angebote nachhaltig wirken Einen großen Anteil der Angebote am Übergang von der Schule in den Beruf stellen die Instrumente aus dem Sozialgesetzbuch II und III, die eine möglichst schnelle Integration in Ausbildung oder Arbeit zum Ziel haben. Diese einseitige Fokussierung überfordert viele benachteiligte Jugendliche und führt zu vermehrten Abbrüchen. Für diese Jugendlichen müssen (wieder) jugendhilfeorientierte Angebote entwickelt werden, die an ihren individuellen Förderbedarfen ausgerichtet sind und auf ihren Erfahrungen und Kompetenzen aufbauen. Die BAG KJS setzt sich dafür ein, dass Jugendliche mit Förderbedarf einen Rechtsanspruch auf ein verlässliches und jugendhilfeorientiertes Förderangebot erhalten. Die Angebote müssen Jugendlichen Gestaltungsräume eröffnen, eine längerfristige Lebens- und Berufsperspektive ermöglichen und gesellschaftliche Teilhabe sicherstellen. Nicht die Jugendlichen müssen den Angeboten folgen, sondern die Angebote den Bedarfen der Jugendlichen. Ein gestuftes Vorgehen mit flexiblen Förderbausteinen und auf den Einzelfall abgestimmten Förderketten ermöglicht eine bedarfsgerechte Unterstützung. Dabei müssen die Instrumente aus dem SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende), SGB III (Arbeitsförderung) und SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe) kombinierbar sein. Immer muss den Jugendlichen eine sich anschließende weiterführende berufliche Perspektive eröffnet werden. Neben schulischen, beruflichen und Alltagskompetenzen benötigen Jugendliche Selbstorganisation und Bewältigungsstrategien zur Gestaltung von Übergängen und zur Überwindung persönlicher Problemlagen. Jungen Menschen hierfür systematisch Kompetenzen zu vermitteln, ist eine zentrale Bildungsaufgabe. Denn biografische Brüche führen gerade bei benachteiligten Jugendlichen zu Resignation und Demotivation. Bei Abbrüchen und Rückschritten brauchen Jugendliche eine 2. oder auch 3. Chance.

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Unterstützende Personen, die benachteiligte Jugendliche begleiten, fördern und auffangen, wirken nachweislich stabilisierend. Dies stellt auch der 4. Armuts- und Reichtumsbericht fest. Die BAG KJS fordert daher ein kontinuierliches personales Angebot für Jugendliche mit besonderem Förderbedarf. Auch und gerade dann, wenn Eltern in ihrer Funktion ausfallen, müssen Jugendlichen bei Bedarf Bezugspersonen zur Verfügung stehen, die sie auch über einen längeren Zeitraum verlässlich begleiten, unterstützen und motivieren. Dies ist insbesondere in Übergangssituationen (z. B. nach Beendigung der Schule, Ausbildungsabbruch) und bei biografischen Weichenstellungen (wie Umzug oder Familiengründung) von großer Bedeutung.

Wie ein Übergangssystem zu gestalten ist Das Übergangssystem Schule – Beruf ist heute breit gefächert, aber auch unübersichtlich. Es umfasst viele Angebote für junge Menschen, die den Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf nicht ohne Hilfe bewältigen können. Viele Fördermaßnahmen stehen unabgestimmt nebeneinander. Ein Teil der jungen Menschen wird in eine Maßnahme des Übergangssystems vermittelt, obwohl ihnen nichts außer einem Ausbildungsplatz fehlt. Besonders im berufsschulischen Teil des Übergangssystems verschwenden deshalb viele junge Menschen Zeit, da kaum oder keine neuen Kenntnisse und Fertigkeiten für die persönliche und berufliche Entwicklung erworben werden. Die Eintritte in das Übergangssystem variieren stark nach Bundesländern. Die meisten jungen Menschen (39,1 Prozent aller Schulabgänger) gelangen in Baden-Württemberg (wo die schulische Berufsvorbereitung verpflichtend ist, wenn kein Ausbildungsplatz gefunden wurde) zunächst in eine Übergangsmaßnahme; im Nachbarland Bayern sind dies nur 15,7 Prozent (Quelle: BIBB-Datenreport zum Berufsbildungsbericht 2012). Ein neues Übergangssystem muss sich nach Meinung der BAG KJS auf die besonders förderungsbedürftigen jungen Menschen im Übergang von der Schule zum Beruf konzentrieren, die unterstützende Angebote tatsächlich benötigen. Die Hilfen und Fördermaßnahmen müssen langfristig angelegt sein und damit Kontinuität und Zuverlässigkeit für die Jugendlichen bieten. Kurzfristige und immer wieder neu aufgelegte Modellmaßnahmen verschiedener Stellen sind hier nicht zielführend. Die Übergangshilfen müssen zwischen den verschiedenen zuständigen Rechtskreisen SGB II, SGB III und SGB VIII abgestimmt sein und damit eine kohärente Förderung bieten. Die Jugendhilfe sollte hier, weil sie

