Bebel Pocket 2013

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Bebel Pocket EIN HEFT ZUR ERINNERUNG AN AUGUST BEBEL 1840–1913


VORWORT August Bebel... ein Kaiser der Arbeiter und der kleinen Leute Willy Brandt, 1980

Vor 100 Jahren starb August Bebel. Als „Arbeiterkaiser“ genoss er zu Lebzeiten idolhafte Verehrung: als Mitbegründer der sozialdemokratischen Arbeiter/innenbewegung, als begnadeter Redner und Kämpfer für bessere Arbeitsbedingungen und die Gleichstellung der Geschlechter, als Kritiker der deutschen Kolonialpolitik. Noch heute ist Bebel für viele politisch Aktive eine Identifikationsfigur. Mit einer Ausstellung, Diskussionen und Stadtführungen würdigt das August Bebel Institut seinen Namensgeber und lädt zum Bebel-August 2013 ein. Was bleibt von jenen Ideen, die Bebel vorgezeichnet hat? Wo müssen wir Bebel widersprechen? Wo ihn weiterdenken? Mit unserem Bebel-Pocket zeigen wir wichtige Elemente des politischen Wirkens August Bebels und seiner aktuellen Relevanz. Wir meinen, dass er uns auch heute noch einiges zu sagen hat. Wir erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern wollen zum Weiterlesen, Nachdenken und Diskutieren anregen. Wir wünschen viel Freude beim Lesen und Diskutieren. Ingo Siebert August Bebel Institut – Institut für soziale Demokratie, 2013 Müllerstr. 163, 13353 Berlin, Fon (030) 4692-122, Fax (030) 4692-124 www.august-bebel-institut.de, E-Mail: bebel2013@august-bebel-institut.de Redaktion: Tobias Kühne (Leitung), Manuela Bauche (Lektorat), Ingo Siebert (V.i.S.d.P.) Mitarbeit an einzelnen Texten: Claudia von Gélieu und Reinhard Wenzel Gestaltung: Udo Tremmel Medienkonzepte Geschäftsführung und Studienleitung: Ingo Siebert; Programmreferentin: Manuela Bauche Mit freundlicher Unterstützung des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung Fotos: Archiv der sozialen Demokratie / Friedrich-Ebert-Stiftung Konzept und Gestaltung der Ausstellung: Büro Milk


INHALT UTOPIE AUGUST UND JULIE AUGUST UND ROSA FRAUEN BILDUNG HOMOSEXUALITÄT RELIGION BEBEL IN EUROPA GEWERKSCHAFTEN DEMOKRATIE KRIEG UND FRIEDEN INTERNATIONALISMUS KOLONIALISMUS ANTISEMITISMUS ISLAM BEBEL IN BERLIN ÜBER BEBEL

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So werden alle Fundamente der heutigen ‚Ordnung‘ zur Mythe. Die Eltern erzählen davon den Kindern wie aus alten märchenhaften Zeiten. Und die Erzählungen von den Hetzereien und Verfolgungen, womit heute die Männer der neuen Ideen überschüttet, werden ihnen genau so klingen, als wenn wir gegenwärtig von Ketzer- oder Hexenverbrennungen hören. August Bebel: Die Frau und der Sozialismus (1879)


UTOPIE Die Gegenwart zu beschreiben fällt nicht schwer. „In unserem sozialen Leben nimmt der Kampf um die Existenz“, so August Bebel, „immer gewaltigere Dimensionen an. Der Krieg Aller gegen Alle ist in heftigster Weise entbrannt und wird unbarmherzig, oft ohne Wahl der Mittel geführt.“ Betrachtet man die derzeitige Entwicklung von Armut und Reichtum in Deutschland und der Welt, kommt einem Bebels Diagnose merkwürdig vertraut vor. Wie aber stellte sich Bebel eine bessere Gesellschaft vor? Was war seine Utopie? August Bebel war der Meinung, „dass mit der Aufhebung des Privateigentums an den Arbeitsmitteln und mit ihrer Umwandlung in gesellschaftliches Eigentum allmählich die Menge der Übel verschwindet, welche die bürgerliche Gesellschaft auf Schritt und Tritt uns zeigt und immer unerträglicher werden. Die Herrschaft einer Klasse hört auf, die Gesellschaft wendet ihre gesamte Tätigkeit nach selbstgegebenem Plane an (…)“. In dieser neuen Gesellschaft würden alle Menschen dazu beitragen, „den Reichtum und die Annehmlichkeiten der Gesellschaft zu vermehren.“ All das klingt heute etwas altertümlich und „utopisch“. Dabei müssten wir nur Begriffe wie genossenschaftliches Engagement, Kommunalisierung oder Teilhabe verwenden, um Bebels Vorstellungen in unsere Zeit zu übersetzen. Für August Bebel war diese Utopie einer besseren Gesellschaft kein Luftschloss, sondern Ausdruck von Vernunft: „Das sind Alles praktische, sichtbare und greifbare Dinge, denen Jeder objektiv gegenübersteht (…).“ Der Kampf für eine bessere Gesellschaft kommt nicht ohne Utopien aus.

