2020 10 Asphalt

Page 1

2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

09 20

WEGE AUS DER EINSAMKEIT AUF REZEPT

MIT MASS

Die Briten können sich Margot Käßmann über Bedürfnisse, Geselligkeit verordnen lassen. die wirklich wichtig sind.

OHNE OBDACH Corona-Krise verschärft die Lage Wohnungsloser.


4 6

Einsamkeit macht krank Soziale Kontakte sind für die psychische und physische Gesundheit unabdingbar. Doch in der modernen Welt wird Einsamkeit zu einem Massenphänomen.

8 Geselligkeit auf Rezept Vereinzelung war schon vor Corona ein ebenso unterschätztes wie verbreitetes Phänomen. Großbritannien reagierte 2018 mit der Schaffung eines Ministe­ riums für Einsamkeit.

Notizblock

14 16

Briefe an uns »Die haben keine Wahl« Jutta Henke ist Geschäftsführerin der Bremer Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS). Unser Experten-Gespräch.

23 Das muss mal gesagt werden 24 Aus dem Leben von Asphalt-Verkäufer Yogi

26 Rund um Asphalt 28 Impressum

11 »Samstags Suppe« Was braucht der Mensch? Glück, Fleisch, Rechte? Oder ist alles relativ? Vierteljährlich besprechen wir mit unserer Mit-Herausgeberin, Ex-Bischöfin Margot Käßmann, die Themen der Zeit.

»Gefährliche Zeiten« Er ist der Ken Loach des Rock: Billy Bragg. Mit Asphalt hat er über Populismus, Freiheit, Brexit und Greta gesprochen.

34 Buchtipps 35 Kulturtipps 38 Silbenrätsel 39 Brodowys Momentaufnahme

Titelbild: Marco Piunti/iStock.com

30

Das Asphalt-Prinzip

19 Der Winter naht

Während sich die Wirtschaft wieder erholt, befindet sich die Wohnungslosenhilfe noch weitgehend im Lockdown. Ohne weitere Unterstützung. Für die Betroffenen ist das eine Katastrophe.

Asphalt-Verkäuferinnen und -Verkäufer sind Menschen mit brüchigen Biographien. Irgendwann sind sie in ihrem Leben durch schwere Schicksale, Krankheiten oder traumatische Erlebnisse aus der Bahn geworfen worden. Heute versuchen sie, durch den Verkauf des Asphalt-Magazins ihrem Leben wieder Struktur und Sinn zu verleihen. Viele sind oder waren wohnungslos, alle sind von Armut betroffen. Sie kaufen das Asphalt-Magazin für 1,10 Euro und verkaufen es für 2,20 Euro. Asphalt ist eine gemeinnützige Hilfe-zur-Selbsthilfe-Einrichtung und erhält keinerlei regelmäßige staatliche oder kirchliche Zuwendung. Spenden Sie bitte an: Asphalt gGmbH bei der Evangelische Bank eG, IBAN: DE35 5206 0410 0000 6022 30, BIC: GENODEF1EK1.


es war nur eine kleine Meldung, doch die Empörung war groß. Die Landesarmutskonferenz LAK hatte in einer Pressemitteilung ein Recht auf Fleisch für alle gefordert. Wir hatten das berichtet. Exemplarisch haben wir in dieser Ausgabe einige der Leserbriefe, die uns dazu erreicht haben, abgedruckt. Und stellen zugleich die Frage: Was braucht der Mensch? Glück, Fleisch, Auto, Teilhabe? Oder ist alles relativ? Asphalt-Mitherausgeberin Margot Käßmann liefert uns in unserem HerbstInterview dazu ein paar inspirierende Gedankenanstöße. Unverhandelbar bleiben dabei die Menschenrechte. Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung fordert Nahrung, Kleidung und Wohnung, Teilhabe. Ausnahmslos. Teilhabe – soziale Kontakte auf Rezept – könnte heilen, so eine neue Idee aus England. Verschrieben vom Arzt. Auch diesen Bericht von der Insel lege ich Ihnen wärmstens zur Lektüre ans Herz. Eine Insel ist auch »Ou topos« – der Kein-Ort im 500 Jahre alten Roman von Thomas Morus. Doch diese »Utopie« ist nur entfernt, für uns ein Nochnichtort, er ist aber nicht unmöglich, daran glaubte Morus und davon wollen wir nicht lassen: Eine Wohnung für Jeden. Und die Abwesenheit von Armut. Das fordert ein neues Bündnis in Hannover. Also warum nicht das, was gut ist, weiterdenken, ausbauen, neue Pfade in der Versorgung wohnungsloser und armer Menschen beschreiten. In Hannover tut sich was, im Land ist eine neue Offenheit zu spüren. Die Selbsthilfekräfte eines und einer Jeden zu stärken, frühzeitig zu intervenieren, Hilfe anzubieten. In diesem Monat werden im Rathaus die personellen Weichen in der Führungsebene neu justiert, gleich drei Dezernate neu besetzt, darunter Soziales und Wohnen. Wäre gut, wenn die Neuen sich vom Versprechen aus Artikel 25 leiten ließen und den Glauben an »Ou topos« teilten.

Volker Macke · Redaktionsleiter

ASPHALT 09/20

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

2 3


NOTIZBLOCK

Foto: U. Matthias

Aus Sicht der Wohnungslosen

»Soziale Ungleichheit bekämpfen« Hannover. Für die Rechte derer eintreten, die sonst vergessen werden; mit diesem Ziel demonstrierten vor dem hannoverschen Hauptbahnhof SozialarbeiterInnen und Betroffene aus mehreren niedersächsischen Städten gegen die Folgen sozialer Ungleichheit (nicht nur) in Coronazeiten. Covid-19 könne jeden treffen, die Möglichkeiten, mit den Folgen der Pandemie umzugehen, seien jedoch höchst ungleich verteilt. Das betreffe besonders Wohnungslose, Behinderte, transidente Personen, SexarbeiterInnen, Opfer von häuslicher Gewalt. Auf der Kundgebung wurden Erfahrungsberichte aus den verschiedenen Bereichen sozialer Arbeit live gehalten oder – wegen Corona – als Audio-Konserve eingespielt. Für die Initiative »Armut stinkt« stellte Florian Schulz die Ergebnisse einer Umfrage zur Lebenslage von wohnungslosen Menschen vor (s. auch nebenstehende Meldung). SexarbeiterInnen stellten ihre Sorgen und Nöte während des Lockdowns auf bunten Bögen aus. Die Veranstalter vom Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit (AKS) forderten strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft, um soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Das Wohl aller müsse zählen. Ein schlichtes Zurück dürfe es nach Corona nicht geben, die bisherigen Maßnahmen – wie die Unterbringung von Wohnungslosen in der Jugendherberge oder in Hotels – zeigten schließlich, was möglich sei. UM

Hannover. Wie sehen wohnungslose Menschen ihre Situation und die jeweiligen Hilfsangebote? Verlässliche Antworten auf diese Fragen findet nur, wer auch den Weg in die Notunterkünfte oder zu den Schlafplätzen im Freien nicht scheut. Für die partizipative Studie der Initiative »armutstinkt.de« haben die AutorInnen ihre Ergebnisse aus dem echten Leben geschöpft. Partizipativ deshalb, weil alle Texte, einschließlich der Fragebögen, von Betroffenen und Fachkräften der sozialen Arbeit gemeinsam verfasst wurden. Aus der Praxis für die Theorie (und bestenfalls retour). Immerhin eine dreistellige Zahl von Wohnungslosen in Hannover hat an der Umfrage teilgenommen, jetzt liegt eine erste Auswertung vor. Darin zeigt sich eine große Unzufriedenheit der Befragten (rd. 70 Prozent) mit ihrer derzeitigen Situation, die in vielfacher Weise von Stigmatisierungen geprägt ist. Erschreckend viele Wohnungslose berichten von einer massiven Bedrohungslage und schildern Gewalt als alltägliche Erfahrung. Vielen Betroffenen bleibt der Zugang zur medizinischen Regelversorgung trotz Krankenversicherung verwehrt. Und lediglich 25,4 Prozent empfanden die fachliche Unterstützung der SozialarbeiterInnen als hilfreich. In der Kritik stehen aber auch die Unterkünfte. Wegen hygienischer Defizite und mangelnder Sicherheit ziehen viele Betroffene es vor, obdachlos zu bleiben, als diese Unterbringungen in Anspruch zu nehmen. Die Forschungsgruppe fordert daher einen »radikalen Wandel des bisherigen Auffangs- bzw. Unterbringungssystems«. Wohnen müsse ein Grundrecht werden. Weitere Informationen unter armutstinkt.de. UM

Unterrichtsmaterial zu Hate Speech Hannover/Berlin. Die Frauenrechtsorganisation Terres des Femmes hat gemeinsam mit Lehrkräften Unterrichtsmaterial zum Thema Hate Speech entwickelt. »Die Botschaft an die SchülerInnen ist klar: Wortgewalt darf nicht hingenommen werden«, sagt Christa Stolle, Bundesgeschäftsführerin von Terres des Femmes. Das Unterrichtsmaterial bezieht sich nicht nur auf sexistische Hassrede, sondern thematisiert auch Rassismus, Antisemitismus, Behindertenfeindlichkeit und LGBTIQ+-Feindlichkeit in der Sprache. Lehrkräfte können ihre SchülerInnen über die Folgen von Wortgewalt aufklären und gemeinsam mit ihnen die Sprach- und Wortwahl reflektieren. Das Material richtet sich an SchülerInnen aller Schulformen in allen Bundesländern von der 8. bis 11. Klassenstufe und umfasst zwei Unterrichtsstunden. UM


ZAHLENSPIEGEL »HITZE & KÄLTE«

Zu wenig mehr Hartz IV

Hannover. Ungeachtet einer möglichen Einigung zwischen dem Naturschutzbund (NABU) und Niedersachsens Landesregierung über Wege zu mehr Artenschutz und den Verzicht auf das von Umweltschützern angestrengte Volksbegehren wird die Initiative weiter vorangetrieben. »In den vergangenen knapp acht Wochen seit Beginn des Unterschriftensammelns haben bereits rund doppelt so viele Menschen das Volksbegehren unterschrieben, wie es in der ersten Runde erforderlich ist«, sagte jetzt Klaus Ahrens, einer der Initiatoren. Nach seinen Angaben hat die Landeswahlleiterin zum 1. August 45.412 gültige Unterschriften gemeldet. 25.000 Unterschriften brauche es, um den Antrag auf Feststellung der Zulässigkeit des Volksbegehrens zu stellen, sagte Ahrens. Das Landesgesetz gebe hierfür Zeit bis zum 13. November: »Diese Zeit nehmen wir uns, schließlich haben wir gerade erst angefangen und sind durch Corona beim Sammeln eingeschränkt.« Das von mehr als 200 Organisationen unterstützte Volksbegehren soll, wie in Asphalt berichtet, in ein Gesetz für mehr Artenschutz münden. Nach Angaben der Initiatoren sind auch in Niedersachsen die Hälfte von rund 11.000 Tier- und Pflanzenarten bedroht. EPD

Hannover. Der Beschluss des Bundeskabinetts zur Erhöhung der Hartz-IVRegelsätze ist bei der Diakonie in Niedersachsen auf scharfe Kritik gestoßen. »Die Hartz-IV-Regelsätze werden auch zukünftig nicht existenzsichernd sein«, sagte Diakonie-Vorstandssprecher HansJoa­chim Lenke. Nach dem Kabinettsbeschluss sollen alleinstehende erwachsene Hartz-IV-Empfänger ab Januar 2021 mindestens 439 statt wie bislang 432 Euro im Monat bekommen. Bei Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren soll der Satz um mindestens 39 Euro auf mindestens 367 Euro im Monat steigen. Bei Kindern zwischen sechs und 13 Jahren ist zunächst keine Steigerung geplant. Diakonie-Vorstand Lenke betonte, die Aspekte des Homeschoolings würden bei der Leistungsbemessung »in keiner Weise berücksichtigt.« Die Corona-Pandemie habe deutlich gezeigt, dass Kinder aus armen Bevölkerungsgruppen allein aufgrund der fehlenden digitalen Ausstattung im Home­ schooling noch weiter abgehängt würden. EPD

ASPHALT 09/20

Volksbegehren nimmt erste Hürde

4 5

Anzeige

Laut destatis stieg der Import

von Klima­ geräten von 2009 auf 2019 um 40 % auf 1,9 Mrd. Euro. Darunter Ventilatoren und Klimaanlagen für Räume und Autos. Besonders rasant stieg der Import von Klimaanlagen für Gebäude: Ein Plus von 72 %. So genannte

Hitzetage (>30 Grad) gab es in Deutschland im Jahr 2018 43, 2019 30. Durchschnittlich treten 9 Hitzetage pro Jahr auf.

Beratung sofort nach Beitritt! Jetzt Mitglied werden! Kompetente Hilfe bei allen Fragen zum Mietrecht. Herrenstraße 14 · 30159 Hannover Telefon: 0511–12106-0 Internet: www.dmb-hannover.de E-Mail: info@dmb-hannover.de Außenstellen: Nienburg, Soltau, Hoya, Celle, Neustadt, Springe und Obernkirchen.


EINSAMKEIT MACHT KRANK


ASPHALT 09/20

Foto: Solovyova/iStock.com

Menschen brauchen einander. Soziale Kontakte sind für die psychische und physische Gesundheit unabdingbar. Doch in der modernen Welt wird Einsamkeit zu einem Massenphänomen. Das hat Folgen. Und die Corona-Krise macht alles noch viel schlimmer.

