2020 10 Asphalt

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2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

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FABRIKEN ZU WOHNRAUM MIT BETEILIGUNG

OHNE ANGST

GEGEN ÜBERFLUSS

Bauen auf Industriebrachen: Anwohner fordern Mitsprache

Rechtsextremismus: MP Weil bezieht Position

Weniger ist mehr: Anne Weiss über Minimalismus


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»Symbole sind wichtig«

Höcke, Halle, Hanau … – von Rechts­ außen droht wachsende Gefahr. Und die Corona-Krise wird zum Katalysator. Im Asphalt-Interview bezieht Ministerpräsident Stephan Weil Position.

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Notizblock

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Angespitzt

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Briefe an uns

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Tradition verpflichtet 500 bezahlbare Wohnungen lautet das Ziel der Projektentwicklung der denkmal­ geschützten Salzmann-Fabrik im Kasseler Stadtteil Bettenhausen.

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Gut zu wissen Unsere kleine Farm Stall ausmisten statt Bingo spielen: Guido Pusch bietet mit seinem Senioren-Bauernhof eine Alternative zum Altersheim an. Ist das die Zukunft der Pflege?

23 Das muss mal gesagt werden 24 Aus dem Leben von Asphalt-Verkäuferin Natalie

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Baugrund für bezahlbaren Wohnraum in der Stadt ist rar und teuer. Ehemalige Industrieflächen bieten da enorme städtebauliche Chancen. Und Fallstricke.

28 Zoo-Rätsel/Impressum 29

Rund um Asphalt

34 Buchtipps 35 Kulturtipps 38 Silbenrätsel 39 Brodowys Momentaufnahme

Titelbild: komisar/iStock.com

12 Fabrik wird Stadtteil

Piquardts Genuss des Einfachen Der bekannte hannoversche Gastronom ist Autor, Olivenbauer und Kochanimator. Jetzt kocht er für Asphalt.

Das Asphalt-Prinzip

30 Befreit

Ein Schrank voller Klamotten, die keiner trägt. Eine Wohnung mit Dingen, die niemand braucht. So sieht es bei vielen zuhause aus. Anne Weiss verrät Asphalt, wie sie sich vom Konsum gelöst hat.

Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer sind Menschen mit brüchigen Biographien. Irgendwann sind sie in ihrem Leben durch schwere Schicksale, Krankheiten oder traumatische Erlebnisse aus der Bahn geworfen worden. Heute versuchen sie, durch den Verkauf des Asphalt-Magazins ihrem Leben wieder Struktur und Sinn zu verleihen. Viele sind oder waren wohnungslos, alle sind von Armut betroffen. Sie kaufen das Asphalt-Magazin für 1,10 Euro und verkaufen es für 2,20 Euro. Asphalt ist eine gemeinnützige Hilfe-zur-Selbsthilfe-Einrichtung und erhält keinerlei regelmäßige staatliche oder kirchliche Zuwendung. Spenden Sie bitte an: Asphalt gGmbH bei der Evangelische Bank eG, IBAN: DE35 5206 0410 0000 6022 30, BIC: GENODEF1EK1.


Foto: Markus Lampe

Wie wollen wir einmal wohnen? Die Zeiten ändern sich. Lange hieß es: Wir brauchen mehr Platz. Die Wohnfläche pro Einwohner nahm entsprechend zu. 66 Quadratmeter pro Kopf beträgt sie inzwischen bundesweit in Einpersonenhaushalten, in Mehrpersonenhaushalten sind es entsprechend weniger. Haushalte mit einer Person nehmen aber weiter zu. Hannover etwa ist Singlehauptstadt, mehr als jede zweite Wohnung wird aktuell von einer Person bewohnt. Viele wohnen inzwischen allein in ihren zu groß gewordenen Wohnungen. Inzwischen haben wir verstanden: Es geht nicht um Größe. Die Sehnsucht nach Begegnung, nach einer sozialen Stadt, die das auch baulich berücksichtigt, wächst. Es entwickelt sich etwas in unseren Städten. Menschen schließen sich zusammen, überlegen, wie nachhaltig, wie kleiner gebaut und gewohnt werden kann. Die soziale Durchmischung ist deutlicher im Blick als bisher. Private Initiativen, diakonische Unternehmen, auch Kirchengemeinden überlegen, wie freier Grund und Boden so bebaut werden kann, dass Menschen gut miteinander leben können. Gleichzeitig rennt uns die Zeit davon. Der Bedarf nicht nur an kleinen Wohnungen in den Städten wächst und wächst, der Druck auf dem Wohnungsmarkt ist immens. Alle, die in der letzten Zeit Wohnungen suchen mussten, haben das erlebt. Hier miteinander um gute Lösungen zu ringen, die soziale, ökologische und wirtschaftliche Aspekte im Blick behalten, ist anstrengend, mühsam- aber unbedingt lohnend. Beispiele finden sich in diesem Heft. »Suchet der Stadt Bestes« hieß es schon beim Propheten Jeremia, es ist Zeit, dass wir neu fündig werden.

Ihr

Rainer Müller-Brandes · Asphalt-Mitherausgeber und Stadtsuperintendent

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Liebe Leserin, lieber Leser!

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Foto: Rieke Staack

NOTIZBLOCK

Demo für Obdachlose Hannover. Mehrere Dutzend Menschen, darunter SozialarbeiterInnen, Asphalter und Obdachlose, haben in Hannover für eine bessere Unterbringung obdachloser Menschen demonstriert. »Wir werden Oberbürgermeister Belit Onay an dem ambitionierten Programm messen, das er im Wahlkampf zum Thema Obdach- und Wohnungslosigkeit formuliert hat«, sagte Axel Fleischhauer von der Initiative »armutstinkt.de«. Die Initiative hatte zu der Demonstration aufgerufen. Sie forderte den Ausbau und die Verbesserung der Unterkünfte für Obdachlose. Nur Einzelunterkünfte seien menschenwürdig und mit dem Infektionsschutz vereinbar. Die Stadt müsse aber auch mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen. Die InitiatorInnen warfen der Stadtverwaltung vor, kein Interesse an einer nachhaltigen Verbesserung der Situation obdach- und wohnungsloser Menschen zu haben. Offenbar solle Hannover nicht zum Anziehungspunkt für arme Menschen aus der ganzen Welt werden, sagte Fleischhauer. »Das finden wir zynisch.« Nach Schätzungen sind in Hannover 400 bis 600 Menschen ohne Obdach. Bundesweit sind laut Jahresbericht der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungshilfe (BAG W) rund 678.000 Menschen ohne Wohnung. Obdachlos sind Menschen, die weder einen festen Wohnsitz noch eine Unterkunft haben. Wohnungslose kommen hingegen bei Freunden oder Bekannten oder in Notunterkünften unter. EPD/MAC

Für attraktivere Kitas Hannover. Die Diakonie Niedersachsen fordert ein langfristiges Konzept der Landesregierung gegen den Fachkräftemangel in Kindertageseinrichtungen. Das Kultusministerium müsse beantworten, welche konkreten Maßnahmen geplant seien, um die Attraktivität des Berufs einer Erzieherin oder eines Erziehers zu stärken, mahnte Vorstandssprecher Hans-Joachim Lenke. Nach wie vor sei zu beklagen, dass viele Fachkräfte in den ersten fünf Berufsjahren wieder aus den Kindertageseinrichtungen ausschieden und eine andere Tätigkeit anstrebten. »Dem kann nur sinnvoll entgegengewirkt werden, wenn sich die Rahmenbedingungen in den Kindertageseinrichtungen verbessern«, so Lenke. Zudem kritisierte Lenke Pläne der Landesregierung, in Kinderkrippen weiterhin die Betreuung durch nur zwei Fachkräfte zu erlauben. EPD

Mehr Abtreibungen Hannover/Bremen. Die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in Niedersachsen und Bremen steigt an. Im zweiten Quartal 2020 ließen in Niedersachsen rund 1.900 Frauen einen Abbruch vornehmen, wie das Statistische Bundesamt bekannt gab. Das waren 5,8 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. In Bremen gab es 570 gemeldete Abtreibungen – ein Anstieg um 12,6 Prozent. Danach haben die Schwangerschaftsabbrüche in beiden Ländern stärker zugenommen als im Bundesdurchschnitt. Rund 70 Prozent der Frauen, die einen Schwangerschaftsabbruch ausführen ließen, waren den Angaben zufolge zwischen 18 und 34 Jahren alt. EPD


Atomgegner gegen Zwischenlager

Hannover. Bis zum Jahr 2025 fehlen in der Landeshauptstadt und Umlandgemeinden 3.000 Sozialwohnungen – das geht aus dem Wohnraumförderkonzept hervor, das die Region Hannover im Rahmen ihrer WohnBauInitiative erstellt hat. Neben dem Neubau bezahlbarer Wohnungen sollen demnach künftig vermehrt Sozialwohnungen aus dem vorhandenen Bestand an Mietwohnungen akquiriert werden. Dafür hat die Region ein Förderpaket für VermieterInnen geschaffen, die Belegungsrechte für einen gebundenen Zeitraum verkaufen. »Es geht vor allem darum, Wohnraum für Menschen zu schaffen, die es nicht leicht haben, auf dem freien Wohnungsmarkt eine Wohnung zu finden. Dazu gehören zum Beispiel wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Haushalte oder auch Frauen, die nach einem Aufenthalt in einem Frauenhaus eine eigene Wohnung brauchen«, so Andrea Hanke, Dezernentin für Soziale Infrastruktur der Region Hannover. Unterdessen kritisierte die Linke, dass zu viele Eigenheime im Hochpreissegment gebaut würden. So kosteten Reihenhäuser zwischen 500.000 und 700.000 Euro. »Wir benötigen in erster Linie bezahlbare Wohnungen mit einer ausreichenden Förderquote von mindestens 30 Prozent«, so Ratsfraktionschef Dirk Machentanz. »Ich frage mich, wer in der heutigen Zeit unter DurchschnittsverdienerInnen das Geld hat, sich ein Reihenhaus für 500.000 bis 700.000 Euro zu kaufen, hier wird an der Realität vorbeigeplant!« MAC

Beverungen/Holzminden. Bürgerinitiativen haben gegen das im Dreiländereck von Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hessen geplante Atommülllager demonstriert. Die bundeseigene Gesellschaft für Zwischenlagerung (BGZ) will das Lager auf dem Gelände des stillgelegten Atomkraftwerks Würgassen errichten. Es soll vorübergehend nahezu allen in Deutschland anfallenden schwach- und mittelradioaktiven Atommüll aufnehmen. Geplant ist eine rund 325 Meter lange, 125 Meter breite und 16 Meter hohe Halle aus Stahlbeton. Die Kosten beziffert die BGZ mit 450 Millionen Euro, rund 100 dauerhafte Arbeitsplätze würden entstehen. In dem von der BGZ sogenannten Logistikzentrum sollen ab dem Jahr 2027 Behälter mit schwach- und mittelradioaktiven Abfällen aus den dezentralen deutschen Zwischenlagern gesammelt und für den Transport ins Endlager Konrad zusammengestellt werden. Schacht Konrad, ein ehemaliges Eisenerzbergwerk in Salzgitter, wird zurzeit zum Bundesendlager für diese Art von Atommüll ausgebaut. Es soll ebenfalls ab 2027 betriebsbereit sein und insgesamt bis zu 303.000 Kubikmeter strahlenden Müll aufnehmen. Die Abfälle stammen vor allem aus dem Betrieb und Rückbau von Atomkraftwerken, zum kleineren Teil auch aus Forschung und Medizin. Die Kritiker warnen, der Standort liege im Hochwasserrisikogebiet. Zudem verdoppele sich die Zahl der Atomtransporte bis zur Endlagerung, das widerspreche dem Minimierungsgebot des Strahlenschutzes. EPD

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Nazi hortet Waffen Lüneburg/Seevetal. Das Landeskriminalamt (LKA) hat bei einem mutmaßlichen Mitglied der rechten Szene etwa 250 scharfe Schusswaffen gefunden. Auch mehrere Tausend Schuss Munition lagerte der Mann. Das LKA geht davon aus, dass man bei dem Mann aus Seevetal »aufgrund der Gesamtumstände von einer rechten Gesinnung« ausgehen müsse. Gefunden wurden Pistolen, Gewehre und sogar Kriegswaffen. Weitere Angaben zu eventuellen Verbindungen zu anderen Neonazis machte der Staatsschutz des LKA nicht. MAC

Beratung sofort nach Beitritt! Jetzt Mitglied werden! Kompetente Hilfe bei allen Fragen zum Mietrecht. Herrenstraße 14 · 30159 Hannover Telefon: 0511–12106-0 Internet: www.dmb-hannover.de E-Mail: info@dmb-hannover.de Außenstellen: Nienburg, Soltau, Hoya, Celle, Neustadt, Springe und Obernkirchen.

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Region sucht Wohnungen

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ANGESPITZT – DIE GLOSSE

Dieter ist weg. Elsi (die eigentlich ganz anders heißt, aber trotzdem Elsi genannt werden möchte – kein Mensch weiß warum) setzt mich ins Bild: »Der Dieter leugnet jetzt Corona!« So ist das also. Mehr als drei Jahre war Dieter – obwohl nur die Nummer fünf und

»CORONA VERSCHWÖRUNGEN«

damit nicht gerade unentbehrlich – doch fester Bestandteil unserer Doppelkopfrunde. Das sei jetzt vorbei, sagt Elsi, mit so einem wolle man schließlich nichts zu tun haben. Herausgekommen sei alles auf Facebook: »Lauter Verschwörungen postet der Dieter«, berichtet Elsi. Nichts davon habe ich je bemerkt, erkläre ich. »Weil du nicht auf Facebook bist«, erinnert sie mich mit erhobenem Zeigefinger, »deshalb weißt du auch nicht, wie es mit Corona wirklich ist!« »Du leugnest etwa auch?«, rufe ich verwirrt. »Aber nein«, antwortet sie lachend. Doch dann wird sie wieder ernst: »Es ist doch alles noch viel schlimmer, als man uns weismachen will!« Ulrich Matthias Anzeige


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»SYMBOLE SIND WICHTIG« Höcke, Halle, Hanau … – von Rechtsaußen droht wachsende Gefahr. Und die Corona-Krise wird zum Katalysator. Im Asphalt-Interview bezieht Ministerpräsident Stephan Weil Position. Zu Hass und Haltung, neuer Härte und Hetzern in Uniform. Lieber Herr Weil, sind Sie Antifaschist? Ja. Kein Zweifel. Seit ich mich in meiner Jugend mit dem Nationalsozialismus beschäftigt habe, ist das ein ganz wichtiger Teil meines Selbstverständnisses. Antifaschist ja, unbedingt, aber nicht gerade Freund der Antifa, das will ich zufügen.

Antifaschist aus einer sozialdemokratischen Tradition … Nein, ich war zunächst Antifaschist, dann erst bin ich Sozialdemokrat geworden. Wenn man sich mit der Geschichte des Faschismus und seiner deutschen Ausprägung, dem National-

sozialismus, beschäftigt, dann muss man feststellen: Faschisten appellieren an die niedrigsten Triebe des Menschen. Insofern ist das nicht nur eine Frage von Sozialdemokratie, sondern vor allem auch eine Frage von Humanität.

Sie haben im Frühjahr direkt nach den Morden von Hanau spontan vor der Marktkirche von Hannover eine Rede gehalten, sie sagten, dass die Anschläge auf die Gesellschaft in immer kürzeren Abständen kämen. Qua Amt oder aus Überzeugung?


Der AfD geht es vielfach um bloße Provokation.

Ich habe in meinem Leben schon viele Reden gegen rechtsex­tremes Unwesen gehalten. Eben weil es Teil meiner politischen Identität ist. Ich erinnere mich gut an die Gründung des Bündnisses »bunt statt braun« im Jahr 2009. Damals wollte die NPD ausgerechnet am 1. Mai in Hannover marschieren. Zehn Jahre später hatte sie im letzten Herbst wieder in Hannover demonstriert, um gegen freie Journalisten zu agitieren und wieder haben »bunt statt braun« und ich als Teil davon dagegen Haltung gezeigt. Das ist jetzt übrigens Teil eines Verfahrens gegen mich vor dem Staatsgerichtshofs Bückeburg, da schließt sich der Kreis.