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Für einen Mann, der im öffentlichen Leben mit einer Welt von Gegnern im Kampfe liegt, ist es nicht gleichgültig, wes Geistes Kind die Frau ist, die an seiner Seite steht. Je nachdem kann sie eine Stütze und eine Förderin seiner Bestrebungen oder ein Bleigewicht und ein Hemmnis für denselben sein. Ich bin glücklich, sagen zu können, die meine gehörte zu der ersteren Klasse. August Bebel: Aus meinem Leben (1910–14)


AUGUST UND JULIE August Bebel und Julie Otto heirateten am 13. März 1866. Gefeiert wurde – wie bezeichnend! – im Lesezimmer des Arbeiterbildungsvereins. „Die Ehe“, so schrieb es später eine Biografin, „wurde glücklich, und sie blieb es über viereinhalb Jahrzehnte hin.“ Wenn Julie ihrem August den Rücken freihielt, wenn dieser wieder einmal hinter Gittern saß oder sich für die Partei aufopferte, entspricht dies auf den ersten Blick nicht unserem Verständnis einer gleichberechtigten Partnerschaft. Dieser Eindruck aber täuscht. Denn die Arbeitsteilung im Hause Bebel war Ausdruck eines gemeinsamen Ziels und wohl auch einer Liebe „auf Augenhöhe“ – und dies zu einer Zeit, als Frauen nicht voll „geschäftsfähig“ waren und ihre politische Betätigung laut Gesetz verboten war. Wie auch immer Menschen heute ihre Beziehungen führen wollen, die gesellschaftlichen Umstände begünstigen nach wie vor die ungleiche Verteilung von Verantwortung, Chancen und Risiken – selbst dann, wenn die Beteiligten dies gar nicht wollen. Vielleicht würden sich August und Julie Bebel heute darüber wundern, dass die von ihnen gelebte Form der Partnerschaft immer noch nicht Gemeingut geworden ist. Manche/n Konservative/n könnte Bebel wohl noch hundert Jahre nach seinem Tod zur Weißglut bringen: „Die Frau soll (…) in dem Manne nicht ihren Herrn und Gebieter, sondern den frei aus Neigung gewählten Gleichen erblicken, der sie aus gleichem, freien Entschluss gewählt hat. Zu diesem Zwecke soll die Frau vollkommen ökonomisch unabhängig und politisch gleichberechtigt dem Manne gegenüberstehen. Sie soll so gut wie der Mann ihre Kräfte und Fähigkeiten nach dem jeweiligen Bedürfnis der Gesellschaft zur Verfügung stellen, und die Gesellschaft hat die Verpflichtung dafür, ihre Bedürfnisse zu befriedigen.“ Das würde auch heute noch „dem Manne“ etwas abverlangen, aber vielleicht dachte August auch an sich und Julie, als er schrieb: „Die ‚Fesseln‘, die er sich damit auferlegt, drücken nicht.“ 7


Tausende, später Hunderttausende, zuletzt Millionen deutscher Proletarier leisteten ihm Gehorsam und Gefolgschaft, weil Bebel wie kein zweiter es verstand, die rastlose Kampflust und Zähigkeit dieser Millionen im Erobern jeder Handbreit eines menschenwürdigen Daseins sowie auch ihren revolutionären Idealismus zu erfassen… Rosa Luxemburg: Nachruf in „Die Gleichheit“ (1.9.1913)


AUGUST UND ROSA Aujust, ick liebe dir!“ Diese Worte soll Rosa Luxemburg ihrem politischen Weggefährten August Bebel bei einem Kongress zugesteckt haben. So innig, wie das vermuten lässt, war die Beziehung zwischen diesen beiden Ikonen der Arbeiter/innenbewegung aber nicht. „Die Rosarei“, so Bebel an seinen österreichischen Genossen Viktor Adler, „ist nicht so schlimm, wie Du denkst. Trotz aller Giftmischerei möchte ich das Frauenzimmer in der Partei nicht missen.“ Auch Rosa Luxemburg hatte an ihrem Parteivorsitzenden einiges zu kritisieren, zimperlich war dabei keiner von beiden. Persönliche Zuneigung bei harten politischen Differenzen, so wird man das Verhältnis der beiden wohl am besten umschreiben können. Dabei waren die Konflikte zwischen Luxemburg und Bebel (und zwischen beiden und den „Revisionisten“!) symptomatisch für die Sozialdemokratie und die gesellschaftspolitische Linke – und in vieler Hinsicht gilt dies bis heute. Reform oder Revolution, Parlamentarismus oder „wahre“ Demokratie, Abwarten oder Aktionismus? Wer von den beiden nun „Recht“ hatte, muss offen bleiben. Bemerkenswert aber ist, dass Konflikte innerhalb der Partei ausgetragen werden konnten und auch wurden. An Luxemburg gewandt bemerkte Bebel auf dem Jenaer SPD-Parteitag von 1911: „Selbstverständlich hat jeder Genosse das Recht zu kritisieren, ebenso wie es unser Recht ist zu antworten, wenn wir es der Mühe für wert halten (Heiterkeit). Aber die Kritik zu verbieten, fällt keinem ein, das ist in einer demokratischen Partei wie der unsrigen ganz unmöglich.“ Politische Differenzen auszutragen und gleichzeitig integrieren zu können war vielleicht eines der größten Talente August Bebels. 9


Es handelt sich also nicht nur darum, die Gleichberechtigung der Frau mit dem Manne auf dem Boden der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, was das Ziel der bürgerlichen Frauenbewegung ist, sondern darüber hinaus alle Schranken zu beseitigen, die den Menschen vom Menschen, also auch das eine Geschlecht von dem anderen, abhängig machen. Diese Lösung der Frauenfrage fällt mit der Lösung der sozialen Frage zusammen. August Bebel: Die Frau und der Sozialismus (1879)


