2020 11 Asphalt

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2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

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PUNK POSITIV GESPIELT

GESTRANDET

GEFANGEN

Campino über Eltern, Fußball und Musik.

Auf der Straße schwindet die Hoffnung von Wanderarbeitern.

Jeder zehnte Deutsche erlebt Depressionen.


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Gefangen im Teufelskreis

In der Obdachlosenszene wird zunehmend polnisch gesprochen. Von Menschen, die in Deutschland auf ein besseres Leben gehofft haben. Menschen wie Stasiek, Marzenka oder Jacek.

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Notizblock

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Angespitzt

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Anonym aber nicht vergessen Rund 350 Menschen werden in Hannover jährlich vom Ordnungsamt bestattet. Anonym und ohne Trauergäste.

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Wir gedenken ... der im Jahr 2020 verstorbenen wohnungslosen Männer und Frauen.

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Schlaflos am Tag Für viele Drogenabhängige ist Schlafen Luxus. Weil selbst Notunterkünfte für ihr Leben nicht passend sind. Tagesbetten könnten die Lösung sein.

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Aus der Szene

23 Das muss mal gesagt werden 24 Aus dem Leben von Asphalt-Verkäufer Thomas

12 Weggehört Noch immer werden Depressionen unterschätzt und häufig als Charakterschwäche betrachtet. Tatsächlich sind sie eine der häufigsten Volkskrankheiten unserer modernen Welt.

Rund um Asphalt/Impressum

34 Buchtipps 35 Kulturtipps 38 Silbenrätsel 39 Brodowys Momentaufnahme

Titelbild: Daniel Hofer

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Das Asphalt-Prinzip

29 Punk positiv

Campino ist Deutschlands bekanntester Punkrocker. Jetzt ist seine Autobiografie »Hope Street« erschienen. Darin erzählt er von seiner Liebe zu England, seiner Familie und den Toten Hosen.

Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer sind Menschen mit brüchigen Biographien. Irgendwann sind sie in ihrem Leben durch schwere Schicksale, Krankheiten oder traumatische Erlebnisse aus der Bahn geworfen worden. Heute versuchen sie, durch den Verkauf des Asphalt-Magazins ihrem Leben wieder Struktur und Sinn zu verleihen. Viele sind oder waren wohnungslos, alle sind von Armut betroffen. Sie kaufen das Asphalt-Magazin für 1,10 Euro und verkaufen es für 2,20 Euro. Asphalt ist eine gemeinnützige Hilfe-zur-Selbsthilfe-Einrichtung und erhält keinerlei regelmäßige staatliche oder kirchliche Zuwendung. Spenden Sie bitte an: Asphalt gGmbH bei der Evangelische Bank eG, IBAN: DE35 5206 0410 0000 6022 30, BIC: GENODEF1EK1.


die Menschen kamen mit Hoffnungen. Auf Gelegenheitsarbeit, auf gutes Geld, wie Glücksritter. Aus Osteuropa, konkret Polen. In unserer Reportage haben wir aus Objekten städtischer Ordnungspolitik Subjekte gemacht: Wir haben einfach mit den Menschen gesprochen und erfahren, was es heißt, Chancen der Europäischen Freizügigkeit zu suchen und zu scheitern. Und sind bei der Recherche in den Tagestreffs der Wohnungslosenhilfe sowie am Raschund Weißekreuzplatz dabei auch immer wieder auf eine große Portion Durchhaltewillen gestoßen. Und auf einen Teufelskreis. Mit dem November kommt zudem der Blues. Dunkle, verregnete Tage machen depressive Stimmung. Die Stimmung geht aber auch wieder. Depressionen bleiben. Lange Zeit. Menschen mit Depressionen leben oft in Scham, weil irgendwas sie da bremst, sie schwächt, aber der Körper doch eigentlich okay ist. Jeder zehnte Deutsche hat oder hatte schonmal eine so genannte depressive Episode. Eine Volkskrankheit ersten Ranges. Wir haben für Sie Betroffene und Experten gesprochen. Und hoffen damit das Feld und Herzen weit zu machen. Schon super positiv lächelt uns dagegen unser Titelmodel an. Ihm geht es gut. Heute. Der Frontmann der Punkband Die Toten Hosen lebt sein Leben wie ein Fußballspiel. Mit Fouls, Frust, Rückständen, Sieg und Niederlagen. Jetzt hat er ein Buch geschrieben. Das sind Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen. Und ein ehrlicher, ganz privater Blick auf seine Familie. »Steh auf, wenn du am Boden bist …« hat Fan-Generationen geprägt. Darum steht Campino bei Asphalt im Interview goldrichtig.

Volker Macke · Redaktionsleiter

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Liebe Leserinnen, liebe Leser,

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Foto: V. Macke

Arme Kinder abgehängt

Zwei Obdachlose auf der Straße gestorben Hannover. Zwei obdachlose Menschen sind im Oktober auf der Straße gestorben. Radovan wurde 34, Dariusz 45 Jahre alt. Beide Personen waren seit längerem in der Hilfeszene bekannt. »Wir haben ihrer heute an den Orten ihres Versterbens gemeinsam mit unseren Besuchern gedacht, zusammen für sie gebetet und uns von ihnen verabschiedet. Viele ihrer Freunde aus der Szene waren sehr betroffen über den plötzlichen Tod ihrer viel zu früh verstorbenen Bekannten. Wir haben zwei Kerzen für sie angezündet und Blumen niedergelegt«, so Ursula Büchsenschütz, Leiterin der diakonischen ZBS, die den zentralen Kontaktladen »Mecki« betreibt. Die Tode der beiden Osteuropäer kommen politisch zur Unzeit. Kurz vorher erst hatte die Landeshauptstadt die letzten Obdachlosen aus dem Corona-Notprogramm wieder auf die Straße gesetzt. Und stehen damit exemplarisch für viele andere, die keine Ansprüche an das Sozialsystem haben und tagsüber die Notschlafstellen, Massenunterkünfte verlassen müssen. Rund 400 Menschen. Oberbürgermeister Belit Onay steht nun unter Beschuss. Die Opposition im Rat verlangt Aufklärung und auch die Ampelkoalition geht in Teilen auf Distanz. Die SPD fordert offen, sofort alle Notschlafplätze ganztägig zu öffnen, die Lebensmittelausgaben zu sichern. »Niemand konnte einen Krankenwagen für sie rufen, es wurde ihnen nicht gewährt in einem Bett zu versterben«, so die »Mecki«-MitarbeiterInnen in einem Brief an Asphalt. MAC

Hannover. Die Diakonie in Niedersachsen hat mehr Unterstützung für Menschen mit wenig Geld gefordert. »Armut macht einsam und krank«, sagte Diakonie-Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke. In Deutschland seien nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 15,9 Prozent der Bürger von Armut bedroht. Untersuchungen zeigten, dass besonders Familien mit mehreren Kindern, Alleinerziehende, überschuldete Menschen oder Bürger mit Migrationshintergrund von Armut betroffen sind. Weil kein Platz sei, könnten diese Menschen etwa Freunde nicht nach Hause einladen. In der Corona-Krise seien arme Kinder durch die Schließung der Schulen noch weiter abgehängt worden, kritisierte er. Sie hätten weder Laptop und Drucker gehabt, um am Homeschooling teilnehmen zu können, noch einen halbwegs ruhigen Arbeitsplatz. Die Regelsätze und die Leistungen für Bildung und Teilhabe müssten dringend erhöht werden. Erneute zeitweise Schulschließungen bedeuteten für arme Familien wieder erhebliche Mehrkosten, weil die gemeinsame Mittagsverpflegung nicht mehr zur Verfügung stehe. EPD

Neuer Streit um Asse Remlingen/Kr. Wolfenbüttel. Umweltschützer aus der Umgebung des Atommülllagers Asse wollen sich nicht damit abfinden, dass das Zwischenlager für die zu bergenden radioaktiven Abfälle in unmittelbarer Nähe des maroden Bergwerks errichtet wird. Und haben eine gemeindeübergreifende Demonstration durchgeführt. In das frühere Salzbergwerk Asse II wurden zwischen 1967 und 1978 rund 126.000 Fässer mit schwach und mittelradioaktivem Atommüll sowie chemischen Abfällen eingelagert. Weil die Grube voll Wasser zu laufen droht und einsturzgefährdet ist, sollen die Abfälle nach Möglichkeit an die Oberfläche geholt und zunächst in ein Zwischenlager gebracht werden. Die Bundesgesellschaft für Endlagerung will das Zwischenlager nahe am Bergwerk errichten. Bürgerinitiativen und Gemeinden fordern dagegen, dass auch weiter entfernte Standorte geprüft werden. Weil es keine Einigung gibt, hatten vor kurzem sowohl viele Initiativen als auch die Asse-II-Begleitgruppe ihre Mitarbeit im Begleitprozess ausgesetzt. EPD


ZAHLENSPIEGEL »DAMENWAHL«

LAK warnt vor mehr Armut

Bremerhaven. Rund 700 Menschen haben nach Polizeiangaben in Bremerhaven weitgehend friedlich gegen eine Kundgebung der NPD protestiert. Aufgerufen zu der Gegendemo hatte ein Bündnis um die Gruppe »Bremerhaven bleibt bunt«. Dem Bündnis hätten rund 40 Anhänger der rechtsextremistischen NPD gegenübergestanden, zählte die Polizei. Die NPD und die Partei »Die Rechte« waren aufmarschiert, um gegen das vom Bremer Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) für das kleinste Bundesland ausgesprochene Verbot von Reichskriegsflaggen in der Öffentlichkeit zu demonstrieren. Entsprechende Flaggen wurden dem Polizeisprecher zufolge bei der Kundgebung auch gezeigt. Zuvor hatte zunächst das Verwaltungsgericht und dann auch das Oberverwaltungsgericht ein Verbot der Stadt Bremerhaven gekippt, wie der Polizeisprecher bestätigte. »Allein der Einsatz von schwarz-weiß-roten Flaggen sowie Reichskriegsflaggen auf einer Versammlung des rechten Spektrums genügt auch beim Auftreten stadtbekannter Rechtsextremisten nicht, um einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung anzunehmen«, hieß es vom Verwaltungsgericht. Bremens Innensenator Mäurer hatte im September das Zeigen von Reichskriegsflaggen im kleinsten Bundesland verboten. EPD

Hannover. Die Landesarmutskonferenz Niedersachsen (LAK) sieht die Gesellschaft infolge der Corona-Pandemie mehr gespalten als je zuvor. Der Dachverband von Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden in Niedersachsen forderte jetzt mehr Fördergelder und Soforthilfen sowie den Ausbau von öffentlichen Hilfeeinrichtungen. Es müsse eine Erhöhung des Hartz IV-Satzes um mindestens 100 Euro und einen sofortigen Hilfsbetrag von 1.000 Euro geben, so LAK-Sprecher Thomas Uhlen von der Caritas. Die geplante Erhöhung von Hartz IV im nächsten Jahr um 14 Euro pro Monat für Alleinstehende sei »völlig unzureichend und die Wohnungssituation in Ballungsräumen nach wie vor dramatisch«. Auffallend viele Menschen aus dem Niedriglohnsektor seien vermehrt auf Transferleistungen angewiesen, so Co-Sprecher Lars Niggemeyer vom DGB: »Es wird immer offensichtlicher: Vor dem Virus sind nicht alle gleich. Wer arm ist, ist in der Krise noch ärmer dran als der Rest. Wachsende Arbeitslosigkeit erhöht das Armutsrisiko. Wir fordern die Abschaffung von prekärer Arbeit durch die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen.« KSP

In der Region Hannover waren zum Jahreswechsel 2019/20 98.151

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einschließlich 17 Jahren mit Hauptwohnsitz registriert. Und damit 5.321 mehr als Mädchen. Das waren 92.830, davon 52.167 im Umland und 40.663 in der Landeshauptstadt. Insgesamt 48,6 % der Jugend ist also weiblich. Besonders tapfer müssen die Seelzer

Jungs sein, dort ist der Mädchenanteil mit 47,5 % am geringsten. Oder in die Wedemark (resp.

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700 gegen NPD-Kundgebung

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ANGESPITZT – DIE GLOSSE

Geht es Ihnen auch so? Was war das für ein verrückter Sommer? Ruhig war er, solidarisch war er, fokussiert auf das Wesentliche. Die Menschen achteten aufeinander, nahmen das Ihre zurück, sahen das Andere. Voll weird, total verrückt. Die Leute machten Dinge möglich, die man sich in kühnsten Träumen nicht vorstellen konnte. Klatschten ehrlich Beifall. Nahmen auf, gaben Stützen. Setzten alle Regeln des bisherigen Lebens außer Kraft: Kaum Konkurrenz, weniger Neid, weniger Ich, ganz viel Wir. Menschen sahen Menschen als Menschen. Da konnte einem schon mal ganz schwummerig werden. Das kann ich Ihnen aber mal sagen. Nun ist der »kurze Sommer der Anarchie« (Enzensberger) vorbei. Alles geht langsam wieder seinen geordneten Gang: Medien bashen wieder Drogennutzer, die Stadt setzt Obdachlose wieder auf die Straße, und ebendort sterbende Menschen werden wieder parteitaktisch ausge-

»LOST«

schlachtet. Gott sei Dank. Haltlos war mir die Welt in diesem Sommer geworden. Jetzt ist jeder wieder an seinem Platz. Oben ist wieder oben, unten wieder unten. Und mittendrin Sie und ich. Volker Macke

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GEFANGEN IM TEUFELSKREIS In der Obdachlosenszene wird zunehmend polnisch gesprochen. Von Menschen, die in Deutschland auf ein besseres Leben gehofft haben, Menschen deren Hoffnungen nun jedoch auf der Straße schwinden. Menschen wie Stasiek, Marzenka, Jacek oder Krzysiek. Der Sozialarbeiter Pascal Allewelt begrüßt nahezu jede/n BesucherIn wie eine/n enge/n FreundIn, den/die er lange Zeit nicht mehr gesehen hat. Der Kontaktladen Mecki, direkt am Raschplatz gelegen, ist eine niedrigschwellige Einrichtung für Personen in sozialen Schwierigkeiten. Einem der Besucher versetzt Pascal einen Knuff in die Seite und startet einen flapsigen deutsch-polnischen Smalltalk. Was an diesem Besucher sofort auffällt, sind seine blutunterlaufenen Augen. Er wirkt lichtemp-

findlich, blinzelt oft und scheint sich für seine offensichtliche Bindehautentzündung zu schämen, Blickkontakt vermeidet er. Gegenüber dem Sozialarbeiter begründet er die akute Entzündung damit, dass ein Bekannter von der Straße wie aus dem Nichts auf ihn eingeschlagen habe. Spricht der obdachlose Mann von sich selbst, ist wenig Zuversicht herauszuhören. Er habe bei einer Zeitarbeitsfirma gearbeitet, schlafe aber seit etwa einem Jahr am Hauptbahnhof.


Jacek musste seinen Job in Lehrte aufgeben. In Hannover verbrachte er die Wintermonate auf der Straße.

Krzysiek hat schon immer von einem Leben in Deutschland geträumt. Aber »die deutsche Sprache geht einfach nicht in den Kopf rein«.