6 »Die Hölle, das sind die anderen«, heißt es bei Jean-Paul Sartre in »Geschlossene Gesellschaft«. Die anderen, das können die (anderen) Touristen am überlaufenen Urlaubsort sein, die lauten Popkornesser im Kino oder auch namenlose Akteure und Strukturen in einer globalisierten Welt. Wie schön wäre es doch ohne diese anderen! Aber ganz ohne die anderen können wir auch nicht. Wenigstens ein paar von ihnen hätten wir dann doch gern um uns. In dieser Hinsicht lehrt uns Corona gerade Demut. Die Kontaktbeschränkungen spüren natürlich besonders jene, die nicht in festen familiären Verhältnissen geborgen werden. Die ihre sozialen Kontakte vorwiegend im Beruf, in der Schule oder Uni, im Verein oder wie viele Wohnungslose im Tagestreff gefunden haben. Und die jetzt weitgehend auf sich selbst zurückgeworfen werden. Vereinsamen. Bereits vor Corona konnte sich Einsamkeit als schleichende Pandemie in den modernen Gesellschaften ausbreiten. Es hat gedauert, bis Wissenschaften und Medizin auf das Problem aufmerksam wurden, doch in den letzten Jahren hat sich viel getan, brachte so manche Studie etwas Licht in die Auswirkungen sozialer Isolation. Einsamkeit, so die Erkenntnis, kann eine Vielzahl psychischer Erkrankungen auslösen oder verstärken. Dazu zählen beispielsweise Krankheiten mit Symptomen von Depression und Demenz. Einsamkeit kann menschenscheu machen, unsicher im Umgang mit anderen und sich damit selbst reproduzieren. Und sie kann auch körperlich krank machen. Sozialer Kontakt hilft uns, Stresshormone

besser abzubauen. Die Erfahrung von Einsamkeit beeinträchtigt diesen Vorgang. Dadurch können Herz- und Kreislauferkrankungen gefördert werden, womöglich auch Krebs. Tatsächlich verringert soziale Isolation messbar die Lebenserwartung. US-Gesundheitsforscher beziffern nach einem Stern-Bericht das Sterberisiko für einsame Menschen um 50 Prozent höher, als für Menschen mit einem intakten sozialen Umfeld. Eine englische Studie meldet ein um 30 Prozent höheres Risiko für einsame Menschen, einen Schlaganfall oder eine Herzerkrankung zu erleiden. Diese Situation wird durch die Corona-Krise vermutlich erheblich verschärft. Ulrike Schmidt von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Uni Bonn rechnet aufgrund der sozialen Isolation durch COVID-19 mit einer beträchtlichen Zunahme an psychischen Erkrankungen. »Wir müssen die Pandemie in zwei Wellen sehen. Die erste Welle ist die Welle der Infektionen. Danach kommt die Welle von Menschen, die aufgrund der Pandemie psychische Belastungen und Traumata erlitten haben« (Sci­ ence APA). Die Forscher beobachten bereits einen erhöhten Missbrauch von Alkohol und Cannabis bei Erwachsenen sowie einen höheren Medienkonsum bei Jugendlichen. Es trifft jedoch nicht alle gleichermaßen. Die Vereinsamung von Heranwachsenden scheint auch soziale Unterschiede zu verstärken. Das ergab eine Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE): »Die Lebensqualität der Kinder und Jugendlichen ist während der Corona-Pandemie gesunken, psychische und psychosomatische Auffälligkeiten sind häufiger geworden«, so Ulrike Ravens-Sieberer, Leiterin der Studie am UKE. Doch unabhängig vom Alter, so der Tenor der Studie, geraten vor allem viele Kinder, die ohnehin schon schlechtere Startchancen hatten, jetzt noch weiter ins Hintertreffen. Mit Folgen, die womöglich ein Leben lang zu spüren sein werden. Ulrich Matthias

7


Foto: Leo Patrizi/iStock.com

GESELLIGKEIT AUF REZEPT Vereinzelung war schon vor Corona ein ebenso unterschätztes wie verbreitetes Phänomen. Großbritannien reagierte 2018 mit der Schaffung eines Ministeriums für Einsamkeit. Inzwischen gibt es dort auch eine neue Therapie: »Geselligkeit« auf Rezept. Irgendwann ging es einfach nicht mehr. Die Panikattacken. Die Schlaflosigkeit. Die ständige Angst zu versagen. Sarah Smith, deren Namen wir auf eigenen Wunsch geändert haben, konnte nicht mehr klar denken. »Ich ging über die große Hängebrücke, die es hier in Bristol gibt«, erzählt die 35-jährige Britin. »Ich fragte mich: Was passiert, wenn du jetzt springst? War’s das dann? Oder brichst du dir nur die Beine, damit du endlich nicht mehr zur Arbeit musst?« Es war ihr neuer Job, der die junge Frau an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte: eine Stelle als Marketing-Managerin in einem renommierten Unternehmen, eigentlich genau das, was sie immer wollte. Aber die Verantwortung

überforderte Smith. »Auf einmal war ich für 5000 Mitarbeiter zuständig«, sagt sie. »Viele Kollegen waren deutlich älter und erfahrener als ich. Ich fühlte mich wie eine Versagerin, die sich ihren Job erschlichen hatte.« Dass ihre Chefs sie lobten und sie über tadellose Qualifikationen verfügt, schob Smith gedanklich zur Seite. »Ich war am Ende. Und mir war klar, dass ich es ohne Hilfe nicht schaffen würde.« Ihr Hausarzt verschrieb ihr zunächst Schlaftabletten, Anti-Depressiva und eine Verhaltenstherapie. Doch der Medikamenten-Cocktail bewirkte nur wenig: Obwohl Smiths Panikattacken zurückgingen, fühlte sie sich noch immer rastlos. Ein weiterer Monat verging, bis ihr Arzt ihr schließlich eine Bro-


Die Natur ist »ein guter Heiler«. In Großbritannien zählen auch Gärtnerkurse zu anerkannten Behandlungsmethoden gegen Einsamkeit.

stimmte Pflanzen zu betrachten, um sich an die eigene Kindheit zu erinnern.« Die Natur sei »ein sehr guter Heiler.« Schon jetzt tummeln sich auf dem Markt unzählige Anbieter, die vom Social Prescribing profitieren. Nicht alle bieten einen nachweislichen Nutzen, und nicht alle sind seriös. Um den Durchblick zu behalten, will allein der NHS England bis 2021 eintausend

ASPHALT 09/20

Der Gärtnerkurs gehört zum Avon Wildlife Trust, einer lokalen Umweltorganisation, die schon länger entsprechende Angebote im Programm hat. »Bisher haben wir uns dabei hauptsächlich auf Bürger aus benachteiligten Stadtteilen konzentriert«, erklärt Kelly Bray, die zuständige Sozialarbeiterin. »Dadurch, dass Ärzte unseren Kurs nun auch verschreiben können, haben wir unsere Zielgruppe deutlich erweitert.« So hat die Organisation seit Neuestem einen Kurs speziell für Demenz-Patienten ins Leben gerufen. »Unsere Teilnehmer blühen da richtig auf«, schwärmt Bray. »Bei einigen hilft es schon, be-

Foto: coldsnowstorm/iStock.com

schüre für ein neuartiges Angebot in die Hand drückte: »Social Prescribing«. Seit Kurzem können Mediziner in Großbritannien nämlich nicht nur Medikamente verordnen, sondern auch soziale Teilhabe. Geselligkeit auf Rezept? Das mag esoterisch klingen, hat aber einen ernsten Hintergrund, den nahezu alle westlichen Gesellschaften kennen: Viele Menschen gehen nur deshalb zum Arzt, weil sie einsam sind. Vor allem ältere Patienten sind von diesem Phänomen betroffen. Andere, so wie Sarah Smith, Die Idee ist: wer haben zwar ein intaktes Familienleben, genug soziale benötigen aber für ihre Genesung mehr Kontakte hat, als eine Packung Tabletten. »Social Prescridem geht es bing« könnte genau diesem Personenkreis helfen und gleichzeitig unnötige Arztbesuauch gesund­ che verhindern. Denn – so die Idee – wer heitlich besser. genug soziale Kontakte hat, dem geht es auch gesundheitlich besser. Gerade in Großbritannien ist eine solche Entlastung dringend nötig. Das staatliche Gesundheitssystem, der National Health Service (NHS), leidet unter chronischer Unterfinanzierung. Seit Jahren berichten Medien über Patienten, die monatelang auf Operationen warten oder in Krankenhaus-Fluren schlafen müssen, weil alle Betten belegt sind. Allein dieses Jahr muss der NHS über 205 Millionen Pfund (ca. 227 Millionen Euro) an die britische Regierung zurückzahlen – Zinsen für gewährte Kredite. Sogar in der Brexit-Debatte spielte das kranke Gesundheitssystem eine Rolle. Angeblich sollte das Geld, welches das Vereinigte Königreich momentan an die EU überweist, künftig dem NHS zugutekommen. Die britische Regierung hofft nun, mithilfe von »Social Prescribing« das System zu entlasten. Vor allem bei psychischen Erkrankungen soll die alternative Behandlungsmethode helfen. Was genau man allerding unter dem Begriff versteht, ist bis heute nicht klar definiert. Für manche ist es schlicht ein Treffen des städtischen Seniorenclubs, für andere ein Alkohol-Entzug oder ein Fußball-Training im sozialen Brennpunkt. Manche Ärzte verschreiben ihren Patienten auch eine Haushaltshilfe oder einen Berater, der ihnen bei finanziellen Problemen zur Seite steht. Bei Sarah Smith war es ein mehrwöchiger Kurs zum Gärtnern, konzipiert für Menschen mit psychischen Problemen. »Wir lernten Unkraut zu jäten, Bäume zu fällen und Blumen zu pflanzen«, erinnert sich Smith. »Es klingt verrückt, aber ich habe mich besser gefühlt, als jemals zuvor in meinem Büro.« In ihrer Gruppe hätten sich ganz unterschiedliche Personen befunden: »Manche litten unter Depressionen, andere unter Einsamkeit. Ein Mann hatte seit Wochen nicht mehr das Haus verlassen.« Ob die Arbeit im Freien ihnen allen half, kann die 35-Jährige nicht beurteilen. »Ich hatte aber schon das Gefühl, dass es den meisten danach besser ging.«

8 9


sogenannte »Link Worker« einstellen. Diese Berater sollen an die Gesellschaft am Ende einen Gegenwert von 2,90 Pfund zuGemeinschaftspraxen andocken und das Bindeglied zwischen rückerhält. Im Gespräch räumt der Wissenschaftler ein, dass eine gePatienten, Ärzten und Anbietern bilden. Das hochgesteckte Ziel: Bis 2024 sollen mithilfe der Link Worker bis zu 900.000 Pa- naue Schätzung schwierig ist. »Man kann viele Faktoren einfach nicht messen«, betont Kimberlee. »Was ist, wenn die Leute tienten pro Jahr ein soziales Rezept erhalten. Noch gibt es dazu viele offene Fragen – nicht nur zur Umset- immer mehr Antidepressiva verschrieben bekommen und am zung, sondern auch zur Wirkung. So einleuchtend das Konzept Ende viele Medikamente in der Toilette landen? Wer berechnet nämlich klingt, so unklar ist, ob das Gesundheitssystem am diese Kosten mit ein?« Auch unabhängig vom Geld ist KimberEnde wirklich entlastet wird. Vom individuellen Nutzen ganz lee von der Grundidee überzeugt: »Wir schauen uns an, was Menschen wirklich brauchen. Ist es ein zu schweigen: Ist ein Kaffeekränzchen Kochkurs? Hilfe bei der Wohnungssuche? tatsächlich immer besser als ein Besuch »Das ist nichts GeringeOder ein Gruppentreffen gegen Einsambeim Arzt? Wird es gelingen, Bedürfnisse res als ein kompletter keit?« Doch es brauche Zeit, bis sich Ärzund Angebote richtig zusammenzubrinte auf diese Idee eingestellt hätten: »Das gen? Oder könnten Mediziner gar dazu kultureller Wandel. ist nichts Geringeres als ein kompletter verleitet werden, ihre Patienten schnell zu Da kann man nichts kultureller Wandel. Da kann man nichts Dritten »abzuschieben«, um Zeit und Geld überstürzen.« überstürzen.« zu sparen? Alles noch unklar. Richard Kimberlee, Gesundheits­ Auch Sarah Smith, die Marketing-MaEvaluationen gibt es bis jetzt nur im experte, UWE University in Bristol. nagerin aus Bristol, hat nach ihrem GärtKleinen. Richard Kimberlee, Gesundnerkurs ihr Leben verändert. Sie ist ruhiheitsexperte an der UWE University in Bristol, berät den NHS bei der Umsetzung der sozialen Rezepte. ger geworden, kann nachts endlich wieder schlafen. »Wenn ich In einem Feldversuch hat er 128 Patienten über einen Zeitraum aufgeregt bin, gehe ich jetzt öfter in die Natur«, sagt die 35-Jähvon einem Jahr zu ihren Erfahrungen befragt. Das Ergebnis: rige. »Ich habe gelernt, wie ich abschalten kann und was gut für Gefühlt litten alle Teilnehmer am Ende deutlich weniger unter mich ist.« Ihren Job in der Agentur hat sie inzwischen gekündigt Depressionen und sozialer Isolation. Und: 60 Prozent von ih- und gegen eine Ausbildung zur Hebamme eingetauscht: ein annen gingen nach Abschluss ihrer Workshops seltener zum Arzt strengender Beruf, obendrein noch schlechter bezahlt. »Aber er als zuvor. In einem Paper zu seiner Arbeit schätzt Kimberlee, gibt meinem Leben Sinn. Und genau das ist mir wichtig.« dass für jeden Pfund, der in Social Prescribing investiert wird, Steve Przybilla

Anzeige

Kommt von der Elbe. Passt. Überall.

www.rymhart.de

Troyer | Jacken | Mützen | Shirts | 100 % Wolle Online oder direkt ab Werk in Stade


ASPHALT 09/20

KAFFEE MIT KÄSSMANN

10

Foto: bernardbodo/iStock.com

11

»SAMSTAGS SUPPE« Was braucht der Mensch? Glück, Fleisch, Rechte? Oder ist alles relativ? Vierteljährlich besprechen wir mit unserer Mit-Herausgeberin, Ex-Bischöfin Margot Käßmann, die Themen der Zeit. Liebe Margot, Spätsommer, Sonne, Inselleben. Was gehört für dich zum guten Leben dazu? Grillpartys zum Beispiel? Grillpartys sind nicht so meins. Manchmal grillt im Sommer im Garten unseres Ferienhauses einer der Schwiegersöhne. Da geht es vor allem ums Miteinander und inzwischen gibt es ja auch viel für Vegetarier, die in unserer Familie eher überwiegen. Das schönste im Sommer ist für mich das Schwimmen im Freien. Am

liebsten in der Ostsee. Aber auch im See. Das ist ein wunderbares Gefühl. Und das können auch Familien mit wenig Geld möglich machen: Packt ein paar belegte Brote ein, radelt zum See, Decke ausgepackt und ab ins Wasser. Gutes Leben ist für mich vor allem Zusammensein mit anderen, Beziehung. Ich freue mich über Besuch, einen gemeinsamen Abend zum Klönen, sich verabreden zu einem Spaziergang. Und ich liebe es, in ein Buch so zu versinken, dass ich bedaure, ans Ende zu gelangen.


Foto: Alfribeiro/iStock.com

Das klimawirksame Gas Methan entsteht während des Verdauungsvorgangs bei Wiederkäuern wie diesen Rindern in Südamerika. Und bei der Lagerung ihrer Exkremente als Dünger.

Die Landesarmutskonferenz forderte jüngst die Erfüllung eines Grundrechts auf Fleischkonsum ein, war das klug? Nein, das halte ich nicht für klug. Wir alle wissen, dass der übermäßige Fleischkonsum den Druck auf dem Markt zu Billigfleisch erzeugt. Und das bedeutet: keine artgerechte Tierhaltung, Hungerlöhne für Arbeiterinnen und Arbeiter aus Rumänien oder Bulgarien in den Schlachtereien. Der Corona-Ausbruch bei Tönnies hat ja ein Schlaglicht darauf geworfen. Nach einer Kolumne dazu schrieben mir Leute wütend, es sei ungerecht, wenn sich nicht jeder täglich Fleisch leisten könne. Das würde ich gern hinterfragen. In meiner Kindheit war eine Mahlzeit mit Fleisch etwas ganz Besonderes am Sonntag. In der Woche gab es Spinat, Kartoffeln und Eier, Milchreis, Pfannkuchen, vielleicht mal mit Schinken. Am Freitag Fisch, Samstag Suppe. Fleisch war etwas Besonders, es war teuer. Meine Mutter ging am Samstag zur Metzgerei und kaufte das Fleisch für Sonntag und die kommende Woche insgesamt. Das kann doch auch heute so sein. Wir müssen nicht alle Vegetarier werden. Aber Fleisch kann die Ausnahme sein, weil es so teuer ist, dass Tiere artgerecht gehalten werden, in Schlachtereien anständiger Lohn gezahlt wird.