Verfahren welchen Inhalts? Die NPD hat ein Verfahren gegen mich eingeleitet, weil ich bestimmte Aussagen über den Twitter-Kanal der Staatskanzlei damals angeblich nicht hätte machen dürfen. Es geht in dem Verfahren um die Frage, wie weit die Neutralitätspflicht des Amtes des Ministerpräsidenten reicht.

Und Sie sehen dem, wie man sagt, gelassen entgegen? Gelassen sowieso, weil ich in der Sache mit mir aber

sowas von im Reinen bin. Ich hatte gesagt, ich fände es perfide, wenn die rechtsextreme NPD unter dem Deckmantel der Versammlungsfreiheit gegen die ebenfalls verfassungsrechtlich garantierte Pressefreiheit demonstrieren will. Die anstehende Gerichtsentscheidung warte ich jetzt schlicht ab.

Im Schutz der Corona-Proteste braut sich nun eine ganz neue undogmatische Rechte in Deutschland zusammen. Muss uns das Angst machen? Angst würde ich niemals empfehlen, denn sie ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber. Aber dass man vorsichtig sein muss und wehrhaft als Demokratie, das ist ganz sicher der Fall. Es ist ja geradezu das Kennzeichen von Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, sich auf behauptete oder tatsächlich bestehende Unsicherheiten in der Bevölkerung draufzusetzen, als eine Art Wellenreiter. Die aktuellen Demos sind nur das jüngste Beispiel, aber nicht das erste. Vor fünf Jahren war so etwas ähnliches zu beobachten, als viele geflüchtete Menschen zu uns kamen. Die Rechten nutzen solche Situationen, wo immer es ihnen möglich ist. Und da muss man gegenhalten.

Aber wie hält man dagegen, wenn die Rechten Ängste nutzen und diejenigen, die dort mitgehen, Ängste haben? Ängste sind für Argumente ja wenig empfänglich? Ich denke, die Menschen sind da sehr unterschiedlich. Zum einen müssen wir in der Politik immer und überall weiterhin


erklären, warum wir welche Maßnahmen beispielsweise zum Infektionsschutz treffen. Niemand von uns kann sich zurücklehnen und meinen, jetzt müssten es alle begriffen haben. Es gibt aber auch Menschen, die sich nur durch Sanktionen beeindrucken lassen, etwa durch die Androhung eines Bußgelds gegen Maskenmuffel. Und wieder andere werden wir gar nicht erreichen. Überall wo diese letzteren gegen das Recht verstoßen, müssen wir sie zwingen, das Recht zu beachten.

Reichsflaggen vor bundesdeutschen Parlamenten, das hat viele geschockt und empört. Sie auch? Die Flaggen vor dem Reichstag waren eine gezielte Provoka­ tion und ein Tabubruch. Der Konflikt Schwarz-Weiß-Rot gegen Schwarz-Rot-Gold ist uralt. Immer wenn Schwarz-Weiß-Rot das Sagen hatte, ging es mit der Demokratie in Deutschland zu Ende. Symbole sind wichtig für die Rechten, auch für uns Demokraten sollten sie wichtig sein.

Unmittelbar beteiligt an solchen Demos sind auch Staatsbedienstete wie zuletzt Michael F., der Chef vom Technischen Präventionsteam der Polizei in Hannover, der offen vom gewaltsamen Umsturz des Systems sprach. Was meinen Sie, wie viele Menschen im Staatsdienst des Landes sind ähnlich nicht vertrauenswürdig? Es gibt nun seit Jahren schon Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung, die immer wieder ergeben haben, dass rechtsextreme

Rebecca Seidler von den jüdischen Gemeinden im Land hatte angesichts der Vorkommnisse um Michael F. gefragt, ob die Polizei wachsam genug sei und wirklich loyal zum Schutz der Gemeinden zur Verfügung stehe. Natürlich ist das mehr als unglücklich, dass ausgerechnet dieser Beamte für das Schutzkonzept der Synagogen zuständig war, aber das war nicht absehbar und das Konzept wurde noch einmal kritisch überprüft. Fest steht: Wir hatten bisher in Niedersachsen noch keinen solchen Fall wie in Hessen, wo ein NSU 2.0 über Polizeicomputer in nicht geringer Anzahl Daten von Menschen abfragen konnte, die von Rechten gehasst werden.

Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Uwe Becker, brachte es jüngst auf die Kurzformel: »Höcke, Halle, Hanau«. Wie erleben Sie eigentlich im parlamentarischen Alltag die AfD? In Niedersachsen fällt zunächst einmal auf, dass die AfD ein ganz anderes Parlamentarismus-Verständnis hat als all die anderen Fraktionen. Es ist deutlich erkennbar, dass die AfD ihre Arbeit im Parlament rein instrumentell sieht. Da werden die Parlamentsbeiträge medial vorbereitet, und auch die Nachbereitung wird komplett vorweg durchgeplant. Das ist

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Einstellungen in weiten Teilen der Gesellschaft anzutreffen sind, bis in die bürgerliche Mitte. Es wäre vermessen zu behaupten, dass der öffentliche Dienst, die Lehrerschaft, die Polizei davon überhaupt nicht betroffen wäre. Gleichzeitig gilt auch, konkret bezogen auf die Polizei: Die Art der Auswahl der Bewerber und die Art und Weise der Ausbildung errichten deutliche Hürden. Es soll Und nur jeder fünfte Bewerber auf eine möglichst Stelle wird auch genommen. In Niedersachsen ist es anders als in den USA, wo deutliche man binnen weniger Tage Polizist werden Sanktionen kann, die Anwärter studieren hier drei geben. Jahre im Bachelorstudium. Und so gab es in den letzten drei Jahren nur zehn Disziplinarverfahren im Zusammenhang mit rechtsextremen Verhaltensweisen. Die übergroße Mehrheit der Beamtinnen und Beamten ist rechtstreu und demokratiefest. Natürlich gibt es keine Immunität gegen rechte Tendenzen. Aber es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass wir insofern im niedersächsischen Staatsdienst ein strukturelles Problem hätten.

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das eigentliche Ziel der Veranstaltung. Es geht ihnen nicht um die Diskussion als solche, nicht um ein Ringen um die besten Lösungen, es geht vielfach um bloße Provokation. Die AfD in unserem Landtag ist jedoch im Vergleich zu den ostdeutschen Parlamenten sehr klein. Wir haben 137 Abgeordnete insgesamt, davon sitzen neun am rechten Rand. Und der übergroße andere Teil des Landtages zeigt diesen neun Rechten immer und immer wieder, dass er ganz anderer Auffassung ist. Das finde ich beeindruckend. Aber natürlich würde ich mir wünschen, dass die AfD dem nächsten Niedersächsischen Landtag nicht mehr angehört.

Herr Wichmann, AfD-Fraktionsgeschäftsführer, hat wohl öfters gegen Shisha-Bars gesprochen. In Hanau wurde eine angegriffen. Andere Parteien aber reden auch gegen Shisha-Bars. Es gibt einen großen Unterschied im Umgang mit Shisha-Bars. Einzelne Abgeordnete mögen solche Einrichtungen im Zusammenhang mit dem Infektionsschutz kritisch sehen. Da geht es dann aber um die Hygiene beim Saugen und Rauchen in Corona-Zeiten. Die AfD nutzt solche Zusammenhänge, um Ressentiments gegen migrantische Gruppen zu pflegen und zu kultivieren. In Niedersachsen tut sie das jedoch mit begrenztem Erfolg. Alle Umfragen zeigen: In Niedersachsen hat die AfD keinen Boden gut gemacht.

Es gibt Petitionen, die so genannten AfD-Flügel-Mitgliedern wie beispielsweise Herrn Höcke, den Beamtenstatus, in dem Fall den eines Lehrers, entziehen lassen wollen. Abgesehen davon, dass ein Ministerpräsident sicherlich keine Petitionen unterschreibt, halten Sie solche Anliegen für nachvollziehbar? Nun, der ehemalige Flügel, beziehungsweise die Mitglieder des Flügels, stehen jetzt im Fokus des Verfassungsschutzes. Die Ergebnisse werden wir abwarten müssen. Es gibt schon einiges Material. Das gilt nicht nur in Niedersachsen, das gilt auch auf Bundesebene. Und wenn sich die Verfassungsfeindlichkeit am Ende bestätigt, dann werden die Menschen, die sich dort engagieren, Probleme im öffentlichen Dienst bekommen.

Die Zivilgesellschaft ist zunehmend verunsichert. Ehrenamtliche Bürgermeister und Ratsmitglieder werden bedroht, schmeißen wie jüngst im Landkreis Nienburg aus Angst hin, Gemeindemitgliedern werden ihre Häuser mit Naziparolen beschmiert, wenn sie sich klar positionieren. Die kleinen und größeren Attacken der Neonazis sind für diese ehrenamtlich engagierten Menschen traumatische Ereignisse. Das macht mich wütend und das macht mir Sorgen. Wütend, weil es niederträchtig ist, anderen Menschen auf diese Weise Angst zu machen. Und Sorgen, weil die Gesellschaft solche

Ehrenamtlichen dringend braucht. Hier ist Solidarität gefragt. Von uns allen. Und bitte nicht erst nach einem Rücktritt eines Bürgermeisters, sondern vorher. Das würde ich mir wünschen.

Das ist Ihr Appell an die Zivilgesellschaft. Könnte die Landesregierung selbst auch mehr tun? Ganz oben steht für uns die verstärkte Bekämpfung des verbalen Unrats im Netz. Viele Bedrohungen finden ja gerade dort statt. Michael Höntsch, ein ehemaliger Landtagskollege, der sich explizit gegen Rechts engagiert, ist da ein prominentes Beispiel. Was er erlebt hat, ist geradezu ein Lehrbeispiel dafür, wie es nicht sein darf.

Man drohte seine Familie auszulöschen. Und zu diesen heftigen Drohungen konnte sogar ein Täter ermittelt werden, aber dann endet das Verfahren mit einem lauen Strafbefehl über 390 Euro. Mit so einer Sanktion kann kaum Wirkung erzielt werden.

Das war in Sachsen. Wir in Niedersachsen haben klare Vereinbarungen mit Polizei und Staatsanwaltschaft, dass solche Vergehen sehr ernst genommen werden und dass es möglichst auch deutliche Sanktionen geben soll. Ich habe den Eindruck, dass Polizei und Justiz an dieser Stelle noch sensibler geworden sind als früher. Ich bin erklärter Anhänger eines starken Staates, der muss sich dann in solchen Fällen aber auch zeigen. Schon aus ganz prinzipiellen Gründen dürfen wir Hass und Hetze im Netz nicht unkommentiert stehen lassen. Aus diesem Grund haben wir kürzlich in Göttingen eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft eingerichtet, die genau solche Delikte verfolgt.

Das bundesweite Netzwerkdurchsetzungsgesetz gibt die Verantwortung den Plattformen ab. Angeblich klicken bei Facebook 20.000 sogenannte Cleaner Unerwünschtes weg. Kann man das Aufräumen solchen privat Angestellten überlassen? Ein engagiertes Mitwirken der Plattformbetreiber halte ich für unerlässlich. Seit wenigen Wochen haben wir dafür deutlich bessere gesetzliche Grundlagen. Anbieter sozialer Netzwerke müssen künftig alle Posts an das Bundeskriminalamt melden, bei denen es konkrete Anhaltspunkte für die Erfüllung eines Straftatbestandes gibt. Erfasst sind auch kinderpornografische Inhalte und das Verunglimpfen des Andenkens Verstorbener. Das nimmt die staatlichen Stellen nicht aus der Verantwortung, im Gegenteil, es sorgt dafür, dass möglichst viele Straftaten im Netz entdeckt und geahndet werden können.

Vielen Dank für das Gespräch. Interview: Volker Macke/Fotos: Ricardo Wiesinger


2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

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Zu Asphalt 07/20 Gesamt

Zu Asphalt 08/20 Gesamt

Mein erstes Mal

Tolle Idee

Ich musste 53 Jahre alt werden – bis zu meinem ersten Mal. Vor vierzehn Tagen DUNKEL IM DISTRIKT kaufte ich erstmals Euer Magazin. Bisher hegte und pflegte ich mein Vorurteil, dass mich der Inhalt sicher wenig interessieren würde. Aber meine Urlaubsstimmung veranlasste mich, »dem jungen Mann da mal was Gutes zu tun«. Er war still. Zurückhaltend. Und doch fiel er auf in unserer Kleinstadt – am Supermarkteingang, das Magazin in der Hand haltend. Dass ich das »Prinzip Asphalt« gut finde, dass wusste ich bereits vor meinem Kauf. Aber »es« hatte einfach bisher nichts mit MIR zu tun. Dass mich später die Inhalte des Juli-Heftes sooo interessieren würden, das hatte ich nicht erwartet! Jeden Artikel habe ich gelesen – und viel Neues und Interessantes erfahren. Vielen Dank für Eure journalistische wie soziale Arbeit! Macht weiter so! Wieder einmal darf ich nun Vorurteile über Bord werfen ... Das war mein erster Kauf, aber sicher nicht mein letzter. Künftig werde ich nach »dem jungen Mann« oder seinen KollegenInnen suchen. Volker Christoph, Walsrode AUSGEBREMST

ANGESCHOBEN

ABGEHÄNGT

Prostituierte im Lockdown.

Über den Job zur eigenen Wohnung.

Die Schwächsten nach Corona.

Zu Asphalt 08/20 Gesamt 2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

Bereicherndes Erlebnis

Nach vielen Jahren des Lesens von »Asphalt« hat mich nie ein Heft so berührt und AUF REISEN begeistert wie das laufende vom August. Es mag auch an diesem Ausnahmejahr mit Rückzug und Urlaubsreise-Verzicht liegen – aber der gesamte Inhalt mit den wundervollen Geschichten quer durch Europa, dargestellt von StraßenzeitungsverkäuferInnen in Verbindung mit den inspirierenden Fotos, habe ich als bereicherndes Erlebnis empfunden; natürlich auch alle anderen Infos wie üblich, aber besonders interessant wie empörend ist der Artikel über Venedig in meinem geliebten Italien … Ihr seid das Magazin, auf das ich mich monatlich am meisten freue (wobei ich täglich und sehr viel lese!), weil es kritisch, aufdeckend, informativ = weg vom Mainstream und zutiefst positiv und human ist. Danke für dieses »Geschenk« an alle Verkaufenden und uns als Lesende! Dagmar Lang, Hameln

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AUSTRALIEN

ZYPERN

ENGLAND

Die Koalaretter von der Känguru-Insel.

Geteiltes Land – geteiltes Leid: Ranias Versöhnung.

Vom Straßenkind zur ranghöchsten Feuerwehrfrau.

Herzlichen Glückwunsch zu dieser gelungenen Reise-Ausgabe! Ich habe mit großem Interesse und Vergnügen Orte besucht und bin begeistert von solchen Rundumblicken. Haben Sie ganz herzlichen Dank für Idee und Ausführung. Tolle Idee, uns Leser/ Leserinnen auf eine solche Reise zu schicken. Ilse Göckenjan, Hannover

Zu Asphalt 08/20 Silbenrätsel

Diskriminierende Begriffe Ihre Zeitung ist einfach großartig, dazu gehört für mich auch das monatliche Silbenrätsel. Großer Dank daher speziell an Frau Gensch. Zum Rätsel der August-Ausgabe möchte ich aber eine kritische Anmerkung machen: Die Begriffe ›Eingeborener‹ sowie ›Indianer‹ (Lösungswort) sind beide diskriminierend. Der Begriff ›Indianer‹ rührt von der irrtümlichen Annahme der Eroberer (Kolumbus), sie hätten Indien erreicht. Mit der Bezeichnung einher geht die Herabwürdigung der Menschen und ihrer Lebensweise, zugleich Begründung für Ausbeutung und Mord (vgl. ›Neger‹). Als anerkannte Bezeichnung sollte**/Native Americans/ verwendet werden. Früher wurden die indigenen Völker eines Landes als »Eingeborene«, »Ureinwohner« oder »Naturvölker« bezeichnet. Diese Begriffe spiegeln jedoch nicht die Lebensweise der indigenen Völker wider und sind daher als »falsch« zu bezeichnen. Zudem beinhalten diese Begriffe eine negative Konnotation, welche eine primitive und unterentwickelte Lebensweise assoziiert. Der Begriff »Indigene Völker« (indigenous peoples) hat sich erst in den 1980er Jahren herausgebildet und ist heute die international anerkannteste Bezeichnung. »Indigen« bedeutet soviel wie »in ein Land geboren«, was den besonderen Bezug aller indigenen Völker zu ihrer natürlichen Umwelt ausdrücken soll. Holger Knabe, Hannover

Vielen Dank für Ihre Meinung! Die Redaktion behält sich vor, Briefe zur Veröffentlichung zu kürzen. Bitte vergessen Sie nicht, Ihre Absenderadresse anzugeben. Leserbriefe an: redaktion@asphalt-magazin. de oder postalisch: Asphalt-Magazin, Hallerstraße 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover.