FRAUEN Selbst heute, nachdem sich die Situation von Frauen in den letzten Jahrzehnten stetig verbessert hat und sie rechtlich gleichgestellt sind, zeigt sich, wie recht August Bebel mit seiner Einschätzung hatte. Kann es in der gegenwärtigen Gesellschaft überhaupt eine vollständige Gleichstellung der Geschlechter geben? Bebel war der erste führende Sozialdemokrat, der sich mit der „Frauenfrage“ beschäftigte. 1879 erschien sein Buch „Die Frau und der Sozialismus“. Trotz Verbots wurde es ein Bestseller, erschien in zahlreichen, immer wieder erweiterten und aktualisierten Auflagen und wurde in viele Sprachen übersetzt. Mehr als 200.000 Exemplare sind bis zum Tod Bebels in Deutschland verkauft worden und in sozialdemokratischen Büchereien war es das mit Abstand am meisten ausgeliehene Buch. Durch die Untersuchung der Stellung der Frau in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wollte er die „Vorurteile, die der vollen Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen,“ bekämpfen und Frauen für die sozialistische Idee gewinnen. Auch wenn manche seiner Analysen heute überholt wirken, seinen politischen Zweck hat das Buch erfüllt: Für viele Frauen wurde es der „Wecker zum Kampf“. Und die SPD nahm, obwohl es auch in der Arbeiter/ innenbewegung Vorbehalte gegenüber Frauen gab, 1891 als erste Partei das Ziel der Gleichberechtigung in ihr Programm auf und warb für das Frauenwahlrecht. Auf August Bebel konnte die sozialistische Frauenbewegung bei ihren Kämpfen zählen! Für Bebel war Frauenpolitik keine Nebensache. Er hatte erkannt, dass Männer und Frauen nur gemeinsam ein besseres Leben und eine bessere Gesellschaft erreichen konnten und er lebte dies in seiner Ehe mit Julie auch vor. An August Bebel könnten sich wohl noch heute viele Männer (und Frauen!) ein Beispiel nehmen – sowohl privat als auch politisch. 11


Genies fallen nicht vom Himmel, sie müssen Gelegenheit zur Ausbildung und Entwicklung haben… August Bebel: Die Frau und der Sozialismus (1879)


BILDUNG Heute fallen nicht nur Genies nicht vom Himmel, sondern auch viele junge Menschen durch den Rost des deutschen Bildungssystems. Schülerinnen und Schüler werden immer noch nach sozialer Herkunft durch- und aussortiert und damit ihrer Lebenschancen beraubt. August Bebel wäre dieser Zustand mehr als bekannt vorgekommen. Bebel selbst war das, was wir heute als einen Bildungsaufsteiger bezeichnen würden. Nach kurzer Schulzeit nahm er, von materieller Not getrieben, mit 14 Jahren eine Drechslerlehre auf. Nach längerer Gesellenwanderschaft ließ er sich schließlich in Leipzig nieder und schloss sich dem dortigen Arbeiterbildungsverein an. Hier bildete er sich intensiv weiter und begann, sich mit politischen Fragen zu beschäftigen. Schließlich übernahm er selbst den Vorsitz des örtlichen Bildungsvereins. Der Zugang zu Bildungsangeboten bedeutete für Bebel also nicht zuallererst die Möglichkeit des individuellen sozialen Aufstiegs, sondern die Voraussetzung für eine umfassende Emanzipation aller gesellschaftlichen Schichten. Als er in späteren Jahren im Gefängnis saß, nutze er diesen – wie er es nannte – „Bildungsurlaub“, zum Studium wissenschaftlicher und sozialistischer Texte. Seine anspruchsvollen Schriften und Reden zeigen noch heute, dass er trotz seiner kurzen Schulzeit im besten Sinne des Wortes „gebildet“ war. Doch August Bebel nahm seine eigene, sicher ebenso glückliche wie erfolgreiche Bildungsbiografie keineswegs als Beleg dafür, dass man es allein Kraft eigener Leistung zu etwas bringen könne. Sein Leben lang kämpften er und die Sozialdemokratie für eine staatliche, eine einheitliche Schule. Auch hinsichtlich der Bildung hatte Bebel ein positives und zukunftsgewandtes Bild vom Menschen: Dieser wolle lernen, denken und wissen – und seine geistigen Fähigkeiten zum Wohle der Gesellschaft einbringen. Man müsse ihm nur die Möglichkeit dazu geben. Davon sind wir heute fast genauso weit entfernt wie zu den Zeiten August Bebels. 13


…daß eine Aenderung der Strafgesetzgebung auf diesem Gebiete in dem Sinne einzutreten habe, daß die Beseitigung der betreffenden Bestimmung im § 175 herbeigeführt werden müsse. 13. Januar 1898, Reichstag


HOMOSEXUALITÄT Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich vom 15. Mai 1871, § 175: „Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“ Dieser entwürdigende Paragraf wurde nach langen Kämpfen erst am 10. März 1994 endgültig aufgehoben. Noch heute sind die Opfer dieser Strafverfolgung nicht vollständig rehabilitiert. Wir wissen heute nicht, wie August Bebel über Homosexualität oder Homosexuelle dachte. Sie waren ihm sicher innerlich fremd, 1879 erregte er sich über die „Unnatur der Knaben- und Männerliebe.“ Er blieb in vieler Hinsicht ein Kind seiner Zeit und eine offen gelebte Homosexualität wäre zu diesem Zeitpunkt auch in der Sozialdemokratie nicht möglich gewesen. Als überzeugten Sozialisten aber dürften ihn die sexuellen Orientierungen und Identitäten seiner Mitmenschen kaum interessiert haben – und lernfähig war er auch. Bebel ging es nicht um partikulare Interessen, sondern um die eine, die gerechte Gesellschaft. Und dazu gehörte für ihn auch, die staatliche Diskriminierung von Homosexuellen zu bekämpfen. So gehörte er zu den Erstunterzeichnern einer von Magnus Hirschfeld erarbeiteten Petition von 1897, in der die Abschaffung des § 175 gefordert wurde. Vielleicht hätte er es heute so formuliert: Die Gleichstellung, Gleichbehandlung und Respektierung unterschiedlichster Lebensentwürfe in einer offenen Gesellschaft kann nur in und durch die soziale Demokratie verwirklicht werden. Die durchaus ambivalente Haltung von August Bebel zur Homosexualität zeigt vielleicht, dass auch die Sozialdemokratie gegenüber neuen Emanzipationsforderung ihre Lernfähigkeit und ihr zukunftsgewandtes Selbstverständnis immer wieder neu unter Beweis stellen muss. 15