Wer Fleisch für alle will, fordert den Klimatod der Welt, sagen jetzt manche. Fleisch müsse demnach teurer Luxus bleiben ... So drastisch würde ich nicht formulieren. Aber mich machen die Zahlen schon sehr nachdenklich. Pro Kopf werden in Deutschland jedes Jahr knapp 88 Kilo Fleisch verbraucht. Das ist enorm viel. Denn Viehhaltung verursacht CO2-Emissionen, der hohe Bedarf an Soja als Futtermittel führt zur Zerstörung von Ökosystemen und der Wasserverbrauch bei der Viehhaltung ist hoch. Es gibt eine Berechnung, dass eine vierköpfige Familie, die einmal in der Woche auf ein Kilo Fleisch verzichtet, 700 Kilo CO2 im Jahr einspart – und zudem 500 Euro. Wie gesagt, viele in meiner Familie sind Vegetarier, ich nicht. Aber ich finde, es ist keine Belastung, weniger Fleisch zu essen und wenn, dann auch mehr zu bezahlen, damit artgerechte Tierhaltung und faire Entlohnung möglich sind. Fleisch sollte also etwas Besonderes sein. Und ansonsten schmecken mir auch ein Sellerie-Schnitzel oder Tofu oder Soja als Alternative zu Fleisch. Inzwischen gibt es ja in jedem Supermarkt tolle Angebote!


Foto: Julia Baumgart

Es wäre viel erreicht, wenn alle Menschen das hätten. Dazu gehört für mich aber auch der Zugang zu Bildung. Wir wissen doch, wie entscheidend Bildung ist, gerade auch für Mädchen, damit sie eine Zukunftschance haben. Und der Mensch braucht verlässliche Beziehungen. Außerdem ist für Menschen wichtig, sich mit ihren Gaben einbringen zu können. Als Christin bin ich überzeugt, jeder Mensch hat eine Gabe, ist be-gabt. Dabei geht es nicht zuallererst um Erwerbsarbeit. Aber unsere Würde hängt auch damit zusammen, dass wir Wertschätzung erleben. Das ist ja oft so deprimierend für Geflüchtete, die endlich in Europa ankommen und dann jahrelang in Sammelunterkünften leben müssen, um auf eine Entscheidung zu warten, ohne dass ihre Kreativität und Leistungskraft abgefragt wird. Noch schlimmer ist es, wenn ganze Generationen nur ein Lager als Lebensraum kennen, in dem sie nichts tun können, außer ihre Essensration abholen. Das ist grausam. Neben den individuellen Menschenrechten gibt es eben auch die sozialen: das Recht auf Selbstbestimmung, auf Gleichberechtigung, auf Bildung, auf Arbeit mit gerechter Entlohnung und auf soziale Absicherung bei Krankheit oder im Alter. Diese Rechte werden viel zu oft ignoriert.

Ich bin überzeugt, jeder Mensch hat eine Gabe, ist be-gabt.

In Wohlstandsgesellschaften wer­ den aus ehemaligen Luxusbedürfnissen im Laufe der Zeit Grundbedürfnisse, es gilt heute als absolut legitim ein Auto, eine Waschmaschine und einen Fernseher haben zu wollen. Diese Sachen sind »sozialüblicher Standard«, heißt es in Hartz-IV-Urteilen. Denken wir das mal global weiter bitte: Ist das gerecht?

Gerechtigkeit heißt nicht, dass alle alles gleich haben. Das gefällt mir so gut an dem biblischen Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg. Die einen arbeiten den ganzen Tag, die anderen den halben und die letzten nur eine Stunde. Am Ende erhalten alle den gleichen Lohn. Das wird als ungerecht empfunden. Aber am Ende geht es darum, dass jeder den Denar hat, den er für die Familie zum würdigen

Leben braucht. Mich haben Besuche in Partnergemeinden in Übersee immer wieder demütig gemacht. Was für ein Privileg ist es, als Frau nach 1945 in Deutschland geboren zu sein! Es gibt Menschen in unserem Land, die sind auch arm. Das will ich dabei nicht kleinreden. Arm gewiss nicht im direkten Vergleich mit einem Slum in Rio de Janeiro. Anders arm, aber arm sind sie auch.

Der Mensch habe kein Maß dafür, wann ein Bedürfnis gesättigt sei, schrieb der Grundwertepapst der SPD, Erhard Eppler. Obwohl sie eine Überfülle an Waren zur Verfügung hätten, litten viele Menschen doch Mangel. An immateriellem Mangel. Ist die LAK vielleicht letztlich doch einfach Fake-Bedürfnissen des Kapitalismus auf den Leim gegangen, als sie Fleisch für alle forderte? Es gibt auch eine »Ethik des Genug«. Und die macht zufriedener als das ewige Gehetze nach »Mehr«! Eine Haltung, in der ich erstmal schaue, wofür ich dankbar sein kann, macht eher zufrieden, als eine, die immer schaut, was andere besitzen und ich nicht. Wozu braucht ein einzelner Mensch zwei Autos? Warum muss eine Uhr ein paar tausend Euro kosten? Uns wird in der Werbung vorgespielt, das würde uns glücklich machen. Aber das gelingt ja nicht, weil jemand dann wieder etwas anderes sieht, was er gern hätte: noch ein größeres Auto, ein noch größeres Haus. Lebensfroh ist das nicht.

Sollten wir anstelle des Bruttosozialprodukts den Bruttonationalglück-Index als Leitsystem für den Erfolg unserer Gesellschaft einführen, wie es das kleine Buthan macht? Macht das für dich Sinn? Mir hat dieser Ansatz schon immer gut gefallen. Vielleich hilft uns die Corona-Krise dabei. Viele waren glücklich, überhaupt an der Ostsee Urlaub machen zu können. Wer will derzeit schon auf die Malediven? Auf einmal bist du so froh über deinen kleinen Balkon. Oder jemand hat eine neue Wertschätzung dafür, dass er eine Familie hat, Freundinnen und Freunde. »The best things in life are the simple things« hat Joe Cocker mal so wunderbar gesungen. Und diese besten Dinge im Leben lassen sich nicht kaufen: Liebe, Freundschaft, Vertrauen und Glück.

Vielen Dank für das Gespräch. Interview: Volker Macke

ASPHALT 09/20

Grundsätzlich: Was braucht der Mensch? Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte nennt explizit Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und Fürsorge. Reicht das?

12 13


BRIEFE AN UNS

2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

06 20

Zu Asphalt 06/20 Notizblock: »LAK will Fleisch für Arme«

Kein Grundnahrungsmittel

Die Meldung empört mich zutiefst. Fleisch ist kein «Grundnahrungsmittel«, weder für Arm noch für Reich. Seit Jahren esse ich kein Fleisch und keine Wurst, obwohl ich es mir leisten könnte. Durch die Fleischproduktion werden Urwälder abgeholzt, triste Monokulturen entstehen. Das Weltklima wird mehr und mehr verschlechtert. Das alles ist schon längst vor der Corona-Krise ein großes Problem. Und jetzt erst recht sollten wir auf Fleisch verzichten. Dr. Ellen Scholz, Isernhagen ARTEN OHNE SCHUTZ?

LEISES LAND

URLAUB IM OBDACH

CORONA-KRISE

Vögel und Insekten sterben aus.

Hannovers Obdachlose können frei atmen.

Margot Käßmann will Generationen-Deal.

Ungesund und moralisch verwerflich In der letzten Asphalt schreiben Sie auf Seite 5 einen Beitrag von der Landesarmutskonferenz, der mich sehr geärgert hat. Da fordert allen Ernstes der Dachverband von Caritas, DGB, Diakonie, SeniorInnenverband und Kinderschutz, dass Fleisch ein Grundnahrungsmittel sei, das unbedingt billig bleiben solle? Der Herr Gleitze scheint in den 60ern stehen geblieben zu sein. Erstens ist viel Fleisch essen sehr ungesund und zweitens moralisch verwerflich. Aber am meisten ärgert mich, dass hier tatsächlich ein angeblicher Anwalt der Armen letztlich fordert, dass die wirklich armen WerkvertragsarbeiterInnen weiterhin zu Dumpinglöhnen arbeiten sollen und weiterhin unter erbärmlichen Bedingungen leben sollen. Denn anders ist Fleisch sicher nicht so billig zu haben. Und mal eben eine Anhebung der ALG2-Sätze um monatlich 100 Euro würde die Steuerzahler jährlich 4,5 Mrd. Euro kosten. Also es hilft nur Verzicht, um damit letztlich das Tierwohl zu erhöhen und die Bedingungen der WerkvertragsarbeiterInnen zu verbessern. Das wird man von Reichen aber auch von Armen erwarten dürfen. Bettina Müller, Hannover

Fragwürdige Aussage Ich bin seit Jahren eine treue Asphalt-Leserin. Über die Ausgabe im Juni habe ich mich allerdings geärgert. Sie beklagen darin einerseits das Artensterben und schreiben »Arten ohne Schutz«, was leider auch den Tatsachen entspricht. Andererseits zitieren sie Herrn Gleitze von der LAK, dass Fleisch ein Grundnahrungsmittel sei und deshalb Hartz IV erhöht werden müsse. Dass diese Tiere auch ohne Schutz sind, fällt offenbar niemandem auf!! Außerdem, seit wann ist Fleisch, vor allem bei dieser schrecklichen Massentierhaltung, die den Tieren Qualen ohne Ende zufügt, ein Grundnahrungsmittel!? In heutiger Zeit, wo Jeder über dieses Elend informiert ist, ist diese Aussage absolut unverständlich. Es spricht nichts dagegen, Hartz IV zu erhöhen, aber sicher nicht, um den leider viel zu hohen Fleischkonsum zu erhalten. Vielleicht sollte man besser propagieren, weniger Fleisch zu essen. Zum Wohle der Tiere und auch der eigenen Gesundheit. Dass diese Tiere Antibiotika bis zum Anschlag bekommen und somit auch Resistenzen beim Menschen verursachen, sollte mittlerweile auch hinreichend bekannt sein. Ich hielte es für sinnvoll, mal über diese Missstände in der Tierhaltung zu berichten. Rita Gundlach-Joeres, Hannover

Vielen Dank für Ihre Meinung! Die Redaktion behält sich vor, Briefe zur Veröffentlichung zu kürzen. Bitte vergessen Sie nicht, Ihre Absenderadresse anzugeben. Leserbriefe an: redaktion@asphalt-magazin.de oder postalisch: AsphaltMagazin, Hallerstraße 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover.

Anzeige

FAIRE WOCHE HANNOVER 1 1. - 25. SEPTEMBER 2020 www.hannover-nachhaltigkeit.de

MundGERECHT Der faire Picknickwettbewerb Infoveranstaltungen Angebote für Schulen Krimidinner-Spiel Geocaching


2,20 EUR davon 1,10 EUR Verkäuferanteil

Mehr mit Landwirten reden Im Juniheft habe ich mich über die einseitige Berichterstattung, was die Landwirtschaft betrifft, geärgert. Ich lebe in einem kleinen Dorf in der Nähe von Rotenburg, in dem nur noch wenige Landwirte überlebt haben. Also, hier gibt es Mohn- und Kornblumen und reichlich Vögel und die Landwirte setzen sich für die Umwelt ein mit Blühstreifen und Ähnlichem und sie spritzen so wenig wie möglich aber eben auch so viel wie nötig. Dass zu dem Artikel über das Volksbegehren nur ein NABU-Vertreter befragt worden ist, aber kein Landwirt, ist genau der Auslöser für die Aktion »Land schafft Verbindung«. Es wird dauernd über die Landwirte geredet, aber nicht mit ihnen. Und der NABU spielt mit den Emotionen der Städter, die keine Ahnung haben, was auf dem Land los ist: ständig verbesserte Technik zur Vermeidung von CO2, Schweineaktivställe und und und ... Was ist denn mit den Städten, in denen immer mehr Flächen versiegelt werden, Hobbygärtner straflos ein Vielfaches an in der Landwirtschaft erlaubten Gifts ausbringen oder Steingärten anlegen, weil es weniger Arbeit macht??? Davon spricht keiner. Ich bin absolut gegen das Volksbegehren, zumal hier in Niedersachsen inzwischen viele Organisationen an einem Tisch sitzen, um gemeinsam an Lösungen zu arbeiten. Dass wir unseren Lebensstil ändern müssen, sehe ich auch so. Auf dem Land sind wir noch näher dran an der Natur und erleben auch unsere Abhängigkeit von ihr deutlicher. Wenn wir den Landwirten immer mehr ihre Überlebensmöglichkeiten einschränken, werden wir bald immer mehr auf Lebensmittel aus dem Ausland angewiesen sein, und wie und was da produziert wird, darauf haben wir wenig Einfluss. Die Qualität wird mit Sicherheit nicht besser. Barbara Dieterich, Rotenburg/W

07 20

Heftige Story

Ich habe soeben Ihre Titelgeschichte gelesen. Das ist eine sehr heftige Story. Die DUNKEL IM DISTRIKT Frau kann einem wirklich leidtun. Drei Freier nur für die tägliche Miete. Ich würde kotzen. Man ist richtig hin und her gerissen, ob man dieses schwedische Modell fordern soll bei all dem Elend oder ob man vielleicht ganz viel ständig überprüfbare Qualitätsstandards für Bordelle fordern soll, damit die Frauen nicht länger so ausgebeutet werden können. So wie es ist kann es jedenfalls nicht bleiben. Bitte mehr von diesen wichtigen Themen. Und die besten Wünsche an die Sonja. Saskia Modrow, Hannover AUSGEBREMST

ANGESCHOBEN

ABGEHÄNGT

Prostituierte im Lockdown.

Über den Job zur eigenen Wohnung.

Die Schwächsten nach Corona.