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BRIEFE AN UNS

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FABRIK WIRD STADTTEIL Baugrund für bezahlbaren Wohnraum in der Stadt ist rar und teuer. Ehemalige Industrieflächen bieten da enorme städtebauliche Chancen. Und Fallstricke. Zwei Beispiele aus Hannover und Kassel. Ortstermin Wasserstadt. »Ursprünglich war auf dem Gelände eine Reihenhaussiedlung mit 650 Wohneinheiten geplant, das hat uns nicht sonderlich berührt«, sagt Uwe Staade, Sprecher der Bürgerinitiative Wasserstadt Limmer, während er gemeinsam mit Mitstreiterin Dagmar Knoche-Hentschel die riesige Baustelle mit ihren emporwachsenden Wohnungsblocks betrachtet. Ursprünglich, das war zu Beginn der 2000er Jahre,

als die ersten Pläne zur Entwicklung des städtebaulichen Filetstücks zwischen den Kanälen in Hannovers Nordwesten vorgelegt wurden. Von ihnen ist nicht viel geblieben. Der Paukenschlag kam im Februar 2014. Überraschend wurden nun Pläne für 2.200 statt 650 Wohneinheiten präsentiert, Geschosswohnungsbau in bis zu acht Etagen statt Reihenhäuser. Wohnraum für bis zu 5.000 Menschen sollte so entstehen.


Initiative erzwingt Beteiligung

»Wir wollen eine gute soziale Durchmischung im Wohnquartier.« Dagmar Knoche-Hentschel, Bürgerinitiative Wasserstadt Limmer

»Die meisten Wohnungen hier kann kein Normalverdiener mehr bezahlen.« Uwe Staade, Bürgerinitiative Wasserstadt Limmer

Die wollten sich jedoch nicht einfach abspeisen lassen. Auf einer gut besuchten Veranstaltung des AK Stadtentwicklung im März 2014 zum Thema Wasserstadt kamen die Auswirkungen des Bauprojekts für den Stadtteil zur Sprache. Dabei zeigte sich vor allem, dass der sozialen Mischung bislang viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Obwohl sich Versäumnisse dieser Art schon bei früheren Großprojekten als sträflich fahrlässig herausgestellt haben. »Wir wollen kein Problemviertel vor der Haustür wie Mühlenberg«, sagt Knoche-Hentschel, »sondern eine gute soziale Durchmischung. Um das zu gewährleisten, muss man die Bevölkerung miteinbeziehen«. »Und zwar von Anfang an und kontinuierlich über die gesamte Bau- und Planungsphase«, ergänzt Staade. Der soziale Mix ist seither das große Thema der Bürgerinitiative. Lange habe die Stadt in dieser Hinsicht nur auf den Bau von Sozialwohnungen geschaut, der auch Geringverdienern den Einzug in die Wasserstadt ermöglichen sollte. Dabei sei der Rest wohl etwas aus dem Blick geraten. Da im ersten Bauabschnitt auch noch lediglich 20 statt der vom hannoverschen Rat inzwischen beschlossenen 25 Prozent Sozialwohnungen gebaut werden, besteht dieser Rest immerhin aus 80 Prozent der entstehenden Wohnungen. Die Wasserstadt Limmer ist wie viele Bauprojekte auf ehemaligen Industrieflächen eine komplexe Angelegenheit aus kontaminierten Altlasten, politischen Ansprüchen und wirtschaftlichen Gewinninteressen. Dass die Stadt das gesamte Gelände da mit der Papenburg AG einem einzigen privaten Investor zur Entwicklung überließ, erschien einigen zunächst als geschickter Schachzug, vielen heute aber als Kardinalfehler im Vorfeld. So hat sich der Sparund Bauverein ebenso wie die städtische Hanova frühzeitig aus dem Projekt verabschiedet. Übriggeblieben sind neben dem Großinvestor noch Meravis und die Kreissiedlungsgesellschaft. Ein Akteur mit

öffentlichem Auftrag ist also nicht mehr dabei. Dementsprechend werden für die anderen Wohnungen Mieten um 18 Euro pro Quadratmeter fällig, die »kein Normalverdiener mehr bezahlen kann«, wie Staade anmerkt. Tatsächlich klafft zwischen den Sozialwohnungsmieten und den hochpreisigen Wohnungen ein gewaltiges Loch. Zudem entstehen Reihenhäuser für 700.000 Euro und Penthäuser für über eine Million Euro. Wie das alles zusammenpassen soll, bleibt schleierhaft. Dabei entwickelt sich eine funktionierende Nachbarschaft in einem Neubaugebiet ohnehin erst nach Jahren.

Steinerne Zeitzeugen Die Stadt zögerte zunächst, eine Bürgerbeteiligung zuzulassen. »Wenn wir nicht Rabatz gemacht hätten, wäre auch nichts passiert«, erinnert sich Staade. So kam es immerhin noch zu einer Beteiligung über ein dreiviertel Jahr, die am Ende zu einer Reihe von Verbesserungen führte, wie schließlich auch die zuständige Architektin und der Baudezernent eingeräumt hätten. So wurde der erste Bauabschnitt etwas geringer dimensioniert und statt hingewürfelter Gebäudeklötzchen mehr Blockrandbebauung vereinbart. Jetzt sollen auf dem 23 Hektar großen Gelände der Wasserstadt immerhin noch 1.800 Wohnungen für rund 3.500 Bewohner entstehen. »Bürgerbeteiligung ist immer ein Gewinn für alle Beteiligten«, sagt Staade. Auch wenn man nicht alles habe verhindern können. Schließlich müsse jede Vereinbarung am Ende noch mit dem Großinvestor verhandelt werden, der Aspekte wie Denkmalschutz oder sozialer Mix offenbar nur als Hemmnisse bei der Vermarktung versteht. Es ist ja nicht das erste Mal, dass Limmer einer derartigen Schockbehandlung ausgesetzt wird. Schon die Industrieansiedlung der Gummifabrik (ehemals Excelsior, später Conti) im Jahr 1899 veränderte den Stadtteil innerhalb kurzer

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Und das in einem Stadtteil, der heute gerade einmal 6.200 Einwohner hat. Da braucht es nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass die Wasserstadt das zu Teilen immer noch dörfliche Limmer stark verändern wird. Eine Diskussion mit den Anwohnern zu diesen Plänen war allerdings nicht vorgesehen.

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Der Conti-Turm steht als Wahrzeichen der Wasserstadt unter

Die Gummifabrik prägte die Geschichte Limmers im Guten wie im Schlechten. Als die Excelsior in der Conti aufging, setzte sich die Erfolgsstory zunächst in der Weimarer Republik fort. Die Firma überstand auch die Weltwirtschaftskrise der Dreißiger Jahre noch weitgehend unbeschadet. Während des Krieges beteiligte sich auch die Conti an der Rüstungsproduktion, wurden im Werk Munition und Gasmasken gefertigt. Viele Zwangsarbeiter mussten in jener Zeit unter erbärmlichen Bedingungen für die Conti schuften. Im vorletzten Kriegsjahr später wurde zudem ein Frauen-Außenlager des KZ-Neuengamme eingerichtet. Auch das zählt zur Geschichte der Wasserstadt. Daran sollen die Straßen im neuen Viertel erinnern, die nach Frauen aus dem KZ benannt werden. Doch ohne den Erhalt der alten Fabrikgebäude ginge nicht nur ein identitätsstiftendes Stück Stadtteilsilhouette verloren, auch die historischen Verbindungslinien würden damit unwiederbringlich gekappt. Immerhin ein Jahrhundert lang wurde an diesem Standort Industriegeschichte geschrieben, genau im hundertsten Jahr seines Bestehens, 1999, wurde die Fabrik aufgegeben.

Denkmalschutz. Ob die alten Fabrikgebäude hinter der ehemaligen Direktion überdauern werden, ist noch offen.

Zeit grundlegend. Der Bauhistoriker Auffahrt beschreibt die Entwicklung der Conti und ihrer Vorläuferin als beispiellose Erfolgsstory, die sich auch nach dem Ersten Weltkrieg fortgesetzt habe, »davon zeugen die Gebäude am Kanal. Die Fabrik hatte damals mehr Mitarbeiter als ganz Limmer Einwohner«. Damit war die Industrieansiedlung zu einem lange prägenden »Impulsgeber« für den Stadtteil geworden. Das Viertel mit seinem zuvor dörflichen Charakter, den man im alten Ortskern um die Nikolaikirche noch gut erkennen kann, wandelte sich zu einem Arbeiterstadtteil mit backsteinernen Mietskasernen an der Wunstorfer Landstraße im Windschatten der Fabrik. Der Erfolg der Conti sei auch mit einem entsprechenden Selbstbewusstsein einher gegangen. »Das Direktionsgebäude wurde 1899 gebaut, als es noch keine Brücke über den Kanal gab. Deshalb verstand sich die Fabrik wohl auch als eine Art Außenposten der Stadt Hannover«, vermutet Auffahrt. Tatsächlich sei das Direktionsgebäude wie ein Rathaus gestaltet worden.

Infos zur Wasserstadt: Bürgerinitiative: http://www.wasserstadt-limmer.org/ Projektentwickler: https://www.wasserstadt-limmer.de/ HAZ-Blog: https://wasserstadt.haz.de/

Intelligente Konzepte Im Vergleich zur damaligen Ansiedlung der Fabrik erscheint das Projekt der Wasserstadt heute schon weniger überdimensioniert zu sein. Und 2014, das muss man bedenken, war die Zeit, als die Zuwanderung schon deutlich anzog, ein Jahr vor Merkels »wir schaffen das«. Stand bis dahin die Sorge um den Verlust junger Einwohner, die zur Familiengründung mangels geeigneter Objekte in der Stadt ins Umland zogen im Vordergrund, so wurde nun die Schaffung von innenstadtnahem Wohnraum als vordringlich angesehen. Wohnraum, den Hannover auch heute noch dringend benötigt. Allerdings nicht im hochpreisigen Segment. Daran wird für den aktuellen Bauabschnitt nichts mehr zu ändern sein, Stein auf Stein werden hier Fakten geschaffen. Daher ruhen die Hoffnungen der Bürgerinitiative auf dem zweiten Bauabschnitt und auf einem Einsehen in der Bauverwaltung. Laut Stadtsprecher Felix Weiper nicht vergeblich: »In jedem Fall wird es die vom Stadtbezirksrat Linden/ Limmer beschlossene Beteiligung der Öffentlichkeit geben. Zeitpunkt, Formate und Beteiligte stehen aber noch nicht fest«.


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Zu Bereden gäbe es wahrlich einiges. Neben einer guten sozialen Mischung bemängeln Staade und Knoche-Hentschel vor allem das immer noch fehlende Verkehrskonzept für den Stadtteil. Schließlich soll der bald um 3.500 neue Bewohner anwachsen. Doch das Konzept wird jetzt kommen, verspricht die Stadt: »Bisher gibt es kein abgeschlossenes Verkehrskonzept für Limmer«, bestätigt Weiper. Dies solle aber parallel zum Bebauungskonzept für den zweiten Bauabschnitt entwickelt werden. Immerhin, könnte man sagen, denn schon im November 2017 hatte der Bezirksrat ein solches Konzept in seltener Geschlossenheit mit den Stimmen der Fraktionen von SPD, CDU, Grünen, Linke und Piraten, FDP und Fraktion gefordert. Die Bürgerinitiative Wasserstadt ist schon vorgeprescht und hat »Bausteine für ein Stadtteil-Verkehrskonzept Limmer« präsentiert, das Lösungen sowohl für den öffentlichen Nahverkehr, als auch für Kfz, Radfahrer und Fußgänger berücksichtigt. Zentraler Punkt ist eine Stadtbahnanbindung der Wasserstadt durch die Linie 10, die dafür über die Wunstorfer Straße geführt werden müsste. Gleichzeitig müsste diese schon jetzt oft überlastete Ausfallstraße vom Status Bundesstraße entwidmet werden, schlägt die BI vor und favorisiert eine Anbindung an die Carlo-Schmid-Allee und einen Ausbau der Straße Am Bahndamm zur B 65 vor. Dadurch könnten die Wohngebiete vom Durchgangsverkehr weitgehend freigehalten werden. Ebenfalls mitgedacht ist die kurzfristig mögliche Einrichtung eines neuen Radweges »go west« und perspektivisch eines S-Bahn-Ringschlusses um Hannover mit einer Haltestelle Wunstorfer Straße, der die verkehrliche Erschließung des Viertels komplettieren würde.

würde einer größeren sozialen Mischung zugutekommen«, so Weiper. Dabei ist noch immer nicht die Zukunft der letzten Altbauten auf dem Gelände geklärt. Trotz Denkmalschutz und Kaufangebot dringt Investor Papenburg auf Abriss. Die BI tritt dagegen für den Erhalt der Gebäude ein. Schließlich stehen Interessenten für die industriellen Hinterlassenschaften bereit, die Erfahrungen in der Sanierung von Fabrikanlagen haben und die Auflagen des Denkmalschutzes nicht scheuen. Und die Nutzungsmöglichkeiten in den sogenannten Bestandsgebäuden könnten nach Ansicht der BI eine wichtige Rolle bei der Anbindung der Wasserstadt an das Viertel spielen. Das sieht auch Stadtsprecher Weiper so. Doch sollte sich der Investor vor dem OLG mit seinem Abrissbegehren durchsetzen, blieben diese Pläne Makulatur.

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Text und Fotos: Ulrich Matthias

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a m n e s t y a f t e r wo r k Schreiben Sie für die Menschenrechte – gegen Verfolgung, Gewalt und Folter

Beteiligung ist für alle ein Gewinn Beeindruckend, wie das Konzept der BI versucht, nicht nur den Fokus auf die Wasserstadt zurichten, sondern den gesamten Verkehrsfluss im Stadtteil und im ganzen westlichen Hannover in den Blick zu nehmen. Eigentlich eine originäre Aufgabe von Stadt und Region, die jedoch gerade in Sachen Verkehr in der Vergangenheit eher gegeneinander als miteinander agierten. Vor allem vermissen nicht wenige Beobachter gerade bei der Region auch die Bereitschaft zu kreativen Lösungen. Bislang lägen der Stadt noch keine »diskussionsfähigen Pläne« für den zweiten Bauabschnitt vor, sagt Stadtsprecher Weiper. Erklärtes Ziel sei eine vielfältige Mischung im Stadtteil. »Wünschenswert wären weitere Baugemeinschaften und Wohnungen für Studierende. Denkbar ist eine Zahl von ca. 450 Wohneinheiten. Darin könnten bei durchschnittlicher Belegung etwa 1.000 Menschen leben.« Noch unklar sei, ob die Förderprogramme des Landes, der Region und der Stadt zukünftig noch differenziertere Förderungen ermöglichen werden. »Das

Gemeinsam für die Menschenrechte Sie können helfen: Wir laden Sie herzlich ein, uns montags zu besuchen. Lassen Sie Ihren Tag mit einer guten Tat bei Kaffee, Tee und Gebäck ausklingen, indem Sie sich mit Faxen, Petitionen oder Briefen gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt einsetzen. Öffnungszeiten: Montag 18 bis 19 Uhr after work cafe Dienstag 11 bis 12 Uhr, Donnerstag 18.30 bis 19.30 Uhr amnesty Bezirksbüro Hannover Fraunhoferstraße 15 · 30163 Hannover Telefon: 0511 66 72 63 · Fax: 0511 39 29 09 · www.ai-hannover.de Spenden an: IBAN: DE23370205000008090100 · BIC: BFSWDE33XXX Verwendungszweck: 1475


Foto: U. Kahle

TRADITION VERPFLICHTET 500 bezahlbare Wohnungen in unterschiedlicher Größe, ergänzt um Hotel, Büroräume, Parkhaus, Kita und Restaurants lautet das Ziel der Projektentwicklung der denkmal­ geschützten Salzmann-Fabrik im Kasseler Stadtteil Bettenhausen. Wird Investor Dennis Rossing in Bezug auf Wohnungsfürsorge in die Fußstapfen des Fabrikgründers treten? Heinrich Salzmann gründete 1876 nach seiner kaufmännischen Ausbildung die Textilfirma »Salzmann & Comp.«. Seither symbolisiert dieser Name die Industrialisierung und den Aufstieg Bettenhausens in Kassel. Aus einer Vorort-Weberei mit 60 Handwebstühlen entwickelte sich ein großer, vielfältiger Textilindustriebetrieb. Im November 1901 errichtete Salzmann an der Sandershäuser Straße die Gebäude der heutigen Salzmann-Fabrik. Das Areal umfasste ein Werksgebäude von 8.000 Quadratmeter, den markanten Webereineubau mit 22 Sheddächern, das eigene Kesselhausgebäude mit zwei Dampfkesseln mit jeweils 700 PS Leistung und verfügte über einen eigenen Anschluss an die »Bettenhäuser Industriebahn«. Soziales Engagement war es, das Heinrich Salzmann auszeichnete. Er erwarb 1899 zur Wohnungsfürsorge für seine

Arbeiter und Beamten an der Leipziger Straße die ehemalige Charite und baute sie bedarfsgerecht in 25 Wohnungen um. 1902 baute er das erste Mehrfamilienhaus an der Kreuzung Sandershäuser Straße/Huthstraße für Salzmann-Mitarbeiter. Die Gartenstadt Salzmannshausen war 1903 sein nächstes Projekt. Hierzu erwarb er an der Grenze des Stadtteils Sandershausen ein Areal von 165.000 Quadratmeter auf dem nach englischen Vorbildern Arbeiterhäuser in ein oder zweigeschossiger Bauweise errichtet wurden. Salzmann setzte neue Standards, wollte er doch eine Abkehr vom »Mietskasernenbau des Ruhrgebietes« und eine Anpassung an die gesteigerten Wohnbedürfnisse erreichen. Für damalige Wohnverhältnisse waren die Wohnungen mit Flur, Küche, belüfteter Speisekammer, Abort und Badezimmer gera-


Foto: Casseler Zeitung 1901

Blick auf die Salzmannfabrik und die Bettenhäuser Industriebahn um 1900.