Als er sich von seiner Partnerin trennte, nicht als Bedürftiger hier sei, inzwischen sei er mit Menschen in Berührung ge- eine Bleibe habe und Sozialleistungen kommen, die einen Hang zu Kriminalität beziehe. Das Essen solle für die ausreiund Alkohol hatten. Er habe sich von sei- chen, die es wirklich nötig hätten. Stasiek nem Freundeskreis beeinflussen lassen weiß wie es ist, wenn man es wirklich und seinen Job verloren. Seine Doku- nötig hat: 17 Jahre hat der Pole in Hannover Platte gemacht. Er mente habe ihm jemand kenne so gut wie jeden in auf der Straße gestohlen, »Für mich gibt der Szene, sagt er voller weswegen er sich als »No es keinen Grund Überzeugung. Deswegen Name« bezeichnet. Neue komme er regelmäßig Papiere seien nicht so mehr, um nach hierher und tausche sich einfach neu zu organisiePolen zurück­ mit Freunden von der ren – der Alkohol zwinge zukehren.« Straße aus. Heute bittet ihn immer wieder in die Marzenka er im Kontaktladen zuKnie. Pascals Miene verdem darum, ihm einen finstert sich allmählich. Auf Deutsch erklärt er: »Deine Augen, Arzttermin zu organisieren. Weil er kein Junge. Wenn du nicht langsam zum Arzt Deutsch spricht, benötige er dabei Hilfe. gehst, verlierst du dein Sehvermögen.« Zur besseren Verständigung zückt er sein Der Pole beherrscht nur Bruchstücke der Handy und holt jemanden in die Leitung, deutschen Sprache, versteht aber was Sa- der sein Anliegen übersetzt und streckt che ist und winkt resigniert ab. Der Sozi- den SozialarbeiterInnen das Telefon entalarbeiter lässt sich nicht abwimmeln. Er gegen. formuliert es einfacher: »Du zum Arzt, sonst Augen kaputt!«. Genervt und in »Sogeffekt« einem überraschend guten Deutsch entgegnet der Obdachlose: »Das wird schon wieder. Wenn nicht, dann nicht.« Die Kreativität, die sprachliche Barrie»Zum Arzt gehen ist Vertrauenssa- ren aufweichen soll, ist für die Sozialche«, sagt Michael Schroeder-Busch. Der arbeiterInnen in den hannoverschen Diakonieberater kümmert sich seit fünf Einrichtungen inzwischen eine gewohnJahren um Zuwanderer aus Süd-Osteu- te Übung. Die SozialarbeiterInnen des ropa. Von seinem Büro aus sieht er über Kontaktladens Mecki haben das Gefühl, die Dächer der hannoverschen Altstadt, dass der Anteil von obdachlosen Posein Blick gilt jedoch den Menschen auf lInnen weiter ansteige und jetzt schon der Straße. Viele Bedürftige trauten sich überdurchschnittlich hoch sei. Laut teils aus Scham, teils wegen fehlender Schroeder-Busch kommen viele OsteuKrankenversicherung nicht, Hilfe anzu- ropäerInnen mit dem Wunsch, ihre wirtnehmen. schaftliche Situation zu verbessern, nach Nicht so Stasiek. Der 62-Jährige sitzt Deutschland. Allerdings: »Wer dort reich im Kontaktladen Mecki, aus einem Plas- ist, findet sich hier maximal im Mitteltikbecher trinkt er seinen schon längst stand wieder. Wer dort arm ist, ist hier kalt gewordenen Kaffee: »Der Haupt- super arm.« grund dafür, dass ich hierbleibe und EU-BürgerInnen dürfen sich dank des nicht wieder zurück nach Polen gehe, Gesetzes zur Arbeitnehmerfreizügigkeit ist die ärztliche Versorgung. Die Kran- bei der Arbeitssuche frei in der EU bekenhäuser hier haben mir öfter schon wegen, müssen sich in dieser Zeit jedoch das Leben gerettet.« Von dem Angebot selbst versorgen können und haben kein der Frühstücksausgabe möchte er kei- Anrecht auf Sozialleistungen. Dieses Aufnen Gebrauch machen. Er meint, dass er enthaltsrecht besteht höchstens für sechs


denn weinen? Darüber, dass ich sterbe? Ich fragte ihn: ›Na Doktor, soll ich heute sterben oder morgen‹?« Obwohl der Pole die Unterhaltung scheinbar auf die leichte Schulter genommen hat, räumt er ein, in der folgenden Nacht nicht geschlafen zu haben. Am Tag darauf kaufte er sich drei Flaschen Vodka und traf sich mit den Jungs. Gemeinsam tranken sie zwei davon aus. »Dann nahm ich meinen Rucksack ab und holte die letzte Flasche heraus. Da war es Fünf vor Zwölf in der Nacht. Ich sagte: ›Ab morgen trinke ich nichts‹, und da lachten alle. Ich setzte an, trank die halbe Flasche und stellte sie weg. Da war es eine Minute vor Zwölf. Dann trank ich ein Mineralwasser und bin schlafen gegangen. Am nächsten Morgen kaufte ich mir Wasser und Milch. Damit bin ich immer umhergezogen und die Leute haben schon gelacht, wenn sie mich aus der Ferne sahen. Es haben sich alle gewundert, dass ich aufhören konnte. Aber ich habe aufgehört.«

Stolz wegstecken Bei einem Rundgang durch die Innenstadt, zeigt er die Orte, an denen er in der Vergangenheit sein Lager aufschlug. Er schlief am Pavillon und unter einer Trauerweide auf dem AndreasHermes-Platz, deren ausladenden Äste sich bis zum Boden bogen. Das war sein kleines bisschen Privatsphäre. Eine Zeit lang nannte er auch eine Garage in der Nähe des Raschplatzes sein zu Hause und über den Kröpcke erzählt er: »Hier gibt es kaum

Die 43-jährige Marzenka verbringt die Nächte mit ihrem Freund

In einem Einkaufswagen bewahren Marzenka und

auf dem Weißekreuzplatz. In der Notunterkunft habe man sie als

Radovan ihr gesamtes Hab und Gut auf. Die Sachen

Paar nicht ernst genommen und voneinander trennen wollen.

bekamen sie in verschiedenen Hilfseinrichtungen.

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Monate – es sei denn, man hat einen Job gefunden. Viele reisen nach Ablauf der Frist aber nicht regelkonform aus und Hartz IV können sie erst nach einer nachgewiesen Aufenthaltszeit von fünf Jahren beantragen. Um diese Zeit lückenlos nachweisen zu können, ist Kreativität gefragt. Krankenhausbesuche und die Registrierung bei der Polizei gelten als Belege – Dinge, die während der Jobsuche nicht erstrebenswert sind. In der Zeit müssen sie zudem, zumindest zeitweise, sozialversicherungspflichtig beschäftigt sein. Pascal hat das Gefühl, dass man es den Migranten nicht zu bequem machen wolle. Er kritisiert, dass der deutsche Staat die osteuropäischen Obdachlosen aus Angst vor einem »Sogeffekt« unwürdig behandelt. 1994 floh Stasiek aus dem Bezirk Podlachien vor der Justiz. Mit Freunden habe er damals eine Bar demoliert. ErmittlerInnen brachten die Tat mit den Verbrechen der »Pruszkow-Gang« in Verbindung, die in den 90er Jahren zu den mächtigsten Verbrechergruppen Polens gehörte. Mit der organisierten Kriminalität habe er nichts zu tun, erzählt er stolz, dennoch sei er derjenige gewesen, der sowohl seine als auch die Ausreise seiner Freunde organisierte. In Hannover gewährte ihm ein Bekannter Obdach. Doch als der verstarb, landete Stasiek auf der Straße. In Polen habe er schon gerne mal zur Flasche gegriffen. Inzwischen sei er dem Alkohol endgültig verfallen gewesen und nahm sein Schicksal auf der Straße an. Er trank jahrelang so viel, dass vor neun Jahren ein Arzt die Prognose aufstellte: er habe nur noch ein halbes Jahr zu leben. »Da habe ich ihn angeschaut und fing an zu lachen. Sollte ich

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Nach neun Jahren kommt Stasiek zum ersten Mal an den Ort zurück, an dem er sechs Jahre lang sein Nachtlager aufschlug. Heute versperrt ein hoher Zaun den Zutritt.

»Na Doktor, soll ich heute sterben oder morgen?« Stasiek

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einen Hauseingang, in dem ich mein Quartier nicht für mindestens eine Nacht aufbaute.« Nach Jahren des Umherstreunens habe er, unweit vom Opernplatz, einen Ort gefunden, an dem er sich zurückziehen konnte. Über eine unauffällige Zufahrt gelangte Stasiek zu einem Stellplatz. Dort habe er sich mit Schlafsäcken eine Ecke hergerichtet, die über sechs Jahre einzig und allein von ihm genutzt worden sei. Normalerweise wisse jeder auf der Straße, wo der

andere pennt. Dem 62-Jährigen gelang es aber, sein Lager bis zuletzt geheim zu halten. Der Weißekreuzplatz ist in der Szene eine beliebte Anlaufstelle für die Nacht. So auch für die 43-jährige Marzenka und ihren Freund Radovan. Der Platz ist seit etwa drei Monaten der Lebensmittelpunkt des Pärchens. Als SaisonarbeiterInnen waren sie in einer Baumschule in Mecklenburg-Vorpommern beschäftigt. Nachdem ihre Arbeit beendet war, beschloss das Paar nach Berlin zu gehen, weil sie hörten, dass man dort gut Fuß fassen könnte. Beim Einkaufen trafen sie auf andere Polen, die sich ihnen gegenüber herzlich und gastfreundlich zeigten. Sie boten ihnen an, bei ihnen unterzukommen und luden sie zu einem Bier ein. Nach wenigen Schlucken verloren beide ihr Bewusstsein und wachten am nächsten Morgen völlig ausgeraubt auf der Straße auf – sie glauben, dass K.O.-Tropfen im Spiel waren. Dokumente hatten sie nicht mehr, die Polizei konnte nicht helfen. So verloren sie jede Hoffnung auf Beschäftigungsmöglichkeiten und eine Wohnung. Nun mussten sie lernen, sich auf der Straße durchzuschlagen. Betteln – das sei nie eine Option gewesen. Dabei sei man so sehr auf die Gnade von Anderen angewiesen. Stattdessen sammelten sie Pfandflaschen und bestreiten ihren Lebensunterhalt heute noch auf diese Art. »Verdammt, aber den Stolz mussten wir dann erstmal in die Hosentasche stecken«, erinnert sich die Polin. Während sie erzählt, sitzt sie auf einer der Bänke am Weißekreuzplatz, hat ihre Beine mit einem Schlafsack zugedeckt und raucht einen Zigarillo. Auf einmal schreckt Marzenka auf, weil Vogeldreck auf ihrer Schulter landet. »Man sagt ja, dass das Glück bringt – das kann ich ja


Integration durch Sprache Um Sprachbarrieren aufzubrechen und soziale Integration einfacher zu machen, rief die AWO der Region Hannover, gemeinsam mit Asphalt, einen Deutschkurs für polnische Obdachlose ins Leben. Der 35-jährige Jacek nimmt daran teil. Im November 2019 kam er nach Lehrte, um bei DPD zu arbeiten. Nach vier Operationen hat er sich nicht mehr in der Lage gesehen, die körperliche Arbeit dort auszuführen. Er fuhr nach Hannover und verbrachte seine erste Nacht am Kröpcke. Eine Unterkunft konnte er sich nicht leisten, weswegen er in den folgenden sieben Monaten in der Innenstadt blieb und seinen Schlafplatz aufschlug, wo auch immer es sich anbot. In dem Kurs erwähnte Jacek zufällig seine deutschstämmigen Großeltern und damit auch seine deutsche Staatsbürgerschaft. Er erzählt gelassen, dass ihm nicht bewusst gewesen sei, dass er mit diesem Status Anspruch auf Sozialleistungen erheben könne. Er wirkt ausgeglichen und ruhig und spricht schmunzelnd davon, dass er sich nicht darüber ärgere. Man könne sowieso nichts mehr än-

dern. »Ich war nie wütend – auf nichts. Manchmal bin ich von etwas gereizt, aber das behalte ich für mich, gehe spazieren und lasse das ruhen. Ich treibe mich nicht herum, ich balle meine Fäuste nicht, ich spucke nicht. Ich bin nicht so verbissen.« Nach Polen möchte er nicht zurück. Jetzt sei er schon einmal hier und das Leben bekomme allmählich Struktur. Trotz seiner Möglichkeiten, möchte er sich jedoch nicht auf Sozialleistungen ausruhen. Seinen Lebensunterhalt werde er zukünftig als Asphalt-Verkäufer bestreiten. Krzysiek hat schon als Jugendlicher von einem Leben in Deutschland geträumt. Als Pole fühle er sich nicht, sagt er bestimmt. Nachdem seine Eltern verstarben, kam er nach Deutschland. Seine Ersparnisse reichten nicht lange aus und weil er die Sprache nicht beherrscht, finanzierte er sich sein Leben mit Betteln. Er lebte dort, wo auch immer es ihn gerade hin verschlug. Die Erwartungen auf bessere Lebensumstände, die Polen mitbringen, wenn sie hierherkommen, verpuffen reihenweise. Sie sehen sich mit zahlreichen Problemen und bürokratischen Hürden konfron»Ich war nie wütend tiert. Schamgefühle spielen eine große Rolle, ebenso – auf nichts. Manchwie Hilflosigkeit, die sich mal bin ich von etwas dadurch ergibt, dass sie sich gereizt, aber das in einem Land zurechtfinbehalte ich für mich, den wollen, dessen Sprache gehe spazieren und sie nicht sprechen. Schroeder-Busch hat die Erfahrung lasse das ruhen.« gemacht, dass die meisten Jacek völlig entwurzelt und in ihrer Situation gefangen seien. Viele hätten niemanden mehr, der hinter ihnen stehe. Ihre Armut sei nicht nur finanziell bedingt, sondern auch sozial. »Es ist ein Teufelskreis.« Krysiek würde gern von sich behaupten wollen, dass er sich heute als Deutscher fühle. Doch bis es soweit ist, fehle noch ein bisschen was. Die Sprache zum Beispiel. Krzysiek ärgert sich darüber, dass ihm das Lernen nicht leichtfällt. Aber der Kurs ist immerhin ein Anfang. Was er sich jetzt noch wünscht, ist Schuldenfreiheit. Da habe sich wegen des Schwarzfahrens und auch mehrerer Diebstähle, wie er einräumt, eine Menge angesammelt. Und eine eigene Wohnung wäre toll. Ein Wunsch, den er sich mit vielen Polen auf deutschen Straßen teilt. Text: Katja Spigiel | Fotos: Selim Korycki

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gut gebrauchen«. Das Leben am Berliner Hauptbahnhof hatte das Paar schon bald satt; immerzu seien sie behandelt worden wie störender Ballast. Als ihnen zu Ohren kam, dass es in Hannover eine gute Infrastruktur für Obdachlose gäbe, setzten sie alles auf eine Karte und nahmen den nächsten Zug. Während sie sich jetzt tagsüber damit abwechseln, auf den Einkaufswagen mit ihren Wertsachen aufzupassen und Pfand zu sammeln, träumen sie davon, eine Anstellung und eine bezahlbare Wohnung zu finden. Marzenka erklärt: »Für mich gibt es keinen Grund mehr, um nach Polen zurückzukehren. Mit meiner Familie habe ich keinen Kontakt mehr. Einzig meine Tochter würde ich gerne hier haben wollen.« Doch ihre Situation scheint aussichtslos. Sie fühlen sich verfolgt von Mahnungen und Strafandrohungen wegen des Schwarzfahrens. Nirgends können sie sich offiziell melden – weder beim Jobcenter noch als Mieter, denn sie haben Angst vor strafrechtlichen Konsequenzen. Bedrückt stellt sie fest: »Wir drehen uns im Kreis.« Pascal Allewelt kennt solche Geschichten. Viele wollten ihre Probleme in der Heimat hinter sich lassen und wenden sich von ihrem gesamten früheren Leben ab. Eine Konfrontation mit Freunden und Familie möchten sie dringend vermeiden. Während die einen noch immer an einer besseren Zukunft festhalten, ersticken andere ihre Sorgen mit Alkohol und Drogen. Dabei bewegen sich die meisten in geschlossenen Kreisen mit Gleichsprachigen in ähnlichen Situationen, so der Sozialarbeiter. Auch Schroeder-Busch weiß um das Phänomen der Gruppenbildung, sie vermittelt ein sicheres Gefühl. So gäbe es für die meisten aber keine Chance, sich gesellschaftlich zu integrieren.