„Die Erde ist kein Jammertal, sie braucht es wenigstens für keinen unter uns zu sein. Es fällt uns nicht ein, jemandem seinen ,Gott‘ aus dem Herzen reißen zu wollen; was jemand glaubt, ist seine Privatsache; wir wollen aber auch andererseits nicht die Religion in Staatsangelegenheiten gemischt und als Machtmittel benützt sehen zur Aufrechterhaltung der heutigen Gesellschaftsordnung ...“ 24. September 1902, Volksversammlung in Bamberg


RELIGION In Sachen des Glaubens war August Bebel, wie es sein Zeitgenosse Max Weber formuliert hätte, „religiös unmusikalisch“. Selbst kein gläubiger Mensch, aber eben auch kein Verächter von Glaubensbekenntnissen. Ein Agnostiker eben. Dieses Denken war zu seiner Zeit in der Sozialdemokratie weit verbreitet. In der SPD fanden Freidenker/innen ebenso ihren Platz wie religiöse Sozialist/innen. Das Verhältnis von Partei, Religionsgemeinschaften und religiösen Menschen war aber nicht immer konfliktfrei. Mit dem Godesberger Programm von 1959 klärte die SPD ihr Verhältnis zu den Kirchen und wies auf die „christliche Ethik“ als eine ihrer ideengeschichtlichen Wurzeln hin. August Bebel betrachtete Religion als Privatsache. Wohl äußerte er Kritik an Kirche und Christentum. Diese Kritik zielte aber nicht auf die Einschränkung von Glaubensausübung. Stattdessen wollte er es, wie er 1903 bei einer Rede formulierte, mit Jesus Christus halten, entsprechend der Weisung: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gottes ist.“ Heute, in unserer multi- und zum Teil nicht-religiösen Gesellschaft ist Bebels Postulat einer Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften wieder aktuell. Ob diese in der Form eines strengen Laizismus oder durch eine transparente Kooperation von staatlichen und religiösen Einrichtungen realisiert werden sollte, darüber wird sicher auch innerhalb der Sozialdemokratie in Zukunft diskutiert werden. Der grundsätzliche Wert einer Diversität an Religionen aber wurde nicht zuletzt 2007 im Hamburger Programm betont: „Für uns ist das Wirken der Kirchen, der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften durch nichts zu ersetzen, insbesondere wo sie zur Verantwortung für die Mitmenschen und das Gemeinwohl ermutigen und Tugenden und Werte vermitteln, von denen die Demokratie lebt.“ Zu Bebels Zeit wäre eine solche Position innerhalb der SPD schon aufgrund der Haltung der Kirchen undenkbar gewesen – heute hätte Bebel sie wohl unterschrieben. 17


Hannover

10 London

Eisena Köln 1

Wetzlar 2

Frankfurt/M. 3 3 3 13 Paris

Stut Freiburg 3 Basel 16 18

Zürich

12 17

.1 Deutz bei Köln: Geboren am 22. Februar 1840 2 Wetzlar: Jugend und Frankfurt–Heidelberg–Speyer–Karlsruhe–Freiburg–Regensburg–Münch 1881 Drechslermeister und erste politische Betätigung 5 Chemnitz: 186 Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) 7 Berlin: 1871–1913 Mitglie rung auf Schloss Hubertusburg 1872–1874 9 Gotha: 1875 Gothaer Verei rich Engels 11 Dresden: 1881 Ausweisung aus Leipzig und Übersiedlung Zweiten Internationale 1889 14 Halle: Erster Parteitag nach dem Sozia über Frieden und Völkerverständigung beim Sozialistenkongress 17 Pas


BEBEL IN EUROPA 7

15 Berlin

Halle 14

Leipzig 4 8

ach

11 Dresden

6 9

5

Warschau

Chemnitz Prag

3

Nürnberg 3

ttgart 3

3 Salzburg

Wien

München

Drechslerlehre 1846–1858 3 Gesellenwanderschaft 1858–1860: Wetzlar– en–Salzburg–München–Nürnberg–Frankfurt–Wetzlar .4 Leipzig: 1860– 6 Gründung der Sächsischen Volkspartei .6 Eisenach: 1869 Gründung der ed des Reichstags (außer 1881–1883) .8 Wermsdorf (bei Leipzig): Inhaftienigungsparteitag .10 London: 1880 Erster Besuch bei Karl Marx und Fried.12 St. Gallen: Letzter illegaler Parteitag 1887 13 Paris: Gründung der alistengesetz 1890 .15 Berlin-Schöneberg: 1890–1913 16 Basel: 1912 Rede ssugg: Stirbt am 13. August 1913 18 Zürich: Beisetzung am 17. August 1913


Um bei Aktionen, die die Interessen der Gewerkschaften und der Partei gleichmäßig berühren, ein einheitliches Vorgehen herbeizuführen, sollen die Zentralleitungen der beiden Organisationen sich zu verständigen suchen. Resolution des SPD-Parteitages in Mannheim (1906)