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16 Foto: Rosco Gruppe

dezu luxuriös ausgestattet. Im Zuge des Wohnraummangels, nach dem ersten Weltkrieg, wurde der Wohnungsbestand um dreigeschossige Bauten und Lebensmittelläden und eine Bäckerei ergänzt. Heute stehen die letzten beiden Siedlungs-Häuser unter Denkmalschutz. Mit dem Tode des charismatischen Gründers 1915 geriet die Firma in schwierige Fahrtwasser, rettete sich aber durch Reduzierung der Außenstellen und Konzentration auf das Stammwerk über die Kriegsjahre und die Zeiten der Zwangswirtschaft. Die Überschwemmung nach der Sprengung der Edertalsperre 1943 und die Bombenabwürfe und Kriegszerstörungen zerstörten 90 Prozent der Maschinen und 70 Prozent der Gebäude. Der Wiederaufbau wurde von den Arbeitern Stein für Stein den Trümmern abgerungen und so standen, trotz fehlender Rohstoffe, kurz nach dem zweiten Weltkrieg wieder die ersten sechs Webstühle in den Werkshallen. Die Wohnungsfürsorge des Gründers setzten seine Nachfahren fort und es entstand eine enge Bindung der bis zu 5.000 Beschäftigten an den Betrieb. Ein Großbrand 1965 zerstörte weite Gebäudeteile und Strukturwandel in der Textilindustrie und Billigimporte kennzeichnen jedoch die Probleme der Folgejahre, 1971 wurde die Produktion eingestellt und der Betrieb mit einem Sozialplan abgewickelt. Die Gebäude an der Sandershäuser Straße stehen als architekturgeschichtlich bedeutsames Ensemble unter Denkmalschutz und gelten als Industriedenkmal.

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Planungsentwurf von Investor Rossing.

Nach der Firmenschließung war die Entwicklung des 37.000 Quadratmeter großen Areales wechselhaft. Es folgte ein Gastspiel durch die documenta8, eine dauerhafte Nutzung als Kulturstandort erwies sich jedoch als unrentabel. Die Übernahme durch Investor Dennis Rossing 2007 regte zum Nachdenken über den Umbau zu einer Multifunktionsarena, eines Behördencenters und diverser Mischbebauungsformen an. Hierzu wurden prophylaktisch bereits Teile des Werkes und die nicht denkmalgeschützten Produktionshallen abgerissen. Einige Brände in den Folgejahren, Einbrüche in die Leerstände, Vandalismus und die Natur trugen ein Übriges zum Verfall des Gebäudes und den schlechten Allgemeinzustand der Substanz bei. Ein Weiterverkauf an die BHB Bauwert Holding schürte Hoffnung auf den Bau von dringend benötigten Wohnungen. Die Planung war weit fortgeschritten, aber die Holding trat 2015 vom Kaufvertrag, wegen unüberschaubarer finanzieller Risiken, zurück. Rossing musste nun kurzfristig die zurück erhaltenen Gebäude und die Bausubstanz gegen den weiteren Verfall sichern, da bereits von Seiten der Stadt Kassel über Zwangsmaßnahmen zum Erhalt der denkmalgeschützten Substanz nachgedacht wurde. Die Planung für 500 bezahlbare Wohnungen, Mischgewerbe und ein Veranstaltungsareal auf dem Gelände führte er nun zur Baureife, der Entwurf des Quartiers »Salzmann Areal« steht im Portfolio der Rosco Gruppe Bad Hersfeld. Der Bebauungsplan ist am 11. Mai diesen Jahres vom Magistrat der Stadt Kassel in Kraft gesetzt worden, erste Baucontainer stehen auf dem bewachten, eingezäunten Gelände und es soll zeitnah mit den Sanierungs- und Baumaßnahmen und der Stellung des Bauantrages begonnen werden. Die Bürger der Stadt warten gespannt auf Fortschritte und hoffen auf neuen Wohnraum in der Tradition des Gründers: bezahlbar und sozial. Ute Kahle


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Für Opas und Enkel Opas zu mehr Aktivität mit ihren Enkeln inspirieren, das will NetzOpa Jürgen Busch mit seiner Seite www.grossvater.de im Internet. Es gebe im Netz bereits zahlreiche Oma-Webseiten, aber Opa-Seiten suche man beinahe vergebens, so der Hamburger. Deshalb füllt er seine selbst hergestellte Seite mit Texten, Bildern und Videos aus dem Opaleben und mit Tipps zum Spielen, Basteln, Werkeln und Backen. Mit und für Enkel: von der Krautseilbahn über Puppentheater bis zu klassischen Murmelspielen. Regelmäßig kommen neue Ideen hinzu. RED

Ärzte fördern Migranten Fachärzte aus Hannover haben eine neuartige Initiative für die berufliche Integration von MigrantInnen auf den Weg gebracht. Ziel des jüngst gegründeten gemeinnützigen Vereins pro!MFA ist die Förderung von Menschen mit unmittelbarer Flucht- oder Migrationsgeschichte, die im medizinischen Bereich arbeiten und eine Ausbildung absolvieren möchten. pro!MFA ergänzt die klassische duale Ausbildung in Praxis und Berufsschule. Gezielt werden die Auszubildenden durch Deutschunterricht, Lernen des Fachvokabulars und Vermittlung der Lebensweise in unserer Gesellschaft unterstützt. Der Verein sucht nun weitere Praxen, die sich engagieren wollen. »Die Patientenversorgung können wir nur sicherstellen, wenn wir ein kompetentes und engagiertes Team haben. Wir sehen in den jungen Menschen mit Migrationsgeschichte ein sehr großes Potenzial«, so Dr. Sonja Ruh, Fachärztin und 1. Vorsitzende des Vereins, der auch bei der Vermittlung von Auszubildenden mit Migrationsgeschichte unterstützt. RED

Digitale Nachlassregeln  Immer mehr Menschen sind digital unterwegs. Sie wickeln ihre Einkäufe, ihre Bank- und Gesundheitsangelegenheiten und einen großen Teil ihrer privaten Kommunikation online ab. Viele wichtige Vertragsdaten oder Informationen sind daher oft nur virtuell vorhanden. Doch wer entscheidet über die Accounts, wenn der Inhaber dazu nicht mehr in der Lage ist? Die Verbraucherzentrale hat Tipps für den digitalen Nachlass zusammengestellt. 1. Eine bevollmächtigte Person festlegen 2. Regeln, was mit den Daten und Online-Accounts geschehen soll 3. Vollmacht unterschreiben und aufbewahren 4. Eine Liste mit den Online-Accounts erstellen 5. Liste mit den Online-Accounts sicher aufbewahren 6. Externe Datenverwaltung prüfen Ein kostenloser Mustervordruck für das Verfassen einer Vollmacht sowie eine Musterliste die hilft, Vorkehrungen für Accounts bei Facebook, Google und Co. zu treffen, gibt es über die Internetseite der Verbraucherzentrale Niedersachsen. RED

Einladung zur ordentlichen Generalversammlung am 12. Oktober 2020, 17:00 Uhr FORUM St. Joseph Isernhagener Str. 63, 30163 Hannover

Tagesordnung 1. Begrüßung und Feststellung der Beschlussfähigkeit 2. Ernennung von Funktionsträgern für den Lauf der Mitgliederversammlung (Schriftführer/in, Stimmzähler/in) 3. Vorlage des Jahresabschlusses 2019 - Bericht des Vorstandes über das Geschäftsjahr 2019 - Bericht des Aufsichtsrates 4. Bericht über das Ergebnis der gesetz­ lichen Prüfung - Verlesen des zusammengefassten Prüfungsberichtes (zur Beratung und ggf. Beschlussfassung) - Stellungnahme des Aufsichtsrates 5. Beschlussvorlage zur Verwendung des Jahresüberschusses (§ 35 Satzung) Beschlussfassung über die Verwendung des Jahresüberschusses 6. Beschlussfassung über die Entlastung des Vorstandes 7. Beschlussfassung über die Entlastung des Aufsichtsrates

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UNSERE KLEINE FARM Stall ausmisten statt Bingo spielen: Guido Pusch bietet mit seinem Senioren-Bauernhof eine Alternative zum Altersheim an. Ist das die Zukunft der Pflege? Klaus will nur noch weg. Weg von den frisch desinfizierten Fußböden, die wie im Krankenhaus riechen. Weg von den tratschenden Mitbewohnern, die ihm jeden Tag ihre Altersflecken präsentieren und diese für Hautkrebs halten. Weg von einem Ort, der sich selbst als »Senioren-Wohnanlage« beschreibt, aber von Wohnlichkeit ziemlich entfernt ist. Klaus, 78 Jahre alt, beidseitige Hüft-Implantate, hat genug vom Heim. An einem kalten Morgen Ende Oktober 2019 sitzt der ehemalige Gas-Wasser-Installateur an einem rustikalen Holztisch, umringt von antiken Möbeln und herbstlicher Dekoration. Zusammen mit seiner Tochter ist er nach Marienrachdorf ge-

fahren, ein Dorf in Rheinland-Pfalz, in dem ein neuartiges Pflege-Modell ausprobiert wird. Auf dem dortigen »Senioren-­ Bauernhof« können ältere Leute nicht nur Landluft schnuppern, sondern im Alltag mit anpacken. Aus der Kälte tritt ein Mann in Arbeitskluft zu Klaus in die Stube: Guido Pusch, 46 Jahre, Gründer und Leiter des Senioren-Bauernhofs. »Du willst dir also alles ein paar Tage ansehen?«, fragt Pusch – das Du gehört auf seiner Farm ebenso dazu wie das Alpaka und das Pony. Klaus nickt, auch wenn er nicht immer gleich alles versteht: Sein Hörgerät hat er im Pflegeheim gelassen, weil ihm davon die Ohren jucken. »Ist ja auch gar


Gänsemarsch! Wer noch fit ist, darf die Tiere auf die Weide führen.

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nicht verkehrt, wenn man nicht immer alles hört«, sagt der ältere Mann und lacht. Hauptberuflich leitet Pusch einen Maschinenbau-Betrieb; der Hof mit seinen elf Rindern, drei Alpakas, 15 Gänsen und 60 Hühnern dient lediglich als Nebenerwerb. »Wir wollten dieses kleinbäuerliche Leben erhalten«, sagt er, doch genau das sei in den vergangenen Jahren zunehmend unrentabel geworden. Die Idee, ältere Menschen aufzunehmen, brachte schließlich die Wende: »Jetzt ist es wieder möglich, mit den Tieren unter einem Dach zu leben«, sagt Pusch und zeigt auf das liebevoll eingerichtete Wohnzimmer. Rund 700.000 Euro hat er nach eigenen Angaben investiert, um den Hof seniorengerecht umzubauen: ebenerdige Badezimmer, Treppenlifte, renovierte Aufenthalts- und Wohnräume. Für Pusch und seine Familie war es eine Wette auf die Zukunft: Wenn der Bedarf an ländlichen Senioren-WGs konstant bleibt – oder sogar steigt –, würden sie ihre Investition schon bald durch Mieteinnahmen refinanziert haben. Die Nachfrage sollte ihnen recht geben. Heute ist der Andrang so groß, dass es eine Warteliste gibt. Rein optisch merkt man dem Hof nicht an, dass hier die Zukunft der Pflege entstehen soll. Kein Hinweisschild, kein Werbebanner, nicht mal ein Verkehrszeichen, das (wie sonst bei Altersheimen üblich) auf »kreuzende Senioren« hinweist. Statt-