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Foto: M. Biele

WEGGEHÖRT Gedrückte Stimmung, keine Lust auf irgendwas, Ängste, im schlimmsten Fall Suizidgedanken – noch immer werden Depressionen unterschätzt und häufig als Charakterschwäche betrachtet. Tatsächlich sind sie eine der häufigsten Volkskrankheiten unserer modernen Welt. »Du musst arbeiten und darfst nicht versagen. Du musst perfekt sein und darfst keine Fehler machen.« Immer wieder hat sich Sabine Thomas selbst unter Druck gesetzt. Bis sie irgendwann an ihre Belastungsgrenze stößt und diese überschreitet. Es kommt was kommen musste – Sabine Thomas bricht zusammen. Genau an Heiligabend 2016. »Eigentlich wollten wir uns gegenseitig keine Geschenke machen. Aber als meine Familie mir doch etwas mitgebracht hat, bin ich in Tränen ausgebrochen. Ich habe daraufhin die Feier verlassen und bis Neujahr fast nur noch heulend zu Hause gesessen«, erzählt die 55-Jähri-

ge und ringt auch heute noch mit den Tränen. Was Thomas damals geschenkt bekommen hat, weiß sie heute nicht mehr. »Ich glaube, es waren Kleinigkeiten. Vielleicht ein Dusch-Set oder sowas«, vermutet sie. Aber sie weiß, dieser Zusammenbruch war der Grund, sich endlich Hilfe zu suchen. Zwei Wochen später stellt ihr Hausarzt dann die Diagnose: Erschöpfungsdepression. Angefangen hat alles aber schon sehr viel früher. 2008 trennen sich Thomas und ihr Lebensgefährte. »Als ich dann noch meine Stelle als Teilzeitkraft im Einzelhandel verloren habe, ka-


Genetische Veranlagung Viele Betroffene nehmen die ersten Anzeichen einer Depression nicht ernst. Oft glauben sie, Depression habe etwas mit persönlichem Versagen zu tun hat. »Auch aus Gründen der Stigmatisierung wollen sie sich oft selbst nicht eingestehen, dass sie Hilfe brauchen«, merkt Professor Tillmann Krüger, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover an. »Dabei kann jeder Mensch, wenn die Belastungsfaktoren ausreichend stark sind, an Depression erkranken«, so der 48-Jährige Psychiater weiter. Sie kann in allen Teilen der Bevölkerung auftreten, in allen Berufsgruppen und

Bündnis gegen Depression » … ist sowas wie eine locker funktionierende Arbeitsgemeinschaft, die allein durch das gemeinsame Interesse aller Beteiligten am Thema Depression getragen wird«, erklärt Uwe Blanke vom Bündnis gegen Depression der Region Hannover. Mittlerweile existiert das Bündnis seit zwölf Jahren. Seit dem zehnjährigen Jubiläum bieten die rund 30 Mitgliedsorganisationen wie Kliniken, Krankenkassen, niedergelassene Ärzte, Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen gemeinsam jeweils in der zweiten Jahreshälfte eine zweiwöchige Veranstaltungsreihe mit dem Ziel der Aufklärung und dem Informationsaustausch für Betroffene, Angehörige, interessierte Bürgerinnen und Bürger und Fachkräfte an. »Wir wünschen uns, dass die Depression irgendwann in den Köpfen aller Leute als eine Erkrankung zählt, wie jede andere auch. Dass sie nicht als persönlicher Makel eines Menschen gesehen wird, der nicht will, der nicht kann, der willensschwach ist und sich einfach mal zusammenreißen soll«, so Blanke. Dafür betreibt das Bündnis viel Öffentlichkeitsarbeit und vermittelt Beratungen. »Das Bündnis selber berät ja nicht. Aber wir versuchen, für die Betroffenen Kontakte dahin herzustellen, wo sie die benötigte Hilfe bekommen«, merkt Blanke an. Dafür engagieren sie die Mitglieder ehrenamtlich und neben ihren sonstigen beruflichen Aufgaben. GB

Mit viel Engagement und Aufklärungsarbeit kämpfen Uwe Blanke und die Mitglieder vom Bündnis gegen Depression gemeinsam für eine Enttabuisierung der Krankheit.

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in jedem Alter. Entscheidend hierfür ist das Vorliegen einer Veranlagung zu Depression. Diese Veranlagung kann unter anderem genetisch bedingt sein. Das heißt, Menschen, bei denen nahe Angehörige bereits depressiv erkrankt sind, haben laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe ein etwa zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko, selbst daran zu erkranken. Durch Traumatisierung oder Missbrauchserlebnisse in der Kindheit kann diese Veranlagung aber auch erworben sein. Häufig wird der Beginn einer depressiven Episode mit konkreten Auslösern in Verbindung gebracht. »Das können familiäre Situationen sein. Der Verlust einer nahestehenden Person beispielsweise. Oder auch einfach nur eine familiäre Belastung, wie Probleme oder Überforderung mit den Kindern. Ebenso Arbeitsplatzverlust, finanzielle Probleme, und Mobbing. Sozia­ le Bezüge sind ganz wichtig. Und wenn jemand ausgegrenzt wird, er sich also nicht dazugehörig fühlt, dann ist das ebenfalls ein Risikofaktor für eine Depression«, erklärt der Facharzt. Liegt eine ausreichend starke Veranlagung vor, können Menschen aber auch unabhängig von äußeren Belastungen oder konkreten Auslösern erkranken. Bemerkbar macht sich eine Depression meist durch die sogenannten Kardinalsymptome wie Antriebsstörungen, Freudlosigkeit und einem anhaltenden Stimmungstief. Oft sind die Betroffenen nicht in der Lage, kleinste Entscheidungen zu treffen. Treten bei einem Menschen von diesen drei Symptomen mindestens zwei länger als zwei Wochen auf, dann kann dies ein Hinweis auf eine mögliche Depression sein. »Neben den Kardinalsymptomen gibt es aber noch eine ganze Reihe von Zusatzsymptomen. Von pessimistischen Gedanken über vermindertes Selbstwertgefühl bis hin zu Suizidgedanken. Manchmal geht es so weit, dass die Be-

Foto: privat

men zum ersten Mal die Ängste. Die wirklich finanziellen Ängste. Denn ich musste doch mein Kind versorgen und ich hatte eine Wohnung zu bezahlen. Irgendwie habe ich es dann nicht mehr geschafft, meine Post zu öffnen. Es könnten ja Rechnungen sein. Und wie sollte ich die bezahlen, wo ich doch arbeitslos war?«, erzählt die gelernte Speditionskauffrau. Aber Thomas findet schnell einen neuen Arbeitsplatz. Dieses Mal einen Vollzeit-Job. Doch nun fangen die Überlastungen an. Selbstzweifel und Versagensängste kommen auf: »Was, wenn ich den Beruf nicht schaffe? Was passiert, wenn ich versage und meinen Job wieder verliere?« Schließlich ist der eigene Anspruch sehr hoch: »Ich war ja Perfektionistin. Alles musste perfekt sein. Meine Arbeit. Der Haushalt. Eben alles. Das war wie in einer Schleife. Aber, ich habe diese Ängste jahrelang nicht wirklich ernst genommen. Und irgendwann war ich wie gelähmt«, erinnert sich die alleinerziehende Mutter.

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Foto: Prof. Tillmann Krüger

Prof. Dr. Tillmann Krüger, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der

fen geht gar nicht«, so Thomas weiter. Irgendwann fingen die Rückenschmerzen an, Erkältungen mit hohem Fieber folgten. Außerdem nächtliche Panikattacken. Doch sobald die alleinerziehende Mutter die Krankschreibung in der Hand hatte, ließen die Symptome auch schon wieder nach. Thomas vermutet daraufhin einem Herzfehler bei sich. Doch die Ärzte können nichts feststellen. Schließlich schiebt sie es auf ihre Belastbarkeit, die eben einfach nicht mehr so stark ist.

Medizinischen Hochschule Hannover.

troffenen Wahngedanken haben, wie Verarmungswahn und Schuldwahn, was jedoch eher bei schwer Erkrankten auftritt«, so der Mediziner. Viele Betroffene leiden zudem an Schlafstörungen, Ängsten und körperlichen Beschwerden wie Magen-, Kopf- oder Rückenschmerzen. Alles Symptome, die ebenfalls auf eine Depression hinweisen können. Auch Sabine Thomas hat schon lange vor ihrer Diagnose unter den typischen Symptomen einer Depression gelitten. »Ich habe einen Jack Russel Terrier, mit dem bin ich früher fast jeden Morgen zehn Kilometer gelaufen. Auf einmal ging das nicht mehr. Plötzlich war die Puste weg«, erzählt sie. Untersuchungen, EKG und Lungenfunktion – alles ohne Befund. »Dann kam nachts Herzrasen dazu. Meistens habe ich nur noch drei Stunden geschlafen. Dadurch bin ich dann tagsüber immer mal wieder weggenickt. Aber das durfte ich nicht. Ich habe doch im Büro gearbeitet und auf Arbeit einschla-

Gut behandelbar Mehr als acht Jahre dauert es, bis die 55-Jährige bereit ist, sich die richtige Hilfe zu holen. »Als ich die Werbung der Deutschen Depressionshilfe im Fernsehen gesehen habe, hat es endlich Klick gemacht. Da bin ich darauf gekommen, dass all diese Symptome auf mich zutreffen«, bemerkt Thomas damals. Doch Hinweise hat die alleinerziehende Mutter auch vorher schon bekommen. »Die Ärzte haben mich ganz sicher schon viel früher darauf aufmerksam gemacht, dass es eine psychische Erkrankung ist. Aber ich habe immer weggehört. Denn, als ich im Januar 2017 bei meinem Hausarzt war, war er erleichtert, dass ich endlich auf ihn höre und mir helfen lassen will. Er wird also bestimmt schon einige Jahre davon gesprochen habe. Aber wer will schon hören, dass er psychisch krank ist?«, merkt sie an. Trotzdem ist Thomas erleichtert, als sie endlich ihre Diagnose bekommt. Denn jetzt hat sie etwas Greifbares. »In diesem Moment konnte ich sagen, ja, ich bin krank. Ich habe mir das alles nicht eingebildet. Ich habe eine Krankheit, mit der ich lerne zu leben, auch immer besser lerne zu leben, und auch damit umzugehen«, so Thomas.

KIBIS Immer mehr Menschen schließen sich in Selbsthilfegruppen zusammen, um sich gemeinsam auszutauschen und Antworten zu finden. 2.465 Anfragen nach Selbsthilfegruppen, Selbsthilfeunterstützung oder professionellen Beratungsangeboten sind allein 2019 bei der KIBIS, der Kontakt-, Informations- und Beratungsstelle im Selbsthilfebereich der Region Hannover eingegangen. Mehr als 600 Selbsthilfegruppen gibt es in der Datenbank der KIBIS bereits, davon 70 Gruppen zum Thema psychische Probleme/Erkrankungen. 43 der 70 Gruppen tragen das Stichwort Depression. Darunter zwei Gruppen für junge Erwachsene mit Depressionen und Ängsten, eine Gruppe für Menschen mit Depressionen im Alter, muttersprachliche Gruppen für russische und türkische Mitbürger und Gruppen speziell für Angehörige von Menschen mit einer Depression. 14 der Gruppen mit dem Stichwort Depression sind in der Region Hannover tätig, der Rest trifft sich im gesamten Stadtgebiet der Landeshauptstadt. »Die Gruppen arbeiten autark und selbstorganisiert. Es sind nur Betroffene, die sich untereinander austauschen. Da sitzt kein Therapeut, kein Pädagoge und auch kein Arzt mit in den Gruppen«, betont Henrike Nielsen, Mitarbeiterin bei der KIBIS. Wenn Betroffene auf der Suche nach einer für sie geeigneten Selbsthilfegruppe sind, können sich diese bei der KIBIS unter der Telefonnummer 0511 – 66 65 67 melden. »In einem Erstgespräch loten wir dann aus, ob und welche Selbsthilfegruppe die richtige Wahl ist. Stellt sich im Gespräch jedoch heraus, dass professionelle Hilfe mehr Sinn macht, vermitteln wir Betroffene auch an professionelle Beratungsstellen wie den Sozialpsychiatrischen Dienst oder die Lebensberatung«, erklärt Nielsen. GB


Auf sich achtgeben Auch Sabine Thomas hat das ganze Programm durch. Medikamentöse Einstellung, um überhaupt wieder klar denken können, und ein bisschen Fuß zu fassen, wie sie selbst sagt, sechs Wochen Reha und Psychotherapie. »Und ich habe die Selbsthilfegruppe. Wo wir miteinander sprechen. Wo die Leute aus Erfahrung wissen, wie es in uns aussieht. Dass die Angst wirklich da ist. Dass es die Depression wirklich gibt«, betont sie. Und vor allem achtet sie jetzt mehr auf sich, damit sie nicht wieder in so eine tiefe Depression stürzt. »Ich nehme mir meine Ruhezeiten, wenn ich sie brauche. Damit ich wieder

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Foto: M. Biele

Mit professioneller Hilfe lassen sich Depressionen heute sehr gut behandeln. Grundsätzlich ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner für die Diagnose und Behandlung. Liegt jedoch eine mittel- oder schwergradige Depression vor, sollte auf jeden Fall ein Facharzt für Psychiatrie hinzugezogen werden. Manchmal wird auch eine klinische Aufnahme notwendig. Für die Therapie selbst stehen verschiedene Behandlungen zur Verfügung. »Wir haben biologische und soziale »Wer will Verfahren. Biologisch, das sind vor alschon hören, lem Medikamente. Da haben wir zwar eine riesige Auswahl, leider sind die dass er aber noch immer auf dem Wirksampsychisch keits-Niveau der 50er Jahre. Aber sie krank ist?« sind im Lauf der Zeit immer besser Sabine Thomas verträglich geworden und wir können sie immer individueller einsetzen«, betont Krüger. Gute Erfolge gibt es auch mit der Psychotherapie. »Vor allem die Verhaltenstherapie ist da ganz rege und aktiv. Man spricht hier von der sogenannten »dritten Welle« der Verhaltenstherapie. Da gibt es zum Beispiel die Behavioral Activation, eine Psychotherapieform, die ganz viel auf Verhaltensaktivierung setzt. Also Aktivitäten wieder aufnehmen, die man vergessen hat, die man nicht mehr macht. Damit aktiviert man auch wieder soziale Kontakte«, erklärt der Facharzt. »Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung von Selbsthilfegruppen. Wichtig ist, glaube ich, jeder Mensch braucht was anderes. Aber jeder braucht einen Menschen für den Austausch. Gefährlich ist es immer, wenn sie denken, dass sie das schon alleine schaffen«, ergänzt Uwe Blanke vom Bündnis gegen Depression.