Zu Asphalt 07/20 Die Welt nach Corona

Verbreitung von Angst Sie weisen auf die vielfältigen Folgen der staatlichen Verbote und Gebote zur Minderung der Ausbreitung des diesjährigen Coronavirus CoV-2 hin. Asphalt wird infolge dieser Schutzmaßnahmen in seiner Existenz noch einmal wichtiger, denn auch in Hannover haben jetzt schon Armut und Existenznot drastisch zugenommen. Auch dies steht in derselben Ausgabe als Nachricht auf Seite 18, und könnte ergänzt werden, dass dadurch die Lebenserwartung der Getroffenen um mehrere Jahre reduziert wurde, weit mehr, als durch eine mögliche Erkrankung an dem Virus. Deshalb wundert mich ihre Aussage unter der Überschrift »Ohne den Staat geht es nicht«, dass Deutschland beinahe eine ähnliche Katastrophe erlebt hätte wie Italien und Spanien. Und im nächsten Satz schreiben Sie, dass diese Katastrophe gar nicht drohte, denn unser Gesundheitssystem hat mehr Kapazitäten und die Krankenhäuser sind in besserem hygienischem Zustand. Und, in Italien und Spanien gab es auch keine Kata­ strophe, sondern einen ziemlich normalen Erkältungswellenverlauf, verschärft allerdings durch Panik und Verzicht vieler Kranker auf Inanspruchnahme der Krankenhausleistungen aus Angst vor dem Virus. Damit schließen Sie sich, wenn hier auch nur in einem Satz, der Verbreitung der Angst an, für die es keine sorgfältige methodische (wissenschaftliche) Begründung gibt, und mit der Solidarität einzig von den Mittellosen gefordert wurde, während die Inhaber von wenig Kapital mit geringem Schaden davonkamen, und sich die Inhaber von viel Kapital kräftig bereicherten. Dies ist doch nicht im Sinne von Asphalt. Im Übrigen finde ich weiterhin Asphalt eine hervorragende Zeitschrift, die ich immer gerne lese. Thomas Teichmann, Hannover

ASPHALT 09/20

Zu Asphalt 07/20 Licht aus

Zu Asphalt 06/20 Artensterben

14 15


Foto: Andreas Haas/iStock.com

»DIE HABEN KEINE WAHL« Jutta Henke ist Geschäftsführerin der Bremer Gesellschaft für innovative Sozial­ forschung und Sozialplanung (GISS). Das Forschungsinstitut hat in einer bundesweiten Studie Entstehung, Verlauf und Struktur von Wohnungslosigkeit untersucht und Strategien entwickelt, sie zu beenden oder noch besser: sie abzuwenden.


Wohnungslose sind häufig mit Unverständnis und Schuldzuschreibungen konfrontiert: »Wohnen kann doch jeder.« Man glaubt, bei Wohnungslosen müsse etwas ganz anders sein als bei mir oder dir, das stimmt aber nicht. Tatsächlich sind bei ihnen überaus ungünstige Faktoren so zusammengetroffen, dass es am Ende keine Optionen mehr gab und der Wohnungsverlust unausweichlich wurde. Problemlösungen Materielle Ursachen sind ein Hauptgrund: 80 werden in der sichtProzent der Menschen verlieren am Ende ihre Wohnung, weil sie die Miete nicht zahlen könbaren Problematik nen. Großen Einfluss hat, wie erreichbar und wie nicht gefunden. sichtbar das Hilfesystem ist, und wie präventiv es arbeitet. Und dann sind es persönliche Faktoren, die zum Beispiel gesundheitlicher Art sein können. Am Ende sind die Selbsthilfekräfte erschöpft. Solange die Menschen eine Wahl haben, treffen sie die vernünftigsten Entscheidungen, die man in einer schwierigen Lage treffen kann. Wohnungslosigkeit tritt ein, wenn keine Wahl mehr da ist.

Als erstes haben wir eine Onlinebefragung bei einem repräsentativen Ausschnitt an Kommunen gemacht und dort die Verwaltungen, aber auch alle freien Träger und alle Jobcenter befragt. Daraus können wir ganz gut schließen, wie sich die Hilfeangebote und die Notlagen verteilen. Der zweite Schritt war eine Vertiefungsstudie, in der wir zwölf Hilfesysteme detailliert angeschaut haben. Wir haben mit allen AkteurInnen vor Ort gesprochen und uns Verfahren, Abläufe und Strukturen erklären lassen. Denn ein wichtiges Ziel der Untersuchung war es, Ansatzpunkte für Verbesserungen zu finden. Der dritte Teil bestand aus Interviews mit Menschen, die wohnungslos waren und solchen, die ihre Wohnungslosigkeit überwunden hatten – mit dem gleichen Ziel: Wir wollten wissen, was hat bei der zweiten Gruppe funktioniert, das bei anderen nicht geklappt hat. Wir halten es für einen Fehler, nur auf die sichtbare Problematik zu gucken, weil die Problemlösungen dort genau nicht gefunden werden. Lösungen findet man vor dem Wohnungsverlust oder danach: z. B. in der Wohnungsversorgung und langfristigen Absicherung.

Zur Frage des »Davor« haben Sie ein Plädoyer veröffentlicht, in dem Sie fordern, den Fokus auf die Vermeidung von Wohnungslosigkeit zu verschieben. Wie soll das aussehen? Indem man die Hilfen für Menschen auf der Straße ausbaut, verliert man aus den Augen, wo die Problemlösung liegt. Einer unserer Befunde ist, dass die präventiven Hilfesysteme viel weniger sichtbar sind, als sie selbst glauben. Dort glaubt man, die Leute warten und verlieren Zeit. Das stimmt nicht. Sie wissen oft nicht, welche Hilfe es wo gibt. Das heißt für das System, es muss sich erstens so sichtbar wie mög-

ASPHALT 09/20

Ihr Forschungsprojekt hat so etwas wie einen Gesamt­überblick über die Situation der Wohnungslosenhilfe in Deutschland erstellt. Wie sind Sie vorgegangen?

16 17


Foto: GISS

Dass Wohnungs­ sicherung Vorrang hat, sollte im Gesetz stehen.

lich machen. Es muss deutlich gemacht werden, dass eine Stadt Wohnungslosigkeit verhindern will. Das muss sie zeigen, dafür muss sie eine Homepage haben, Anzeigen schalten, Flyer drucken usw. Das volle Programm. Und das zweite ist: Sie muss ihre Instrumente nutzen. Ein Ergebnis der Untersuchung war, dass der Einsatz von persönlicher Unterstützung zur Wohnungssicherung längst nicht in dem Umfang genutzt wird, wie es möglich wäre.

Sie betonen in Fragen der Prävention besonders die Rolle der Jobcenter.

Ein wirklich überraschender Befund in der Untersuchung war, dass die Jobcenter die Institutionen sind, die als erste von den Menschen selbst über die Notlage erfahren. Da ist ein echter Knackpunkt. Wir haben das auch in vielen Interviews gehört. Die Menschen, vor allem wenn sie im Leistungsbezug sind, wenden sich logischerweise zuerst an die Stelle, die für ihr Einkommen zuständig ist, und das sind die Jobcenter. Die Betroffenen kennen aber die Verfahren nicht, und deshalb sagen sie nicht: »Ich möchte einen Antrag auf Übernahme meiner Mietschulden stellen«, sondern sie sagen: »Ich kann meine Miete nicht zahlen, ich hab‘ kein Geld.« Das wird im Gespräch möglicherweise wahrgenommen, aber oft nicht als Anzeige einer gravierenden Notlage. In so einem Fall gehen die Leute unverrichteter Dinge und denken, es gibt keine Möglichkeit der Problemlösung. Die Kommunen müssen sich mit den Jobcentern über Wege des Informationsaustauschs verständigen. Informationen dürfen dort nicht versickern. Wir raten darüber hinaus dazu, dass die Jobcenter einen präventiven Auftrag bekommen. Dass Wohnungssicherung Vorrang hat, sollte im Gesetz stehen. Auf keinen Fall kann man diese Chance aus der Hand geben.

In Ihrer Studie stellen Sie Ungleichheiten bei der Versorgung von Männern und Frauen fest. Ja. Es gibt insgesamt recht gut ausgebaute Hilfesys-

teme für Menschen, die bereits wohnungslos geworden sind. In diesen Systemen fehlen aber spezielle Angebote für Frauen, was dazu führt, dass Frauen auf die Inanspruchnahme von Hilfen verzichten. Das muss man ändern. Bei den Männern liegt die Ungleichbehandlung bei der Prävention. Männern wird mehr zugetraut, aber auch mehr zugemutet. Wir halten das für falsch, weil gerade die Gruppe der alleinstehenden Männer hohe Risiken hat. Dem müsste man eigentlich begegnen. Es ist unbestritten, dass Frauen einen hohen Schutzbedarf haben. Sobald man aber den Gedanken umdreht und sich fragt, ob Männer etwa keinen Schutzbedarf haben, wird einem klar: Das stimmt nicht.

Ein Aspekt dieser »Zumutungen« für Männer sind die Notunterkünfte, deren Nutzung oft die Bedingung ist, um weitere Hilfen zu bekommen. Sammelunterbringung ist von allen Formen der Versorgung die schlechteste. Wir hoffen, dass die Kommunen aus der Pandemie die Lehre ziehen, sich stärker in Richtung Einzelunterbringung zu orientieren.

Schaut man auf das »Danach« von Wohnungslosigkeit, stößt man unweigerlich auf die sich weiter schließenden Wohnungsmärkte. Zur Beendigung von Wohnungslosigkeit braucht es nun mal Wohnungen. Eine erfolgreiche Strategie ist eine Eins-zu-Eins-Vermittlung. Die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter machen das bei der Jobsuche unter dem Stichwort »bewerberorientierte Vermittlung«. Die gilt Menschen, die besonders viele Hemmnisse haben und bei denen klar ist: Wenn sich ein Arbeitgeber unter einer Zahl möglicher Bewerber eine Person aussucht, dann nicht diese. Damit auch diese Person eine Chance auf dem Arbeitsmarkt bekommt, muss man die Logik umdrehen und sagen: Ich will genau diesen Bewerber oder diese Bewerberin in Arbeit vermitteln. Übertragen auf die Wohnraumversorgung heißt das: Solange Vermieter am Markt auswählen können, entscheiden sie sich zwangsläufig gegen den Wohnungslosen. Wer will, dass sich diese Menschen mit Wohnraum versorgen können, muss Energie hier investieren: bürgen, absichern, begleiten. Man unterschätzt schnell, wie viel Wohnraum auf diese Weise erschlossen werden kann. Durch aktive Begleitung, Intervention und im Zweifel auch Unterstützung des Vermieters lässt sich oft erreichen, dass eine bestimmte Person einen Mietvertrag erhält. Interview: Bastian Pütter Literatur-Tipp Jutta Henke | Wie lässt sich Wohnungslosigkeit verhindern? Ein Plädoyer. | Soziale Arbeit Kontrovers 23 | Deutscher Verein für öffentliche und private Fürsorge | 64 S. | 9 Euro


ASPHALT 09/20

18

Foto: Halfpoint/iStock.com

19

DER WINTER NAHT Während sich die Wirtschaft wieder erholt, befindet sich die Wohnungslosenhilfe noch weitgehend im Lockdown. Ohne weitere Unterstützung. Für die Betroffenen ist das schon jetzt eine Katastrophe. Doch nun steht die kalte Jahreszeit vor der Tür. Die Corona-Beschränkungen treffen diejenigen am härtesten, die ohnehin schon am verwundbarsten sind: Kinder, Alte, Pflegebedürftige, Alleinerziehende, Arbeitssuchende, Sexarbei­ terInnen und Wohnungslose. Nicht zufällig sind es auch genau die Gruppen, die über die schwächste Lobby verfügen. Deren

Stimmen als letzte wahrgenommen werden, wenn es um Lockerungen der Kontaktbeschränkungen geht und gleichzeitig sind sie die Letzten, die auf Unterstützung durch die Corona-Hilfen hoffen dürfen. Obwohl sie die größten und drängendsten Bedarfe haben.


So wie Steffi (41) und Markus (52). Die beiden wissen, was es heißt, obdachlos zu sein: Sie haben lange auf der Straße gelebt, zeitweise auch in Unterkünften. »Wer auf der Straße lebt, ist 24 Stunden am Tag damit beschäftigt, sein Leben zu organisieren, ständig zu schauen, wo kann ich schlafen, wo komme ich mal für ein paar Stunden unter, kann ich irgendwo ein Zelt aufbauen, wo bekomme ich etwas zu essen her«, sagt Steffi, »Wohnungslosigkeit macht einen kaputt!«. Die 41-Jährige bezeichnet den Verlust ihrer Wohnung als »die Katastrophe meines Lebens«. Anfang des Jahres konnten sich Steffi und Markus in einer Behelfsunterkunft bei Bekannten einquartieren, doch dort müssen sie nun ausziehen. Wie es weitergehen wird, wissen sie noch nicht, so wie viele andere auch.

Lockdown für Wohnungslose bleibt

Foto: G. Biele

Foto: U. Matthias

Ein Freitagmorgen im August. Vor dem Kontaktladen Mecki am nördlichen Ende des Raschplatzes stehen mehrere Grüppchen von Menschen unschlüssig herum, manche warten auf Einlass, andere vielleicht auf ein Gespräch mit den Sozialarbeitenden. »Was

sollen wir machen?«, fragt Pascal Allewelt, Leiter des Kontaktladens und der Straßensozialarbeit der Diakonie, »während der Pandemie dürfen wir nur drei Leute gleichzeitig in den Laden lassen und noch zwei zusätzlich, für einen Arztbesuch. Daher versuchen wir hier draußen Essen und Beratung anzubieten«. Aber das sei nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Rund 150 Menschen suchten vor Corona den Kontaktladen täglich auf, Menschen, die auf der Straße übernachtet haben oder in den Notunterkünften, wo sie früh morgens vor die Tür gesetzt werden. Bis zum Lockdown war der »Mecki« ihr erster Anlaufpunkt, danach ging es für viele zum Mittag ins DÜK (»Dach über dem Kopf«) in der Berliner Allee oder ins SOS-Bistro vom Neuen Land und am Nachmittag eventuell in den Kompass hinter der Spielbank. Seit Corona ist das vorbei. Vor dem Kompass verteilt Sozialarbeiterin Maren Holthaus belegte Brötchen an einige Wohnungslose, die ihren geschützten Raum zur Zeit nicht mehr nutzen dürfen. »Das ist die einzige Möglichkeit, um wenigstens einigen Beratung anbieten zu können«. Das Kompass-Team arbeitet darauf hin, vielleicht ab September für zehn Leute öffnen zu können. Aber sicher sei das noch nicht. Die Aussichten auf den Winter findet Holthaus jedenfalls »gruselig«: »all die Leute, die hier vorher zur Ruhe gekommen sind und Schutz vor Hitze oder Kälte gefunden haben, müssen jetzt sehen, wie sie auf der Straße zurechtkommen. Viele kompensieren das schon jetzt mit erhöhtem Alkoholkon-

Jeder sollte eine Tür haben, die er hinter

Viele Obdachlose schlafen lieber im Freien als in den Notunterkünften.

sich zuschließen kann, findet Markus.

Aber die kalte Jahreszeit steht vor der Tür.