GEWERKSCHAFTEN Das Verhältnis von Sozialdemokratie und Gewerkschaften ist heute zwar eng, aber auch nicht immer einfach. Wie in jeder guten Familie gibt es Streit und Versöhnung, bisweilen auch innige Liebe oder doch wenigstens das Eingeständnis, aufeinander angewiesen zu sein. Das war zu August Bebels Lebzeiten nicht anders. Bebel mag als „Arbeiterkaiser“ gegolten haben, aber die Gewerkschafter um Carl Legien dachten keineswegs daran, als treues Fußvolk hinter „seiner“ Partei her zu marschieren. Auch als „Rekrutenschule“ der SPD sah sich die Gewerkschaftsbewegung nicht. Die eigentliche Machtfrage zwischen sozialdemokratischen Theoretiker/innen und den Gewerkschaften wurde 1905/06 gestellt. In Russland war es zu politischen Massenstreiks gekommen. Sollte die SPD den deutschen Gewerkschaften Anweisungen machen können, sich in einem solchen Massenstreik in Deutschland zu engagieren? Die Gewerkschaften wiesen diese Vorstellung weit von sich. Im Mannheimer Abkommen von 1906 entwickelte August Bebel die Vorstellung, dass der politische Massenstreik ein mögliches Mittel der Arbeiter/innenbewegung sei, die SPD den Gewerkschaften aber nicht vorschreiben könne, ob sie sich daran beteiligten. Bebel hatte hinsichtlich des Führungsanspruchs der Partei gegenüber den Gewerkschaften also zum Rückzug geblasen und die Gleichberechtigung beider Säulen der Arbeiter/innenbewegung anerkannt. Damit war das Verhältnis von SPD und Gewerkschaften für die Zukunft grundsätzlich geregelt. Vielleicht sind diese harten, aber doch auch immer auf einem gemeinsamen Wertekanon gegründeten Auseinandersetzungen von damals heute Grund zur Gelassenheit, wenn es wieder einmal „kracht“. Es gibt zu viele aktuelle und historische Gemeinsamkeiten und Ziele, als dass Gewerkschaften und Sozialdemokratie sich auseinanderleben müssten. August Bebel jedenfalls wusste bei allen Konflikten schon vor über hundert Jahren, was er an den Gewerkschaften hatte. 21


Diese verschiedenen Klassen bilden also wirklich die ungeheure Mehrheit im Volk, und da es sich nicht um Unterdr체ckung der Minorit채t durch die Majorit채t handelt, sondern um Gleichberechtigung und Gleichstellung aller, so kann also nicht von einer Klassen- oder Standesherrschaft, welche die Arbeiterklasse wolle, die Rede sein. Es ist im Gegenteil eine so vern체nftige demokratische Gesellschaft, die sie erstrebt, wie sie nur je die Welt gesehen hat. August Bebel: Unsere Ziele (1870)


DEMOKRATIE Zu Zeiten August Bebels gab es in Deutschland zwar Parlamente, aber keine Demokratie. Frauen war jedwede politische Betätigung untersagt, in den Bundesstaaten und Kommunen fanden Wahlen unter bisweilen grotesken Umständen statt. August Bebel beschrieb schon vor mehr als hundert Jahren genau, inwieweit das Demokratieverständnis der Sozialdemokratie über jenes ihrer bürgerlichen Kontrahent/innen hinausführt. Sozialismus und Demokratie, also „Volksherrschaft“ im wortwörtlichen Sinne, waren für Bebel und seine Partei deckungsgleich. Ein zentraler Bestandteil seines Denkens beruhte außerdem darauf, dass für ihn Demokratie mehr bedeutete als die Wahl von Parlamenten und die Freiheit des Einzelnen. Wer in materieller Unsicherheit lebt, ausgebeutet wird oder in wirtschaftlicher Abhängigkeit verharrt, so sah es August Bebel, kann kein freier Mensch sein, kein/e Staatsbürger/in. Und ein Staat, dessen Bevölkerung mehrheitlich keine Bürger/innen sind, kann nicht demokratisch genannt werden. Ist die Bundesrepublik heute eine Demokratie? Ganz zweifellos, aber nichts spricht dagegen, Deutschland und Europa noch demokratischer zu machen. Vielleicht würde Bebel auch heute noch politischen Gegner/innen folgendes entgegen donnern: „Die bürgerliche Demokratie geht von der Ansicht aus, daß die politische Freiheit eigentlich alles sei, was der Mensch verlangen könne, höchstens habe der Staat für eine ausreichende Bildung aller Staatsbürger zu sorgen und die Steuern so einzurichten, daß keiner ungerecht betroffen würde. Das sind drei Dinge, die wir akzeptieren, die aber nicht ausreichen. Der Staat soll allerdings – so meinen die Sozial-Demokraten – die Freiheit garantieren, aber auch darauf sehen, daß die Freiheit des einen der Freiheit des anderen keinen Schaden bringe. Die politische Freiheit aber kann keine gleiche sein, wenn ökonomische Ungleichheit existiert.“ Dem ist auch im 21. Jahrhundert nichts hinzuzufügen. 23


So wird der menschliche Scharfsinn und Erfindungsgeist für Zwecke stimuliert, die allem Kulturfortschritt Hohn sprechen, und werden die finanziellen Kräfte der Völker ununterbrochen und in stets steigendem Maße für neue kriegerische Rüstungen statt für Werke des Friedens und der Zivilisation in Anspruch genommen. August Bebel: Nicht stehendes Heer, sondern Volkswehr! (1898)