14 15 Jack Russel Terrier Benni hat Sabine Thomas während ihrer depressiven Episoden sehr geholfen. Weil sie regelmäßig mit ihm raus musste, war sie gezwungen, täglich wenigsten eine Zeitlang, die Couch zu verlassen.

Kraft tanke. Und ich arbeite viel mit der Achtsamkeit nach Jon Kabat-Zinn – auf die innere Stimme hören, sich Auszeiten nehmen, bewusst leben, nicht schon fünf Tage im Voraus denken, sondern den Tag nehmen wie er ist. Das hat sich verdammt geändert bei mir«, erzählt Thomas stolz. Und wenn sie doch wieder mal in eine akute Phase kippt: »Dann lasse ich es erstmal zu. Ich gehe dann mit meinem Hund spazieren. Auf dem Friedhof, gleich um die Ecke. Der ist wie ein großer Park angelegt. Oder ich fahre zehn Minuten mit dem Fahrrad durch den Stöckener Wald. Da bin ich in der Natur und kann durchatmen. Das tut mir gut. Da kann ich abschalten und finde wieder Ruhe.« Grit Biele

DEPRESSIVE SYMPTOMATIK IM EUROPÄISCHEN VERGLEICH Deutschland

9,2 %

Frankreich

7,2 %

Italien

4,6 %

Österreich

4,3 %

Slowakei

2,9 %

Ungarn

8,5 %

0

2

4

6

8

10

Quelle: Journal of Health Monitoring 2019

In Deutschland ist eine depressive Symptomatik mit 9,2 Prozent häufiger als im europäischen Durchschnitt mit 6,6 Prozent. »Das ist genau wie mit Corona – je mehr man testet, desto mehr fischt man heraus. Und wir in Deutschland erfassen einfach unheimlich gut«, begründet Prof. Tillmann Krüger den vorderen Platz Deutschlands im europäischen Vergleich.


ANONYM ABER NICHT VERGESSEN Rund 350 Menschen werden in Hannover jährlich vom Ordnungsamt bestattet. Anonym und ohne Trauergäste. Aus christlicher Perspektive unerträglich, meinen Stadtsuper­ intendent Rainer Müller-Brandes und Propst Christian Wirz und wollen dagegenhalten. Herr Müller-Brandes, wie viele anonyme Bestattungen gab es in diesem Jahr? Müller-Brandes: Wir sagen immer, im Schnitt eine Person pro Tag. Das ist schon seit Jahren so. Eine Person pro Tag wird hier im Schnitt ohne alles bestattet. Man kann auch sagen, beiseitegelegt. In diesem Jahr waren es 352 Verstorbene.

Herr Wirz, was sagen Sie zu diesen Zahlen? Wirz: Natürlich sind die Zahlen viel zu hoch, was also schlecht ist. Gut wäre es, wenn sich die Zahlen verringern würden. Aus der Perspektive unseres christlichen Glaubens ist es unerträglich, dass Menschen namenlos verschwinden und nicht ihrer Würde gemäß beigesetzt werden. In Begleitung von Freunden, Bekannten und Familie. Das ist aber ein Phänomen, das sich

ausbreitet. Die Einsamkeit nimmt zu. Menschen haben Angst, ihren Angehörigen zur Last zu fallen. Immer mehr wollen sich daher freiwillig anonym bestatten lassen. Und das ist keine gute Entwicklung. Müller-Brandes: Die Wissenschaft hat mal gesagt, die Bestattung ist der Beginn der menschlichen Kultur. Und da ist was dran. Und wenn wir die Verstorbenen einfach so verscharren, dann ist das eine Unkultur.

Was macht diese Entwicklung mit Ihnen persönlich? Wirz: Ich frage mich, wie wir deutlich machen können, dass diese Menschen nicht vergessen sind. Das zu verkünden ist mir ein persönliches Anliegen, auch als Geistlicher. Dazu dient unter anderem der Gottesdienst, den wir im November feiern.


Was müsste seitens der Politik dringend passieren? Müller-Brandes: Ich kann die Politik oder die Verwaltung verstehen. Die schreibt die rund 350 Bestattungen im Jahr aus. Und wenn die Gebühren dann je nach Anbieter zwischen 1.000 und 2.000 Euro liegen, dann ist das schon ein großer Unterschied. Das ist viel Geld. Und da habe ich dann Verständnis, dass sie das wirtschaftlich beste Angebot nehmen. Man kann

In einer gemeinsamen Andacht wollen Stadtsuperintendent Rainer

auch sagen, das billigste. Das ist Teil der Realität. Aber ich fände es schön, wenn man auf den Friedhöfen einen Ort schafft, für die »Namenlosen« dieser Stadt, wo sie nicht vergessen sind. Wo man zum Beispiel eine Stehle anbringt und die Namen in geeigneter Weise zur Verfügung stellt. Das sind Einmalkosten, die aus meiner Sicht überschaubar sind. Wirz: Ich denke, zunächst müssen wir auch mal anerkennen, dass sich der Staat um die Beerdigung von Obdachlosen kümmert. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn das in einer Weise geschehen könnte, die der Würde der Menschen entspricht. Daher sollten andere Möglichkeiten geschaffen werden, an diese Menschen zu erinnern und ein Ort zu erschaffen, wo sie präsent bleiben können. Wo sie eben nicht einfach nur verschwinden.

Welche Möglichkeiten könnten das sein? Wirz: Orte wie unsere Krypta zum Beispiel. Wenn es auf den Friedhöfen, auf denen die Bestattungen stattfinden, einen Ort geben könnte, an dem an diese Menschen erinnert wird, auch namentlich erinnert wird, das hätte schon einen großen Wert. Müller-Brandes: Ein Beispiel ist auch die Beerdigung im Friedwald, wo Asphalt ja auch schon einen Ort der Erinnerung für seine verstorbenen Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer geschaffen hat. Zudem sind wir bereits mit der Landeshauptstadt Hannover in guten Gesprächen über die Einrichtung eines Ortes, einer Gedenkstätte für »Namenlose«, auf einem Friedhof.

Wie gehen Sie mit dem Vorwurf aus der Szene selbst um, Sie würden zu wenig tun und den Status Quo nur verwalten? Müller-Brandes: Das stimmt aus meiner Sicht nicht. Wir haben jetzt schon seit sieben Jahren an den Hauptkirchen jeweils dieser Menschen gedacht. Wir haben mit viel Mühe auch schon Akzente gesetzt. In der Marktkirche ist uns das mit dem Ewigkeitssonntag bereits sehr gut gelungen. Und wenn wir auf den Friedhöfen weitere Akzente setzen können, und sich die Kirche an den Kosten vielleicht symbolisch beteiligt, dann würde ich sagen, stimmt das weder im Leben noch im Tod. Wirz: Ich glaube, wenn wir diese Gottesdienste feiern, wenn wir solche Orte schaffen, das ist schon mehr, als nur eine Verwaltung. Natürlich ist darüber hinaus die Frage zu stellen, was wir gegen Obdachlosigkeit und für obdachlose Menschen tun. Aber da machen die Diakonie und die Caritas sehr viel. Dass wir das Leid aber nicht einfach aus der Welt nehmen können, ist etwas, was wir demütig anerkennen müssen. Aber, dass wir nur verwalten, das wäre zu wenig gesagt. Das finde ich ein bisschen ungerecht.

Müller-Brandes (li.) und Propst Christian Wirz zusammen mit der Caritas und der Diakonie am 18. November um 9.30 Uhr vor dem Kontaktladen

Vielen Dank für das Gespräch!

Mecki der Verstorbenen gedenken.

Interview und Fotos: Grit Biele

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Dazu dient aber auch unsere Krypta in der Basilika, in der wir ein Epitaph für die »Namenlosen« haben. Dort kann man ihre Namen, denn sie sind ja nicht wirklich namenlos, in ein Buch eintragen. Auf einer Video-Installation laufen die Namen dann durch, um auf diese Weise an sie zu erinnern. Das finde ich sehr berührend. Müller-Brandes: Bei uns in der Marktkirche werden am Totensonntag, am Ewigkeitssonntag, die Namen ganz bewusst derer verlesen, die unvergessen aber namenlos bestattet wurden. Da werden aber nicht nur die Namen, sondern auch das Alter verlesen. Das ist schon sehr eindrucksvoll. Während man bei »Normalbürgern« oft 70 oder 80 Jahre hört, hört man bei den Menschen von der Straße meistens 50 Jahre oder sogar noch darunter. Und das macht was mit einem. Wir haben viel Kontakt mit dem Friedhofsamt gehabt. Die geben sich schon im Rahmen ihrer Möglichkeiten alle Mühe, aber es sind und bleiben Discount-Bestattungen. Das macht natürlich was mit uns als Gesellschaft. Technisch sind wir spitze, aber wenn es um diese Dinge geht, dann sind wir noch Entwicklungsland. Und da gegenzuhalten ist direkt geboten.

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WIR GEDENKEN Wohnungslos, aber nicht vergessen. Wir gedenken aller im Jahr 2020 hier namentlich und nicht namentlich genannten verstorbenen wohnungslosen oder von Wohnungslosigkeit bedrohten Männer und Frauen. Wir haben sie geschätzt, wir sind mit ihnen einen Teil ihres Weges gegangen, wir haben mit ihnen gelacht und geweint. Wir trauern um sie. Wir erinnern uns an sie – als Würdigung ihrer starken Persönlichkeiten und als Trost für die Lebenden. Denn tot ist nur, wer vergessen wird. Kai Albrecht

Reiner Geffken

Nikolas Maschke

Dennis Sänger

42 Jahre

49 Jahre

Alter unbekannt

Alter unbekannt

Daniel Arndt

Rolf Hartung

Leila Masur

Jens Schäfer

Alter unbekannt

70 Jahre

Alter unbekannt

Alter unbekannt

Alex Bengardt

Lars Jahnen

Freddy Meyer

Paul Schönfeld

39 Jahre

42 Jahre

61 Jahre

Alter unbekannt

Heiko Bebensee

Sascha Jung

Isabell Michaelis

Frank Schwerin

49 Jahre

Alter unbekannt

53 Jahre

54 Jahre

Seifu Bernahu

Michael Jurkschat

Herbert Mies

Ingrid Senge

63 Jahre

54 Jahre

63 Jahre

57 Jahre

Albert Bernhards

Uwe Kaiser

Alexander Pfaf

Uwe Skubich

62 Jahre

60 Jahre

42 Jahre

59 Jahre

Nadine Bosse

Gerhard Keppe

Thomasz Poleszcuk

Jörg Stahl

Alter unbekannt

56 Jahre

45 Jahre

55 Jahre

Sergiu Ceremis

Elisabeth Waeni Kitingi

Nadine Pries

Sandra Stüwe

48 Jahre

51 Jahre

Alter unbekannt

Alter unbekannt

Hasso Dietrich

Thorsten Klimmek

Dennis Radloff

Uwe Thiers

54 Jahre

49 Jahre

48 Jahre

Alter unbekannt

Robert Dziedzic

Martin Kräft

Uwe Reder

Frank Walter

57 Jahre

Alter unbekannt

75 Jahre

Alter unbekannt

Mario Ebert

Rainer Kripzak

Manuel Riefenstahl

Peter Weigand

Alter unbekannt

62 Jahre

50 Jahre

Alter unbekannt

Norbert Eisenberger

Diana Kutscher

Carmen Röwer

Mike Wettmann

Alter unbekannt

Alter unbekannt

68 Jahre

57 Jahre

Natalia Erbes

Thorsten Lange

Sylvia Rummler

Danny Wiele

Alter unbekannt

55 Jahre

56 Jahre

35 Jahre

Maik Gaschler

Sylvio Lücke

Thomas Sander

Viktor Zielke

Alter unbekannt

63 Jahre

56 Jahre

Alter unbekannt

Freundinnen und Freunde, Besucherinnen und Besucher, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hannoverscher Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe: Frauenwohnheim Gartenstraße, Karl-Lemmermann-Haus, Kontaktladen »Mecki«, Krankenwohnung »Die KuRVe 1 und 2«, Werkheim Büttnerstraße, Zentrale Beratungsstelle Berliner Allee, Asphalt-Magazin.


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Foto: V. Macke

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SCHLAFLOS AM TAG Schlafen ist ein Grundbedürfnis. Doch für viele Drogenabhängige und so manche wohnungslose Straßenprostituierte ist das Luxus. Weil selbst Notunterkünfte für ihr Leben nicht passend sind. Tagesbetten könnten die Lösung sein. Das aber braucht Geld. Und politischen Willen. Ein altes Ledersofa, ein paar Decken, ein paar Kissen. Das Sofa steht bei La Strada in Hannover. Häufig liegen während der Öffnungszeiten der Beratungsstelle übermüdete Frauen darauf. Für 45 Minuten. Dann müssen sie – in Corona-Zeiten hygienebedingt – wieder aufstehen. Oft sind diese 45 Minuten der einzige Schlaf, den die Frauen täglich bekommen. Gesundheit, Entspannung, mal runterkommen. Für mindestens einige Dutzend Menschen in Hannover fehlt das. Denn dieses Sofa bei

La Strada ist im Grunde der einzige Tagesruheplatz der Szene. La Strada berät Frauen, die Drogen nutzen, sich dafür häufig prostituieren, oftmals wohnungslos sind. »Für einige Frauen, die zu uns kommen, ist unser Café der sichere Raum, in dem sie zur Ruhe kommen können«, sagt Sozialarbeiterin Katharina Pätzold. Suchtdruck und Sexarbeit in der Nacht bilden für manche Frauen – und Männer – den Rahmen ihres Lebens, und der ist mit herkömmlichen Unterkünften nicht kompatibel. Die


Serdar Saris, Geschäftsführer der STEP

Foto: V. Macke

»Wenn wir die Verelendung auf der Straße verhindern wollen, dann müssen wir weitere niedrigschwellige Angebote entwickeln: Tagesschlafplätze.«

Foto: Mario Biele

Strenge Hygieneregeln erschweren in der Beratungsstelle La Strada das Hilfsangebot.

Frank Woike, Drogenbeauftragter der Stadt, drängt auf Tagesschlafstätten für Drogenabhängige und wohnungslose Prostituierte.