ASPHALT 09/20 Kein Obdach: Immer mehr Wohnungslosen bleibt wegen der Kontaktbeschränkungen der Zugang zum Hilfesystem verwehrt.

sum«. »Die Menschen sind inzwischen anders drauf«, sagt auch Allewelt. »Die Ämter sind kaum noch erreichbar, für unsere Leute umso weniger, sie erhalten keine Bescheide, fühlen sich allein gelassen, abgewimmelt und zurückgewiesen.«

Niedrigschwellige Angebote in Gefahr Das sind Erfahrungen, die auch aus anderen Einrichtungen zu hören sind, vom Tagestreff der Caritas oder vom Tagesaufenthalt Nordbahnhof der Sewo in Hainholz. »Der Beratungsbedarf der Menschen hat sich intensiviert, da die Behörden schwerer erreichbar sind. 45 Minuten am Telefon in der Warteschlange beim Jobcenter waren der Durchschnitt«, sagt Janine Sandler, Sozialarbeiterin im Nordbahnhof. Leichter reizbar und ungeduldiger seien die Menschen geworden. Auch Steffi und Markus können das aus eigener Beobachtung bestätigen: »Das Gewaltpotential unter den Wohnungslosen steigt auf jeden Fall«, meint Steffi und Markus erwartet, dass »vor allem zum Winter hin das Konfliktpotential größer werden« dürfte. »Wir sind ja nicht freiwillig draußen auf der Straße, auch nicht im Tagestreff, weil es dort so toll ist, sondern weil wir keine andere Möglichkeit haben«, sagt Steffi. Tagesaufenthalte wie der Nordbahnhof stellen nicht nur wichtige Ruhe- und Schutzzonen für Wohnungslose dar, sie bieten auch die niedrigschwelligen Kontaktmöglichkeiten zum Hilfesystem. Auch das wird durch die Pandemie eingeschränkt

Foto: Bildagentur-online/Picture-Alliance

20

und hält manche von einem Besuch ab, berichtet Sandler: »Wir müssen jetzt eine Corona-Nachverfolgungsliste führen, auf der die Besuchenden ihren Vor- und Nachnamen angeben müssen und ihre Anonymität nicht gewahrt werden kann. Außerdem messen wir mit einem Stirnsensor die Temperatur »Im Winter befürchder Besuchenden, was bei einigen schlechte Erinneten wir Probleme, rungen auszulösen scheint.« weil wir dann keine Zudem gebe es auch unter Möglichkeit zum Wohnungslosen neben aufAufwärmen mehr geklärten Menschen ebenso bieten können, da Verschwörungsanhänger, die Covid-19 nicht ernst durchgehend gelüfnehmen. Für die Sozialartet werden muss.« beitenden bedeutet dies Janine Sandler, teils endlose Diskussionen. Tagesaufenthalt Nordbahnhof »Menschen, die unsere Maskenpflicht nicht akzeptieren, müssen wir der Räume verweisen, was vor Corona undenkbar war, da der Tagesaufenthalt ein Schutzraum für alle darstellte«, sagt Sandler. Eine Grenze sei bisher lediglich bei Gewalt, Aggressionen und Alkohol gezogen worden. Zu Beginn der Pandemie wurde auch der Tagesaufenthalt Nordbahnhof zunächst geschlossen,

21


die Mitarbeitenden haben sich aber aufgrund des hohen Hilfebedarfes nach wenigen Tagen entschlossen, wieder zu öffnen. Derzeit können 15 Besuchende gleichzeitig die Einrichtung betreten, werden nach einer Stunde aber wieder herausgebeten, um den nächsten Platz zu machen. So bleibt wenig Zeit für die Anliegen der Betroffenen und die soziale Arbeit. »Es fällt ein wesentlicher Aspekt, die soziale Interaktion, für manche weg, da sie beispielsweise auf unsere Gruppenangebote und Turniere verzichten müssen. Auch kann unsere Dusche nicht genutzt werden, da es keine Möglichkeit gibt, diese angemessen zu desinfizieren und zu lüften«, sagt Sandler. »Im Winter befürchten wir Probleme, weil wir dann keine Möglichkeit zum Aufwärmen mehr bieten können, da durchgehend gelüftet werden muss.«

Menschenwürdige Unterbringung 950 dauerhafte Plätze stellt die Landeshauptstadt Hannover den Wohnungslosen derzeit in Obdachlosenunterkünften zur Verfügung, dazu werden 584 Wohnungen angemietet. Ein Angebot, das den Bedarf bei Weitem nicht deckt. Hunderte Obdachlose schlagen ihre Lager in Hauseingängen, unter Brücken, in Unterführungen oder mitunter auf Parkbänken auf, andere suchen sich versteckte Ecken, um Übergriffen zu entgehen. Nach dem Gesetz dürfte das nicht sein. Jeder hat in Niedersachsen Anspruch auf ein Obdach. Das ist die Theorie. In der Praxis versucht die Stadt die Angebotslücke mit 240 Plätzen in fünf Notschlafstellen zu schließen. Zu wenig, wie man sieht. Und viele der bestehenden Notunterkünfte sind selbst ein Teil des Problems. Damit haben auch Steffi und Markus ihre Erfahrungen machen müssen. Viele Obdachlose halten die Notschlafplätze sogar für gefährlicher, als eine Nacht unter freiem Himmel. Wildfremde Menschen werden in Mehrbettzimmern zusammengepfercht

– ganz gleich ob Schulabgänger, Alkoholiker, psychisch Kranke oder Drogenabhängige. »Die Unterkünfte müssen eine Einzelunterbringung ermöglichen. Gerade auch zu Corona. Jeder sollte seinen Raum haben, hinter »Wohnungslosich abschließen können und nicht in körperliche Auseinandersetzung sigkeit macht verwickelt werden, wenn er zu vereinen kaputt!« hindern versucht, dass man ihn beSteffi klaut«, sagt Markus. Wie wichtig eine menschwürdige Unterbringung sei, sehe man an den Menschen, die vor Kurzem »in der Jugendherberge untergebracht waren, wie sehr die sich nach Jahren auf der Straße erholt haben«. Steffi kritisiert insbesondere die Bevormundung in den Unterkünften: »Man muss auch sehen, was diese Form der Unterbringung mit den Menschen macht – es gibt ihnen das Gefühl ausgeliefert zu sein.« Sie selbst habe Jahre gebraucht, um zu erkennen, dass sie sich nicht alles gefallen lassen muss. »Ich habe schon so viel Scheiße erlebt, bin auch schlecht beraten worden, dann kommen einem irgendwann Zweifel und man denkt, vielleicht bin ich doch so mies wie alle sagen und nach Jahren der Selbstgeißelung höre ich dann: Du hast doch Rechte!« Darauf will sie nicht mehr verzichten und hat sich mit anderen Betroffenen und Unterstützern in einer Initiative zusammengeschlossen. Um für die Rechte von Wohnungslosen einzutreten. Doch jetzt steht erst einmal die Suche nach einer neuen Unterkunft im Vordergrund. Der Winter ist nicht mehr fern. Ulrich Matthias

Anzeige

KULTUR IST SYSTEMRELEVANT! Eine Gesellschaft ohne kulturelles Angebot ist keine Gesellschaft. Bitte unterstützt die Künstler, Theater und Locations wo ihr könnt!

www.tak-hannover.de


Aus der Welt der vorigen Asphalt-Ausgabe zurück nach Hause, in die schöne Stadt Hannover. Warum auch in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah. Auch hier kann Urlaub Spaß machen. Es gibt so viele Stellen, wo sowohl Erwachsene als auch Kinder fröhlich entspannen können: am Maschsee, in der Eilenriede, im Tierpark Kirchrode, im wunderbaren Zoo, um nur einige zu nennen. (Ganz nebenbei: Die Eilenriede zählt zu den ältesten Stadtwäldern Europas und ist fast doppelt so groß wie der Central-Park in New York. Dort könnte, wer wollte, durchaus einen ganzen Tag verbringen – in der Eilenriede, nicht in New York!!!) Und auch die nahe Umgebung bietet viel Abwechslung, wie z. B. das Steinhuder Meer oder ein Freizeitpark oder ein Badesee … oder … oder … oder. Viel zu schnell ist der Sommer vorbei und wir müssen uns wieder in geheizten Räumen aufhalten. Wenn wir denn welche haben. Das Leben auf der Straße ist in keiner Jahreszeit einfach, aber während der Corona-Pandemie schon gar nicht. Ich jedenfalls freue mich im Moment, wenn ich aufwache und die Sonne scheint. Also genießen wir einfach mal jeden Tag, den wir in der freien Natur verbringen können. Ein Aufenthalt in einem Biergarten oder ein leckeres Eis lassen uns die Alltagssorgen vielleicht einmal vorübergehend vergessen.

Karin Powser

Karin Powser lebte jahrelang auf der Straße, bevor ihr eine Fotokamera den Weg in ein würdevolleres Leben ermöglichte. Ihre Fotografien sind mittlerweile preisgekrönt. Durch ihre Fotos und mit ihrer Kolumne zeigt sie ihre ganz spezielle Sicht auf diese Welt.

ASPHALT 09/20

Das muss mal gesagt werden …

22 23


»REISENDER« Aus dem Leben: Im Gespräch mit Asphalt-Verkäufer Yogi (57). Hallo Yogi, ein tolles Foto hast du mitgebracht. Wo ist das entstanden?

sen, auch wenn das immer noch schwierig war für mich. Bis heute habe ich noch so kleine Anpassungsschwierigkeiten.

In Indien, Rajgir, vor einer Höhle. Das ist ein besonderer Platz. Das Bild hat ein Chilene, mit dem ich auf meiner letzten Indien-Reise unterwegs war, von mir gemacht, im Dezember 2017.

Wie lange verkaufst du schon den Tagessatz, jetzt Asphalt/Tagessatz? Seit 2008?

Du warst aber auch vorher schon für viele Jahre in Indien … Eigentlich bin ich Reisender. Ich war in ganz Nordafrika, Westeuropa, Kanada … Meine erste Reise nach Indien war 1986, eigentlich wollte ich einmal um die Welt fahren, bis Australien bin ich gekommen. Am meisten fasziniert auf der Reise hat mich das Himalaya-Gebirge. 1991 bin ich wieder hingefahren und habe dann bis 2008 in Indien gelebt und dort u. a. im Himalaya Mountainbike-Touren angeboten.

Ja, mit Unterbrechungen natürlich. Als ich noch mal für 17 Monate in Indien war, konnte ich natürlich nicht verkaufen. Seit 2019 bin ich wieder hier. Auf dieser letzten Reise ist das Bild entstanden. Diese Reise war mehr oder weniger eine Abschiedstour für mich. Ich wollte besondere – mir bekannte – Plätze noch mal besuchen und an Orte reisen, die ich noch nicht kannte, auch an Orte, wo Buddha gelebt hat. Die Höhle auf dem Bild ist einer davon. Das war total toll, dass ich das alles noch mal sehen durfte.

Wie lange warst du diesmal dort? Wie hast du dort gelebt? Sehr einfach. Der Ort heißt Kausani. Ein toller Platz. Man ist relativ nah am Gebirge und hat trotzdem einen tollen Panoramablick von 385 Kilometern Schneebergen. Da hingekommen bin ich, weil ich gelesen habe, dass Mahatma Gandhi diesen Platz gelobt hat wegen der besten Aussicht aufs Himalaya-Gebirge. Früher lebte man da noch abgeschiedener, mittlerweile haben sie in Kausani auch Handy-Empfang und Internet-Zugang. Aber man ist eben immer draußen und lebt naturnah.

Hast du in Indien auch so etwas wie einen Kulturschock erlebt? Die Kulturschocks kriegt man ja ständig, wenn man hin- und herreist. Selbst innerhalb von Indien kriegt man Kulturschocks. Auch wenn du zurück nach Deutschland kommst: Das ist ein Kulturschock – für mich fast der schwierigere. Dieser umgekehrte Kulturschock in Deutschland, den ich 2008 erlebt habe, nachdem ich 17 Jahre hauptsächlich in so einem kleinen Bergdorf im Himalaya gelebt habe und dann in diese Hochleistungsgesellschaft zurückgebeamt wurde, wie es mit dem Flugzeug ja ist … da hatte ich schon echt totale Schwierigkeiten. Diese Hochleistungsgesellschaft ist sehr brutal. Wer keine Hochleistung bringt – sprich: wer alt, schwach, krank, arm ist – wird gnadenlos an den Rand gedrängt. Und der Verteilungskampf auf der unteren Ebene nimmt auch ständig zu.

Wie bist du diesen Schwierigkeiten begegnet? Da hatte ich Glück, ziemlich früh in dieser Phase schon bin ich durch die Ambulante Hilfe auf den Tagessatz gekommen. Man kann sich zuhause verkriechen, wenn man mit der Gesellschaft nicht klarkommt, aber das ist keine Lösung auf Dauer. Rausgehen und aktiv werden, ist die bessere. Der Tagessatz-Verkauf hat mir, dadurch, dass ich viel Kontakt hatte mit den Leuten, mit der Gesellschaft, geholfen, mich so einigermaßen anzupas-

Ich wollte länger als ein Jahr bleiben. Ich hatte aber nur wenig Geld und habe dann geguckt, wie weit ich damit komme, auch Indien ist teurer geworden. Die Inder habe ich in diesen 17 Monaten so großzügig und gastfreundlich erlebt, wie noch nie zuvor. Wenn sie wissen, dass man nichts hat, ist die Unterstützung echt toll. Zum Schluss habe ich zwei Monate richtig im Dschungel gelebt – mit Tigern, Schlangen, ohne Zivilisation. Open air, open sky. Insgesamt habe ich an diesem Platz im Dschungel, oberhalb eines Wasserfalls, etwa zwei Jahre meines Lebens verbracht. Ich war da schon ca. 30 Mal. Wenn ich da bin, meditiere ich, mindestens zehn bis elf Stunden am Tag. Zehn Tage lang. Das ist schon ziemlich intensiv.

Wie lange meditierst du schon? Meinen ersten Kurs habe ich in Nepal gemacht, vor 23 Jahren. Die Meditation heißt Vipassana. Das heißt frei übersetzt, die Realität so zu beobachten, wie sie wirklich ist und nicht so, wie man sie haben will. Alles verändert sich ständig. Die angenehmen wie die unangenehmen Körperempfindungen versuche ich so hinzunehmen und zu akzeptieren, wie sie sind. Kein Festhalten und Anklammern an angenehme und keine Aversion und Abneigung gegenüber unangenehmen Körperempfindungen. Dieses Wissen vom ständigen Wandel hilft mir, einen gleichmütigen Geist zu bekommen und mich nicht überwältigen zu lassen von Emotionen. Das hat mir in vielen Situationen, in denen mir Ärger begegnete, den Umgang damit sehr erleichtert. Die Kunst des Lebens.

Das ist sehr bereichernd – und auch spannend. Danke dafür! Gern. Ich habe viel erlebt und mir jetzt auch vorgenommen, ein Buch zu schreiben. Das habe ich schon lange im Hinterkopf, aber jetzt ist das eine konkrete Absicht geworden. Interview: Svea Müller


ASPHALT 09/20

Foto: U. Kahle

24

Foto: privat

25

Unter der Woche verkauft Yogi Asphalt/Tagessatz am Nabel in Gรถttingen und samstags auf dem Gรถttinger Wochenmarkt.