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dessen frisch gestrichene Häuser, die in einem hellen Rosa um von dort ihre Enkel zu besuchen. Für diejenigen, die wenischimmern und in einer U-Form zueinander angeordnet sind. ger mobil sind, kommt einmal pro Woche der Frisör und der Im Innenhof stehen Gartenstühle und ein Schwenkgrill, dane- Hausarzt auf den Hof. Das ist die eine Seite des Landlebens – die Seite, die das ben zugeklappte Sonnenschirme, die an einen heißen Sommer erinnern. Aus einem Fenster schaut Pony »Keks« hervor: Es Konzept des Senioren-Bauernhofs berühmt gemacht hat. leidet unter Arthrose und ist mit seinen 23 Jahren ebenfalls im Die andere Seite ist im Fernsehen nur selten zu sehen: Menschen, die so krank und geschwächt sind, dass sie nur selten Rentenalter. Insgesamt 17 Bewohner leben auf dem Senioren-Bauern- an all den Aktivitäten teilnehmen können, die das Landleben hof, der Jüngste ist 56, die Älteste 95 Jahre alt. Fast alle leben in bietet. Um kurz nach elf Uhr betritt eine Pflegerin ein solches Einzelzimmern; die Hälfte ist wegen Demenz in Behandlung. Zimmer: Flachbild-Fernseher, Ledersessel, Esstisch. An der Wand hängt ein überdimensionierVerglichen mit einem »normalen« Pfletes Kreuz. Es riecht nach Leberwurst. geheim, in dem ein Platz schon mal »Die Leute brauchen keine Das Ehepaar, das hier wohnt, hat bis mehrere Tausend Euro kosten kann, ist jetzt geschlafen. Die ältere Frau lächelt das Landleben auffallend günstig: Laut goldenen Wasserhähne. und wünscht einen guten Morgen, der Pusch werden monatlich zwischen 1350 Die packen lieber mit an.« Mann klagt über Schmerzen am ganund 1550 Euro fällig, inklusive Miete, Guido Pusch zen Körper. »Aua! Aua!«, ruft er, als die Pflege und Verpflegung (die Familie bePflegerin ihn aufrichtet. »Trink erst mal treibt einen eigenen Pflegedienst, der ebenfalls auf dem Bauernhof arbeitet). Wie sich dieses Modell einen Schluck«, antwortet sie. »Gleich geht’s besser.« Die Gänse, Schweine und Rinder sind von dem Ehepaar nur trägt? »Ganz einfach«, sagt Pusch. »Die Leute brauchen keine eine Treppe und wenige Schritte entfernt. Aufgrund ihres Zugoldenen Wasserhähne. Die packen lieber mit an.« Martin (59) ist einer der jüngsten Bewohner. Als Senior fühlt standes können beide aber nicht mehr am Stallleben teilneher sich eigentlich noch nicht, doch wegen eines schweren Mo- men, innovatives Pflegekonzept hin oder her. »Wir nehmen bei torradunfalls kann er seinen linken Arm kaum noch benutzen. uns keine Extremfälle auf«, sagt Guido Pusch. In manchen FälNach mehreren Operationen war für ihn klar, dass es im All- len, etwa bei der medizinischen Intensivpflege, stoße der Senitag nicht mehr ohne Unterstützung geht. Ins Pflegeheim woll- oren-Bauernhof an seine Grenzen. »Wenn sich bei unseren Bete er aber auf keinen Fall. »Hier kann ich mich um die Alpa- wohnern die Gesundheit verschlechtert, können sie trotzdem kas kümmern und beim Kochen helfen«, erzählt der frühere bis zum Schluss bleiben«, Garten- und Landschaftsbauer. Manchmal begleitet er Guido versichert Pusch. »Hier muss Pusch auch in dessen Metallbau-Betrieb, einfach so, aus Inte­r­ niemand gehen.« Andere Landwirte haben esse. »Im Heim gibt’s so was nicht«, sagt Martin. »Für das, was offenbar größere Hemmunich noch machen kann, ist es hier ideal.« Im Hof treffen sich nach dem Frühstück diejenigen, die in gen: Seit im Jahre 2011 die der Landwirtschaft helfen. Willy (82) holt das arthritische Pony ersten Senioren auf den Hof aus dem Stall. Karl-Heinz (73) treibt die Gänse auf die Wiese. kamen, hat kaum jemand das Gisela (83) geht am Stock, führt aber trotzdem ein Alpaka an Konzept kopiert – und das, der Leine. Und Martin? Der trägt nun Lederjacke und hilft de- obwohl die Nachfrage riesig nen, die sich nicht wie Rentner fühlen, aber manchmal eben ist. Aber warum? Gerade in doch an ihre Grenzen geraten. Ein Pfleger ist nicht in Sicht – Zeiten, in denen Kleinbeist das nicht gefährlich? Was, wenn das Alpaka durchgeht und triebe schließen und Erträge Gisela mitreißt? Wenn Karl-Heinz die Gänse ausbüxen? Oder zurückgehen, müssten Landwirte doch eine solche ChanWilly auf dem matschigen Feld ausrutscht? Landwirt Guido Pusch hat den Guido Pusch, der diese Fragen nicht zum ersten Mal hört, ce dankbar aufgreifen. Oder Senioren-Bauernhof gegründet. winkt ab. Im Altersheim mit seinen glatten, gepflegten Böden, nicht? Johannes Gräske, Prostürzten die Menschen sogar öfters als auf dem Kopfsteinpflas- fessor für Pflegewissenschaften an der Alice-Salomon-Hochter in Marienrachdorf. »Weil die Leute hier eher auf sich Acht schule in Berlin, hat sich genau diese Fragen gestellt. »Es gibt in geben«, ergänzt Pusch. Er erzählt von älteren Herren, die nichts ganz Deutschland vielleicht zwei, drei Bauernhöfe, auf denen lieber tun als bei ihm im Traktor mitzufahren. Von einer Be- Senioren wirklich leben«, sagt der Experte. Insgesamt hat der wohnerin, die noch immer ihr eigenes Auto hat. Und von Se- Wissenschaftler bei seiner Recherche 34 Senioren-Bauernhöfe nioren, die mit dem Bus zum ICE-Bahnhof Montabaur fahren, gefunden, von denen die meisten aber nur eine Stunden- oder

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Tagesbetreuung anbieten: einmal durch den Stall gehen und danach wieder ins Heim. Für die Zurückhaltung sieht Gräske mehrere Ursachen. Generell sei die Landwirtschaft eher konservativ. Auch schrecke der Aufwand viele Bauern ab. Nicht zuletzt gebe es eine starke Lobby der stationären Pflege-Einrichtungen. »Die sehen das als Konkurrenz und reden die Senio­ ren-Bauernhöfe auch gerne mal schlecht«, sagt der Wissenschaftler. In Skandinavien sei das Modell schon viel verbreiteter, und auch in Deutschland gebe es ein großes Potenzial. »Es braucht Visionäre wie Guido Pusch«, sagt Gräske, der selbst schon in Marienrachdorf zu Gast war. »Ich denke schon, dass sich die Idee weiter ausbreitet, auch wenn man damit natürlich keine flächendeckende Versorgung erreicht.« Bleibt die Frage, für wen ein solches Angebot überhaupt sinnvoll ist. »Nicht für jeden«, warnt Gräske. »Man muss auch aktiv sein wollen und Tiere mögen; ansonsten hat das keinen Sinn. Manche Menschen haben ihr ganzes Leben gearbeitet und wollen am Ende einfach nur ihre Ruhe. Auch das ist natürlich legitim.« Die Diakonie warnt ebenfalls davor, das Landleben zu romantisieren. »In einen Massenbetrieb mit 30.000 Hühnern wird kaum jemand wollen«, bemerkt Peter Bart-

Martin ist mit 59 Jahren einer der jüngsten Bewohner. Seit einem schweren Motorradunfall kann er seinen linken Arm kaum noch benutzen.

mann, Leiter des Zentrums Gesundheit, Rehabilitation und Pflege des Wohlfahrtsverbandes. Er glaubt nicht, dass in zehn Jahren plötzlich alle Senioren aufs Land streben. Zumal es an kleinen, geeigneten Höfen mangele. »Der bäuerliche Nebenerwerb ist einfach kein Massenphänomen mehr«, sagt Bartmann. Und ergänzt: »Es gibt auch viele gute Pflegeheime.« In Marienrachdorf reist Neuankömmling Klaus schon am zweiten Tag ab, obwohl er ursprünglich drei Tage bleiben wollte. »Mehr brauche ich nicht, ich habe mich entschieden«, sagt der 78-Jährige. Und diese Entscheidung klingt ziemlich eindeutig: »Entweder ich gehe hier hin oder nirgendwo hin.« Text und Fotos: Steve Przybilla

Vergnügte Gäste beim 96plus Grillfest Bereits zum siebten Mal in Folge fand das beliebte 96plus-Grillfest statt. Neben saftigem Grillfleisch, Würstchen, verschiedenen Salaten und Soßen war mit „Frioli“ Hannovers beliebteste Eismanufaktur erstmalig zu Gast. Zur Freude der Gäste gaben sich die fleißigen Griller vom Charcoil e.V. zum wiederholten Mal die Grillzange in die Hand. Auch das allseits bekannte „Zahnmobil“ war wieder vor Ort im Dienste der Wohnungslosen. Auch Asphalt war mit dabei: die Hannoversche Kaffeemanufaktur hat die eigens kreierte Sorte „Asphalt Blend“ ausgegeben. Mit jeder verkauften Packung geht ein Anteil an das Asphalt-Magazin. Um einen reibungslosen Einlass zu gewähren, wurden in diesem Jahr Ausfüllbögen auf die Rückseite der Einladungskarten bedruckt. Diese wurden explizit an soziale Einrichtungen verteilt, um zu gewährleisten, dass Sozialarbeitende den Gästen im Vorfeld beim Ausfüllen Hilfe leisten können. Auch das Asphalt-Magazin hat ein Kontingent erhalten. 96plus-Hauptpartner Clarios konnte den Gästen mit Hygieneartikeln eine Freude machen. Dieser Tag war eine schöne Abwechslung in Corona-Zeiten, dafür bedankt sich 96plus bei allen Beteiligten, Helfer*innen und Gästen.


Rund 83 Millionen Einwohner hat Deutschland, ca. 20.000 Mitglieder hat die AfD. Das ist – wie hat das Herr Gauland so nett formuliert: »ein Fliegenschiss«. Und wenn dann ca. 20 – 30.000 in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren, dann sind das doch auch nicht mehr als zwei »Fliegenschisse«! Das ist doch wirklich kein Grund, eine Demonstration zu verbieten. Sollen sie doch alle auf Masken verzichten, sollen sie sich umarmen und küssen. Dann sollen sie aber auch auf gar keinen Fall all den anderen einen Impfstoff wegnehmen, wenn er denn da ist. Sollen sie ganz einfach unter sich bleiben und wenn sie sich in der Öffentlichkeit der Maskenpflicht verweigern, kommt zumindest wieder Geld in die Staatskasse. All die Menschen, die sich einer Demonstration auch dann anschließen, wenn sie ganz genau wissen, dass sich viele Rechtsextremisten unter sie mischen, die deklassieren sich meiner Meinung nach selbst. Bedauerlich nur, dass Polizeieinsätze erforderlich werden. Das kostet vielleicht Verletzte auf deren Seite, und den Steuerzahlern Geld, was viel, viel sinnvoller eingesetzt werden könnte. Aber damit müssen wir in einer Demokratie wohl alle leben!

Karin Powser

Karin Powser lebte jahrelang auf der Straße, bevor ihr eine Fotokamera den Weg in ein würdevolleres Leben ermöglichte. Ihre Fotografien sind mittlerweile preisgekrönt. Durch ihre Fotos und mit ihrer Kolumne zeigt sie ihre ganz spezielle Sicht auf diese Welt.

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Das muss mal gesagt werden …

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»KRÄUTERFRAU« Aus dem Leben: Im Gespräch mit Asphalt-Verkäuferin Natalie (50). Natalie, du hast in diesem Monat Geburtstag. Es ist dieses Jahr kein gewöhnlicher, denn du wirst 50 Jahre alt. Hast du was besonders geplant? Ja. Ich werde meinen Wagen schmücken und ein paar Stunden am Kröpcke bei Ditsch Zeitungen verkaufen. Danach treffe ich mich dann um 17 Uhr mit meiner besten Freundin. Zusammen gehen wir zu Gorkha. Das ist ein indisches Restaurant, und dort kommen dann noch zwei andere Frauen dazu. Es wird also eine Frauenparty.

Dann wünsche ich euch schon jetzt ganz viel Spaß. Wie geht es dir denn gesundheitlich? Eigentlich nicht so gut. Aber ich versuche positiv zu denken. Ich habe ja viele Hobbys.

Welche Hobbys sind das? Ich lese viel über klimagesunde Ernährung. Und ich liebe Kräuter. Ich habe ein großes und ein kleines Kräuterbüchlein mit vielen Rezepten, nach denen ich mir öfter mal was zusammenmische. Das lasse ich dann eine Woche im Kühlschrank stehen und anschließend nehme ich das ein. Da gibt es auch ein Rezept, wie man ein Antibiotikum herstellt. Das mache ich jetzt auch selber. Und manchmal mache ich auch ein Knoblauch-Wochenende. Da esse ich Freitag, Samstag und Sonntag frischen Knoblauch. Den muss man auf nüchternen Magen essen. Aber in die Stadt fahre ich dann nicht mehr, um Asphalt zu verkaufen.

Wofür machst du so ein Knoblauch-Wochenende? Knoblauch hat ja eine antibakterielle Wirkung. Das ist gut für den Körper. Für den Organismus. Ich fühle mich damit einfach besser.

Du sagst, du liest viel über klimagesunde Ernährung. Ernährst du dich denn auch gesund? Ich versuche es. Aber das ist nicht so einfach für mich.

Kochst du denn auch selbst? Meistens koche ich am Wochenende. Am liebsten russisch, afri­kanisch oder indisch. Von der russischen Küche liebe ich zum Beispiel Borschtsch. Das ist eine Suppe mit Weißkohl, Rinderbeinscheibe, Kartoffeln und Rote Bete. Wenn die Suppe fertig ist, kann man da noch etwas saure Sahne reinmachen. Gegessen wird sie dann mit Brot. Und ich liebe Pelmeni. Aus der afrikanischen Küche mag ich Lammfleisch mit ErdnussSoße. Lammfleisch mit Masala-Soße ist indisch und das koche ich auch selbst und gerne.

Das ist bestimmt lecker. Für wen kochst du denn alles? Für mich und meinen Sohn. Ansonsten habe ich niemanden, für den ich noch kochen kann. Meine Freundin ist ja Vegetarierin.

Siehst du deine Kinder noch regelmäßig? Durch Corona sehe ich sie jetzt seltener. Das ist schon sehr traurig für mich. Einmal im Monat darf ich für eine Stunde erst meine Tochter sehen und später nochmal für eine Stunde meinen Sohn. Wenn Corona vorbei ist, dann dürfen meine Kinder bei mir auch wieder schlafen. Da freue ich mich schon drauf.

Hat Corona dein Leben sonst noch verändert? Nein, sonst nicht so sehr. Ich habe auch keine Angst vor Corona. Ich glaube an Gott. Ich habe meine Kräutermedizin und meinen muslimischen Glauben. Das hilft mir, damit umzugehen.

Du hattest uns im letzten Interview erzählt, dass du als Kind oft geärgert wurdest. Gibt es denn etwas, woran du dich aus deiner Kindheit gerne erinnerst? Bevor ich den Unfall hatte, als ich in Russland zur Schule gegangen bin, bin ich sehr gerne gerannt. Wettlaufen – das habe ich gerne gemacht. Da habe ich immer die anderen Mädchen überholt. Das ist etwas, was ich nicht vergessen werde. Und, mein Vater, der hat in einem Club gearbeitet, wo die Leute funken gelernt haben. Das habe ich auch gelernt. Manchmal haben wir alle gemeinsam einen Ausflug in den Wald gemacht. Dort sollten wir dann mit Kompass und Waldkarte nach Geräuschen laufen und Ziele suchen. Wo das Geräusch lauter wurde, war ein Zwischenziel, zu dem wir hinlaufen mussten. Bei einem dieser Ausflüge habe ich alle überholt. Ich habe die drei Stationen zuerst gefunden und war auch als Erste im Ziel. Die Erwachsenen haben dann gestaunt und gesagt: ›Oh, die kleine Maus hat alles gefunden und war die Erste. Wie geht denn das?‹ Ich habe mich gefreut und gelacht. Das sind wirklich positive Erinnerungen.

Wenn du dich beschreiben müsstest, welche drei Begriffe fallen dir da als erstes ein? Drei Begriffe? Die mich beschreiben? Gestärkt – meine Arbeit, der Verkauf von Asphalt, hat mich in den letzten Jahren stärker gemacht. Vorsichtig – seit ich den muslimischen Glauben angenommen habe, bin ich viel vorsichtiger geworden. Ich lasse negative Menschen nicht mehr an mich ran. Gesundheitsliebend – ich mache ja meine Kräutermedizin zu Hause selber. Seitdem lebe ich gesünder. Interview und Foto: Grit Biele


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Natalie verkauft Asphalt in der Niki-de-Saint-Phalle Promenade am Krรถpcke vor Ditsch.


JÜRGEN PIQUARDTS GENUSS DES EINFACHEN

»Heilnahrung«

Foto: Floortje/iStock.com

»Mit vollem Magen lässt sich leicht vom Fasten reden« (Hieronymus). Gelegentliches Fasten ist die beste Heilnahrung (?). 750 Millionen Menschen auf der geliebten und doch von uns so umfassend geschändeten Erde haben nicht genug zum Essen; und möglicherweise auch bald nicht mehr genug zum Trinken. Drei Millionen Kinder unter fünf Jahren sterben jährlich an Unterernährung. Durch das uns so unglaublich futuristisch beherrschende Virus Covid-19 sind bisher – die Schätzungen katapultieren in die Höhe, weil alles, was irgendwie diesem Virus zugeordnet werden kann, ihm auch zugeordnet wird – 700.000 Menschen (wirklich »in echt« vielleicht »nur« 150.000) daran erdweit gestorben. Andererseits: Was wäre ohne die doktrinären Verordnungen durch dieses Virus verursacht worden, in vielfältigster und wohl niemals abzuschätzender Hinsicht? Sehen wir möglichst genau hin, in alle Richtungen. Das wäre lebendige Demokratie. Stattdessen! Ein beängstigend gleichgeschalteter, nicht enden wollender Maskenball ist verordnet; nicht heiter, nicht angstnehmend, sondern …? Gewaltsam, einfallslos, wird das Leid der vielen kleinen Firmenpleiten, der oft überforderten Familien, der auf der »Straße« Lebenden, einem bisher nicht einmal wissenschaftlich fundiert abgesegneten, geschweige denn von ganzheitlichen Überlebens-«Strategien« geleiteten »Katastrophenmodell« geopfert. Wer organisiert dieses, unser? »Solidarverhalten«? Wer bestimmt, was wichtig und weniger wichtig ist? Warum versuchen

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Der bekannte hannoversche Gastronom lebt in der Provence, ist Autor, Olivenbauer und Kochanimator. Seine Gerichte: regional und saisonal. Jetzt kocht er für Asphalt. Ein Gericht zu jeder Jahreszeit.