Für die Handwerks- und Industriebetriebe in Deutschland hat die Ausbildung von jungen Menschen die höchste Priorität. einen besonders weit formulierten Auftrag zur Erziehung, Förderung und zur beruflichen und gesellschaftlichen Eingliederung junger Menschen hat (§§ 1, 13 SGB VIII), eine federführende Rolle übernehmen.

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Wie Kompetenzen festgestellt werden sollten Kompetenzfeststellung hilft, den Förderbedarf bei Jugendlichen zu erheben, um daran anknüpfend junge Menschen unterstützen zu können. Verfahren zur Kompetenzfeststellung und Potentialanalyse können Sozialarbeitende bei der Herausstellung von Ressourcen, Begabungen, Neigungen und Talenten von Jugendlichen unterstützen. Dass sie meist auf berufsbezogene Kompetenzen beschränkt sind, ist kontraproduktiv. Die Verfahren müssen Jugendliche in ihren Fähigkeiten positiv verstärken, zur Selbstreflexion anregen und bedarfsgerecht für die Entwicklungsbegleitung nutzbar gemacht werden. Dabei sind Kompetenzfeststellungsverfahren so auszurichten, dass erzielte Ergebnisse in der Ausgestaltung von Fördermaßnahmen berücksichtigt und Grundlagen für eine individuelle Förderung werden. Sie müssen zudem Anforderungen gerecht werden, die sich aus der Einbindung in das Übergangsmanagement und die erforderliche Abstimmung mit den anderen lokalen Akteuren ergeben. Zwischen ihnen sollte es klar formulierte und verbindliche Absprachen zum Zusammenspiel der eingesetzten Verfahren zur Kompetenzfeststellung geben. Unter Einhaltung des Datenschutzes müssen die Ergebnisse an die jeweils zuständige Stelle weitergegeben werden können. Es muss unbedingt vermieden werden, dass ein und derselbe Jugendliche ein Verfahren nach dem anderen absolviert, ohne dass dies Auswirkungen auf seinen Förderungsprozess hat.

Welche Rolle Betriebe in der Ausbildung benachteiligter Jugendlicher spielen Die duale Ausbildung ist ein Markenzeichen der Bundesrepublik Deutschland für eine professionelle und qualifizierte Berufsausbildung. Die beiden Säulen der praktischen Ausbildung in den Betrieben und der schulischen Ausbildung in berufsbildenden Schulen bilden den Grundstein für eine qualitativ hochwertige Berufsausbildung von Fachkräften und qualifiziertem Nachwuchs. Für die Handwerks- und Industriebetriebe in Deutschland hat die Ausbildung von jungen Menschen die höchste Priorität, um qualifizierten Nachwuchs für ihr Unternehmen zu akquirieren. Laut Berufsbildungsbericht des Bundes haben ca. 56 Prozent der Betriebe eine Ausbildungsberechtigung. Tatsächlich bilden aber immer weniger Betriebe aus: Waren es 2009 noch 23,5 Prozent, so sank diese Zahl inzwischen auf 21,75 Prozent (Berufsbildungsbericht 2013). Waren im letzten Ausbildungsjahr 11.550 Jugendliche als unversorgt gemeldet, so ist die Zahl der „tatsächlich Unversorgten“ (Jugendliche mit dem Vermerk „Unbekannter Verbleib“, die sich nicht mehr bei der Bundesagentur für Arbeit melden, werden herausgerechnet.) mit knapp 90.000 wesentlich höher. Eine Bewerberbefragung des Bundesinstitutes für Berufsbildung (BiBB) im Jahr 2010 ergab, dass 27.000 von ihnen arbeitslos sind. Aktuelle wirtschaftliche Rahmenparameter beeinflussen das Ausbildungsverhalten von Betrieben deutlich stärker als soziale oder gesellschaftliche Gesichtspunkte. Derzeit scheint die demographische Entwicklung verstärkt Betriebe zu zwingen, sich auch leistungsschwächeren Jugendlichen zuzuwenden. Dies ist gerade in Branchen zu beobachten, in denen es auch vorher schwierig war, Bewerber/-innen zu finden, wie z. B. in der Gastronomie. Diese neuen und sich weiter verändernden Rahmenbedingungen stellen Betriebe und vor allem die Ausbilder in Betrieben heute vor neue Herausforderungen, die sie nicht ohne Weiteres bewältigen können. Zukünftig wird neben der handwerklich-fachlichen Kompetenz des Ausbilders auch die pädagogische Kompetenz an Bedeutung gewinnen. Professionelle Beratung und Unterstützung in der Auswahl, Vorbereitung und Begleitung der Auszubildenden wird zunehmend wichtig werden. Ebenso werden ausbildungsbegleitende Hilfen an Bedeutung gewinnen und sollten weiter ausgebaut werden. Hier stehen Träger der Jugendberufshilfe mit ihren zum Teil langjährigen Erfahrungen zur Unterstützung bereit.