Notunterkünfte schließen spät abends, wer bis dahin nicht drin ist, bleibt außen vor oder kommt auch gar nicht erst hin, weil einige weit außerhalb stehen. Und tagsüber sind sie geschlossen; morgens um neun müssen im Winterhalbjahr alle raus. Nichts für Sexarbeiterinnen und Süchtige also. Das Problem war schon vor Corona da. Die Pandemie aber hat es rasant verstärkt. »Manche unserer Klientinnen berichten, sie hätten vier, fünf Nächte nicht geschlafen«, so Pätzold, die auch als Straßensozialarbeiterin an den Szeneplätzen unterwegs ist. Die Drogenszene trifft sich an der Kröpcke-Uhr, am Busbahnhof, am Marstall, vermehrt auch aktuell am Andreas-Hermes-Platz, am Schwarzen Bär und an der Ihme in Linden-Süd. Und vor dem Stellwerk. Auch Serdar Saris, Geschäftsführer der STEP, die den Drogenkonsumraum Stellwerk neben dem Bahnhof betreibt, sieht den wachsenden Druck: »Wenn die Menschen, die nun mal da sind, dort vor Ort quasi gehetzt auf der Suche nach Sucht-

mitteln unterwegs sind, dann nach endlich erfolgreichem Konsum relaxen, dann schlafen die vor Ort ein. Ungeschützt, gesundheitsgefährdet und unwürdig. Wenn wir die Verelendung auf der Straße verhindern wollen, dann müssen wir weitere niedrigschwellige Angebote entwickeln: Tagesschlafplätze.« Dafür macht sich jetzt auch der Drogenbeauftragte der Landeshauptstadt Frank Woike stark. »Die Menschen schlafen extrem unregelmäßig.« Bis der Suchtdruck wieder steigt. Bei Heroin nach rund vier bis fünf Stunden. »Daran ist bei manchen ihr ganzes Leben ausgerichtet«, so Woike. »Zehn, 15, 20, ein Uhr und so weiter.« So in etwa dreht sich die Uhr für Heroinnutzer. Ein geregelter Tagesablauf, wie der Durchschnitts-Niedersachse ihn lebt, ist damit eher selten vereinbar. Das führe bisher oft zu tagelanger Übermüdung. Und zu Szenen auf der Straße, die von anderen Medien und so manchem Politiker aus rein ästhetischen Gründen kritisiert werden.


hier möglich.

Volker Macke

In unmittelbarer Nähe zum Konsumraum Stellwerk steht

taktcafé und eine weitere im Beratungsraum, andere warten dann teils schon draußen vor dem Haus. »Wer sich bei uns für Schlafen entscheidet, muss also aufgrund aktueller Coronabestimmungen auf Duschen verzichten und umgekehrt. Fachlich ist das ganz schwer zu vertreten.« Zum Vergleich: Vor Corona waren bis zu zwölf Klientinnen gleichzeitig im Café. In der Augustenstraße hat die Stadt ein Haus. Schon länger wird im Rathaus diskutiert, dass es dem Hilfesystem zur Verfügung gestellt werden könnte, etwa 30 Schlafplätze für Obdachlose und andere NutzerInnen wären darin möglich. »Als Tagesschlafstelle wäre das ziemlich ideal«, meint Pätzold, denn es wäre nah an der Szene. Auch Frank

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die Augustenstraße 11 immer noch leer. 30 Plätze wären

Woike ist sich zumindest sicher: »Ein Tagesschlafplatz muss fußläufig von den Szenetreffpunkten erreichbar sein.« Bereits vor zwei Jahren gab es einen Vorschlag der Partei Die Partei, das Haus der Drogenhilfe zur Verfügung zu stellen. Auch im Sozialdezernat war man dafür offen. Die Idee scheiterte im Rat, dem Vernehmen nach, an der SPD, und rathausintern am bisher oft lähmenden Streit der Rathaus-Dezernate. Das Haus in der Augustenstraße 11 ist seit mindestens drei Jahren eine Idee in einer Schublade. In Teilen der Verwaltung und der Ratspolitik aber gibt es bisher immer noch eine gedankliche Trennung der Szenen, die es in der Realität hinterm Bahnhof kaum noch gibt. Daher favorisierten Baudezernat und SPD bis zuletzt die Einrichtung einer herkömmlichen Obdachlosenunterkunft (was sicherlich ebenso dringend wie sinnvoll ist), allerdings ohne sie bisher umfassend umzusetzen. STEP-Chef Saris würde gern teilen. Das Gebäude alsbald umgebaut sehen. Mit herkömmlichen Obdachlosenbetten und einigen Tagesschlafplätzen. »Mit zehn bis 15 Tagesschlafplätzen könnten wir erstmal anfangen«, wünscht sich Saris. Extrem niedrigschwellig müsste der Zugang sein. »Ohne Formblatt oder andere bürokratische Hürden. Im Grunde müssten die Streetworker sagen können: Komm mit, hier um die Ecke kannst du dich mal geschützt ausschlafen.« Für den städtischen Drogenbeauftragten Woike ist die Augustenstraße nur eine Option. Citynah müsse das Tagesbetten-Projekt in jedem Fall sein, eine erweiterte Nutzung der bereits existierenden Obdachloseneinrichtung in der Wörthstraße wäre aus seiner Sicht aber auch denkbar. Letztlich gehe es ihm darum, »relativ zeitnah ins Handeln zu kommen«. Der neue Haushaltsplan steht zur Entscheidung an. »Wichtig ist, dass wir den Menschen sichere Räume geben. Es kann dann gut sein, dass sie dann vielleicht auch empfänglicher für Hygiene- und Gesundheitsberatung sind.«

Foto: V. Macke

Zwar gibt es in der Umgebung einige herkömmliche Unterkünfte und weit draußen vor den Toren der Stadt auch eine speziell für Drogenabhängige. Doch Tagesschlafplätze fehlen bisher gänzlich. »Noch leben einige in kleinen wechselnden Gemeinschaften in Lauben oder Zelten«, sagt Pätzold. »Noch geht das.« Doch wenn es kalt wird und die Tagestreffs hygienebedingt nur reduziert zur Verfügung stehen und die bisherigen Unterkünfte weiterhin mit starren Schließ- und Öffnungszeiten einer Nutzung entgegenstehen, dann wird es hart werden, da sind sich alle HelferInnen einig. Denn die coronabedingt reduzierten Öffnungszeiten und erlaubten Personenzahlen in den Tagestreffs der Szene verstärken das Problem enorm. Bei La Strada 45 Minuten pro Person und Tag, höchstens zwei Personen im Kon-

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„Sicherheit neu denken“ Vortrag und Diskussion mit Ralf Becker, ev. Landeskirche in Baden

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Pauluskirche, Meterstraße Es laden ein: AK Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung der ev. Kirchen, Friedensbüro Hannover, DFG-VK Hannover, Antikriegshaus Sievershausen und Pax Christi Hildesheim

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AUS DER SZENE

Region fördert Hilfsprojekte

Foto: Markus Lampe

Hannover. Die Region Hannover fördert im kommenden Jahr eine Reihe von Wohnungslosen- und Drogenhilfeeinrichtungen mit mehr als zwei Millionen Euro. Darunter große Verbände wie das Diakonische Werk, Caritas, STEP und Awo, die den Großteil für ihre Arbeit auf dem Gebiet der Sozialhilfe, Suchthilfe, Hilfe für Haftentlassene aufwenden. Darüber hinaus wurden kleinere Hilfevereine bedacht: Der Verein Balance in Garbsen erhält 65.000 Euro, der Verein DroBel in Lehrte 74.000 Euro. Die Gruppe soziale Selbsthilfe bekommt 23.000, der Verein beta89 39.000 Euro, die Phoenix-Projekte Nachtschicht, Streetwork und La Strada erhalten zusammen rund 55.000 Euro von der Region Hannover. Das Infomobil der Drobs wird mit 22.300 Euro gefördert, das Mediensucht-Projekt real.life von prisma mit 18.600 Euro. Die Malteser Migrantenmedizin wird mit 30.900 Euro unterstützt, das Zahnmobil mit 20.000, die Straßenambulanz mit rund 24.000 und die medizinische Versorgung im »Mecki« mit 192.000 Euro. MAC

Armenspeisung sucht Ehrenamtliche Hannover. Die Ökumenische Essenausgabe von Diakonie und Caritas sucht dringend ehrenamtliche Helferinnen und Helfer. Die Corona-Pandemie hindert einige bisherige UnterstützerInnen, weil diese zur Covid-19-Risikogruppe zählen. Das Angebot ist 1988 auf Initiative der evangelischen, katholischen und reformierten Innenstadtgemeinden ins Leben gerufen worden und wird von diesen auch finanziell unterstützt. Bis zu je 200 Mahlzeiten werden an sechs Tagen in der Woche jeweils in der Zeit von 10.30 bis 13.30 Uhr in der Ref. Kirche in der Lavesallee 4 ausgegeben. Interessierte melden sich bei Koordinatorin Elke Walpart Niemann unter 0511 – 3 68 72 87 oder via Mail essenausgabe@zbs-hannover.de. MAC

Neuzugang bei 96plus! Das Team von 96plus freut sich sehr, unseren Oberbürgermeister Belit Onay als neuen, weiteren Schirmherrn von 96plus präsentieren zu dürfen. Im Rahmen eines persönlichen Kennenlernens haben wir uns darauf verständigt, Synergien zu bündeln und die gute Zusammenarbeit mit der Landeshauptstadt Hannover in Form eines regelmäßigen Austauschs weiterhin fokussiert anzugehen. Mit Regionspräsident Hauke Jagau konnten 96plus bereits in der Vergangenheit einen Schirmherrn und Fürsprecher für 96plus gewinnen. Herzlich Willkommen und vielen Dank für die Übernahme der Schirmherrschaft, Herr Onay! Außerdem: Der Aktionsmonat #STEPtember im September war ein voller Erfolg. 96plus und die Drogenhilfeeinrichtung STEP hatten Bürgerinnen und Bürger aus der Region Hannover mit Beiträgen und Aktionen auf die Themen Suchtprävention und Gesundheit aufmerksam gemacht. Gekrönt wurde das Ganze durch einen Besuch im sogenannten Stellwerk, welches von 96plus mit einem neuen Gasgrill aus­ gestattet wurde.


Manchmal, wenn ich schon glaube, in diesem Monat fällt mir so gar kein Thema ein, über das ich auf »meiner blauen Seite« schreiben kann, springt mich eine kleine Notiz gera­ dezu an und rettet mich aus meiner Findungsnot. Bedauer­ licherweise sind es – seit viel zu langer Zeit – immer nur negative Ereignisse. Wie gern würde ich wieder einmal über etwas Positives schreiben. Und da fällt mir plötzlich doch etwas Schönes ein: 30 Jahre Mauerfall. Wenn das nicht ein Grund zur Freude ist! Zwar ist nun wirklich noch nicht alles »Friede, Freude, Eierkuchen«, aber dass es keine Grenze mehr gibt, ist nun mal wunderbar. Ich glaube auch, so langsam gibt es so viele Gemeinsamkeiten, dass der kleine Rest nur noch eine Frage von ein bisschen Zeit ist. Und auf der Welt sind sowieso nicht alle Menschen einer Meinung, warum sollte das zwischen Ost und West der Fall sein. Es ist doch schön, wenn wir uns miteinander austauschen und voneinander lernen können. Wenn wir erst 50 Jahre Mauer­ fall feiern (dann aller Wahrscheinlichkeit nach ohne mich!!!), haben vielleicht alle vergessen, dass es je eine Mauer gab.

Karin Powser

Karin Powser lebte jahrelang auf der Straße, bevor ihr eine Fotokamera den Weg in ein würdevolleres Leben ermöglichte. Ihre Fotografien sind mittlerweile preisgekrönt. Durch ihre Fotos und mit ihrer Kolumne zeigt sie ihre ganz spezielle Sicht auf diese Welt.

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Das muss mal gesagt werden …

22 23


»MEINE ASPHALT-FAMILIE« Aus dem Leben: Im Gespräch mit Asphalt-Verkäufer Thomas (53). Hallo Thomas, du bist bei Asphalt ja schon ein alter Hase. Wie lange bist du jetzt eigentlich dabei? Seit 2001. Ich bin durch einen ehemaligen Mitbewohner, der auch Asphaltverkäufer war, zur Zeitung gekommen. Wir wohnten damals in der Jugendwerksiedlung, eines Tages hat er mich mitgenommen und danach habe ich selbst angefangen zu verkaufen.

Du warst in der Zeit obdachlos? Ja. Ich habe früher viel Mist gemacht, Schulden angehäuft, teilweise durch Selbstverschulden, teilweise aufgrund von Fremdverschulden. Gebürtig bin ich ja Senftenberger aus Brandenburg, Spreewaldgebiet. Durch eine Drückerkolonne bin ich in den Westen gelangt, dann aber abgehauen und in Hannover gestrandet, vor mittlerweile 30 Jahren.

Wie lange warst du denn wohnungslos? 15 Jahre lang, ich war tatsächlich 15 Jahre ohne Wohnung. Das ging immer so: Straße im Sommer, Heim im Winter. Durch Asphalt hatte ich dann das Glück, dass ich über eine Anzeige im Magazin meinen jetzigen Vermieter kennengelernt habe. Der hat mir trotz Schufa, trotz meiner Schulden die Chance gegeben und mir eine Wohnung angeboten, die im Topzustand ist und in der ich jetzt mittlerweile seit fünf Jahren wohne.

Zu deiner Familie hast du nicht mehr viel Kontakt ... Ab und zu telefoniere ich mal mit meinen Geschwistern, einmal im Jahr gibt es eine Karte, mehr nicht. Die leben einfach ein ganz anderes Leben und kamen mit meiner Obdachlosigkeit und meinem Lebensstil nicht klar. Die wollten nichts mehr von mir wissen.

Gibt es einen bestimmten Grund für deine Abstinenz? Ganz einfach: schmeckt nicht, brauche ich nicht. Na gut, also in der Zeit von 18 bis 20 Jahren habe ich auch Party gemacht, weil – als Jugendlicher hatte ich ja kein richtiges Leben, weil ich da meinen Vater pflegen musste.

Kein richtiges Leben, das klingt bitter. Wie alt warst du da? Vom 14. bis 16. Lebensjahr war ich der Pfleger von meinem Vater. Das war noch in Senftenberg, da waren die Grenzen noch nicht offen. Und naja, dann habe ich das Versäumte versucht nachzuholen, auszuleben. Ich war nie Alkoholiker, aber wenn ich nicht mit 20 einen Schlussstrich gezogen hätte, wäre ich wahrscheinlich einer geworden.

In dieser Zeit hast du auch die Schulden angehäuft? Ja. Und dann machten die Grenzen auf und ich habe mich von einer Drückerkolonne anheuern lassen, das kannte ich damals ja noch nicht. Aber als ich gemerkt habe, wie das läuft, bin ich ausgestiegen.

Du sagst, deine ganzen sozialen Kontakte kommen jetzt über Asphalt zustande. Dann muss die Zeit der Pandemie ja schwer für dich sein? Also, das war schon richtig heftig im Lockdown. Da hat man schon gemerkt, dass man ziemlich einsam ist. Und gerade wo ich wohne, in Großburgwedel, ist es ja ohnehin ziemlich ruhig.

Warst du immer allein? Ich war tatsächlich ein totaler Einzelgänger. Aber bei Asphalt habe ich dann eine Frau kennengelernt, auch eine Verkäuferin, mit der ich fast acht Jahre eine Beziehung hatte, doch das ist leider in die Brüche gegangen.

Vermisst du sie? Heute nicht mehr. Jetzt finde ich meine sozialen Kontakte über Asphalt, vor allem unter meinen Kunden. Einige haben mich schon fast adoptiert, da werde ich zu Festen oder Geburtstagen eingeladen, auch zu mir kommen sie mal zu Besuch.

Außerhalb von Asphalt hast du keine Freunde gefunden? Also ich war immer kontaktfreudig. Das Problem ist nur, wer will schon einen kennenlernen, der keine Wohnung hat? Und in den Einrichtungen bin ich nie Freundschaften eingegangen, das war ausgeschlossen.