RUND UM ASPHALT

Foto: G. Biele

96plus-Grillfest findet trotz Corona statt

Würdevoll zur letzten Ruhe Es ist kurz nach 13 Uhr. Die Sonne schickt ihre warmen Strahlen durch die Baumkronen von Buchen und Eichen, von Ahornen und Eschen. Still ist es im Ruheforst Deister in Bredenbeck/Wennigsen. Nur das leise Rascheln der Blätter vom Wind ist zu hören. Auf dem Andachtsplatz haben Trauergäste auf Holzbänken vor einem großen Kreuz aus Holz Platz genommen. Viele sind gekommen. Gekommen, um ein letztes Mal Abschied zu nehmen von unserem im Februar plötzlich verstorbenen Asphalt-Verkäufer Hasso Diedrich. Es sind Freunde, Wegbegleiter und KollegInnen. Hasso, der gerade einmal 54 Jahre alt wurde, ist der erste Asphalt-Verkäufer, der im Ruheforst seine letzte Ruhe findet. »Wir wollen damit unseren Verkäuferinnen und Verkäufern eine würdevolle Beisetzung ermöglichen und ihnen ein anonymes Armenbegräbnis ersparen«, sagt Asphalt-Geschäftsführer Georg Rinke. Der Ruheforst Deister bietet dafür beste Voraussetzungen. Denn während bei den Ordnungsamtsbestattungen die Urnen anonym und ohne jegliche Zeremonie beigesetzt werden, können die Trauergäste hier dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen – mit Geleit zur Ruhestätte und Andacht. Und die hat für Hasso Diakoniepastor und Mitherausgeber Rainer Müller-Brandes gehalten. »Ich halte es für wichtig, dass Asphalt diesen Ort für seine Verkäufer schafft. Man braucht einen Ort und einen Namen, um Abschied zu nehmen«, sagt er in seiner Trauerrede. Elf weitere Urnen finden am neu erworbenen Asphalt-»Ruhebiotop« Platz. Für verstorbene AsphalterInnen aus ganz Niedersachsen. Doch für den Asphalt-Geschäftsführer steht schon jetzt fest: »Auch wenn die ersten zwölf Plätze belegt sind, das Projekt wird weitergehen.« Finanziert wird der Ruheplatz im Forst, genau wie auch Asphalt selbst, unter anderem aus Spendengeldern. GB

Nachdem lange Zeit Veranstaltungen verboten waren, gibt es nun Klarheit: Auch in diesem Jahr wird wieder gegrillt. Das beliebte 96plus-Grillfest wird auf dem Süd-Vorplatz der HDI Arena am 11. September um 13:00 Uhr stattfinden. Erneut werden die Grillmeister vom Charcoal Street BBQ e.V. für saftige Steaks und Bratwürste sorgen. Zur Erfrischung werden am Kiosk Kaltgetränke ausgegeben und das Zahnmobil wird wieder für Behandlungen bereitstehen. Neben weiteren Angeboten wird es außerdem eine leckere Überraschung geben – seid also gespannt! Da aufgrund der Hygiene-Bestimmungen die Anzahl der Gäste leider beschränkt werden muss, werden insgesamt 400 Einladungen über verschiedene soziale Einrichtungen verteilt. Wichtig: Ein Einlass kann nur unter Vorlage einer ausgefüllten Einladungskarte gewährt werden.


ASPHALT 09/20

Zwei- bis dreimal im Jahr veranstaltet der Lions Club Hannover – Wilhelm Busch sogenannte Activitys, wie die »Beaujolais Primeur Party« oder die Benefizveranstaltung »Wein, Kunst und Gesang«. Zu ihrem 20-jährigen Jubiläum wollten die Clubmitglieder aber mal was Besonderes. Was Neues. Und so erlebte das »Matjesessen am Aschermittwoch« seine Premiere. Rund 200 Gäste waren zur Feier in die Cafeteria der Internationalen Schule Hannover gekommen. Unter ihnen auch die Asphalt-Mitherausgeber Rainer Müller-Brandes und Matthias Brodowy, der zudem

Foto: ADAC Niedersachsen/Sachsen-Anhalt e.V.

Löwen mit Matjes und Firlefanz

26 27

Foto: G. Biele

Asphalt bekommt ADAC-Trinkgelder

olf-Rüdig Foto: W

er Reinic

ke

Ausschnitte aus seinem neuen Programm »Firlefanz de Luxe« zum Besten gab. Zu essen gab es – natürlich – Matjes. In verschiedenen Variationen, dazu Kartoffeln und Sour Cream. Von den Clubmitgliedern unter fachlicher Anleitung selbst zubereitet und gekonnt serviert. Der Erlös des Abends: 4000 Euro. Und die hat der Clubvorstand (Thomas Ritter (li.), Klaus Kafert (2.v.l.), Mónika Gäbler, Dr. Wolf-Rüdiger Reinicke (re.)) jetzt in Form eines symbolischen Spendenschecks zugunsten von Asphalt an Rainer Müller-Brandes übergeben. Vielen Dank an alle Jubiläumsgäste und die Mitglieder vom Lions Club Hannover – Wilhelm Busch. GB

Kompetente Beratung und guter Service – das bietet der ADAC Niedersachsen/Sachsen-Anhalt e.V. Und für diese gute Arbeit werden die Mitarbeiter auch von ihren Kunden honoriert. Die so in den Geschäftsstellen des ADAC eingenommenen Trinkgelder sollen gemeinnützigen Projekten zugutekommen. Insgesamt 1.900 Euro sind dieses Mal zusammengekommen, die die Geschäftsführung jetzt zugunsten von Asphalt gespendet hat. »Wir hoffen, dass wir damit einen kleinen Teil zum Erhalt des Projektes beitragen können«, erklärt Uwe Ilgenfritz-Donné, Geschäftsführer ADAC Niedersachsen/Sachsen-Anhalt e.V.. Wir sagen Danke! GB

Kommen Sie mit – zum sozialen Stadtrundgang! Asphalt zeigt Ihnen wieder das andere Hannover. Ab September können Sie sich von unseren Verkäuferinnen und Verkäufern wieder zu Orten führen lassen, an denen Wohnungslose keine Randgruppe sind. Ein außergewöhnlicher Stadtrundgang – von ExpertInnen der Straße geführt. Die Stadtrundgänge sind vorerst nur für geschlossene Gruppen mit maximal zehn Teilnehmern möglich. Es gelten die vorgeschriebenen Hygiene- und Abstandsregelungen sowie Maskenpflicht für alle Beteiligten. Bitte vereinbaren Sie einen Termin unter 0511 – 301269-20. Teilnahme auf Spendenbasis: ab 30 Euro pro Gruppe.


RUND UM ASPHALT

Verkäuferausweise Bitte kaufen Sie Asphalt nur bei Verkäufer­Innen mit gültigem Ausweis! Zurzeit gültige Ausweisfarbe (Region Hannover): Hellgrün

Foto: U. Matthias

Anzeige

a m n e s t y a f t e r wo r k Schreiben Sie für die Menschenrechte – gegen Verfolgung, Gewalt und Folter

Sein größter Wunsch Die gute Fee, die uns einen lang gehegten Wunsch erfüllt: wer träfe sie nicht gern? Das muss wohl auch Verkäufer Fred gedacht haben – im Juli-Heft unser Asphalt-Cowboy – als er im Interview nach diesem einen Wunsch gefragt wurde. »Ein E-Bike«, erklärte der 64-Jährige spontan, dem die langen Wege zunehmend Mühe bereiten. Nie hätte er gedacht, dass ihm dieser Wunsch so schnell erfüllt werden würde. Stefanie Hoffmann heißt die gute Fee, die das möglich gemacht hat. Zauberei war nicht im Spiel, etwas Zufall jedoch schon. Denn eigentlich wohnt Hoffmann in Stade und hat sich die Asphalt in Hannover bei der Durchreise geholt. »Freds Schicksal hat mich sehr bewegt«, sagt die junge Frau, deren Vater vor Kurzem gestorben ist. Und ein E-Bike hinterlassen hat. »Dass jemand das Rad bekommt, der sich freut und es auch brauchen kann, wäre auch in seinem Sinne gewesen«, ist sich Hoffmann sicher. Zusammen mit ihrer Mutter hat sie nun Freds größten Wunsch wahr gemacht. Mit aufs Foto wollten die beiden Damen jedoch nicht, die Bühne überließen sie dem stolzen neuen Besitzer eines E-Bikes. UM

Gemeinsam für die Menschenrechte Sie können helfen: Wir laden Sie herzlich ein, uns montags zu besuchen. Lassen Sie Ihren Tag mit einer guten Tat bei Kaffee, Tee und Gebäck ausklingen, indem Sie sich mit Faxen, Petitionen oder Briefen gegen Menschenrechtsverletzungen in aller Welt einsetzen. Öffnungszeiten: Montag 18 bis 19 Uhr after work cafe Dienstag 11 bis 12 Uhr, Donnerstag 18.30 bis 19.30 Uhr amnesty Bezirksbüro Hannover Fraunhoferstraße 15 · 30163 Hannover Telefon: 0511 66 72 63 · Fax: 0511 39 29 09 · www.ai-hannover.de Spenden an: IBAN: DE23370205000008090100 · BIC: BFSWDE33XXX Verwendungszweck: 1475

Impressum Herausgeber: Matthias Brodowy, Dr. Margot Käßmann, Rainer Müller-Brandes Gründungsherausgeber: Walter Lampe Geschäftsführung: Georg Rinke Redaktion: Volker Macke (Leitung), Grit Biele, Ute Kahle, Ulrich Matthias, Svea Müller Gestaltung: Maren Tewes Kolumnistin: Karin Powser Freie Autoren in dieser Ausgabe: O. Neumann, S. Przybilla, B. Pütter, W. Stelljes, K. Zempel-Bley Anzeigen: Heike Meyer Verwaltung: Janne Birnstiel (Assistentin der Geschäftsführung), Heike Meyer

Vertrieb & Soziale Arbeit: Thomas Eichler (Leitung), Romana Bienert, Ute Kahle, Kai Niemann Asphalt gemeinnützige Verlags- und Vertriebsgesellschaft mbH Hallerstraße 3 (Hofgebäude) 30161 Hannover Telefon 0511 – 30 12 69-0 Fax 0511 – 30 12 69-15 Vertrieb Göttingen: Telefon 0551 – 531 14 62 Spendenkonto: Evangelische Bank eG IBAN: DE 35 5206 0410 0000 6022 30 BIC: GENODEF1EK1 redaktion@asphalt-magazin.de

vertrieb@asphalt-magazin.de goettingen@asphalt-magazin.de herausgeber@asphalt-magazin.de Online: www.asphalt-magazin.de www.facebook.com/AsphaltMagazin/ www.instagram.com/asphaltmagazin/ Druck: v. Stern’sche Druckerei, Lüneburg Druckauflage: Ø 26.500 Asphalt erscheint monatlich. Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 24. August 2020 Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte, Bilder und Bücher übernehmen wir keine Gewähr. Rücksendung nur, wenn Porto beigelegt wurde.

Adressen werden nur intern verwendet und nicht an Dritte weitergegeben. Unsere vollständige Datenschutzerklärung finden Sie auf www.asphalt-magazin.de/impressum. Alternativ liegt diese zur Ansicht oder Mitnahme in unserer Geschäftsstelle aus. Gesellschafter:

H.I.o.B. e.V. Hannoversche Initiative obdachloser Bürger


Foto: FatCamera/iStock.com

Eigentlich sollte am 27. Juni der VGH-Steelman mit rund 1.800 Teilnehmerinnen und Teilnehmern in die nächste Runde starten. Eigentlich! Corona bedingt musste das Hindernislauf-Event aber ins nächste Jahr verschoben werden. Die Veranstalter wollten die Steelman-Community in diesem Sommer dennoch nicht im Stich lassen und haben sich den Virtual VGH-Steelman 2020 einfallen lassen. Unter dem Motto »Jeder für sich – und trotzdem gemeinsam« konnten sich die Steelman-Teilnehmer beim Überwinden selbst gesuchter oder gebauter Hindernisse oder bei ihren Lieblings-Steelman-Übungen filmen. Die coolsten Videos haben es am Ende in einen Best-of-Clip zum Virtual VGH-Steelman geschafft. Und: »Die fest eingeplanten und nicht benötigten Gelder möchten wir jetzt an Institutionen weitergeben, die uns am Herzen liegen«, verrät Dr. Ulrich Knemeyer, Vorstandsvorsitzender der VGH. Und weil auch Asphalt der VGH am Herzen liegt, durften wir uns über 2.500 Euro auf unserem Spendenkonto freuen. Vielen Dank! GB

28

»Asphalt ist solidarisch« Mehrdad Payandeh, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Niedersachsen »Arme, Kranke, Obdachlose – Asphalt schreibt über Menschen, die unsere Gesellschaft oft aus dem Blick verliert. Dass auch diese Stimmen Gehör bekommen, finde ich wichtig. Manchmal liegen bei uns zuhause sogar mehrere Exemplare einer Ausgabe herum, weil alle Familienmitglieder das Magazin gekauft haben. Ich finde: Das ist dann keine Geldverschwendung, denn so unterstützen wir eine gute Sache!«

on … Wussten Sie sch

gesucht – gefunden Verkäufer Michael: Ich möchte mich ganz herzlich bei allen Kunden und Kundinnen für ihre Treue in dieser nicht einfachen Zeit bedanken. Bleiben Sie gesund! Ihr Verkäufer Michael und Mailo (Lidl/Bäckerei Raute, Wettbergen). [V-Nr. 2309/Hannover] Kontakt: 0176 – 73216780.

ASPHALT 09/20

Foto: DGB Niedersachsen/Iris Klöpper

Steelman-Budget für Asphalt

regelmäßige seine Arbeit ohne … dass Asphalt e finanziert? chliche Zuschüss öffentliche und kir enerlösen sind aufs- und Anzeig Neben den Verk Förderer die rer Freunde und die Spenden unse ierung. nz zur Gesamtfina wichtigste Stütze ende: indung für Ihre Sp Unsere Bankverb Asphalt-Magazin 30 0410 0000 6022 IBAN: DE35 5206 EK1 BIC: GENODEF1 nk Evangelische Ba ck: Perspektiven Verwendungszwe

… mehr als eine gute Zeitung!

29


Foto: Murdo Macleod

»GEFÄHRLICHE ZEITEN«


Mr. Bragg, verstehen Sie nach der Arbeit an ihrem Buch Rechtspopulisten jetzt besser? Dieses Buch zu schreiben war ein bisschen wie ein Album zu erarbeiten. Beim Schreiben kommt man mit seiner Intuition und seinem Thema in Einklang. Ich hatte ganze Stapel von Notizen und Zeitungsartikeln vor mir liegen. Davon ausgehend habe ich versucht, das zu verstehen und zu beschreiben, was gerade passiert: den Brexit, Donald Trump, der wie ein Verrückter twittert etc. Jeden Tag ist etwas Neues passiert, über das ich mir so meine Gedanken gemacht habe. Ich habe bereits Songs über Neoliberalismus und Verantwortlichkeit geschrieben, aber ich wollte jetzt einmal etwas Größeres machen. Dieses Buch hat mich in das Hauptkulturprogramm der BBC katapultiert und eine Debatte losgetreten. Es reicht nicht mehr, nur Songs zu schreiben, wenn ich meine Argumente ausformuliert darstellen möchte.