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Case Management, Vernetzungsarbeit und neue Strukturen Erfahrungen und Erträge aus den Programmstandorten am Beispiel einer Koordinierungsstelle 2. Chance Von Annette Sailer Mit diesem Beitrag soll exemplarisch – anhand unserer praktischen Arbeit – verdeutlicht werden, wie an einem Modellstandort JUGEND STÄRKEN mit den Methoden des Case Management und dem Anspruch der Vernetzung pädagogisch gearbeitet wird. Darüber hinaus will ich die konkreten Entwicklungslinien im Umgang mit dem Thema „Schulverweigerung“ nachzeichnen. Das heißt, ich möchte Sie teilhaben lassen an den Erfahrungen der letzten Jahre, an den Methoden und Arbeitsformen, die wir ausprobiert und verworfen oder weiterentwickelt haben: Wir sind ein ESF-gefördertes Projekt aus dem Bundesprogramm „Schulverweigerung – Die 2. Chance“ und existieren seit 2009. Wir arbeiten noch bis Ende 2013, also insgesamt fünf Jahre, ein für Projektarbeit relativ langer Zeitraum. Träger des Projektes ist der Caritasverband für das Erzbistum Berlin e. V. Was machen wir? Wir begleiten Jugendliche mit einer Schulproblematik sehr intensiv und individuell. Als Koordinierungsstelle bieten wir einen Ort, an dem sich die Jugendlichen angenommen fühlen und wo sie mit Wertschätzung behandelt werden. Hier können sie im Umgang mit Erwachsenen und in kleinen Gruppen neues Verhalten erlernen, Schulstoff nachholen und langsam positive und realistische Zukunftsentwürfe entwickeln. Wir arbeiten in einem multiprofessionellen Team und haben nicht nur die Belange der Jugendlichen im Blick, sondern wir haben auch Angebote für die Eltern entwickelt. Wir arbeiten mit sehr vielen Partnern aus Schule und Jugendhilfe, aber auch aus dem Gesundheitswesen und vielen anderen Bereichen zusammen. Unser Angebot verstehen wir als Schnittstelle zwischen Schule, Jugendhilfe und Elternhaus. Organisatorisch betrachtet arbeiten wir besonders eng mit zwei Kooperationsschulen aus unserem Stadtbezirk zusammen. Die 2. Chance arbeitet von Anfang an mit der Idee, das Problem Schulverweigerung nicht außerhalb von Schule zu bearbeiten, sondern in der Schule zu bleiben. Deshalb sind unsere Sozialpädagoginnen entweder direkt in der Schule oder in un-