KRIEG UND FRIEDEN Die Frage von Krieg und Frieden bewegte die Sozialdemokratie stets in ihrer langen Geschichte und wird sowohl in der Gesellschaft als auch innerhalb der SPD seit Jahren wieder kontrovers diskutiert. August Bebel, der Unteroffizierssohn und verhinderte Kriegsfreiwillige, war gewiss kein Pazifist. Für die Verteidigung von Fortschritt und Freiheit jedenfalls, so Bebel in seiner berüchtigten „Flintenrede“ von 1907, würde er noch als alter Knabe zum Gewehr greifen. Das hatte aber mit dem weit verbreiteten Militarismus seiner Zeit nichts zu tun. Diesen bekämpfte er sein Leben lang in Reden und Traktaten auf das Schärfste. Dabei standen ihm die Gräuel eines großen Krieges, den er selbst nicht mehr erleben sollte, ganz offen vor Augen: Massenhaftes, anonymes Sterben, Armut und Hunger, kurz: der Verlust von Kultur und Zivilisation. Wie wir in einer immer komplexeren Welt mit militärischen Interventionen, Rüstungsexporten oder neuen Militärtechnologien umgehen sollten, dazu vermag August Bebel uns nichts zu sagen. Aber er hinterlässt uns eine ebenso kämpferische wie zukunftsgewandte Haltung gegenüber allem Militärischen: „Wenn auch wir als Sozialdemokraten militärische Rüstungen nicht gänzlich entbehren können, so lange sich die Verhältnisse der einzelnen Staaten zueinander nicht von Grund aus geändert haben, so nur im Sinne der reinen Verteidigung und auf breitester demokratischer Grundlage, die einen Mißbrauch der militärischen Kräfte verhindern. Wir bekämpfen also in Deutschland den bestehenden Militarismus zu Lande und zu Wasser in jeder möglichen Form und mit allen unseren Kräften.“ In einer gerechteren Welt, so Bebels Hoffnung, würde es keine Kriege mehr geben müssen.

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Die Internationale marschiert! Sie gewinnt mit jedem Jahre neuen Boden. Zu diesem Kongresse sind bereits Vertreter aller fünf Erdteile erschienen; es wird nicht mehr lange dauern, bis auch alle Staaten der Welt durch ihre Delegierten vertreten sind. So sehen wir eine gewaltige, über die ganze Erde verbreitete Partei vor uns, die vorwärts stürmt und weiß, was sie will. 18. August 1907, Internationaler Sozialistenkongreß Stuttgart


INTERNATIONALISMUS Es ist merkwürdig: Die Globalisierung schreitet immer weiter voran, zahlreiche politische und soziale Probleme lassen sich auf der nationalen Ebene kaum noch lösen – aber von einem neuen Internationalismus der sozialistischen und sozialdemokratischen Bewegungen ist heute kaum noch etwas zu spüren. August Bebel und noch Willy Brandt hätten die heutige deutsche Sozialdemokratie wohl für ziemlich provinziell gehalten. Auch zu Zeiten August Bebels war die Zusammenarbeit der nationalen Parteien in der Sozialistischen Internationale keineswegs von einer „proletarischen Eintracht“ geprägt. Häufig genug prallten unterschiedliche Positionen und politische Schwergewichte wie Bebel, der Österreicher Viktor Adler oder der Franzose Jean Jaurès aufeinander. Dennoch gab es in der alten Arbeiter/ innenbewegung und bei ihren herausragenden Persönlichkeiten ein Bewusstsein dafür, Teil einer größeren, einer weltgeschichtlichen Bewegung zu sein. „Es ist der stolzeste Moment meines Lebens“, so Bebels Weggefährte Wilhelm Liebknecht bei der Gründung der Zweiten Internationalen 1889, „hier zu stehen und die Erfüllung des Ideals zu sehen, welches die Worte eingab: Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ So viel Euphorie eines sozialdemokratischen Parteiführers wäre heute wohl nur schwer vorstellbar. Seit dem Tode August Bebels wurde der Internationalismus der Arbeiter/innenbewegung häufig auf die Probe gestellt und bewähren konnte er sich auch nicht immer. Dennoch gibt es, man denke nur an die Biografien von Willy Brandt oder Edo Fimmen, beeindruckende Zeugnisse von Solidarität innerhalb der internationalen Arbeiter/innenbewegung. Das August Bebel Institut selbst hätte ohne die Unterstützung amerikanischer Genoss/innen nicht gegründet werden können. Vielleicht ist es auch für die deutsche und die europäische Sozialdemokratie an der Zeit, sich wieder auf ihre Traditionen des Internationalismus zu besinnen. August Bebel hätte sicher nichts dagegen gehabt. 27


Sie kommen nicht als Befreier und Erzieher, sondern als Eroberer, als Unterdr端cker, als Ausbeuter! Sie kommen als Eroberer, um mit brutaler Gewalt den Eingeborenen ihr Eigentum zu rauben, Sie machen sie zu Heloten, zwingen sie in fremde Dienste zur Fron f端r fremde Zwecke. Das ist Ihre Kolonialpolitik! Sie nehmen das Eigentum aller, um es wenigen zu geben. Der Sozialismus will das Eigentum wenigen nehmen, um es allen zu geben. 1. Dezember 1906, Reichstag