Hat Ihr aktueller Song »Full English Brexit« nicht auch eine öffentliche Kontroverse ausgelöst? Nein, das nicht. Aber einigen Brexit-Befürwortern hat es gefallen, dass da jemand versucht hat, die Sache einmal aus ihrer Perspektive zu betrachten. Die ersten drei Strophen bestehen nämlich aus Sätzen, die ursprünglich von Brexiteers stammen. Zum Beispiel: »England fühlt sich nicht mehr wie mein Land an«. Diese Empfindung hatte ich selbst in der Thatcher-Ära. Das ist kein schönes Gefühl, weshalb ich gewisse Sympathien für diese Leute habe.

In dem Buch zeigen Sie auf, dass sich Freiheit aus drei Elementen zusammensetzt: Liberalität, Gleichheit, Verantwortlichkeit. Haben Sie das Gefühl, dass Ihre persönliche Freiheit eingeschränkt ist? Nein, das glaube ich nicht. Ich bin in einer glücklichen Lage, und ich habe eine große Plattform. Ich darf auf die Bühne gehen und vor Publikum singen – sogar in anderen Ländern. Das ist ein Privileg. Ironischerweise wurde meine Redefreiheit jetzt eingeschränkt durch das Corona-Virus. Deshalb musste ich meine geplante Lesereise absagen. Aber das ist höhere Gewalt. Nichtsdestotrotz gibt es Leute, die mich quasi zur Rechenschaft ziehen wollen. Sie tun dies auf Twitter oder Facebook.

Was beinhaltet künstlerische Freiheit? Zum Beispiel das Recht, sich selber zum Narren zu machen. Oder sich einen freien Tag zu gönnen, wenn man sich nicht gut fühlt. Oder das Recht, sich selbst zu widersprechen. Die Defi-

nition von Freiheit hat viele Nuancen. Bei einem Thema wie Brexit gibt es aber für viele Leute keine Nuancen, sondern nur schwarz oder weiß. Eine Nuance ist aber die Grenze zu Nordirland, denn sie ist vom Brexit stark betroffen. Darin sieht man, wie entscheidend Nuancen sind.

Populisten haben Erfolg. Heißt das automatisch, dass die Eliten versagt haben? Das hängt davon ab, wie man den Begriff »Populist« definiert. Ist Jeremy Corbyn ein Populist? Die Leute, die gemeinhin Populisten genannt werden, haben eine Sache gemeinsam: Sie lehnen das neoliberale Modell des Kapitalismus ab. Populist ist für mich jemand, der die Idee bezweifelt, dass der Markt eine Antwort auf alles hat. Wenn Donald Trump und Jeremy Corbyn Populisten sind, wo ist die Verbindung zwischen den beiden? Sie haben tatsächlich eine Gemeinsamkeit: Sie stehen beide für Veränderung. Solche Kandidaten sind immer sehr populär. Bernie Sanders gehört dazu. Leider auch die AfD. Wenn der Mainstream sich nicht bewegt, wie soll sich am System dann etwas verändern. Man wählt die CDU, aber die geht dann eine Koalition mit der SPD ein. Wie sollen sich da Ideen jenseits der Norm durchsetzen? Unter Populismus verstehe ich eine Methode, bei der Alternativen zum Neoliberalismus stigmatisiert werden. Zum Beispiel indem man behauptet: »Jeremy Corbyn ist ein Populist. Er ist genau wie Trump.« Nein, das ist er nicht! Er ist genau das Gegenteil. Aber wie Trump steht er für Veränderung.

Kann man auch sagen: die Leute sind dumm und rennen einfach den Populisten hinterher? Ich würde eher sagen, Politiker sind dumm, weil sie glauben, dass sie gewählt werden, damit alles beim Alten bleibt. Wenn der Status quo aber nicht dazu beiträgt, dass der Lebensstandard steigt, dann wollen die Wähler Veränderung.

»Freiheit ohne Verantwortlichkeit ist nicht liberal«, sagt Bragg.

ASPHALT 09/20

Er ist der Ken Loach des Rock, der Widergänger von Woody Guthrie: Billy Bragg. Sein Zorn auf die Verhältnisse drückt er seit 40 Jahren in punkigen Folksongs und Arbeiterliedern aus. Jetzt hat er mit Asphalt über Populismus, Freiheit, Brexit und Greta gesprochen.

30 31


Bieten die Politiker ihnen aber keine Veränderung an, wählen die Leute das Chaos. Wenn man ihnen das Leben versaut, dann stimmen sie für Typen wie Trump oder den Brexit. Ich erkenne darin etwas Rationales, sozusagen eine schreckliche Logik. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich will nicht sagen, dass ich das für eine gute Idee halte. Wer nichts zu verlieren hat und denkt, niemand aus der Regierung höre ihm zu, der gibt der AfD seine Stimme – damit die etablierten Parteien sich genauso fühlen wie die Abgehängten.

Werden es britische Arbeitnehmer nach dem jetzt erfolgten Brexit besser haben? Das bezweifle ich sehr stark. Die Europäische Union ist unser größter Markt. Unsere Nähe zum europäischen Festland ist der Schlüssel zu unserem wirtschaftlichen Erfolg. Die Leute, die den Brexit vorangetrieben haben, sind Ideologen und keine Pragmatiker. Ich befürchte, dass die neue britische Regierung ganz dämliche Dinge tun wird, die unter anderem den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte betreffen. Das Leben wird schwerer werden.

In wessen Interesse übt Boris Johnson seine Macht aus? Er vertritt die Interessen des britischen Establishments. Um seine Ziele zu erreichen, hat er die britische Arbeiterklasse wachgerüttelt, aber er tut in Wahrheit gar nichts für sie. Er will ihr bloß das Gefühl geben, gehört zu werden. Es gibt bei uns immer noch dieses imperiale Gefühl, weshalb wir eine sehr schiefe Vorstellung von dem haben, wer wir sind. Deutschland hat in den letzten 75 Jahren seine Vergangenheit aufgearbeitet. Das britische Empire hat dies nicht getan. Und die US-Amerikaner haben die Sklaverei bis heute nicht bewältigt. Wenn Boris Johnson mit 27 anderen Staatschefs zusammensitzt, um gemeinsam über Kompromisse zu diskutieren, denkt er für sich: »Ich werde gerade von einer fremden Macht schikaniert«. Für Leute wie ihn ist das ein schreckliches Gefühl.

Billy Bragg hat »gewisse Sympathien für die Brexiteers«, ist aber selbst pro Europa. Hier bei einer Anti-Brexit-Kampagne 2019.

Jeder in der Demokratie hat eine Rolle zu spielen. Auch ich. Ich möchte den Menschen eine andere Perspektive aufzeigen. Nämlich, dass die Welt einen Sinn hat. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts hat Musik speziell jungen Menschen dabei geholfen, die Welt besser zu verstehen und einen anderen Blickwinkel als ihre Eltern einzunehmen. Das funktioniert heute noch, auch wenn Musik nicht mehr diese Vorreiterrolle innerhalb der Jugendkultur spielt. Heute nutzen Kids eher das Internet als dass sie sich auf der Gitarre ausdrücken.

Wie sehr nutzen Sie selbst die Sozialen Medien? Viel zu sehr. Nicht, um meine Musik zu promoten, sondern meine Ideen. Die Parlamentswahlen letztes Jahr haben mich an meine Grenzen gebracht. So viel Wut in den Sozialen Medien! Das hat sich wie Schläge angefühlt. Aber man darf deshalb nicht zynisch werden. Genau das wollen Leute wie Rupert Murdoch. Die scheißen auf alles. Da mache ich nicht mit. Ich bin privilegiert, weil ich im Dunkeln auf einer Bühne singen darf und mir die richtigen Leute zuhören. Ich weiß, dass es da draußen sehr viel Solidarität gibt. Das hilft mir, nicht zum Zyniker zu werden.

Wie denken Sie generell über Großbritannien?

Wie reagieren die Rechtspopulisten auf Sie?

Es ist ein tolles Land, aber wir sind keine Weltmacht mehr. Wir müssen lernen, damit klarzukommen.

Sie können mich natürlich nicht leiden. Was ihnen überhaupt nicht gefällt, ist der Umstand, dass ich in einem großen Haus am Meer lebe. Meine Partnerin und ich sind ein Beispiel für hart arbeitende Leute, die ein bisschen Geld verdient haben. Manche setzen aber Sozialismus mit Armut gleich. Die wol-

Haben Künstler die Aufgabe, das Volk zu erziehen?


Sie gehen, wenn coronamäßig alles gut geht, im Oktober mit Ihren klassischen Alben aus den 1980ern auf Tour. Wie aktuell sind Ihre alten Songs? Wenn man wie ich engagierte Lieder schreibt, dann haben diese die erstaunliche Fähigkeit, irgendwann wieder aktuell zu sein. Denken Sie nur an Songs von Woody Guthrie wie »All You Fascists Bound to Lose«. Das Stück hat er in den 1940er Jahren geschrieben – und es ist heute wieder top aktuell. Ich habe vor, in den einzelnen Städten mehrere Tage in Folge zu spielen, um den Prozess des Tourens zu verlangsamen. Ich will von Spiel­ort zu Spielort mit dem Auto fahren und unterwegs in Buchhandlungen über mein Buch sprechen. Ich möchte, dass meine zukünftigen Touren eine möglichst geringe Auswirkung sowohl auf das Klima als auch auf den armen alten Künstler haben. Er ist jetzt 62. Auf einer Tour fünf Tage hintereinander im selben Bett aufzuwachen fühlt sich fast wie Urlaub an. Auf meiner letzten USA-Tour habe ich neun Shows in drei Städten gespielt – und dafür nur zwei Flüge benötigt. Das Schlimmste ist, jeden Tag woanders hin zu fliegen, um dort zu spielen. Das schaffe ich nicht mehr.

Haben Sie das von Greta Thunberg gelernt? Ich versuche, das zu beherzigen, was sie sagt. Sie sagt ja nicht, dass man mit allen alten Gewohnhei-

ten brechen, sondern für sich einen anderen Weg finden soll. Greta hat den Atlantik mit einem Katamaran überquert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das schaffe. (lacht) Ich versuche aber, verantwortungsvoll zu handeln. Wenn ich in England auf Tour gehe, sind wir immer zu fünft: ein Tourmanager, ein Soundtechniker, ein T-Shirt-Verkäufer, ein Roadie und ich. Aber nach Amerika fliege ich ganz allein. Mein dortiger Tourmanager ist auch Soundmann. Ich versuche, die Live-Arbeit an die Realität des Klimawandels anzupassen. Das Paradoxe ist: Wegen meines CO2-Fußabdrucks fliege ich nicht nach Australien. Es braucht aber nur einen einzigen Australier, der nach England fliegt, um mich dort live zu sehen – und schon ist mein Verhalten sinnlos. Die größten CO2-Fußabdrücke im Rock’n’Roll verursachen Fans, die ihren Lieblingskünstlern hinterherreisen. Deswegen muss ich paradoxerweise an noch mehr Orten auftreten, um mein Publikum vom Fliegen abzuhalten. Ich versuche das bei meinen Tourplanungen zu berücksichtigen.

Wenn Bob Dylan auf Tour ist, blickt er jeden Abend in dieselben Gesichter. Wie irritierend das sein muss!

Wofür geben Sie Ihr Geld aus? Das teuerste, was ich mir in letzter Zeit gekauft habe, ist ein Hybrid-Auto mit Allradantrieb. Es hat mich 25 Riesen gekostet und reicht für lange Zeit. Für Festivalauftritte brauche ich einen Geländewagen, in dem ich einen Verstärker und zwei Gitarren verstauen kann. Der größte Luxus, den ich mir leiste, sind aber meine Alben. Ich bin gerade dabei, das nächste vorzubereiten. Das Buch war eine gute Methode, mich leer zu machen, um mit etwas Neuem anfangen zu können. Letztes Jahr habe ich ein Buch geschrieben, dieses Jahr gehe ich auf Tour und nächstes Jahr mache ich eine neue Platte. Und dann fängt das Ganze wieder von vorn an. Interview: Olaf Neumann

Anzeige

ASPHALT 09/20

len mich mundtot machen, indem sie mich zu diskreditieren versuchen. Zum Beispiel posten sie auf Twitter einfach ein Foto meines Hauses, wenn ich mich dort mit jemandem konstruktiv streite. Viele Diskurse werden heutzutage auf diese Weise diskreditiert. Dagegen muss man sich wehren. Ich versuche, »Bieten die Politiker mich immer auf das Thema keine Veränderung zu konzentrieren, wenn ich mich streite. Ich vermeide an, wählen die persönliche Kommentare Leute das Chaos.« und verhalte mich lieber respektvoll. Manchmal ist die Versuchung groß, etwas Abfälliges zu sagen, aber damit würde ich nur Öl ins Feuer gießen. Man kann ja auch gehen – oder am Ende etwas dazulernen. Das passiert aber nicht oft. Auf Twitter folge ich jungen Aktivisten, die einen ganz anderen politischen Ansatz haben als ich. Dadurch gewinne ich an Insiderwissen. Ich folge Feministinnen und Transgender-Leuten.

32 33


BUCHTIPPS Herberge für alle Gregor Gog war Anarchist, Bürgerschreck, Chefredakteur des Vorläufers aller Straßenzeitungen und Organisator des »Ersten internationalen Vagabundenkongresses« 1929 – eine Reminiszenz an letzteren findet in diesem Monat in Berlin statt. Anfang dieses Jahres ist ein aufwendig gestalteter Band erschienen, der »Texte, Bilder und Dokumente einer Alternativkultur der Zwanziger Jahre« – der Vagabundenbewegung um Gregor Gog und den Dortmunder Maler Hans Tombrock, um Jo Mihàly, Artur Streiter und Rudolf Geist versammelt. Herausgegeben haben ihn Hanneliese Palm, die ehemalige Leiterin des Dortmunder Fritz-Hüser-Instituts, das auch die Nachlässe Gogs und Tombrocks sowie unzählige Materialien der Vagabundenbewegung bewahrt und Christoph Steker, Programmleiter im C. W. Leske Verlag. Der Band ist gleichzeitig Einführung, Quellensammlung und »Bilderbuch« einer eigensinnigen Bewegung zwischen Kunst, Lebensreform und Revolte: »Wo der Bürger aufhört, beginnt das Paradies.« BP Hanneliese Palm, Christoph Steker (Hg.) | Künstler, Kunden, Vagabunden. Texte, Bilder und Dokumente einer Alternativkultur der zwanziger Jahre | C.W. Leske | 240 S. | 28 Euro

Nichts gelernt?