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mittelbarer Nähe angesiedelt. Sie haben in der Schule Sprechzeiten, nehmen an Konferenzen teil und sind in ständigem Kontakt mit Klassenleitungen und Fachlehrinnen und -lehrern. Die Projektteilnehmerinnen und -teilnehmer der 2. Chance kommen aus diesen beiden Kooperationsschulen. Sie werden von ihren Lehrerinnen und Lehrern an uns gemeldet bzw. vermittelt und dann nach einem bis zwei Gesprächen in das Projekt aufgenommen. Der Vorteil an dieser Arbeitsform ist eine sehr enge Kooperation mit der Schule. Natürlich braucht Kooperation diese Zeit, sie muss wachsen, bis Vertrauen, gegenseitige Akzeptanz und ein Agieren auf Augenhöhe entstehen. Aber diese Nähe ist notwendig, sowohl für die Re-Integration als auch für das präventive Arbeiten. Der Nachteil dieser Arbeitsform ist der, dass wir nur Jugendliche aus diesen beiden Kooperationsschulen in das Projekt aufnehmen. Der Bedarf im Bezirk ist aber viel höher und es gab über die Jahre immer wieder Anfragen aus anderen Schulen, vom Jugendamt, von Trägern ambulanter und stationärer Jugendhilfe, von Eltern und auch von Jugendlichen selbst. Deshalb haben wir vor eineinhalb Jahren die Clearingstelle Schuldistanz eingerichtet. Zu diesem Zeitpunkt bekamen wir eine zusätzliche Stelle vom Land Berlin, über die die Clearingstelle finanziert wird. Sie berät bezirksweit und schulübergreifend zum Thema Schuldistanz. Das jüngste Element, das wir erst vor Kurzem entwickelt haben, ist „Zwischenzeit“, ein Angebot für suspendierte Schülerinnen und Schüler. „Zwischenzeit“ nimmt Jugendliche aus den Kooperationsschulen und von der Clearingstelle auf und überbrückt die Zeit zwischen zwei schulischen Stationen. Um im Folgenden zu erläutern, wie wir methodisch arbeiten, stelle ich gern zwei reale Fälle aus unseren Kooperationsschulen vor, die in ihrem Verweigerungsverhalten relativ typische Verhaltensweisen zeigen: Jasmin und Patrick. Jasmin ist 15, klein, blass und hat 27 Fehltage. Wenn sie gefragt wird, wie es ihr geht, sagt sie „Allet schick!“ Zur „2. Chance“ kommt sie wegen der Suche nach einem Praktikumsplatz. Jasmins Lehrer haben resigniert: „Sie kommt und geht, wie sie will.“ Sie rennt aus dem Unterricht, versteckt sich auf der Toilette, sitzt abwesend im Unterricht, ist nicht ansprechbar, will nicht reden. Nach einiger Zeit entscheidet sich Jasmin doch für das Case Management und beginnt zu reden, darüber, wie es zu Hause aussieht, was sich dort abspielt. Sie hat Panikanfälle mit Atemnot, verletzt sich selbst und hat Suizidgedanken. Patrick ist 13, blass, zierlich, mit Brille und Zahnspange, eher unscheinbar. In den Akten hingegen ist von gewalttätigen Übergriffen auf Mitschüler und Lehrer die Rede, von Schlägen, Tritten und Pfefferspray. Bis zur 7. Klasse lief alles normal, ab dann nehmen Aggressionen und gewalttätige Ausbrüche zu. Mit Patrick in der Klasse ist kein Unterricht möglich, er wird suspendiert und einzeln beschult. Den Rest des Tages verbringt er zu Hause vor dem Fernseher. An dieser Familie sind bereits alle Institutionen tätig: Familienhilfe, Erziehungsberatung, Psychiatrie. Jetzt auch noch die 2. Chance.

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Methoden

Clearingstelle Schulverweigerung

Abbildung 1

Abbildung 2

Elternberatung

Netzwerkarbeit

Gruppenarbeit

Case Management

Personelle Kontinuität

Auf Empfehlung der Polizei kommt eine Mutter aus Marzahn mit ihrer 14-jährigen Tochter. Die nicht zur Schule geht und bereits straffällig geworden ist.

Eine Mitarbeiterin vom Jugendamt Lichtenberg braucht eine kollegiale Beratung zu einem Fall mit Schulverweigerung.

Konkrete Angebote

• Zuständigkeiten Personelle Kontinuität Klare Mittlerfunktion • Konkrete Angebote • Klare Zuständigkeit • Mittlerfunktion

Eine Mutter ruft aus Wartenberg an und sucht für ihre Tochter ein schulersetzendes Projekt in Ihrer Nähe.

Eine Lehrerin hat drei „Problemfälle“ in der Klasse und wünscht sich Unterstützung für das Gespräch mit den Eltern.

Ein Abteilungsleiter vom Oberstufenzentrum bittet um ein Referat über Schulverweigerung auf einer Veranstaltung.