Warum? Ich trinke aus Überzeugung keinen Alkohol, nehme auch keine Drogen, aber in der Szene ist das ein großes Problem, dass sehr viele süchtig sind. Dadurch war ich schon ein ziemlicher Einzelgänger.

Was machst du heute ohne Asphalt? Hast du irgendwelche Hobbys? Ohne Asphalt? Also ganz ehrlich, ohne Asphalt geht gar nichts! Asphalt ist meine zweite Familie. Und echte Hobbys habe ich nicht. Ich lebe Minimalismus, bewusst. Ich habe alles Nötige, das ich brauche: Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, Fernseher. Das reicht mir.

Willst du unseren Lesern und Leserinnen etwas zum Neuen Jahr mitgeben? Natürlich. Zunächst einen schönen Gruß an Ledeburg und Langenhagen. Alle, die die Zeitung kaufen, sollten sie mal in der Familie weiterreichen und Werbung machen. Und alle Kunden mögen uns treu bleiben, auch in der Krisenzeit. Positiv denken, negativ bleiben. Interview und Foto: Ulrich Matthias


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Thomas verkauft Asphalt von Montag bis Freitag vor Rewe, Am Fuhrenkampe, in Hannover-Ledeburg und samstags auf dem Wochenmarkt vor dem CCL in Langenhagen.


RUND UM ASPHALT

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Sicher durch die kalten Monate Der Winter steht schon in den Startlöchern und mit ihm wieder nasse und rutschige Straßen. Um für diese dunkle Jahreszeit bestens gerüstet zu sein und alle Ziele sicher zu erreichen, bietet der ADAC spezielle Fahrtrainings an. Ob Slalomparcours oder Ausweichen auf regennasser oder eisglatter Fahrbahn – dieser Kurs macht fit für lange und für kurze Strecken. Noch dazu gibt es wertvolle Tipps von den Experten – von der richtigen Sitzposition bis zur korrekten Bremstechnik. Das ADAC Fahrsicherheits-Zentrum Hannover/Laatzen bietet auf insgesamt 24 Hektar zehn verschiedene und moderne Trainingsflächen und einen Verkehrsübungsplatz für Fahranfänger und Wiedereinsteiger. Mehr Infos dazu gibt es auf der Internetseite www.fsz-hannover.de oder telefonisch unter 05102 9306-0. Für eine stress- und unfallfreie Fahrt durch die Wintermonate verlost Asphalt zusammen mit dem ADAC Fahrsicherheits-Zentrum Hannover/Laatzen 2 x ein fünfstündiges ADAC Pkw-Kompakt-Training im Wert von je 135 €. Beantworten Sie uns einfach folgende Frage: Wie groß ist das Trainingsgelände des ADAC Fahrsicherheits-Zentrums Hannover/Laatzen?

Foto: ADAC Fahrsicherheits-Zentrum Hannover/Laatzen

Asphalt verlost 2 x ADAC Pkw-Kompakt-Training

Schicken Sie uns eine Postkarte, eine E-Mail oder ein Fax mit Ihrer Antwort und dem Stichwort »ADAC« bis zum 30. November 2020 an: Asphalt-Redaktion, Hallerstraße 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover, gewinne@asphalt-magazin.de, Fax 0511 – 30126915. Bitte vergessen Sie Ihre Absenderadresse nicht!

Corona-Schutz aus Abfall Verkäuferausweise Bitte kaufen Sie Asphalt nur bei Verkäufer­Innen mit gültigem Ausweis! Zurzeit gültige Ausweisfarbe (Region Hannover): Hellgrün

»So sieht man wieder das Lächeln unserer Verkäuferinnen und Verkäufer beim Verkauf des Asphalt-Magazins«, freut sich Asphalt-Geschäftsführer Georg Rinke über die ersten 50 Kultur-Visiere der Upcyclingbörse Hannover, einem Projekt des Glocksee Bauhaus e.V.. Unter dem Motto »Kultur in Sicht« wird dieser außergewöhnliche Gesichtsschutz zu 100 Prozent abfallfrei aus regionalen Recycling- und Upcycling-Materialien wie Lebensmittelverpackungen, ausrangierten Haushaltskunststoffen und Gebrauchsmaterialen in der Werkstatt der Upcyclingbörse in Hannover hergestellt. Sie ermöglichen nicht nur freieres Atmen, zusätzlich schützen sie noch die Bindehaut der Augen vor den Angriffen der Viren. GB

Impressum Herausgeber: Matthias Brodowy, Dr. Margot Käßmann, Rainer Müller-Brandes Gründungsherausgeber: Walter Lampe Geschäftsführung: Georg Rinke Redaktion: Volker Macke (Leitung), Grit Biele, Ute Kahle, Ulrich Matthias Gestaltung: Maren Tewes Kolumnistin: Karin Powser Freie Autoren in dieser Ausgabe: O. Neumann, B. Pütter, K. Spigiel, W. Stelljes Anzeigen: Heike Meyer Verwaltung: Janne Birnstiel (Assistentin der Geschäftsführung), Heike Meyer

Vertrieb & Soziale Arbeit: Thomas Eichler (Leitung), Romana Bienert, Sophia Erfkämper, Ute Kahle, Kai Niemann Asphalt gemeinnützige Verlags- und Vertriebsgesellschaft mbH Hallerstraße 3 (Hofgebäude) 30161 Hannover Telefon 0511 – 30 12 69-0 Fax 0511 – 30 12 69-15 Vertrieb Göttingen: Telefon 0551 – 531 14 62 Spendenkonto: Evangelische Bank eG IBAN: DE 35 5206 0410 0000 6022 30 BIC: GENODEF1EK1

redaktion@asphalt-magazin.de vertrieb@asphalt-magazin.de goettingen@asphalt-magazin.de herausgeber@asphalt-magazin.de Online: www.asphalt-magazin.de www.facebook.com/AsphaltMagazin/ www.instagram.com/asphaltmagazin/ Druck: v. Stern’sche Druckerei, Lüneburg Druckauflage: Ø 26.500 Asphalt erscheint monatlich. Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 26. Oktober 2020 Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte, Bilder und Bücher übernehmen wir keine Gewähr. Rücksendung

nur, wenn Porto beigelegt wurde. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte weitergegeben. Unsere vollständige Datenschutzerklärung finden Sie auf www.asphalt-magazin.de/impressum. Alternativ liegt diese zur Ansicht oder Mitnahme in unserer Geschäftsstelle aus. Gesellschafter:

H.I.o.B. e.V. Hannoversche Initiative obdachloser Bürger


Jacken, Mützen, Schals und Handschuhe. Alles für unsere Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer. Gespendet von der Schlüterschen. Aufgrund einer Markenumstellung und verringerter Vor-Ort-Promotion war diese Winterausstattung übrig, und so entstand im Team Marketing die Idee, sie unseren Asphaltern zu schenken. »Als eines der ältesten Unternehmen in Hannover gehört soziales Engagement seit Anfang an zu unseren Prinzi­ pien. Und neben der tollen redaktionellen Asphalt-Arbeit schätzen wir gerade als Verlag auch die Verkaufenden, die wieder wahrgenommen werden, eine Struktur bekommen und auch ein gewohntes Bild in der Stadt geben«, betont Bodo Svenson (li.), Geschäftsführer Schlütersche Marketing Services. Gemeinsam mit Christiane Pitschke vom Team Marketing hat er die willkommene Winterausrüstung an unseren Vertriebs-Leiter Thomas Eichler übergeben. Die Sachen werden unseren Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufern sicher an so manch kalten Wintertagen wärmenden Schutz geben. Vielen Dank dafür. GB

Seifu war vielen OldenburgerInnen an seinem Standort Ullmann, Ecke Büsingstift bekannt. Dort stand er viele Jahre regelmäßig bei Wind und Wetter um das Asphalt Magazin zu verkaufen. Wir trauern um unseren langjährigen Verkäufer

Seifu Bernahu Er wurde 63 Jahre alt. Das gesamte Asphalt-Team mit allen Mitarbeiter­Innen und VerkäuferInnen.

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Foto: Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Winterkleidung für Asphalter

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»Asphalt schafft Verbundenheit« Dr. Carola Reimann, Nds. Ministerin für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung »Wie hinter jeder Persönlichkeit steht auch hinter jedem wohnungslosen Men­ schen eine besondere Geschichte, oft ein tragisches Schicksal. Asphalt liefert nicht nur interessante Reportagen, sondern trägt durch das besondere Verkaufskon­ zept dazu bei, die Verkäuferinnen und Verkäufer ein bisschen kennenzulernen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Von Mensch zu Mensch. Zugleich ist der Verkauf eine Chance, eine Perspektive zu entwickeln, in Lohn und Brot zu kommen. Asphalt hilft, lassen Sie uns auch helfen.«

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regelmäßige seine Arbeit ohne … dass Asphalt e finanziert? chliche Zuschüss öffentliche und kir enerlösen sind aufs- und Anzeig Neben den Verk Förderer die rer Freunde und die Spenden unse ierung. nz zur Gesamtfina wichtigste Stütze ende: indung für Ihre Sp Unsere Bankverb Asphalt-Magazin 30 0410 0000 6022 IBAN: DE35 5206 EK1 BIC: GENODEF1 nk Evangelische Ba ck: Perspektiven Verwendungszwe

… mehr als eine gute Zeitung!

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gesucht – gefunden

Foto: LHH/ Helge Krückeberg

Verkäuferin Cordula: Ich suche einen Rollator, klappbar standardmäßig und einen funktionstüchtigen Laptop. Vielen Dank im Voraus! [V-Nr. 1683/Hannover] Kontakt: 0157 – 79467348.

Inge-Lore für KHH25 Man wird mit einiger Sicherheit davon ausgehen können, dass alle Beteiligten ihr Bestes gegeben haben, damit Hannover Europas Kulturhauptstadt 2025 wird. Ob das geklappt hat, ist jetzt bei Redaktionsschluss noch nicht klar. Wenn Sie diesen Text lesen, aber aller Voraussicht nach schon. Sicher ist: Asphalt war dabei. Besser gesagt, Inge-Lore Rackisch für Asphalt. Unsere langjährige Verkäuferin aus der Südstadt war bei den offiziellen Online-Bewerbungsgesprächen mit der Kulturhauptstadt-Jury dabei. Gemeinsam mit dem Oberbürgermeister Belit Onay hat auch sie ihr Bestes gegeben. Und das ist nicht wenig. Inge-Lore ist Dichterin, Lebenskünstlerin und Asphalt-Verkäuferin, kennt die Straße und die Abgründe des Lebens und der Seele. Und sie kennt die Kunst. Jahrelang war sie mit dem Totalkünstler Professor Timm Ulrichs (›Kopf-Stein-Pflaster‹ am Schiffgraben z. B.) »liiert wie man so sagt« erzählt sie manchmal von früher. Geht damit aber nicht hausieren. Selbstdarstellung liegt Inge-Lore nicht so. Nur so viel noch dazu: »Wir haben gemeinsam vieles, vieles ausprobiert damals.« Noch heute verbindet die beiden eine Freundschaft. Jedenfalls hat Inge-Lore sicherlich der Jury auch von sich erzählt. Was der genaue Inhalt des Interviews war, darüber mussten alle Beteiligten Stillschweigen bewahren, das gibt das Bewerbungsverfahren vor. Ganz sicher wird die Jury von Inge-Lore beeindruckt gewesen sein, da sind wir uns sicher. Inge-Lore selbst war von Oberbürgermeister Onay beeindruckt: »Der ruht in sich, ist super nett und hat so gar nichts Angeberisches«. Onay selbst sagte hinterher: »Wir haben wirklich alles gegeben.« MAC

Verkäufer Uwe: Mein Kater hat mir meine Wohnlandschaft umdekoriert. Ich suche eine Wohnlandschaft in L-Form und ein gebrauchtes Tablet. [V-Nr. 1865/Hannover] Kontakt: 0157 – 51993769. Verkäuferin Maria E.: Ich suche ein fahrtüchtiges gebrauchtes Damen-Fahrrad, da ich jetzt mit 54 Jahren noch Radfahren lerne, damit ich besser und unabhängig zu meinem Verkaufsplatz kommen kann. [V-Nr. G-006/Göttingen] Da ich kein Tele­ fon besitze, bitte ich um Angebote an das Büro Göttingen/ Kassel: 0551 – 5311462 oder goettingen@asphalt-magazin.de. Dankeschön.

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Foto: Daniel Hofer

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PUNK POSITIV Campino ist Deutschlands bekanntester Punkrocker. Jetzt ist seine Autobiografie »Hope Street« erschienen. Darin erzählt er von seiner Liebe zu England und zum Liverpool FC, von seiner Familie und – natürlich – den Toten Hosen. Wir haben mit ihm über seine Mutter, Punk, Bundeswehr und Waffen sowie Musik aus Liverpool gesprochen. Campino, können Sie nachvollziehen, dass es Fans gibt, die sich jedes einzelne Konzert der Toten Hosen anschauen? Das kann ich sehr wohl nachvollziehen, weil ich selber Bands wie den Clash, den Adicts und den Vibrators ständig hinterhergefahren bin, auch in andere Länder. Bei dieser Art von Fantum geht

es gar nicht mehr nur um die Konzerte, sondern um eine Aben­ teuerreise mit Gleichgesinnten. Das ist eine Insider-Geschichte. So ist es auch beim Fußball. Man kann schon im Zug auf dem Weg ins Stadion großen Spaß haben. Dabei können Freundschaften entstehen, die unter Umständen jahrelang halten.


Was fasziniert Sie am Liverpool FC so sehr, dass Sie sich möglichst alle Spiele live anschauen wollen? Man kann sich da hineinsteigern. Es ist wie bei einem Sammler. Je besser du einen Verein kennst, desto mehr zieht es dich rein, so dass du ein regelrecht schlechtes Gewissen hast, wenn du mal nicht im Stadion bist. Du redest dir ein, dass du als treuer Fan mit deiner Energie eine Rolle spielen könntest, was den Spielausgang betrifft. Du nimmst die Glücksgefühle und Niederlagen zu 100 Prozent wahr.

Foto: Picture-Alliance/Pressebildagentur ULMER | ULMER

Hat Ihre Faszination für den Liverpool FC auch etwas damit zu tun, dass Liverpool eine ausgesprochene Musikstadt ist?

Campino an der Anfield Road beim Spiel Liverpool gegen Bayern. Seine »Reds« kamen über ein 0:0 nicht hinaus.

Ganz klar ja. Als Neunjähriger konnte ich nicht ahnen, was Liverpool wirklich für eine Stadt war. Ich wusste nicht, ob sie hübsch oder rau, arm oder reich war. Aber je besser ich sie und ihre Menschen kennenlernte, umso näher war mir dieser Verein. Humor spielt dort eine große Rolle. Die Tatsache, dass die Beatles aus Liverpool kamen, hat mich noch mehr begeistert. Diese vier Jungs stammen aus schlichten Verhältnissen und haben in den zehn Jahren ihrer Existenz viele zeitlose, lebenskluge Lieder herausgehauen. Ein einmaliges Zusammenkommen von Talent, Glück und positiver Lebenseinstellung.

Der Stürmer Kevin Keegan vom Liverpool FC war ein Held Ihrer Jugend. Waren Sie von ihm sehr enttäuscht, als er zur Hoch-Zeit des Punk mit Smokie die Schlager-Pop-Ballade »Head Over Heels In Love« aufnahm? Mit seinen Locken sah er durchaus wie ein Sänger aus. Für mich war er 1971/72 ein Popstar. Als er später zum HSV wechselte und Singles rausbrachte, habe ich ihm immer noch die Daumen gedrückt. Da war es mir egal, was er sang, es war halt Kevin Keegan.