KOLONIALISMUS Die koloniale Vergangenheit Deutschlands wird bis heute häufig verdrängt, verharmlost oder ignoriert – die „Narben des kollektiven Erinnerns“ (Wole Soyinka) sind noch nicht verheilt: In vielen deutschen Städten ehren Straßennamen nach wir vor Kolonialisten – nicht etwa ihre Opfer oder Gegner/innen. August Bebel zählte zu den schärfsten und scharfsinnigsten Kritiker/innen deutscher Kolonialpolitik und seine leidenschaftlichen Einwürfe im Reichstag zählen zu den Sternstunden des deutschen Parlamentarismus. Wenn er die Zustände in den Kolonien anprangerte und auch vor der Benennung von Taten und Tätern nicht zurückschreckte, vermerkte das Protokoll: „Große Unruhe rechts und in der Mitte“, „Glocke des Präsidenten“, „Große Unruhe und Zurufe“. Schon 1894 hatte er den Befürworter/innen deutscher Kolonialpolitik im Reichstag schonungslos den Spiegel vorgehalten: „Äußerlich Christenthum, innerlich und in Wahrheit Prügelstrafe, Weibermißhandlung, Schnapspest, Niedermetzelung mit Feuer und Schwert, mit Säbel und Flinte. Das ist Ihre Kultur. Es handelt sich um ganz gemeine materielle Interessen, ums Geschäftemachen und um nichts weiter!“ Damit hatte August Bebel das Wesen und die Folgen des Kolonialismus auf den Punkt gebracht. Der klassische Kolonialismus mit all seinen Verwerfungen ist heute zum Glück verschwunden. Aber wenn auch heute wieder über Einflussnahme und Interventionen in anderen Teilen der Welt diskutiert wird, ist August Bebels Ausgangsfrage bedenkenswert: Geht es um Befreiung und Moral oder um Geschäftemachen und Ausbeutung? Eine Auseinandersetzung mit der eigenen kolonialen Geschichte kann helfen, die Gegenwart kritisch zu hinterfragen. Hinsichtlich des Kolonialismus jedenfalls hat Genosse Bebel einige wegweisende Stichpunkte hinterlassen.

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Wir können im voraus erklären, die antisemitische Bewegung wird und muß für immer verschwinden, ohne daß sie eine Spur ihrer Wirksamkeit hinterläßt, in dem Augenblick, wo ihre Ursachen beseitigt werden. Diese werden aber nicht durch den Antisemitismus beseitigt, sondern durch den Sozialismus, indem dieser allein die sozialen Übel aus der Welt schafft, welche die antisemitische Bewegung hervorriefen. 27. Oktober 1893, SPD-Parteitag in Köln


ANTISEMITISMUS August Bebels Hoffnung, der Antisemitismus möge verschwinden und keine Spuren hinterlassen, hat sich bis heute leider nicht erfüllt. Wohl etwa 20 Prozent der Bevölkerung hegen nach wie vor antisemitische Ressentiments und dies über alle Milieus und politischen Lager hinweg. Für August Bebel war der Kampf gegen den Antisemitismus zeit seines Lebens eines der wichtigsten politischen Anliegen. Dabei gingen seine Überlegungen weit über den Ausspruch vom „Sozialismus der dummen Kerls“ hinaus, welcher in dieser Form gar nicht von Bebel stammte. Er hatte gute Gründe, sich mit aller Schärfe gegen den Antisemitismus zu wenden: Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte er den steilen Aufstieg einer antisemitischen Bewegung verfolgen können. August Bebel sah im Antisemitismus eine bürgerliche Bewegung, die kapitalismuskritische Gefühlswallungen einseitig auf das Judentum als Sündenbock lenke. „Der Antisemitismus“, so Bebel, „wird heute von den verschiedenen bürgerlichen Parteien und Personen als Abzugskanal benutzt, um die Aufmerksamkeit von der eigenen volksfeindlichen Handlungsweise […] abzulenken.“ Und so war es für Bebel die Aufgabe der Sozialdemokratie, diese verängstigten Schichten durch Bildungsarbeit und Aufklärung davon zu überzeugen, dass die Verwerfungen des Kapitalismus nur im und durch den Sozialismus zu beseitigen seien. Bebels Analyse ist heute noch aktuell, auch wenn uns seine Sprache manchmal fremd vorkommt. So war denn der Antisemitismus für August Bebel nicht nur aufgrund seiner gegen Juden und Jüdinnen gerichteten Menschenfeindlichkeit verwerflich, sondern als generelle Kampfansage an den Fortschritt. „Die Sozialdemokratie“, so schloss er seinen Vortrag auf dem SPD-Parteitag von 1893 in Köln, „bekämpft den Antisemitismus als eine gegen die natürliche Entwicklung gerichtete Bewegung“, keine Demagogie könne Menschen aus ihrem Elend befreien, sondern „nur die Verwirklichung des Sozialismus“. 31


Die mohammedanisch-arabische Kulturperiode ist das Verbindungsglied der untergegangenen griechisch-römischen und der alten Kultur überhaupt und der seit dem Renaissancezeitalter aufgeblühten europäischen Kultur. Die letztere hätte ohne dieses Bindeglied schwerlich so bald ihre heutige Höhe erreicht. Das Christentum stand dieser ganzen Kultur-Entwicklung feindlich gegenüber. Und so kann man mit Fug und Recht sagen: Die moderne Kultur ist eine antichristliche Kultur. August Bebel: Die Mohammedanisch-Arabische Kulturperiode (1884)