Becker

WINTERLICHES TEILFASTEN

wir nicht, den Armen zu helfen, statt die immer weniger werdenden Reichen noch reicher werden zu lassen? Machtkonzentration ist noch nie zum Nutzen der meisten von uns Lebewesen gewesen, oder? Hunger und Fasten! Armut und Gemeinwohl! Wie können wir unsere Hoffnung auf zumindest menschliche Solidarität stärken? Immer wieder kann das Hineinhorchen in unsere Geschichte hilfreich sein: Um über den langen, noch vor 100 Jahren sehr langen, Winter zu kommen, wurde gefastet. Seit ca. 2.000 Jahren von Religionen bestimmt, reglementiert. Die 2 großen christlichen Fastenzeiten: Advent und die noch längere 40-tägige, »fünfte Jahreszeit,« von der Fastnacht, vom Fasching, vom eintägigen! Maskenball an. Das haben wir mehrheitlich vergessen. Nicht zu unserem Nutzen. Sollte Gesundheit möglichst lebenslang erreichbar sein, müssten die »Wohlstandsfolgen« auch lebenslang mit Hilfe des Fastens korrigiert werden. Das könnte heiter sein. Aber nicht nur: Sisyphos hat ja spannend viele Gesichter. Mutmachendes, uns nicht überforderndes, individuelles Fasten, irgendwann glücklich losgelöst von monatlich erscheinenden, immer wieder anderen, und damit entmutigenden »Kurzzeit-Fasten-Religionen« – ja, das ist gemeint! Mutmachendes, heiteres, sich individuell bewährendes Fasten oder Teilfasten bei dem Körper, Seele und Geist inniglich verbunden sind, das möchte diese Herbst-Frühwinter-Kolumne anregen. Die Tradition: Fasten im Advent! Also erst in einigen Wochen. Die lieb angeregte Variante: Nichts verschieben! Und dann im Advent eine zweite, ganz winterliche Fastenzeit! »Natürlich« GUTEN HUNGER, diesmal beim heiter!!! – ganz eigen gestalteten Teilfasten!


Dauer: 10 bis 16 Stunden

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Fasten -Menu in 8 Gängen Zutaten: 1. Guter Wille und saubere Luft

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2. Guter Wille und Freude am Körper

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3. Liebe zum Leben 4. Gemüsebrühwürfel (Bio), Kartoffel oder/und Sellerie, Mohrrübe, Kürbis 5. 3 Korinthen 6. Heile Wünsche 7. Kräuter (einheimische und fremde) und Wasser 8. Gesichtsmuskeln und Wohlwollen

Prozedere: Atmen – Tief in den Bauch hineinatmen; und noch länger ausatmen. Vielleicht fünf? Minuten. Bauchmassage – Die einfachste denkbare Massage: auf den Bauch legen und bewusst und freudvoll tief ein- und ganz langsam ausatmen. Ausleben! Gewaltfreie Gedanken – Oh, wie schwer ist das zu erlernen: liebevolle Gefühle statt Schuldzuweisungen. Notwendiger Vorsatz: Ich muss mich selber akzeptieren lernen, noch besser: selber lieben lernen. Was spricht noch dagegen?

Gemüsebrühe – Die Gemüsewürfel oder -scheiben bissfest (dazu mehr im nächsten Punkt) in der Brühe garen. Dreimal eine Korinthe – Es geht wohl kein zukunftsfroher Weg daran vorbei: Kauen! Kauen statt schlingen! Was könnte das nicht alles bewirken? Für mich, für Dich, für uns alle. Zur Einübung die Korinthe: Zum leicht verdaulichen Speisebrei werden sie erst, wenn wir sie mindestens 30 mal gekaut haben. Heile Wünsche – Nochmals wohlwollende Gefühle statt Schuldzuweisungen. Kräutertee – Die Lieblingsvariante vom

Olivenbauern: Die Olivenblätter eine Viertelstunde köcheln und dann abseihen. Die »Infusion« kann heiß und kalt getrunken werden. Fast jeder freudig zubereitete Kräutertee verspricht, ähnlich gesund zu wirken. Lächeln – Gemeint ist wohlwollendes Lächeln. Tipp: Vor allem die Gänge bewusstes Atmen, Bauchmassage, gewaltfreie Gedanken, heile Wünsche, Kräutertee und Lächeln können oder sollten im Laufe des Tages oft wiederholt werden.


RUND UM ASPHALT

Neuer Bewohner auf Meyers Hof

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Gewinnsp

Sie gelten als ausgesprochen robust. Gleichzeitig als freundlich, gutmütig und lernbegierig – Dülmener Pferde. Seit August lebt mit dem Dülmener Pferd »Jakob« ein Vertreter dieser bedrohten Haustierrasse auf dem Bauernhof im Erlebnis-Zoo Hannover. Der zwölfjährige Wallach hat graufalbes Fell und eine dichte Mähne. Seine Tierpfleger charakterisieren ihn als »Jakob ist ein ganz Lieber«. Auch Exmoor-Pony Mona war vom ersten Augenblick an begeistert von ihrem neuen Gesellschafter. Kaum wurde Jakob in den Stall geführt, machte sie mit allen Exmoor-Pony-Mitteln auf sich aufmerksam. Spätestens beim ersten Treffen auf der Weide waren sie ein Herz und eine Seele. Das Dülmener Pferd wird seit 1994 auf der Roten Liste gefährdeter Nutztierrassen geführt. Nur noch etwa 400 Tiere leben im Merfelder Bruch, heute ein Naturreservat, geschützt seit Mitte des 19. Jahrhunderts von der Familie Herzog von Croӱ. Mit Asphalt können Sie zwei Tagestickets für den Zoo Hannover gewinnen! Beantworten Sie uns einfach folgende Frage: Wie alt ist Jakob? Jeder Besucher benötigt zu den Tickets zusätzlich eine Zutrittsberechtigung. Diese gibt es ausschließlich online unter shop.erlebnis-zoo.de

Foto: Zoo Hannover

Asphalt verlost 10 x 2 Karten für den Zoo Hannover

Schicken Sie uns eine Postkarte, eine E-Mail oder ein Fax mit Ihrer Antwort und dem Stichwort »Zoo« bis zum 31. Oktober 2020 an: Asphalt-Redaktion, Hallerstraße 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover, gewinne@asphalt-magazin.de, Fax 0511 – 30126915. Bitte vergessen Sie Ihre Absenderadresse nicht! Die Lösung unseres letzten Zoo-Rätsels lautet: »dienstags und donnerstags«.

Sozialer Stadtrundgang wieder buchbar Verkäuferausweise Bitte kaufen Sie Asphalt nur bei Verkäufer­Innen mit gültigem Ausweis! Zurzeit gültige Ausweisfarbe (Region Hannover): Hellgrün

Asphalt zeigt Ihnen wieder das andere Hannover. Ab sofort können Sie sich von unseren VerkäuferInnen wieder zu Orten führen lassen, an denen Wohnungslose keine Randgruppe sind. Die Stadtrundgänge sind vorerst nur für geschlossene Gruppen mit maximal zehn Teilnehmern möglich. Es gelten die vorgeschriebenen Hygiene- und Abstandsregelungen sowie Maskenpflicht für alle Beteiligten. Bitte vereinbaren Sie einen Termin unter 0511 – 301269-20. Teilnahme auf Spendenbasis: 30 Euro pro Gruppe.

Impressum Herausgeber: Matthias Brodowy, Dr. Margot Käßmann, Rainer Müller-Brandes Gründungsherausgeber: Walter Lampe Geschäftsführung: Georg Rinke Redaktion: Volker Macke (Leitung), Grit Biele, Ute Kahle, Ulrich Matthias Gestaltung: Maren Tewes Kolumnistin: Karin Powser Freie Autoren in dieser Ausgabe: S. Burbach, J. Piquardt, S. Przybilla, B. Pütter, W. Stelljes Anzeigen: Heike Meyer Verwaltung: Janne Birnstiel (Assistentin der Geschäftsführung), Heike Meyer

Vertrieb & Soziale Arbeit: Thomas Eichler (Leitung), Romana Bienert, Sophia Erfkämper, Ute Kahle, Kai Niemann Asphalt gemeinnützige Verlags- und Vertriebsgesellschaft mbH Hallerstraße 3 (Hofgebäude) 30161 Hannover Telefon 0511 – 30 12 69-0 Fax 0511 – 30 12 69-15 Vertrieb Göttingen: Telefon 0551 – 531 14 62 Spendenkonto: Evangelische Bank eG IBAN: DE 35 5206 0410 0000 6022 30 BIC: GENODEF1EK1

redaktion@asphalt-magazin.de vertrieb@asphalt-magazin.de goettingen@asphalt-magazin.de herausgeber@asphalt-magazin.de Online: www.asphalt-magazin.de www.facebook.com/AsphaltMagazin/ www.instagram.com/asphaltmagazin/ Druck: v. Stern’sche Druckerei, Lüneburg Druckauflage: Ø 26.500 Asphalt erscheint monatlich. Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 21. September 2020 Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte, Bilder und Bücher übernehmen wir keine Gewähr. Rücksendung

nur, wenn Porto beigelegt wurde. Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte weitergegeben. Unsere vollständige Datenschutzerklärung finden Sie auf www.asphalt-magazin.de/impressum. Alternativ liegt diese zur Ansicht oder Mitnahme in unserer Geschäftsstelle aus. Gesellschafter:

H.I.o.B. e.V. Hannoversche Initiative obdachloser Bürger


Foto: G. Biele

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Sie ist die Neue im Team. Sie heißt Sophia, ist 23 Jahre alt, hat Soziale Arbeit studiert und wird von nun an für unsere Asphalt-Verkaufenden da sein. »Es gibt hier eine riesige Spannweite an Möglichkeiten der sozialen Arbeit. Von der alltags­praktischen über die rechtliche bis hin zur pädagogischen Beratung. Ich möchte Sprachrohr für die Verkäuferinnen und Verkäufer sein, denn nicht jeder braucht immer Hilfe, manche möchten auch einfach nur gehört werden«, freut sich Sophia auf ihre neue Herausforderung. Vor Asphalt hat die 23-Jährige bei der STEP im Fixpunkt gearbeitet. Dort hat sie Überlebenshilfen gegeben, den Drogenkonsum im Konsumraum überwacht und Menschen bei alltäglichen Dingen wie Wäsche waschen, Briefe schreiben und Telefonate führen unterstützt. »Schon früh habe ich gemerkt, dass niedrigschwellige Arbeit sehr wichtig ist«, begründet Sophia ihre Motivation für den Job bei Asphalt. Sophias Stelle muss – anders als alle anderen Sozialarbeiterstellen in der hannoverschen Wohnungslosenhilfe – zu 100 Prozent aus Spenden finanziert werden. GB

gesucht – gefunden Verkäufer HaDe: Steht irgendwo ein gebrauchtes Senioren-Elektromobil ungenutzt herum? Da ich in Kürze meine bisher gut verkehrsangebundene Wohnung wegen Anmeldung Eigenbedarf verlassen muss, benötige ich, weil bewegungseingeschränkt, eine derartige Hilfe. Meine neue Unterbringung ist relativ weit entfernt von Einkaufsmöglichkeiten, Haltestellen oder den Orten zu Arztbesuchen und zu anderen öffentlichen Einrichtungen. Wichtig ist, dass ich den Akku wechseln und zum Aufladen mitnehmen kann. Damit, so hoffe ich, auch weiterhin Asphalt Magazine verkaufen zu können. [V-Nr. 1902/Hannover] Angebot an Asphalter Heinz-Dieter Grube bitte per E-Mail: grube.hannover@t-online.de Danke. Verkäuferin Constance: Ich suche eine Wohnung in Göttingen bis 49 qm und bis 495 Euro Warmmiete. [V-Nr. G-005/Göttingen] Kontakt: 0551 – 5311462 (Büro Göttingen/Kassel).

Foto: Sebastian Bluttat

Verstärkung für Asphalt

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»Asphalt macht Wertschätzung« Desimo, Entertainer »Asphalt ist eine wichtige Hilfe zu Selbsthilfe und ermöglicht dem Verkäufer und dem Interessenten die – wenn auch kurze – Begegnung auf Augenhöhe. Ich beobachte (und erlebe selbst) immer wieder: Auch wenn der Kauf nicht zustande kommt, verhilft das Angebot der Zeitung doch, vielen Passanten auch mal zu einem freundlich lächelnden »Nein danke« oder »habe ich schon«. Allemal wertschätzender als der ignorierend starre Blick ins Leere auf den Asphalt. Besser ist natürlich der Griff zur Zeitung.«

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regelmäßige seine Arbeit ohne … dass Asphalt e finanziert? chliche Zuschüss öffentliche und kir enerlösen sind aufs- und Anzeig Neben den Verk Förderer die rer Freunde und die Spenden unse ierung. nz zur Gesamtfina wichtigste Stütze ende: indung für Ihre Sp Unsere Bankverb Asphalt-Magazin 30 0410 0000 6022 IBAN: DE35 5206 EK1 BIC: GENODEF1 nk Evangelische Ba ck: Perspektiven Verwendungszwe

… mehr als eine gute Zeitung!

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Foto: nXm-film-production

BEFREIT Ein Schrank voller Klamotten, die keiner trägt. Eine Wohnung, in der sich »Steh-Rümchen« stapeln, die eigentlich niemand braucht. So sieht es bei vielen zuhause aus. Auch bei Anne Weiss, bis sie Unbenutztes rigoros aussortiert. Im Interview verrät die Minimalistin, wie sie sich vom Konsum gelöst hat. Deine Entscheidung, gründlich zu entrümpeln, hat als Experiment begonnen und am Ende dazu geführt, dass du dein ganzes Leben quasi »umgekrempelt« hast. Das braucht viel Mut, Durchhaltevermögen und vor allem Zeit. Was war für dich der Auslöser, dein Leben auf »weniger ist mehr« umzustellen?

türlich in ein Loch gefallen. Ich wusste einfach nicht, was ich mit meinem Leben jetzt anfangen soll. Also bin ich mit einer Freundin sechs Wochen durch Indien gereist. Eine Sinnsuche, wenn man so will – aber die hat mich nur vor noch mehr Fragen gestellt.

Das war, als ich meinen Job verloren habe. Ich habe lange als Lektorin und Schreibcoach im Verlag gearbeitet, mich im typischen Hamsterrad gedreht. Das hat mich viel Energie gekostet, und ich habe versucht, das über Konsum auszugleichen. Irgendwann hatte ich aber das Gefühl, dass das, was ich mir gegönnt habe, gar nicht mehr so reizvoll war. Der Konsum hat sich einfach abgenutzt. Die Kündigung, kurz vor Weihnachten, war zuerst ein Schock, aber auch ein Ausweg. Zuerst bin ich na-

Du hast auf deiner Indienreise viele Kontraste gesehen und auch andere Lebensentwürfe kennengelernt. Welcher hat dich besonders beeindruckt? In Madurai habe ich Christopher getroffen, der das halbe Jahr in Kanada und das andere halbe Jahr in Indien verbracht hat. Er hat in Kanada als Holzfäller Geld verdient, um in Indien tun zu können, wonach ihm der Sinn steht. Und er hat mir zum ersten Mal klargemacht: Je weniger ich brauche, desto freier bin


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Nach welchem System hast du ausgewählt, was du behältst. Und was genau befindet sich eigentlich in deinen drei Kisten, die übrig geblieben sind? Beim Entrümpeln habe ich mir die Frage gestellt: Bedeutet der Gegenstand mir wirklich etwas? Viele Dinge, die wir haben, sind ja irgendwie emotional mit uns verbandelt. Das können Geschenke sein, oder Erbstücke. Sie haben oft nur einen emotionalen Wert, der längst verblasst ist. Bei anderen Sachen ist das nicht so. Ich habe zum Beispiel viele Briefe von Freundinnen oder meinen Nichten aufgehoben, und auch meine Tagebücher. Das sind Sachen, die meine Oma am Ende ihres Lebens am meisten vermisste. Sie kam aus Oberschlesien, Breslau, und ist nach dem Krieg quer durch Deutschland nach Bremen geflohen, nur mit einem Koffer in der Hand. Ein kleines Fotoalbum war alles, was sie noch von früher hatte. Und sie hat immer gesagt, wenn du dich von solchen Dingen trennst, gibst du einen Teil von dir und deiner Geschichte weg. Deshalb stecken in meinen drei Kisten Sachen, die mir

etwas bedeuten und die unersetzlich sind. Alles, was ich sonst besitze, hat einen funktionalen Wert – aber es ist nicht in einer der Kisten. Ich trinke zum Beispiel jeden Morgen aus einer bestimmten Tasse. Und wenn ich die nicht hätte, müsste ich ja aus der Hand trinken ...