Campino Geboren am 22. Juni 1962 in Düsseldorf als Sohn eines deutschen Richters und einer britischen Hausfrau. Bürgerlicher Name: Andreas Frege. 1982 gründete Campino mit Trini Trimpop, Andreas von Holst, Michael Breitkopf und Andreas Meurer die Toten Hosen. Mit rund 15 Millionen verkauften Tonträgern eine der erfolgreichsten deutschen Rockbands. Bekannteste Lieder: »Hier kommt Alex« (1988) und »Tage wie diese« (2012). Die Toten Hosen sind Fans des Fußballvereins Fortuna Düsseldorf und engagieren sich für die ärmsten Länder der Welt, für Pro Asyl, den Umweltschutz und den Tierschutz. Neben der Musik arbeitet Campino auch als Schauspieler (»Dreigroschenoper«, »Palermo Shooting«), Hörbuchsprecher (»Peter und der Wolf«) und Dokumentarfilmer (»Desperado«). Er ist seit 2019 verheiratet und lebt abwechselnd in Düsseldorf, Berlin und Cornwall. Die Mutter seines Sohnes Lenn ist die Schauspielerin Karina Krawczyk. ON


Mit überhaupt nichts. Für mich war Punk lebensbejahend mit einer total positiven Energie. Natürlich haben die Bands mit ihren Texten provoziert, von Zerstörung geredet Eine Plastiktüte mit und »No Future« zur Parole erhoben, aber es war alles drei Flaschen Altbier andere als das. Wir hatten mitgebracht. unheimlich viel Spaß an der Provokation und Destruktion. Wir wollten uns nicht nur von unserer Elterngeneration absetzen, sondern auch von den Hippies. Punk entwickelte sich aber schnell in eine konstruktive Richtung. Bands wie The Clash benutzten die eigene Kraft, um Dinge zu bewegen, siehe »Rock Against Racism«. Diese Ideologie gefiel mir sehr. Das Klassenbewusstsein in England war viel krasser als in der Bundesrepublik. Die Working-Class-Attitude sprach mir aus dem Herzen.

Die deutsche Nationalelf sang damals biedere Schlager wie »Fußball ist unser Leben«.

Campino: »Hope Street. Wie ich einmal englischer Meister wurde« | Piper Verlag (22,00 Euro) bzw. tacheles!/Roof Music (17,99 Euro) | Mit 6 für das Hörbuch produzierten Songs

In Deutschland hatte der Fußball in den 1970ern nichts mit Popmusik zu tun. Speziell in Liverpool war das anders. Dort wurden schon Anfang der 1960er Jahre die Top Ten im Stadion gespielt, um die Leute zu unterhalten. Englische Fußballstars wurden immer schon wie Pophelden gefeiert. Ein Lied wie »Football Is Coming Home« schütteln die Engländer mal eben aus dem Ärmel. Und in den Nachrichten wird darüber gestritten, ob Oasis oder Blur die bessere Band ist.

1978, mit 16, wurden Sie Sänger der Band ZK, aus der 1982 die Toten Hosen hervorgingen. Warum wollten Sie unbedingt auf die Bühne? Es hat mir unglaublich viel Spaß gemacht, mit ein paar anderen Pappnasen irgendwo im Keller zu stehen und einen Mordsradau zu machen. Jeder hatte eine

Plastiktüte mit drei Flaschen Altbier mitgebracht. Niemand von uns trug sich mit irgendwelchen Karrieregedanken. Dass man mit Musik auch Geld verdienen konnte, entwickelte sich erst sehr spät. Wer damals nicht in einer Band spielte, schrieb für ein Fanzine oder machte Fotos. Wir waren sehr eng mit der Düsseldorfer Kunstszene verbunden, Leute wie Immendorff und Knoebel mochten das Dadaistische am Punk. Und wir wiederum bekamen von ihnen Denkanstöße. Daraus entstanden dann Parolen wie »Wir sind die Türken von morgen« oder »Zurück zum Beton«.

Ihre englische Mutter schämte sich anfangs für Ihre punkige Haltung und Ihr Aussehen, weshalb Sie jahrelang nicht mehr mit Ihnen gemeinsam frühstückte. Haben Sie versucht, ihr zu erklären, was Punk Ihnen bedeutet? Das Problem war, dass ich das nicht groß erklären musste, weil sie die Texte ja verstand. Wenn man als 14Jähriger »If It Ain‘t Stiff, It Ain‘t Worth A Fuck« auf der Jacke stehen hat, dann ist klar, dass eine Mutter dieses Kleidungsstück nicht gerne wäscht. Auch »God Save The Queen/Her Fascist Regime« war ein Angriff auf die Wertvorstellungen meiner Mutter. Sie hat den Schalk und die Ironie dahinter nicht verstanden, sondern machte sich Sorgen, dass unsere englische Familie mit mir plötzlich ein schwarzes Schaf hatte und die Nase rümpfen könnte. Ende der 1970er bekam meine Schwester von meiner Mutter sogar verboten, mein Zimmer aufzusuchen. Ich hatte ihr immer Platten vorgespielt und sie musste raten, welche Band gerade zu hören war. Meine Mutter hat versucht, zu retten, was zu retten war. Es brauchte eine gewisse Zeit, bis sie verstanden hatte, dass Punk nicht nur destruktiv ist. Nachdem es bei meinen Eltern einmal klick gemacht hatte, war es auch gut.

Sie sind anerkannter Kriegsdienstverweigerer, stellten den Antrag aber erst einen Tag nach dem Grundwehrdienst. Waren Sie in Ihrer Kompanie der einzige, der beim Marschieren anstelle eines Gewehres einen Besen trug? Innerhalb der Kaserne habe ich von keinem anderen Verweigerer gehört. Ich hatte verschlafen, mich rechtzeitig um meine Verweigerung zu kümmern. Breiti war Pazifist und hatte sogar die Unterstützung seiner Mutter, Andi ist nach Westberlin geflüchtet und ich hatte Angst vor einem Gespräch mit mei-

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Punk war der Sound der Unzufriedenen. Womit waren Sie damals nicht einverstanden?

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nem Vater. Es ist sehr schwer, das jemandem zu erklären, der den Zweiten Weltkrieg vom ersten bis zum letzten Tag miterlebt hat. Er wollte, dass so etwas nie wieder geschieht. In seinen Augen bräuchten wir eine demokratisierte Armee, die nah am Bürgertum ist. Er war der Meinung, dass jeder seinen Teil dazu beitragen sollte. Mein älterer Bruder John war wegen seiner Rückenprobleme untauglich, darüber war mein Vater so erzürnt, dass er ihm monatelang die Gelder entzog.

Wie ging Ihr Vater damit um, dass Sie den Kriegsdienst verweigern wollten? Mit seinem Lebensentwurf zu brechen, empfand mein Vater zunächst als große Enttäuschung. Verrate ich mein Leben oder das meines Vaters? Weil ich dieser harten Diskussion zu lange aus dem Weg gegangen war, bekam ich eines Tages den Einberufungsbescheid. Nach der Grundausbildung informierte ich meinen Vater per Telefon aus der Kaserne von meinen Verweigerungsplänen. Irgendwann hat er meine Entscheidung akzeptiert, aber ich durfte zuhause keine Witze darüber machen, dass ich der Bundeswehr entkommen war.

Sie wurden wegen Ihrer Verweigerung in der Kaserne schikaniert und mussten die Toiletten putzen. Gerächt haben Sie sich auf punkige Weise, indem Sie den Offizieren in den Quark spuckten. Wie hat diese Zeit Sie geprägt? Als ich meinen Dienst antrat, hatte ich meine Haare schwarz-rot-gold gefärbt. Der Hauptfeldwebel sagte, ich solle zum Frisör gehen und die Haare umfärben lassen. Dann würden wir beide Freunde – andernfalls sähe ich meine Verwandten und Freunde für die nächsten anderthalb Jahre nicht mehr. Wir waren mit den Toten Hosen gerade in den Startlöchern und ich hatte Angst, dass die Band auseinanderfallen könnte, wenn ich keine freien Wochenenden haben würde. Diese Drohung habe ich also sehr ernst genommen und daraufhin meine Haare schwarz gefärbt. Dieser Feldwebel dachte, er hätte mich resozialisiert und machte mir danach das Leben weniger schwer.

In den USA hatten Sie vor einiger Zeit ein gruseliges Erlebnis mit Waffen. Während der Dreharbeiten zu der Dokumentation »Desperado« über Wim Wenders wurde auf das Team geschossen. Was war da los?

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a m n e s t y a f t e r wo r k Schreiben Sie für die Menschenrechte – gegen Verfolgung, Gewalt und Folter

Gemeinsam für die Menschenrechte Sie können helfen: Wir laden Sie herzlich ein, uns montags zu besuchen. Lassen Sie Ihren Tag mit einer guten Tat bei Kaffee, Tee und Gebäck ausklingen, indem Sie sich mit Faxen, Petitionen oder Briefen gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt einsetzen. Öffnungszeiten: Montag 18 bis 19 Uhr after work cafe Dienstag 11 bis 12 Uhr, Donnerstag 18.30 bis 19.30 Uhr amnesty Bezirksbüro Hannover Fraunhoferstraße 15 · 30163 Hannover Telefon: 0511 66 72 63 · Fax: 0511 39 29 09 · www.ai-hannover.de Spenden an: IBAN: DE23370205000008090100 · BIC: BFSWDE33XXX Verwendungszweck: 1475

In Texas wollten wir eine Aufnahme von der Kleinstadt Terlingua aus der Luft machen. Für die Drohne hatten wir keine Genehmigung. Sofort wurde von irgendwoher geballert - aber nicht auf die Drohne, sondern auf die Kameraleute. Wir können uns in Deutschland nicht vorstellen, dass viele Amerikaner eine Flinte neben dem Bett stehen haben. In Texas kann es gefährlich werden, in der Dunkelheit über Felder zu laufen. Wenn du privates Land betrittst und bei Aufforderung nicht sofort parierst, kann es durchaus passieren, dass du niedergeschossen wirst. In Amerika wird die Verteidigung von Leib und Seele ganz anders definiert als hier.

Warum war es Ihnen wichtig, auch die Geschichte Ihrer Eltern und Großeltern zu erzählen? Ursprünglich wollte ich nur darüber schreiben, wie ich als Fan eine Saison lang meinen Verein begleite und was drumherum geschieht. Aber dann wurde mir klar, dass ich die deutsche Seite daneben stellen wollte. Ich habe mich tief in unsere Familiengeschichte hineingegraben. Mein Vater und mein Großvater haben die Briefe, die sie sich gegenseitig schickten, alle aufgehoben. Ich habe über diesen


Das Hörbuch »Hope Street« beinhaltet auch sechs Lieder aus oder über Liverpool, gesungen und gespielt von Ihnen und Tote-Hosen-Gitarrist Kuddel. Ich fand den Gedanken sympathisch, mit dem Buch auf Lesereise zu gehen und dabei akustische Lieder zu spielen, die mit Liverpool zu tun haben. »Penny Lane« von den Beatles zum Beispiel ist die Beschreibung einer Location in Liverpool. »Ferry Cross The Mersey« ist eine Ich habe mich Liebeserklärung an die Stadt von tief in die Gerry & The Pacemakers – neben unserem selbstgeschriebenen Lied Familienge»Long Way To Liverpool« von 1994. schichte hineinIm Proberaum merkten wir, dass gegraben. die eine oder andere Nummer auch für die ganze Band funktionieren könnte. Die anderen waren dann sehr schnell entflammt. Ein schönes Zeichen, dass die Band gerne mit mir teilt, was ich gerade mache. Das Buch ist dadurch kein Soloausflug mehr.

Den Soundtrack zu »Hope Street« bildet das Tote-Hosen-Album »Learning English Lesson 3: Mersey Beat! The Sound of Liverpool«. Es enthält Songs von etlichen Beatles-Zeitgenossen. Waren das die Vorläufer des Punk? Für mich absolut. Der Rock’n’Roll und die Beat-Musik Anfang der 1960er Jahre klangen revolutionär. Auf Fotos von damals sieht man für heutige Verhältnisse ganz ordentliche Frisuren. Aber alleine schon Haare über den Ohren zu haben, war zu dieser Zeit ein Skandal. Weil Bands wie The Searchers, Gerry and the Pacemakers, Rory Storm and the Hurricanes und The Swinging Blue Jeans über nichts anderes als Lust und Liebe sangen, machten die Eltern sich Sorgen, dass die Jugend ihre Ausbildung und ihr Leben nicht mehr ernst nimmt. Um 1960 gab es weit über 300 Bands in Liverpool. Die Hafenstädte Liverpool und Hamburg sind seelenverwandt. Es gab einen großen Austausch.

Vielen Dank für das Gespräch.

Interview: Olaf Neumann

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Foto: Daniel Hofer

Briefwechsel viel über meine englischen und deutschen Großeltern erfahren. Auf diese Weise bin ich mir meiner Wurzeln mehr bewusst geworden.

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BUCHTIPPS Privileg Heimat Schon 2016 schrieb die Wiener Journalistin und ehemalige Lehrerin Melisa Erkurt eine vielbeachtete Reportage mit dem Titel »Generation Haram«. Es ging um in Schule und Gesellschaft scheiternde muslimische Jugendliche – junge Männer, die sich einen schlecht verstandenen Islam und eine eigene Verbotskultur als Mittel zur Abgrenzung und Selbstermächtigung aneignen. Nun hat Erkurt, die als Kind aus dem Krieg in Bosnien nach Österreich fliehen musste, eine mitreißende Streitschrift unter gleichem Titel verfasst, die nur diejenigen enttäuschen wird, die sich von der »Vorzeigemigrantin« Schuldzuweisungen an muslimische Bildungsverlierer wünschen. Melisa Erkurt macht das Gegenteil. Sie erklärt, wie Chancen im Bildungssystem unmittelbar an Herkunft und sozialen Status gekoppelt sind. Sie zeigt auf, wie Schule weiter Dinge voraussetzt, die in einer Zuwanderungsgesellschaft nur ein Teil der SchülerInnen erbringen kann, und was Lösungen wären: Diversifizierung der Lehrerschaft etwa, multiprofessionelle Fachteams an Schulen, neukonzipierter Deutschunterricht. BP Melisa Erkurt | Generation Haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben | Zsol­ nay | 192 S. | 20 Euro

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Jahre des Gewährenlassens hatten die Neonaziszene groß werden lassen. Dann schließlich einsetzende Strafverfolgung, zivilgesellschaftlicher Widerstand und schließlich der gesellschaftliche Rechtsruck und die feste Verankerung des Rechtsradikalismus in den Parlamenten, haben ihnen Räume und Bewegungsspielraum genommen. Analog zur Mitte der 1990er ist es nicht mehr Massenmobilisierung und Straßengewalt, die die militante Rechte gefährlich macht, sondern neuerlich die Hinwendung zu Umsturz- und Terrorkonzepten. Eine entscheidende Rolle bei der Vorbereitung für den Tag X spielt die europaweit vernetzte rechte Kampfsportszene. Robert Claus, der viel Erhellendes etwa zu Fußballsubkulturen veröffentlicht hat, ist ausgewiesener Experte für diese Szene. Flankiert von Gastbeiträgen zu Rekrutierungs- und Geschäftsfeldern wie Hooliganszenen, Rechtsrock und Securitybranche und zur internationalen Dimension beschreibt Claus die Schlüsselbedeutung der Kampfsportszene für extrem rechte Strategien in der Krise. Er beschließt den Band mit einem konstruktiven Kapitel zu Gegenstrategien, Aufklärung und Prävention. BP Robert Claus | Ihr Kampf. Wie Europas extreme Rechte für den Umsturz trainiert | Die Werkstatt | 224 S. | 19,90 Euro.