ISLAM Zu Bebels Zeiten war der Islam eine Religion, die in Mitteleuropa noch wenig Bedeutung hatte. Als August Bebel sich mit dem Islam beschäftigte, lebten in Deutschland nur wenige Muslime und die erste Moschee auf deutschem Boden sollte erst 1915 eingeweiht werden. Es war im Jahr 1884, als Bebel seine Schrift „Die mohammedanisch-arabische Kulturperiode“ fertigstellte. Er hatte gerade einige Zeit, sich Themen zu widmen, die nicht im Zentrum staatlicher Aufmerksamkeit standen: Die Sozialdemokratie war durch das Sozialistengesetz verboten, 1881 war Bebel nicht in den Reichstag gewählt worden. August Bebel führte seine Auseinandersetzung mit dem, was er als „den Islam“ wahrnahm, als Kritik an zeitgenössischen Zuständen in Deutschland. „Der Islam“ diente ihm dabei als kritischer Spiegel. Bebel stellte fest, dass der Islam zwischen dem 7. Jahrhundert und der Renaissance über fast ein Jahrtausend hinweg die führende kulturelle Kraft in der Welt gewesen war. Metropolen wie Damaskus, Kairo oder Cordoba waren zu Lebzeiten Bebels mit jeweils um die 250 000 Einwohner/innen mehr als doppelt so groß wie Paris oder Rom. Besonders bemerkenswert erschien Bebel, dass islamische Gelehrte das Wissen der Antike in Mathematik, Medizin oder Philosophie aufbewahrt und weiterentwickelt hatten. Die christliche Kultur des europäischen Mittelalters dagegen kannte die antiken Schriften lange Zeit nicht bzw. lehnte sie ab. Bebel hob außerdem die Toleranz „des Islam“ gegenüber Andersdenkenden hervor. In den schillerndsten Farben schildert er in seiner Schrift die Offenherzigkeit von Muslimen und Muslima in Spanien bis zur Eroberung durch Christen im 15. Jahrhundert. Daraus schloss Bebel, das Christentum sei im Grunde genommen kulturfeindlich: Der Islam habe die antike Kultur für die Neuzeit gerettet, die moderne Kultur sei also eine antichristliche. 33


Das damalige Berlin kann sich mit dem heutigen in nichts vergleichen‌ Berlin als GroĂ&#x;stadt ist wirklich erst nach dem Jahre 1870 aus dem Zustand der Barbarei in den der Zivilisation getreten. August Bebel: Aus meinem Leben (1910–14)


BEBEL IN BERLIN Obwohl August Bebel als Reichstagsabgeordneter für Jahrzehnte in Berlin wirkte, hat er dort offiziell nie gewohnt: Der heutige Ortsteil Schöneberg im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, in dem er seit 1890 Quartier nahm, wurde erst im Jahr 1920 durch das Groß-Berlin-Gesetz eingemeindet. Dennoch war Bebel natürlich in der Hauptstadt präsent. Man sollte meinen, dass der „Arbeiterkaiser“ im „roten Berlin“ auch heute einen prominenten Platz im Stadtbild einnimmt. Dies ist aber nicht der Fall, die Erinnerung an August Bebel nimmt sich in Berlin eher bescheiden aus. Es gibt eine August-Bebel-Straße in Lichtenberg und natürlich den Bebelplatz in Mitte, an seinem ehemaligen Wohnhaus in der Hauptstraße 97 befindet sich eine Gedenktafel. Viel mehr gibt es in Berlin nicht, 1994 wurde sogar die August-Bebel-Oberschule in Berlin-Mitte in John-Lennon-Gymnasium umbenannt. Ein lebendiger Erinnerungsort befindet sich allerdings im Kurt-Schumacher-Haus im Wedding, Müllerstraße 163: Das August Bebel Institut (ABI). Als es 1947 in schwierigen Zeiten gegründet wurde, schrieb Kurt Schmidt, der das Projekt maßgeblich angeschoben hatte, in euphorischen Worten: „Er ist Symbol! Sein kämpferischer, freiheitlicher Geist soll dieses Haus beherrschen. So wie er die Menschen und Sozialisten seiner Zeit begeisterte und ihnen die Wege wies, soll dieses Haus eine Kraftquelle der heutigen sozialistischen Bewegung werden.“ Diese Namensgebung war eine direkte Kampfansage an die SED, welche Bebel selbst gerne für sich vereinnahmt hätte. So stand und steht August Bebel auch und gerade in Berlin für die Emanzipation durch Bildung und den Glauben an eine bessere Zukunft – auch wenn Bebel wohl Leipzig als seine Heimat bezeichnet hätte.

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ÜBER BEBEL Er war eine einzige Erscheinung innerhalb der deutschen (man kann sagen innerhalb der „europäischen“) Arbeiterbewegung. (Karl Marx, 1882) Als ich Ende der achtziger Jahre als blutjunge Frau Bebels Buch ‚Die Frau und der Sozialismus‘ in die Hand nahm, da ging es mir, wie es so vielen, vielen Proletarierfrauen ebenso ergangen ist: Wie Schuppen fiel es uns von den Augen (…). (Luise Zietz, 1913) Unsterblich ist August Bebels Name in den dankbaren Herzen der deutschen Arbeiterschaft und der Arbeiterschaft aller Nationen eingetragen, und (...) als einer der gewaltigsten Streiter für das Recht der Bedrückten wird er fortleben und unvergänglich erstrahlen im Bildersaal der Helden der Menschheit. (Victor Adler, 1913) August Bebel starb wie ein Kaiser. Und er war es ja auch gewesen – lange zu Lebzeiten: ein Kaiser der Arbeiter und der kleinen Leute, in Deutschland und weit darüber hinaus. (Willy Brandt, 1980) August Bebel ist ja eine ganz große Verpflichtung. Was für ein Gigant, der die ganze Arbeiterbewegung angestoßen hat. (Günter Wallraff, 2013)


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