Du gibst im Buch zu, früher eine echte Shopaholic gewesen zu sein. Jetzt gehst du gelassen an Sonderangebotsschildern vorbei. Inwiefern ist das auch eine gesellschaftliche Sache, das »Immer-mehr-Wollen«? Als Kind der 80er Jahre bin ich in einer Welt großgeworden, in der dauernd von stetigem Wachstum die Rede war. Und das, obwohl unsere Eltern eigentlich alles erreicht hatten, wovon unsere Großeltern träumten. Wir hatten ein Dach über dem Kopf, sogar ein bisschen Wohlstand. Es war also unnötig, immer mehr anzusammeln. Gleichzeitig wurden in den 80ern und 90ern durch die Produktionswege und die steigende Globalisierung Luxusgüter immer erschwinglicher. Als typisches Kind meiner Zeit bin ich in diesen Sog geraten und habe das lange nicht hinterfragt. Auch wenn ich natürlich wusste, dass es nicht nachhaltig sein kann, wenn zum Beispiel meine Mango per Schiff oder Flieger zu mir kommt. Und wenn ich ständig denke, was kann ich konsumieren, was ist das Günstigste, frisst das wahnsinnig viel Zeit. Es ist angenehm, entscheiden zu können, dass ich an einem Laden vorbei gehe und das Angebot nicht nutze.

Nicht von den Sachen abhängig sein, die einen umgeben, sondern im Moment leben – das ist eine schöne Vorstellung. Klingt aber auch schwierig. Kann das jeder? Und wenn ja, wo fange ich bloß an? Genau so wie ich das gemacht habe, wird es nicht jeder machen können, weil es um sehr persönliche Entscheidungen geht. Was ich aussortiere und wie, hängt auch von der eigenen Geschichte ab. Im Buch gibt es natürlich auch Tipps, aber für mich war es wichtig, keinen reinen Ratgeber zu schreiben, sondern eher zu inspirieren: Indem ich mich nämlich mit meinem Krempel beschäftige, beschäftige ich mich auch mit mir selbst. Jedes einzelne Stück ist eine Entscheidung, die ich mal getroffen habe. Am Ende steckt dahinter vor allem die Frage: Wie will ich mein Leben gestalten? Will ich meine kurze Lebenszeit dafür nutzen, mir einen Gegenstand anzuschaffen oder möchte ich den Moment erleben? Aus meiner Sicht ist das, was bleibt, kein Gegenstand, den ich mir mal gekauft habe. Es ist das, was wir unsichtbar mit uns tragen, was uns formt.

Wohnungslose besitzen aus ihren Lebensumständen heraus nur wenige Dinge. Anderer-

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ich in meinem Leben und meinen Entscheidungen. Vieles hatte ich bis dato hinter dem Job zurückgestellt – habe meine Familie und meinen Freund zu selten gesehen, zu wenig Privatleben gehabt, eher Sachen angesammelt als Erlebnisse. Auf der Reise habe ich mich gefragt, ob ich das noch will. Als ich dann nach Nippes in meine Wohnung zurückkam, hatte ich das Gefühl, die ganzen Dinge, die da rumstanden, wären gar nicht meine. Als hätte jemand einen Schlüssel für mein Apartment gehabt Aus meiner und da wahllos Sachen reingeSicht ist das, stellt. Wer mal sechs Wochen was bleibt, kein aus dem Rucksack gelebt hat, Gegenstand, weiß, was er wirklich braucht. den ich mir mal Und das sind eben nicht diese »Steh-Rümchen«, die nur Staub gekauft habe. ansammeln. Also wollte ich Es ist das, was rausfinden, welches die Sachen wir unsichtbar sind, die bleiben dürfen – und mit uns tragen, welche gehen müssen, weil sie was uns formt. mir die Sicht auf das verstellen, was wirklich wichtig ist.

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Güter umzuverteilen, und sie denen zu geben, die sie dringend brauchen. Das Virus hat eine Zeitlang verhindert, dass wir uns Dinge kaufen – viele Geschäfte waren ja zu, einige sind es noch. Ohne die Möglichkeit zu konsumieren sind wir zurückgeworfen auf uns selbst. Das mag im ersten Moment vielleicht einen Impuls auslösen, etwas verändern zu wollen, andererseits kann es in einer Krise auch ein natürliches Bedürfnis sein, so viele Sachen wie möglich bei sich zu behalten – eine Typfrage, denke ich. Wer entrümpeln möchte, sollte sich neben der wirtschaftlichen Notwendigkeit ernsthaft fragen, ob ihm ein bestimmter Gegenstand nützt oder ob er ihn nur behält, falls ein bestimmter Umstand eintritt: Das Kleid, falls ich mal bei der Queen eingeladen wäre, der Esstisch, den ich bräuchte, wenn ich mal eine Großfamilie hätte. Wenn ich die Gegenstände beim Entrümpeln nicht genug auf den Prüfstand stelle, schaffe ich letztlich nur Platz für Neues. Aber wenn ich mich mit dem Grund auseinandersetze, warum mir etwas bedeutsam erscheint, wird mir klar, auf welche Sachen ich wirklich nicht verzichten kann.

Viele schrecken vielleicht auch deshalb vor dem Ausmisten zurück, weil sie einfach nicht wissen, wohin mit dem ganzen Zeug. Oder sie mögen den Gedanken nicht, etwas einfach in die Tonne zu werfen. Welche »Loswerde-Strategie« hat bei dir am besten funktioniert?

Chaos im Kleiderschrank. Wie man sein Hab und Gut auf das Notwendigste reduziert, beschreibt Anne Weiss mit vielen Tipps in ihrem Buch »Mein Leben in drei Kisten«.

seits haben wir erst kürzlich wegen des Coronavirus erlebt, dass die Leute anfangen zu hamstern, weil sie Angst haben, bald nichts mehr kaufen zu können. Woher weiß man eigentlich, wann man genug hat? Es gibt natürlich einen großen Unterschied zwischen der Armut, in die jemand unwillentlich gerät, und der Entscheidung, nicht viel zu brauchen. Gerade in einer Zeit wie jetzt ist es wichtig,

Ich habe versucht, für alle Sachen den richtigen Platz zu finden. Schwierig ist das etwa bei Klamotten – es gibt einfach zu viele, die Second-Hand-Boutiquen sind voll. Schöner war es bei einem emotionalen Gegenstand wie dem Bild, das eine Freundin mir mal gemalt hat: Ich habe es der Künstlerin zurückgegeben, seitdem sind wir wieder in Kontakt. Überzählige gebrauchsfähige Sachen – Geschirr, Wolldecke, Schlafsack – habe ich gespendet. Es gibt viele Sozialstellen, wie zum Beispiel Sozialkaufhäuser, die Obdachlosenhilfe in Berlin oder Emmaus in Köln. Die nehmen auch Altporzellan und Möbel. Bücher habe ich dem Büchertisch und dem Kinderschutzbund für ein Event gespendet. Einige Kartons, die noch im Keller standen – und von denen ich nicht mal mehr wusste, was drin ist, weil ich die bei jedem Umzug einfach nur mitgeschleppt habe – habe ich gratis für Selbstabholer als Flohmarktkartons ins Netz gestellt. Einen Tag lang war ich auch selbst auf dem Flohmarkt. In Berlin, wo ich jetzt lebe, funktioniert es auch, gut erhaltene Sachen in einem Karton mit der Aufschrift »zu verschenken« vor die Tür zu stellen – ist alles sehr schnell weg. Zwei gut erhaltene Regale habe ich auch unten an die Straße gestellt. Da hielt eine Frau mit quietschenden Reifen und hat sie gleich mitgenommen – für eine Flüchtlingsinitiative. Ihr habe ich auch noch andere Sachen mitgegeben: ein ganzes Geschirrset, eine Lampe und Handtücher, die ich übrig hatte. Es ist ein schönes Gefühl, dass diese Gegenstände jetzt endlich in Gebrauch sind und Teil der Geschichte eines anderen Menschen werden.


Gerade in einer Zeit wie jetzt ist es wichtig, Güter umzuverteilen, und sie denen zu geben, die sie dringend brauchen.

Foto: nXm-film-production

Ich habe diese Tiny-Haus-Bewegung schon lange verfolgt und wollte unbedingt mal ausprobieren, darin zu wohnen. Auf dem Grundstück von Oliver Victor, dem die Siedlung in der Nähe von Ratzeburg gehört hat, in der ich kurze Zeit gewohnt habe, gibt es auch noch viele andere Wohngelegenheiten – Eisenbahnwaggons, Baumhäuser, Zirkuswagen und so Sachen. Da hat‘s mir wunderbar gefallen, auch die Nähe zur Natur. Ich habe nur einfach diese Leidenschaft für Berlin, wo ich inzwischen in einer WG wohne. Im Tiny-Haus-Experiment habe ich nämlich erfahren, wie gut es mir getan hat, mit den Menschen auf dem Gelände zusammen zu sein, Räume mit ihnen zu teilen, gemeinsam zu kochen und zu reden. Einfach Zeit zusammen zu verbringen. Dass es gar nicht nötig ist, so viel Platz für mich als einzelne Person zu haben – früher bewohnte ich etwa 65 Quadratmeter. Ich finde es schöner und sinnvoller, Raum mit anderen zu teilen. Sei es, weil ich sonst nur für mich heize, oder um Gegenstände gemeinsam zu benutzen. Der Wok, den ich besitze, hat sich wunderbar in meine WG eingefügt.

Sokrates soll gesagt haben: »Das Geheimnis des Glücks liegt nicht darin, mehr zu erlangen, sondern die Fähigkeit zu entwickeln, sich an weniger Dingen zu erfreuen«. Das Zitat findet sich auch in deinem Buch wieder. Würdest du sagen, dass er Recht hat? Bist du glücklicher als vorher und wie zeigt sich das?

Anne Weiss, die eigentliche Anne-Kathrin Schwarz heißt, ist 1974 in der Nähe von Bremen geboren und hat Anglistik, Germanistik und Kulturwissenschaften mit Abschluss Magister studiert.

Ich würde Sokrates absolut zustimmen: Immer mehr zu wollen ist wie ein Sog. In dem Moment, in dem ich davon träume, mehr zu haben, verlege ich das, was ich will, in die Zukunft. Das hindert mich daran, in der Gegenwart zu leben und zu genießen, was ich wirklich habe. Gerade in unserer heutigen Gesellschaft ist das ein großes Problem. Glücksforscher haben herausgefunden, dass es nicht per se glücklicher macht, immer mehr Wohlstand zu erlangen. Das Streben danach hat

damit zu tun, dass wir mehr als der Nachbar haben wollen – und in einer globalisierten Welt sind die Nachbarn nicht nur nebenan, es gibt viel mehr Menschen, die mehr haben, als man selbst. Das eigentliche Glück liegt darin, das zu genießen, was ich habe, und den Moment wahrzunehmen. Natürlich ist ein gewisses Level an wirtschaftlicher Sicherheit gut, aber wenn ich die Karriereleiter raufklettere, dann muss ich wissen, wozu. Was ich persönlich mehr genieße als früher ist es, mehr Zeit für mich zu haben, statt mich in Projekten aufzureiben. An dem Ort sein zu können, wo ich sein möchte. Einen Auftrag abzulehnen, wenn mich das Projekt nicht packt. Das ist Luxus, und das nehme ich auch so wahr.

Woher nimmst du die Motivation, Minimalistin zu bleiben? Und womit machst du dir eine kleine Freude oder belohnst dich, zum Beispiel, als du dieses Buch fertig geschrieben hattest? Viele würden sich ja etwas Schönes kaufen ... Ich muss mich zu diesem Lebensstil nicht zwingen. Ich mache das, weil es mir gut tut. Sollte ich irgendwann merken, dass mir etwas fehlt, dann würde ich es wieder ändern. Aber im Moment sehe ich dazu keine Veranlassung. Für das Fertigschreiben des Buches habe ich mich mit einem Projekt belohnt, das mir sehr wichtig war: Zusammen mit Carola Rackete »Handeln statt Hoffen« zu schreiben. Carola hat ja im Juni 2019 die Seawatch 3 in den Hafen von Lampedusa gefahren, und meine Lektorin hat mich am Morgen, als ich das Manuskript von »Mein Leben in drei Kisten« abgegeben habe, gefragt, ob ich das Projekt übernehmen möchte. Eigentlich wollte ich Urlaub machen, aber ich wusste, das muss ich tun. Und mir war auch klar, dass ich das Honorar spenden möchte, so wie Carola das auch getan hat – an Borderline Europe e.V., eine Flüchtlingsorganisation, die sich für die Rechte der Flüchtlinge und HelferInnen einsetzt. Das hätte ich mir nicht leisten können, wenn ich jetzt nicht weniger brauchen würde. Das war meine Belohnung. Erholt habe ich mich dann beim Wanderurlaub mit meiner Mutter, Tagestouren rund um Berlin. Das war sehr schön.

Vielen Dank für das Gespräch. Interview: Sabrina Burbach

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Du hast eine Zeit lang in einem TinyHaus und in einem Bahnwaggon gelebt, wohnst nun wieder in einer WG in Berlin. Könntest du dir vorstellen, einmal komplett in einer alternativen Wohnform zu leben?

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BUCHTIPPS Don't cry – work. Berlin-Romane sind ja oft unangenehm, weil sie Beschreibungen von Selbstverliebtheiten im Zustand der Selbstverliebtheit erzählen. Das Label Gesellschaftsroman sollte man wie alles, was heute in enger Verbindung zu Martin Walser steht, weiträumig umfahren. Wer sich trotzdem traut, den neuen Roman von Thorsten Nagelschmidt – der von der Band Muff Potter – in die Hand zu nehmen, staunt. Verblüffend kunstvoll miteinander verwobene Episoden erzählen eine Nacht in Berlin aus der Perspektive derer, die die Jobs machen, während die anderen feiern: Tanja fährt Rettungswagen, Heinz-Georg Taxi, Ten ist Türsteher, Sheriff Hausmeister, Christina Polizistin, Felix dealt, Marcela liefert per Rad Essen aus – und am Ende macht Sabrina sauber. Das kann banaler Pop werden oder schief klingen, alles steht und fällt – neben der Konstruktion – mit der Glaubwürdigkeit der ProtagonistInnen. Mit großer literarischer Ernsthaftigkeit und einem Gefühl für Milieus und Sounds hat Nagelschmidt hier Großes geschaffen. Wenn Gérard Otremba schreibt: »Der perfekte literarische Spagat zwischen ›Berlin Alexanderplatz‹ und ›Herr Lehmann‹«, dann ist das eine erstaunlich treffende Beschreibung. BP Thorsten Nagelschmidt | Arbeit | S. Fischer | 336 S. | 22 Euro

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Flexibel, nicht lernfähig Der linke Kulturjournalist, Filmkritiker und Gesellschaftstheoretiker Georg Seeßlen hat ein Buch zur Corona-Krise geschrieben. Seeßlens eigensinnige Texte über Pop und Zombies, über Hollywood und das politische Berlin haben nie das geringste Interesse, sich an Oberflächen abzuarbeiten – so auch hier: Statt journalistischer Nacherzählung legt Seeßlen eine düstere Analyse der Tiefenstruktur der Krise vor. Er analysiert die Phasen der Krise von der medizinischen Rationalisierung (als wir alle Virologen wurden, um Leben zu retten) über die Sozialisierung (vom Gerede über systemrelevante Jobs bis zum neuen Sozialdarwinismus) und die Ökonomisierung (die Wirtschaft erst neben und dann über Gesundheit stellte) bis zur Politisierung, die die »Verhinderung eines Game-Change-Impulses« über alles stellte. Die egoistische Rebellion der Corona-Leugner ist dabei nur ein Symptom, so wie der Konflikt zwischen Souverän (Grenzen zu!) und Wirtschaft (Grenzen auf!) ein vordergründiger bleibt. Für Seeßlen verwirklicht die Krisenbewältigung durch Zeitgewinn das neoliberale Projekt des Überflüssigmachens von Gesellschaft als Akteur. BP Georg Seeßlen | Coronakontrolle. Nach der Krise, vor der Katastrophe | bahoe books | 140 Seiten | 15 Euro

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KULTURTIPPS Sonstiges Flohmarkt für den guten Zweck

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Ob Haushaltswaren oder Sportartikel, ob Bücher oder Schallplatten – auf dem Parkplatz bei der Heils­ armee, unmittelbar neben dem Leineufer gibt es wieder jede Menge auf dem sozialen Flohmarkt der christlichen Drogenhilfe-Einrichtung »Neues Land« zu entdecken. Hinter den Verkaufstischen stehen überwiegend ehemalige Drogenabhängige, die ihre Therapie erfolgreich beendet haben. Damit wird ihnen eine sinnvolle Aufgabe geboten. Der komplette Erlös des Flohmarktes kommt ausschließlich sozialen Zwecken zugute. Natürlich findet der Flohmarkt unter Einhaltung der Corona-Hygienemaßnahmen statt. Samstag, 10. Oktober, ab 9 Uhr, Parkplatz bei der Heilsarmee, Am Marstall 25, Hannover, Eintritt frei.