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KULTURTIPPS Musik

34 Von Klezmer bis Tango

Foto: Anni Buhl

Tango, Klezmer und Improvisation – das ist das Konzert mit dem Oscuro Quartett. Große Spielfreude und diese besondere Besetzung mit Violine, Cello, Gitarre und Akkordeon machen das Quartett zu etwas Besonderem. Schon während des Musikstudiums wurde den vier Musikern bei abendlichen Treffen zum gemeinsamen Improvisieren im Dunkeln schnell klar, dass sie gut miteinander harmonieren. Jedes ihrer Konzerte ist einmalig, da diese improvisatorischen Elemente nicht wiederholbar sind. Energievoll, dramatische Tango-Musik von Astor Piazzolla, kombiniert mit schwungvoller, rhythmischer Klezmer-Musik sind eine interessante Abwechslung im Konzert. Donnerstag, 12. November, 19 bis 20.30 Uhr, St. Barbara Kirche, Harenberger Meile 31, Seelze, Eintritt 16 Euro.

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Symbiose aus Jazz und Pop Fantasievolle Kompositionen Klassik, Volksmusik und Worldjazz vereinen sich bei gruberich zu einem alpinen Fernweh. Groovig, schräg und experimentell kommen die drei Musikerinnen und Musiker daher. Mit Hackbrett, Violoncello, Harfe und Ziach entstehen Klanglandschaften, die in eine etwas andere, eine skurrile Alpenwelt entführen. Ihre fantasievollen Kompositionen setzen Thomas Gruber, Maria Friedrich und Sabine Gruber auf höchstem Niveau um. Die drei bekennen sich zum bajuwarischen Kosmos, zu Hackbrett und steirischer Harmonika, sind aber dennoch weit mehr als das: gruberich ist eine Entdeckung. Freitag, 27. November, 20 Uhr, Großer Saal im Schloss Landestrost, Schlossstraße 1, Neustadt a. Rbge., Eintritt 19 Euro, erm. 13 Euro.

SteinerTIME – das sind Tim Steiner, Burkhard Ruppaner, Lars Breitinger, Jan Bostelmann und David K. Ehlers. Für die Verwirklichung ihres neuen Albums hat sich das Quintett mit Elin Bell eine ausdrucksstarke Sängerin dazu geholt. Die Songs der Band erinnern an aufregende Erzählungen und erschaffen eine einzigartige Atmosphäre. Die Musik, mal filigran, mal druckvoll, aber stets harmonisch und unverwechselbar, wird dabei von Texten aus der Feder von Elin Bell unterstützt. Donnerstag, 26. November, ab 20 Uhr, Kulturzentrum Pavillon, Lister Meile 4, Hannover, Eintritt VVK 20,70 Euro, AK ab 17 Euro.


Für Kinder Wie im Märchen

Foto: iStock.com/nadisja

Es gibt nur die alt bekannten Märchen? Nur die aus alten Büchern? Falsch gedacht. Denn: Frisch erfundene Geschichten entstehen auf der Bühne. Und dafür können die Kinder ihre ganz persönlichen Ideen liefern. Gespielt werden diese dann von Andy Clapp und Christoph Buchfink. Mit Figuren, Slapstick und Erzählung. Welche Geschichte am Ende entsteht, lässt sich dabei nie vorhersagen. Sicher ist aber: Es wird ein Märchenabenteuer, wie es dies zuvor noch nicht gegeben hat. Für Kinder ab sechs Jahren. Donnerstag, 12. November, 10 Uhr, Stadtteilzentrum Nordstadt, Bürgerschule, Klaus-Müller-Kilian-Weg 2, Hannover, Karten gibt es unter 0511 – 70 89 85, Eintritt 4 Euro, AktivPass frei.

Lichterfest im Kinderwald Wenn Hunderte von Kindern mit ihren Eltern und selbstgebastelten Laternen durch den lichtgeschmückten Mecklenheider Forst ziehen, dann heißt es wieder Lichterfest im Kinderwald. Musikalisch wird der Laternenzug von den Kinderwaldchören begleitet und Fidolos Clownerie erfreut Klein und Groß mit Späßen. Doch bevor der Laternenumzug so richtig losgeht, gibt es dampfenden Kinderwald-Punsch, Brezeln und Stockbrot für alle zur Stärkung. Deshalb: Trinkbecher nicht vergessen! Mittwoch, 11. November, 16 bis 18 Uhr, Liegewiese Rehkuppe im Mecklenheider Forst, Schulenburger Landstraße 331A, Hannover, Eintritt frei.

Sonstiges Sozialer Flohmarkt Es gibt wieder jede Menge große und kleine Dinge zu entdecken, auf dem sozialen Flohmarkt der christlichen Drogenhilfe-Einrichtung »Neues Land«. Hinter den Verkaufstischen stehen überwiegend ehemalige Drogenabhängige, die ihre Therapie erfolgreich beendet haben, und bieten den Kauflustigen gut Erhaltenes und Nützliches aus zweiter Hand. Sie selbst bekommen durch das Flohmarkt-Projekt eine sinnvolle Aufgabe. Der komplette Verkaufserlös kommt ausschließlich sozialen Zwecken zugute. Natürlich findet der Flohmarkt unter Einhaltung der Corona-Hygienemaßnahmen statt. Samstag, 14. November, ab 9 Uhr, Parkplatz bei der Heilsarmee, Am Marstall 25, Hannover, Eintritt frei.


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PING »Perfekt inszeniertes Nonsensgefasel« oder »Poesie in neuem Gewand« – in ihrem sechsten Programm »PING« holen die hannoverschen Kolumnisten und Satiriker Uwe Janssen und Imre Grimm ein paar schöne, alte Wörter aus der Kiste und treiben nach alter Väter Sitte Schindluder mit dem Typenrad, dem Farbband und dem Zeitgeist: honett, bumsfidel und schlankerhand bonfortionös. Die einäugigen Zwillinge der norddeutschen Sitzcomedy bescheren dem Publikum einen Abend mit Friesematenten und Grimmatik ohne Schischi. Einen furiosen Mix in Wort, Bild und Ton. Heidewitzka! Das wird ein Jokus! Dienstag, 17. November, Einlass 19 Uhr, Beginn 20 Uhr, Marlene Bar & Bühne, Prinzenstraße 10, Hannover, Eintritt 15 Euro Onlinevorverkauf zzgl. VVG, Abendkasse 19 Euro.

Pettersson und Findus Es ist der Tag vor Heilig Abend. Wie jedes Jahr gehen Pettersson und Findus in den Wald, um sich ihren Weihnachtsbaum auszusuchen. Doch es kommt zu einem Unglück. Pettersson verstaucht sich den Fuß so schlimm, dass er nicht mehr auftreten kann. Zu blöd, denn für Weihnachten ist noch nichts vorbereitet. Findus befürchtet, dass es nun ein trauriges Weihnachtsfest wird. Doch als die Nachbarn vom Unglück Petterssons erfahren, backen und kochen sie, füllen ihre Körbe mit den leckersten Sachen und machen sich auf den Weg zu den beiden. Auf sentimentale, aber niemals kitschige Weise wird hier die Geschichte von Freundschaft und Nächstenliebe erzählt, so, dass es Kinder und Erwachsene gleichermaßen anrührt. Samstag, 21. November, Einlass ab 14.30 Uhr, Beginn 15 Uhr, CD Kaserne Halle 16, Hannoversche Straße 30b, Celle, Eintritt 9 Euro.

Foto: Katharina Seibt

Bühne

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Das Spiel von Liebe und Zufall Silvia und Dorante sind von ihren Vätern füreinander bestimmt. Allerdings möchten sie erst einmal ihren potentiellen Partner inkognito kennenlernen und so hecken beide dieselbe List aus: Sie tauschen jeweils mit ihren Dienern die Rollen. Verwicklungen sind also vorprogrammiert, und so nimmt ein vergnügliches Verwirrspiel mit tempo- und geistreichen Dialogen seinen Lauf. Neu arrangierte Beatle-Songs ergänzen und begleiten das Geschehen auf der Bühne. Montag, 23. November, 19.30 Uhr, Theater Hameln, Sedanstraße 4, Hameln, Eintritt ab 15 Euro, erm. jeweils die Hälfte.

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SILBENRÄTSEL Aus den nachfolgenden Silben sind 20 Wörter zu bilden, deren erste und vierte Buchstaben – von oben nach unten gelesen – ein Zitat von Oscar Wilde ergeben: ara – aus – bel – blu – bo – burg – by – de – der – der – der – dia – dom – don – ei – ein – ein – en – en – ga – gels – go – gut – horn – in – kel – lag – le – leer – ler – lis – lou – me – mel – na – ne – nen – ner – nit – po – rei – rich – rinn – schim – selbst – sied – son – stand – stein – strumpf – ta – te – ten – ter – tung – use – ver – vre

1. hochwüchsiger Korbblütler 2. Eremit 3. Hauptstadt von Indiana 4. Wettererscheinung 5. Insel in der Ostsee 6. ein Autor veröffentlicht seine Bücher allein 7. Wasservogel im Norden Deutschlands 8. Altglas

Unter den Einsendern der richtigen Lösung verlosen wir dreimal den spannenden Thriller »Aus schwarzem Wasser« von Anne Freytag. Ohne zu bremsen, rast die Innenministerin Dr. Patricia Kohlbeck mit ihrem Auto in die Spree und ertrinkt. Mit dabei: ihre Tochter Maja. »Du kannst niemandem trauen, sie stecken alle mit drin«, sind ihre letzten Worte. Gegen ihren Willen gerät Maja in einen Konflikt aus Lügen, Intrigen und Machtkämpfen. Ebenfalls dreimal gibt es das Buch »Mallorca – Authentische Rezepte von der Sonneninsel« von Marc Fosh zu gewinnen. Der Sternekoch nimmt uns mit auf eine Reise durch die Geschmäcker und Aromen der Insel. Er lässt sich von 18 typischen mediterranen Zutaten inspirieren und bietet über 100 Rezepte. Faszinierende Erzählungen über Land und Leute und atemberaubende Bilder ergänzen das Buch. Das Ausmalbuch »Winterzauber« von Maren Kruth können Sie dreimal gewinnen. Die gemütlichste aller Jahreszeiten bietet eine gute Gelegenheit, um sich eine kleine Auszeit zu nehmen. Ausmalen entspannt, macht den Kopf frei und dazu noch unheimlich viel Spaß. Phantasievolle Illustrationen und inspirierende Sprüche und Gedanken zum Thema Winter hat die junge Illustratorin und Zeichnerin liebevoll zusammengestellt. Die Lösung des Oktober-Rätsels lautet: Mancher ertrinkt lieber als dass er um Hilfe ruft. Das Silbenrätsel schrieb für Sie Ursula Gensch. Die Lösung (ggf. mit Angabe Ihres Wunschgewinnes) bitte an: Asphalt-Magazin, Hallerstraße 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover; Fax: 0511 – 30 12 69-15. E-Mail: gewinne@asphalt-magazin.de. Einsendeschluss: 30. November 2020. Bitte vergessen Sie Ihre Absenderadresse nicht! Viel Glück!

9. spanische Weinstube 10. Novelle von Theodor Storm 11. Fangarme mancher Weichtiere 12. Streik 13. Museum in Paris 14. Gestalt bei Cooper 15. Möblierung 16. ein Mineral (Calciumkarbonat) 17. Signalapparat für die Seefahrt 18. Pferderennen 19. Mausoleum in Rom 20. Abfluss zwischen Straße und Bürgersteig


Foto: Tomas Rodriguez

n f u a t n Mome

Ich mag dieses Bild. Obwohl vor allem Verfall und Einsamkeit zu sehen sind. Vergänglichkeit. Eingeschlagene Fenster. Verlassene Straße. Unwirtlich. Und trotzdem hat es eine eigene Ästhetik. In meinen Augen ist es ein Herbstbild. Ein klassisches Novemberbild. Rilke schießt mir in den Sinn. Fallende Blätter, ferne Gärten und eine Hand, die alles Fallen unendlich sanft in sich hält. Und an noch etwas muss ich denken: An einen lange zurückliegenden Friedhofsspaziergang abends an Allerheiligen. Auf vielen Gräbern leuchteten Kerzen und je dunkler es wurde, umso heller wurde jedes einzelne Grablicht. Eine unfassbare Kraft und Schönheit ging von diesem Leuchten aus. Damals habe ich verstanden, was man unter einem »Hoffnungsschimmer« verstehen kann. Der November steht schon jahrhundertelang im Schatten des Todes. Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag, Volkstrauertag. Ich weiß nicht, ob ich jetzt irgendwie komisch rüberkomme, aber ich mag diese Tage. Ich finde es wichtig, sich hin und wieder zu vergegenwärtigen, dass unser Leben endlich ist. Und ich finde es beruhigend, dass das dann doch das Einzige ist, das uns Menschen gleich macht. Kein Geld, kein politisches Amt, keine Macht dieser Welt vermag es, sich dem Tod in den Weg zu stellen. Alle Potentaten und alle Diktatoren stehen am Schluss vor dem Problem, dass der letzte Befehl nicht mehr aus ihrem Munde kommt. Milliardäre und Narzissten können Güter anhäufen ohne Ende, am Schluss hat auch ihr letztes Hemd keine Taschen. Es ist vielleicht mit Edelsteinen besetzt – wer’s mag … Irgendwann kommt der Gevatter und dann ist Sense! Wer sich dessen gewahr wird, stellt vielleicht fest, dass das Leben viel zu kurz für stetige schlechte Laune ist. Viel zu kurz für ewiges Gemeckere. Viel zu kurz, um nur um sich zu kreisen. In Mexiko gibt es eine lange Tradition, die auf die Azteken zurückgeht. Man feiert den Dia de los muertos, den Tag der Toten. Ein langer Tag! Zieht er sich doch über drei Tage und zwei Nächte. Es ist ein großes und extrem buntes Volksfest. Unter anderem wird auch auf den Friedhöfen gefeiert. Bunte Kostüme, Süßigkeiten in Form von Totenschädeln und das »pan de muerto«, das Brot der Toten, gehören immer dazu. Musik und Tanz stören dort am Dia des los muertos nicht die Totenruhe, vielmehr ist man überzeugt, dass die Ahnen ausgelassen mit dabei sind. Eine solche Feier auf dem Friedhof bei uns in Deutschland? Schwer denkbar. Womöglich mit Currywurst, »Pommes Schranke« (=weiß/rot) und einer Kiste Bier?! Andererseits, wie hat Westernhagen in seinem wunderbaren Lied »Freiheit« gesungen? »Sollten tanzen auch auf Gräbern!« Vielleicht tanzen wir beim nächsten Friedhofsbesuch im Geiste und erheben eine Tasse Ostfriesentee mit Kluntjes und Sahne! Auf die Toten? Nein, auf das Leben! Matthias Brodowy/Kabarettist und Asphalt-Mitherausgeber

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s y w o Brod ahme

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