© Annette Sailer

Case Management ist eine Methode sehr intensiver, individueller Beratung und Begleitung, mit Zielentwicklung und sehr kleinschrittiger Umsetzung. Häufig müssen Probleme aus dem familiären Bereich angegangen werden, manchmal auch die Themen Wohnen, Existenzsicherung, Schulden, Drogen, Gesundheit. Physische und psychische Gesundheit ist als Thema in den letzten Jahren stark gewachsen. Die Grundlage dafür, all diese Themen zu bearbeiten, ist der Aufbau von Vertrauen und von einer tragfähigen Beziehung. Das braucht Zeit. Für Jugendliche, die beim Lernstoff völlig den Anschluss verpasst haben oder nicht genügend Deutsch verstehen, um mitzukommen, gibt es Gruppenangebote in sehr kleiner Runde, in der Schulwissen nachgeholt wird, in der Deutsch als Fremdsprache gelernt wird, in der soziale Kompetenzen erworben werden. Schulverweigerung kann auch ein Hilferuf sein, ein Hinweis, dass zu Hause etwas nicht stimmt. So wie Eltern manchmal Teil des Problems sind, müssen sie auch Teil der Lösung sein. Deshalb bieten wir auch Beratung für Eltern an und trennen die Beratung von Jugendlichen und Eltern personell. Die Eltern erhalten Entlastung und Unterstützung dabei, den schwierigen Prozess des Kindes mit auszuhalten. Manchmal verbirgt sich hinter dem Schulproblem ein Jugendhilfe- oder Kinderschutzproblem. Dann kann das nur in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt gelöst werden. Unter allen Methoden liegt quasi als Grundlage die Netzwerkarbeit (Abbildung 1). Gute Netzwerkarbeit ist die Voraussetzung für effektives Case Management und Elternarbeit. Für eine gelingende Kooperation mit der Schule ist es wichtig, personelle Kontinuität zu gewährleisten, konkrete Angebote zu machen und die Zuständigkeiten ganz klar zu regeln. Die vom Projekt ausgeübte Mittlerfunktion zwischen den Institutionen und Instanzen wird in der Regel als hilfreich empfunden. Wer mit Schulverweigerung zu tun hat, steht unter Druck. Seien es Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern oder professionelle Helfer. Denn die Schulpflicht schafft Handlungsbedarf, schließlich drohen Anzeigen, Bußgelder oder polizeiliche Zuführung. In der Regel führt der Druck zu hektischem Agieren und einem Gefühl der Hilflosigkeit, aber nicht zur Lösung des Problems.

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Die Clearingstelle berät schulübergreifend zum Thema Schuldistanz (Abbildung 2). Sie unterstützt in alle Richtungen bei der Analyse und Klärung der Problemsituation. Dabei kommt der Vermittlung zwischen den Systemen Schule, Familie und Jugendhilfe besondere Bedeutung zu. Eine Zusammenarbeit gibt es u. a. auch mit der Polizei, der Psychiatrie, anderen Diensten des Gesundheitswesens und der Jugendgerichtshilfe; Hauptthema ist aber die Aufklärung und Vermittlung zwischen den Systemen Schule und Jugendhilfe bzw. allen Beteiligten. „Zwischenzeit“ wiederum ist ein Angebot für Jugendliche, die trotz Schulpflicht nicht zur Schule gehen. Sie sind suspendiert oder im Moment an keiner Schule gemeldet. Die meiste Zeit verbringen sie zu Hause, sie langweilen sich und warten darauf, dass es irgendwie weitergeht. Um die Zeit bis dahin zu überbrücken und eine Tagesstruktur zu erhalten, gibt es das Projekt „Zwischenzeit“. Das ist Unterricht in einer Kleingruppe an einem Ort außerhalb der Schule. Statt Fernsehen zu Hause gibt es künstlerische Aktivitäten, statt Langeweile gibt es Sport. Die „Zwischenzeit“ nutzt die Zeit zwischen zwei schulischen Stationen, um die Re-Integration in das Schul- oder Ausbildungssystem zu erleichtern.

Herausforderungen für die Zukunft Die große Herausforderung in der Arbeit mit den Schule verweigernden Jugendlichen bleibt die Kooperation der Systeme Schule und Jugendhilfe. Eine „Verweigerungshaltung“ kann auch manchmal bei den Fachkräften festgestellt werden. Kooperation kann man kaum erzwingen, man kann sie sich erarbeiten, aber sie muss von beiden Seiten gewollt sein und muss auf gegenseitigem Respekt, Wertschätzung und Anerkennung der Arbeit beruhen. Die Grenzen von Projektarbeit und die Freiwilligkeit der Mitwirkung aller Akteure in diesem Projekt stellen auch eine Herausforderung dar. Rahmenbedingungen, Laufzeit, unterschiedliche Herangehensweisen und Haltungen zur Zielgruppe machen die Kooperation schwierig, aber auch fruchtbar.