Foto: Schloss Marienburg GmbH

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Buntes Treiben Wurst- und Käseprodukte, Internationale Spezialitäten, Gewürze und Kräuter, Spirituosen, Süßwaren und Knabbereien – auf der Infa, Deutschlands größter Erlebnis- und Einkaufsmesse, gehört sie zu den beliebtesten Anlaufstellen für alle, die gerne Schlemmen: die Markthalle. Händler aus unterschiedlichen Nationen versammeln sich hier und bieten den Besuchern eine bunte Palette an Gaumenfreuden und kulinarischen Köstlichkeiten. Dazu gibt es praktische Helferlein für Küche und Haushalt. Insgesamt neun Themenwelten stehen den Besuchern der Infa auch in diesem Jahr wieder zur Verfügung, in denen sie shoppen, staunen und sich über Neuheiten informieren können. Samstag, 17. Oktober, bis Sonntag, 25. Oktober, Montag bis Donnerstag von 10 bis 18 Uhr, Freitag, Samstag, Sonntag jeweils 10 bis 19 Uhr: 1. Zeitfenster 10 bis 14 Uhr, 2. Zeitfenster 15 bis 19 Uhr, Messe-Ost, Hannover, Eintritt: Tagesticket 12 Euro, erm. 11 Euro, Junior-Ticket (12 bis 17 Jahre) 6 Euro, Kids-Ticket (bis 12 Jahre) frei.

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Asphalt verlost 2 x 2 Karten für einen Kultur-Swutsch

Holla die Waldfee Gehen Sie auf den Swutsch und lassen sich bei der Schloss-Remise von Schauspielerin Tatjana Pohl als »Holla-die-Waldfee« mit Gesang und Livemusik (Laute, Harfe und Sunpan) in die Welt der Märchen und Sagen für Erwachsene entführen. Von skurrilen Alltagsmomenten bis hin zu mystischen Fantasiewelten – auf die Besucher wartet bei Fingerfood und Getränken ein unterhaltsamer Abend in gemütlicher Atmosphäre. Für diesen kulturellen Augen- und Ohrenschmaus können Sie mit Asphalt 2 x 2 Karten gewinnen. Rufen Sie uns dafür am 26. Oktober zwischen 12 und 13 Uhr unter der Telefonnummer 0511 – 301269-18 an und beantworten folgende Frage: In welche Welt entführt Tatjana Pohl ihre Gäste? Die ersten zwei Anrufer mit der richtigen Antwort gewinnen die Tickets. Mittwoch, 28. Oktober, 19 Uhr, Schloss Marienburg, In der Kutschenremise, Marienberg 1, Pattensen, Eintritt inkl. Menü 38 Euro.


Bühne Come from somewhere go anywhere

Foto: Michael Disqué

… ist der Titel eines Werbeslogans und zugleich Ausgangspunkt für eine Raumperformance, die verschiedene Stile mischt. Es treffen drei Tänzer und Tänzerinnen auf einen Pianisten und eine Sängerin. Willi Donner verwendet für diese Uraufführung Lieder von Brecht, Schubert, Divine Comedy und Deichkind für Fragen nach Botschaften und Gefühlen, die sie vermitteln und auslösen. Dafür trennt er die Liedtexte vom Gesang und formuliert eigene »messages«. Tänzer unterschiedlicher Stile wagen sich derweil in »stummer« Form an manche der Lieder heran. Donnerstag, 08. Oktober, 18.30 und 21 Uhr, Galerie in den Herrenhäuser Gärten, Herrenhäuser Straße 3, Hannover, Eintritt ab 20 Euro, erm. 10 Euro.

Götter, Glocken, Gläubige Es ist so einiges los, in der norddeutschen Tiefebene: Ratlose germanische Götter, liebestolle Glocken, trauernde Zwerge, ein genervter Riese und zahlreiche weitere Gestalten tummeln sich rund um Hannover. Die Schauspielerin Christiane Hess spielt sie gleich alle. Ohne Requisiten oder aufwendiges Bühnenbild verwandelt sie sich dabei blitzschnell, mit unglaublicher Mimik und pantomimischer Präzision in die verschiedensten Charaktere und entführt ihr Publikum in die faszinierende, teils aberwitzige Sagenwelt rund um das Steinhuder Meer. Wer hätte schon gedacht, auf was für einem Gewässer die Touristen am Steinhuder Meer wirklich segeln …? Samstag, 10. Oktober, 17 Uhr, theater am barg, Badenstedter Straße 16, Hannover, Eintritt 17 Euro, erm. 12 Euro.

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Lesung Sehnsucht und Scheitern Alle Versuche, die Malediven vor dem steigenden Meeresspiegel zu retten, sind gescheitert. Der Großteil der Bevölkerung musste die Insel verlassen, Pauschaltouristen haben sich neue Ziele gesucht. Die heruntergekommene Hauptstadt Malé ist zum Hafen all jener geworden, die nach einer Alternative zum Leben in den gentrifizierten Städten des Westens suchen. Und so wird die Insel bis zu ihrem Untergang zur Projektionsfläche für Aussteigerinnen, Abenteurer und Utopisten. Zu einem Ort zwischen Euphorie und Alptraum, in dem neue Formen der Solidarität erprobt werden und Menschen unauffindbar verschwinden. Mit seinem Roman »Malé« fängt Roman Ehrlich die komplexe Stimmungslage unserer Zeit ein und verwebt die Geschichte rund um Sehnsüchte und das Scheitern seiner Figuren zu einem Abbild all der Widersprüche, die das Leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausmachen. Donnerstag, 29. Oktober, 19.30 Uhr, Literaturhaus Hannover, Sophienstraße 2, Hannover, Eintritt 12 Euro, erm. 6 Euro.


On the Road

Ritterburg, Feuerdrache, Raumschiff oder auch ein Klangspiel – fast alles lässt sich aus Holz herstellen. In der kreativen Holzwerkstatt können Kinder ab sechs Jahren sich im Umgang mit verschiedenen Werkzeugen üben und lernen besondere Techniken der Holzgestaltung kennen. Gemeinsam in der Gruppe wird unter der Anleitung von Wigbert Mecke und Diplom Sozial-Pädagoge Songül Yilmaz-Soltani gesägt, gehämmert, gelacht, geleimt und angemalt. So lange, bis das ganz eigene Werkstück fertig ist und mit nach Hause genommen werden kann. Samstag, 17. Oktober, 10.30 bis 12 Uhr, Stadtteilzentrum Ricklingen, Anne-Stache-Allee 7, Hannover, Anmeldung unter 0511 – 168-49596, Eintritt 3 Euro, AktivPass 1,50 Euro.

Das Ensemble Megaphon verwandelt im Oktober das LortzingART Atelier in einen klingenden Spazierweg. Musik im Stile der Passacaglia formt Bewegungsrhythmen, zu denen Künstlerinnen und Künstler sowie Publikum gehend, schreitend, schlendernd, eilend, wandernd und verweilend die Räume erkunden. Werke von Barock bis zur zeitgenössischen Musik verbinden sich mit klanglichen und visuellen Elementen und erforschen spielerisch das Gehen in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, Bewegung mit Instrumenten und das Hineinhören in die Stille. Sängerin Sophia Körber und Ehsan Ebrahimi (Santur) führen musikalisch durch den Abend, die Kunstobjekte stammen von Inge-Rose Lippock. Sonntag, 25. Oktober, 17 Uhr, Lortzing­ ART Atelier, Lortzingstraße 1, Hannover, bitte vorab reservieren unter www. blickpunkteverein@gmail.com, Eintritt frei.

Musik European Acoustic Jazz Esche – das sind Laura und Luzius Schuler und Lisa Hoppe. Das kammermusikalische Trio schafft mit ihrer Musik den Bogen von freier Klangmalerei über kratzigen Blues hin zu instrumentalem Popsong. Sie haben sich der Erforschung leiser und zarter Musik verschrieben, welche aber aufbegehrender Ecken und Kanten nicht entbehrt. Mit unabhängiger Improvisationslust und der Liebe zum gemeinsamen Geschichtenerzählen kreiert die Band ein lebendiges, atmendes und sehr persönliches Statement. Mittwoch, 21. Oktober, 20 Uhr, Kulturpalast Linden, Deisterstraße 24, Hannover, Eintritt frei.

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Foto: Ghazale Ghazanfari

Holz-Werkstatt

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Für Kinder

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SILBENRÄTSEL Aus den nachfolgenden Silben sind 20 Wörter zu bilden, deren erste und vierte Buchstaben (Achtung: ch = 1 Buchstabe) – jeweils von oben nach unten gelesen – einen Spruch von Wilhelm Busch ergeben: amu – brau – char – cke – don – el – en – ent – ent – e – fer – fek – füh – ga – gen – gen – ger – heit – ido – in – ka – la – lett – lie – ma – me – nas – ne – net – neu – ni – o – on – on – pfle – pi – re – re – re – rei – ros – rung – sa – sass – sau – ser – si – stre – strik – teil – ti – ti – tier – tol – tree – vice – vue

1. Stadt in Spanien 2. Talisman 3. Stadt in Rheinland-Pfalz 4. französischer Chemiker (1839 – 1924) 5. französisches Grenzland 6. italienischer Komponist (1792 – 1868) 7. verzichten 8. Wettererscheinung

Unter den Einsendern der richtigen Lösung verlosen wir viermal den Roman »Wurfschatten« von Simone Lappert. Ada ist eine begabte junge Schauspielerin, doch ihr Leben wird von Ängsten beherrscht. Weil sie die Miete seit Monaten schuldig bleibt, setzt der Vermieter ihr seinen Enkel Juri als Mitbewohner vor die Nase. Für Ada ist der junge Mann eine Zumutung, eine Invasion – oder vielleicht doch das Beste, was ihr passieren kann? Ebenfalls viermal gibt es das Buch »World Wide Wunderkammer – Ästhetische Erfahrung in der digitalen Revolution« zu gewinnen. So gerne sich Opernhäuser, Theater und Museen als Zauberorte des Analogen begreifen – auch an den Kulturinstitutionen geht die Digitalisierung nicht vorbei. Der Musikjournalist Holger Noltze analysiert die Schwächen des Betriebssystems und macht sich auf die Suche nach dem Mehrwert der Digitalisierung. Insgesamt dreimal können Sie das Hörbuch »Forschungsgruppe Erbsensuppe« von Rieke Patwardhan gewinnen. Bei Nils' Großeltern geht es neuerdings nicht mit rechten Dingen zu: Statt leckerem Kuchen gibt es angebrannte Bratkartoffeln, Dinge verschwinden und überall stapelt sich Dosensuppe. Lina, Evi und Nils ermitteln mit witzigen Einfällen – wenn ihnen nur nicht immer ihre Erzfeinde in die Quere kommen würden ... Die Lösung des September-Rätsels lautet: Wo man Liebe aussät da wächst Freude empor. Das Silbenrätsel schrieb für Sie Ursula Gensch. Die Lösung (ggf. mit Angabe Ihres Wunschgewinnes) bitte an: Asphalt-Magazin, Hallerstraße 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover; Fax: 0511 – 30 12 69-15. E-Mail: gewinne@asphalt-magazin.de. Einsendeschluss: 31. Oktober 2020. Bitte vergessen Sie Ihre Absenderadresse nicht! Viel Glück!

9. Beruf im Zoo 10. Theaterstück 11. Oper von Mozart 12. Novum 13. politisches Zentrum im alten Rom 14. eine Etappe 15. Kundendienst 16. Ansteckung 17. Eintrittsgeld, Vorspeise 18. Betrieb zur Herstellung von Bier 19. rechtswidrige Verschleppung einer Person 20. Einschränkung


Foto: Tomas Rodriguez

n f u a t n Mome

Ein Schnappschuss mit meinem Smartphone: Zu sehen ist der Landeanflug eines Basstölpels auf Helgoland. Ich staune, was für gestochen scharfe Bilder so ein Telefon machen kann. Ich frage mich, wie es wohl einem Zeitreisenden aus dem Jahr 1970 erginge, der mit all diesen technischen Errungenschaften von heute konfrontiert wäre. Er selbst hätte in seinem Flur ein graues Wählscheibentelefon mit Brokatüberzug, fest von der Deutschen Bundespost in der Wand installiert. Man stelle sich vor, jemand nähme den Hörer ab und riefe ihm zu: »Ich mache mal ein Foto von Dir!« Unglaublich, wie sich unsere Welt in nur 50 Jahren verändert hat. Die, denen es aufgrund ihres Alters möglich ist, können ja mal die Augen schließen und sich Bilder vor ihr geistiges Auge holen: Wie die Straßen aussahen, die Autos, die Schaufenster der Geschäfte (messing­umrändert und die Leuchtreklame in Schreibschrift) und wie es in den Wohnungen aussah: Küche, Bad, Wohnzimmer – denken sie nur an die psycholdelisch-apokalyptischen Tapeten, die die Wohnung gleich 30 Prozent kleiner gemacht haben, aber dafür hat sich alles gedreht. Irgendwo ein schönes Röhrenradio, eingestellt war Mittelwelle. Haben Sie den Klang im Ohr? Stand ein Fernseher in Ihrer Wohnung? Schwarz-weiß ohne Fernbedienung? Meistens gab es nur das Testbild zu sehen in Verbindung mit einem unangenehmen Ton. Bei weitem allerdings nicht so unangenehm wie der unsägliche Schrott, der heute so manchen Kanal mit schrillem Getöse flutet. In diese Siebziger wurde ich hineingeboren und habe also noch das Gefühl der analogen Welt kennenlernen dürfen. Irgendwie heimelig war es schon. Und doch möchte ich mein Handy in der Tasche nicht missen. Bei einer Autopanne in der Nacht auf der Landstraße zum Beispiel. Da finde ich es schon ganz angenehm, sofort Hilfe rufen zu können. Vorausgesetzt man hat Empfang. Eine Autopanne kann ich auf Helgoland nicht haben. Da gibt es, bis auf den Krankenwagen, die Feuerwehr und ein paar Versorgungsfahrzeuge keine Autos. Wozu auch? Helgoland kann man zu Fuß an einem Tag mehr als ein Dutzend Mal umrunden. Oder eben im Fluge, wie der Basstölpel, der übrigens 1970 noch nicht auf der Insel zu finden war. Erst Anfang der Neunziger ist er dort heimisch geworden und scheint sich sehr wohlzufühlen. Warum eigentlich kam ein so eleganter Vogel zu so einem tölpeligen Namen? Das hat er seiner allzu freundlichen Art zu verdanken. Er ist sehr zutraulich, landete gerne auf Schiffen und wurde dort zur leichten Beute ausgehungerter Seemänner, die ihn dafür einen Dummkopf oder auch einen Tölpel nannten. Auch nicht nett! Ursprünglich stammt der Bass Tölpel von der schottischen Insel Bass Rock, die wie Helgoland ein Fels in der Brandung ist. Ich bin jedenfalls froh, diesen Basstölpel vor die Linse bekommen zu haben. Gut, dass in dem Moment kein Anruf einging. Matthias Brodowy/Kabarettist und Asphalt-Mitherausgeber

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s y w o Brod ahme

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! e l l A . u D . h c I ? n i e l l a Niemals

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Hendrik Weydandt FuĂ&#x;ballspieler, Hannover 96

#Maskhave

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