Die große Herausforderung bleibt die Kooperation der Systeme Schule und Jugendhilfe. Im letzten Projektjahr liegt ein Fokus unserer Arbeit auf der Präsentation und Multiplikation der Projektergebnisse und auf den Bemühungen um Verstetigung. So nehmen wir an Fachtagen und Konferenzen teil und gestalten Workshops zum Thema „Schuldistanz“. Besonders wichtig sind uns in diesem Zusammenhang die Workshops für Lehrerinnen und Lehrer sowie für Referendare, die wir an einzelnen Schulen oder bei schulübergreifenden Veranstaltungen durchführen. Hier soll sowohl theoretisches Wissen um das Phänomen der Schulverweigerung vermittelt als auch praktisches Handwerkszeug, wie funktionierende Methoden, Elternarbeit, gelingende Kommunikation weitergegeben werden. Um die besonders wichtige Kooperation zwischen Schule und Jugendhilfe zu unterstützen, werden die Ergebnisse der Projektarbeit in der kommunalen AG Schuldistanz und in der Steuerungsrunde Schule-Jugendhilfe vorgestellt und diskutiert. Ziel ist, dass die Erfahrungen gelingender Kooperation in diese Gremien und deren Entscheidungen einfließen. Bei unseren Bemühungen um Verstetigung sind wir in Verhandlung mit einer unserer Kooperationsschulen. Die Schule ist gewillt, die Finanzierung der Personalkosten für eine Stelle zu übernehmen, um die bisher geleistete Arbeit fortzusetzen. Außerdem versuchen wir, die Personalstelle, die aus dem Landesprogramm „Jugendsozialarbeit an Berliner Schulen“ finanziert wird, über das Projektende hinaus zu erhalten. Das wird u. a. auch von Entwicklungen auf der Bundesebene abhängen. Wir gehen davon aus, dass die Entscheidungen, die dafür notwendig sind, bis zum Herbst 2013 getroffen wurden und wir Planungssicherheit haben. Annette Sailer arbeitet beim Caritasverband für das Erzbistum Berlin e. V. im Bereich Jugendsozialarbeit als Leiterin der Koordinierungsstelle Schulverweigerung – Die 2. Chance Berlin-Lichtenberg

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Dieser Text beruht in weiten Teilen auf einer Darstellung in: Deutsches Institut für Urbanistik (Hrsg.) (2013): Schulversäumnisse – Jugendhilfe und Schule in einem Boot? Dokumentation der Fachtagung am 14. und 15. März 2013 in Potsdam. Aktuelle Beiträge zur Kinder- und Jugendhilfe, 89. Berlin.


Der Herausgeber Die Bundesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit (BAG KJS) e. V. ist ein Zusammenschluss katholischer bundeszentraler Organisationen und Landesarbeitsgemeinschaften. Sie tritt auf Bundesebene anwaltschaftlich f체r die Belange junger Menschen ein. Dazu arbeitet sie mit Personen und Institutionen aus Kirche, Staat, Politik, Wirtschaft und Verb채nden zusammen. Sie nimmt aktiv am wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs teil und leistet gleichzeitig in partnerschaftlicher Zusammenarbeit einen Beitrag zur zukunftsorientierten Gestaltung unserer Gesellschaft.


Die Mitgliedsorganisationen der BAG KJS Bundeszentrale Organisationen • Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ) – Bundesstelle e. V., Düsseldorf • Deutscher Caritasverband e. V., Freiburg • Deutsche Provinz der Salesianer Don Boscos, München • IN VIA Katholischer Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit - Deutschland e. V., Freiburg • Katholische Arbeitsgemeinschaft Migration (KAM), Freiburg • Kolpingwerk Deutschland – Bundesverband, Köln • Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) Gesamtverein e. V., Dortmund • Verband der Kolpinghäuser e. V., Köln

Landesarbeitsgemeinschaften • Katholische Arbeitsgemeinschaft für Jugendsozialarbeit Baden-Württemberg, Freiburg • Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit Bayern, München • Katholische Landesarbeitsgemeinschaft für Jugendsozialarbeit Berlin/Brandenburg, Berlin • Katholische Jugendsozialarbeit Hessen/Rheinland-Pfalz/Saarland, Trier • Katholische Jugendsozialarbeit Nord gGmbH, Hannover • Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit Nordrhein-Westfalen e. V., Köln • Katholische Landesarbeitsgemeinschaft Jugendsozialarbeit im Freistaat Sachsen (KLAGS), Dresden • Landesarbeitsgemeinschaft der Katholischen Jugendsozialarbeit für Thüringen e. V., Erfurt

Gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

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