Anzeige

Wohnglück + 13.8OO Wohnungen + Durchschnittskaltmiete von 5,76€ pro m2 + über 7O% geförderter Wohnraum + nachhaltige Entwicklung der Stadt + ein Herz für unsere Mieterinnen & Mieter

hanova.de

Der spezifische Rassismus gegenüber Sinti und Roma ist ein historisch erstaunlich stabiles Konstrukt von Stereotypen. Wie jede Form von Rassismus kommt er gut ohne sein Objekt aus: Man muss »die« nicht kennen, um zu wissen, wie »die« sind. Die EU-Neuzuwanderung vor allem aus Rumänien und Bulgarien hat die uralten Vorurteilsstrukturen aktualisiert. Das Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung, das unter anderem intensiv zur sogenannten Armutsmigration und ihrer medialen Bearbeitung forscht, nähert sich interdisziplinär und mit Texten aus Theorie und Praxis der »Konstruktion und Kontinui­ tät des Antiziganismus«. »Nichts gelernt?!« bietet ein Kaleidoskop von Zugriffs­ebenen: Vom Praxisfeld sozialer und Bildungsarbeit mit EU-NeubürgerInnen über aktivistische Positionen, medien- und diskursanalytische Texte bis zu Theorietexten wie der Agamben-Kritik des Herausgebers oder einer Nutzbarmachung von Adorno/Horkheimer für eine kritische Theorie des Antiziganismus durch Markus End. Der liebevoll gestaltete Band ist ein spannender Blick auf die Facetten eines so wirkmächtigen wie verdrängten Ressentiments. BP Katharina Peters, Stefan Vennmann (Hg.) | Nichts gelernt?! Konstruktion und Kontinuität des Antiziganismus | Situationspresse | 211 S. | 18 Euro


ASPHALT 09/20

KULTURTIPPS Für Kinder Foto: Clemens Heidrich

34 Im Land der Drachen und Elfen Es ist Abend. Damit Tim einschlafen kann, liest ihm sein Vater die Geschichte vom »Land der Drachen und Elfen« vor. Im Traum vermischt sich ein Tageserlebnis, bei dem Tim Angst vor einem großen Jungen hatte, mit den Bildern aus dem Buch. Tim findet sich in einer phantastischen Welt wieder: Ein Zwerg fordert ihn auf, ein kleines Wurzelkind aus den Fängen eines Drachen zu befreien. Tim ist zunächst sehr ängstlich. Doch schon bald lernt er, dass scheinbar unmögliche Dinge möglich sind, und dass es nicht auf körperliche Kraft ankommt, denn nur ein mutiges Menschenkind mit Herz kann diese Aufgabe lösen. Die Fantasy-Geschichte mit Musik ist für Kinder ab vier Jahren geeignet. Dienstag, 15. September, und Mittwoch, 16. September, jeweils ab 09.30 Uhr, Theatrio – Figurentheaterhaus, Großer Kolonnenweg 5, Hannover, Eintritt 8 Euro.

Teufels Küche Wenn der Teufel kocht, geht es ans Eingemachte. Keiner weiß, was auf den Tisch kommt. Die Zutaten sind eine Klarinette, ein Cello und viel Schlagwerk. Es wird gesungen, aber auch geschrubbt, geschabt und natürlich gelacht. Denn der Teufel versteht durchaus Spaß. Als Küchenchef passt er auf, dass nichts daneben geht. Aber auf der Bühne verliert selbst der Teufel mal die Kontrolle. Spätestens wenn sich die Instrumente selbständig machen. Aus jedem Topf kommt ein Geräusch, aus jeder Berührung kann ein Klang entstehen – am Ende haben alle zusammen eine Suppe gekocht. Mit viel Gemüse aber auch mit Schwung und Fantasie hat Moritz Eggert ein Musiktheater für ein junges Publikum ab fünf Jahren zubereitet. Sonntag, 27. September, 11 und 15 Uhr, Ballhof Zwei, Ballhofplatz, Hannover, Eintritt 20 Euro.

Vortrag Das Geld der Dichter Wie waren die finanziellen Verhältnisse der Weimarer Dichter und was bedeuten die Angaben zur Währung in ihren Werken? Was konnten sie sich leisten für welches Geld? Diesen und weiteren Fragen geht der Frankfurter Numismatiker Dr. Frank Berger in seinem kurzweiligen Vortrag nach. Mittwoch, 09. September, 18.30 bis 20 Uhr, Museum August Kestner, Trammplatz 3, Hannover, Anmeldung telefonisch unter 0511 – 168-42120 oder online unter museum-kulturgeschichte@hannover-stadt.de, Einritt 5 Euro, erm. 4 Euro.

35


Foto: Zuzanna Jagodzinska-Specjal

Musik Bach und kurdische Tänze »Nouruz« heißt das wichtigste Fest in Kurdistan. Es steht für Neubeginn, Hoffnung und Freude und findet jährlich am 21. März statt, dem Geburtstag von Johann Sebastian Bach. »Nouruz« ist in diesem Jahr auch der Titel der aktuellen Produktion von Danya Segal. In ihr lassen das Barockensemble Musica Alta Ripa, die kurdischen Künstler Mevan Younes und Hogir Göregen barocke und orientalische Klänge verschmelzen und interpretieren gemeinsam Tänze der Bach-Suiten mit Musik und Tänzen aus Kurdistan neu. Eine Komposition von Mevan Younes für Barock­ ensemble, Buzuq und Solo-Perkussion wird eigens für Nouruz komponiert. Sonntag, 06. September, ab 19.30 Uhr, Kurt-Hirschfeld-Forum, Burgdorfer Straße 16, Lehrte, Tickets gibt es bei den bekannten VVK-Stellen sowie unter www.reservix.de, Eintritt ab 15 Euro.

Von Elektronisch bis Klassisch

Ice & Fire Die Feinheiten der Musik unserer Zeit live erleben. Vor Ort, atmosphärisch, haptisch, nicht virtuell. Dazu lädt musica assoluta mit ihrer Konzertreihe »Inside 360° – Zeit zum Hören« ein. Die besondere Atmosphäre und akustische Abgeschirmtheit im Tonstudio bildet hierfür den idealen Rahmen. Durch Stille zu Beginn des Konzertes und Abgeben der Smartphones begeben sich alle Anwesenden in einen akustischen Raum, der Grenzen überwindet und die Verbindung von Musik, Musikern und Zuhörern ermöglicht. Unter anderem zu hören und zu sehen Thor­ sten Encke mit »Black Ice« für Violoncello & Tape sowie eine feurige Installation. Montag, 14. September, 18 Uhr, Tonstudio Tessmar, Reinhold-Schleese-Straße 24, Hannover, weitere Informationen gibt es unter www.musica-assoluta.de, Eintritt 25 Euro, erm. 20 Euro, Schüler und Studenten 10 Euro.

Bekannt als Bratschist und als Arrangeur für britische Größen wie Blur, Bat for Lashes oder Peter Gabriel, ist der in Neuseeland geborene und in England lebende John Metcalfe einer der diversesten Musiker seiner Zeit. Seine musikalischen Kooperationen sind dabei so unzählig, wie vielfältig – ob er mit U2, The Heritage Orchestra, Coldplay oder dem Max Richter Ensemble Bühne oder Studio teilte, immer produziert und tourte er auch mit seiner eigenen Band. In Hannover gibt er Stücke seiner letzten Alben zum Besten: unter anderem kraftvolle rhythmische Streicher, schimmernde Elektronik und Gitarrenläufe sowie transzendentale Klaviermusik, untermauert von Beats, die von Trip Hop bis zu Drum’n’Bass reichen. Vorab gibt es ab 19 Uhr ein Warm Up mit KayLe Fay. Mittwoch, 30. September, ab 21 Uhr, Spiegelzelt zwischen Ehrenhof und Orangerie, Herrenhäuser Straße 3, Hannover, Eintritt frei.


Ausflug

Die Frequenz des Todes

Zu Fuß ins Tote Moor

»Hilfe, mein Baby ist weg! Hier ist nur Blut …« Nach kurzen Kampfgeräuschen bricht der panische Notruf einer Mutter bei der Berliner Polizei plötzlich ab. Wenn jemand aus diesem Tonfragment Rückschlüsse auf den Aufenthaltsort der Frau ziehen kann, dann der forensische Phonetiker Matthias Hegel – den einige nach wie vor für einen Mörder halten. True-Crime-Podcasterin Julia Ansorge ist es zwar gelungen, Hegel vom Mordverdacht an seiner Frau zu entlasten, doch ist sie dabei der dunklen Seite des Profilers deutlich zu nahe gekommen. Als dieser nun erneut auf ihre Recherche-Fähigkeiten zurückgreifen will, lehnt Julia zunächst ab. Doch kann sie das Baby und die Mutter wirklich ihrem Schicksal überlassen? Bestseller-Autor Vincent Kliesch verrät, wie es in »Die Frequenz des Todes«, der Fortsetzung zu seinem Thriller »Auris«, weitergeht. Freitag, 11. September, ab 19.30 Uhr, Leuenhagen & Paris, Lister Meile 39, Hannover, Eintritt 9 Euro.

Es ist weitaus mehr, als ein mystischer Ort, um den sich zahlreiche gespenstische Geschichten ranken. Es ist ein wichtiger Wasserspeicher und es bindet klimaschädliches Kohlenstoffdioxid – das Moor. Hier leben zahlreiche seltene Tier- und Pflanzenarten wie beispielsweise der Moorfrosch oder die fleischfressende Pflanze Sonnentau. Auf der geführten Exkursion erfahren die Teilnehmenden Wissenswertes über die Renaturierung der Moore und die einzigartige Flora und Fauna dieser faszinierenden Landschaft. Jeden Freitag, 10 bis 12 Uhr, Parkplatz 11/Alte Moorhütte, Neustadt-Mardorf, Anmeldung unter 0511 – 616-26123, Teilnahme Erwachsene 3 Euro, Kinder 1,50 Euro.

Sonstiges

Ob chinesisch oder indisch, amerikanisch oder deutsch. Beim Street Food Festival bereiten Köche aus vielen verschiedenen Nationen hunderte exotische Gerichte aus aller Welt. Kleine und große Burger, Kochbananen mit Bohnen, Pulled Pork, Bratcurry oder auch vegetarisches Essen – mehr als 100 Stände und Food Trucks bieten Köstlichkeiten für jeden Geschmack zum Probieren. Dazu sorgen Live- und DJ-Musik für die nötige Event-Atmosphäre, und großzügige Sitzmöglichkeiten für entspannten Genuss. Für die ganz kleinen Foodies gibt es ein großes Kinderland mit Wasserbällen, Bungee Trampolin, Kinderschminken und den vielfältigsten Eisvariationen. Freitag, 11. September, und Samstag, 12. September, jeweils 11 bis 22 Uhr, Sonntag, 13. September, 11 bis 20 Uhr, Schützenplatz Hannover, Bruchmeisterallee 1A, Hannover, Eintritt 3 Euro, Kinder unter 14 Jahre Eintritt frei.

Foto: Doreen Juffa

Foodtrucks und Street Food

ASPHALT 09/20

Lesung

36 37


SILBENRÄTSEL Aus den nachfolgenden Silben sind 17 Wörter zu bilden, deren erste und vierte Buchstaben (Achtung: ch = 1 Buchstabe!) – jeweils von oben nach unten gelesen – ein Zitat von Shakespeare ergeben: ägyp – ama – an – be – de – de – de – dung – ent – er – fahrt – gä – irr – kret – kun – leg – lus – mann – me – na – nor – not – oel – peln – re – re – rüm – schaft – schrift – se – see – sel – stand – tan – te – ten – ter – tig – un – us – wech – welt – wo

1. germanischer Gott

2. Maschinenwartung

3. eine der Erynnien

4. Adresse

5. kritische Situation

6. fröhlich

7. orientierungslose Reise Unter den Einsendern der richtigen Lösung verlosen wir viermal den Roman »Das außergewöhnliche Leben eines Dienstmädchens namens PETITE, besser bekannt als Madame Tussaud« von Edward Carey. Erzählt wird die Geschichte der Frau, die als Madame Tussaud zu Weltruhm gelangte: Eine kleine Madame Courage zwischen Philosophen und Häftlingen, Helden und Schurken, die sie allesamt in Wachs zu fassen vermochte. Ebenfalls viermal verlosen wir das Hörbuch »Complicius Complicissimus« von Andreas H. Drescher. Der legendäre Hochstapler Ignaz Trebitsch meldet sich aus dem buddhistischen Jenseits und legt seine »Lebensbeichte« ab: 1879 als Reederssohn geboren, versuchte sich Trebitsch unter anderem als Missionar, Abgeordneter im britischen Unterhaus, Doppelagent für Großbritannien und Deutschland im Ersten Weltkrieg und Journalist. Das wunderbar illustrierte Buch »Gute Karten« von Tin Fischer gibt es dreimal zu gewinnen. In 100 faszinierenden Karten wird Deutschland in all seinen Facetten gezeigt: Wer sind wir? Woran glauben wir? Und was macht dieses Land besonders? Wo liegen beispielsweise Deutschlands einsamste Inseln oder wie lang ist man in Brandenburg bis zur nächsten Apotheke unterwegs. Ein Buch voller verblüffender Erkenntnisse. Die Lösung des August-Rätsels lautet: Der Wechsel allein ist die Beständigkeit. Das Silbenrätsel schrieb für Sie Ursula Gensch. Die Lösung (ggf. mit Angabe Ihres Wunschgewinnes) bitte an: Asphalt-Magazin, Hallerstraße 3 (Hofgebäude), 30161 Hannover; Fax: 0511 – 30 12 69-15. E-Mail: gewinne@asphalt-magazin.de. Einsendeschluss: 30. September 2020. Bitte vergessen Sie Ihre Absenderadresse nicht! Viel Glück!

8. gründlich aufräumen

9. Betriebsangehörige

10. Nachforschung

11. ein Vorname von Mozart

12. bei den Griechen Hades

13. ein Musikstück

14. z. B. ein Matrose

15. afrikanischer Staat

16. männliche Gesangstimme

17. ein Erlass


Foto: Tomas Rodriguez

n f u a t n Mome

Mir wurde vor kurzem sehr nachdrücklich ein Buch empfohlen. Ich hatte von diesem Buch schon gehört, es stand auf der Bestsellerliste und sei angeblich »der Roman zur aktuellen Krise«. Normalerweise bin ich in diesem Moment raus. Ich bin bei Bestsellern offen gestanden eher kritisch, überdies mag ich keine Krisengewinnler, erst recht mag ich keine literarischen Schnellschüsse, um den Moment der Stunde auszunutzen. »Der Wal und das Ende der Welt« allerdings erschien im englischen Original bereits im Jahre 2015. Wie auch immer. Ich habe es gelesen, nein, verschlungen und war sehr angetan von der Geschichte und der Idee dahinter, mal abgesehen von den ausgesprochen kitschig-süßlichen und zu reibungslos verlaufenden letzten 100 Seiten. Worum geht es (ohne allzu viel zu verraten): Eine Grippewelle überrollt die Welt. Das gesamte System steht vor dem Kollaps: Nahrungsmittel werden knapp, es gibt kein Benzin mehr, Strom fällt aus und aus dem Wasserhahn kommt nichts mehr raus. Ein spannendes Gedankenspiel. Energie ist für uns selbstverständlich. Wo wären wir, wenn nur ein paar Tage der Strom ausfiele? Kühlschrank, Gefriertruhe, Licht und nicht zuletzt Computer und Smartphone … Nichts geht mehr. Was, wenn das Mobilfunk- und Festnetz plötzlich ausfielen? Es an den Tankstellen kein Benzin mehr gäbe? Wir haben uns sehr daran gewöhnt, dass das alles absolut selbstverständlich ist. Aber ist es das? Und was, wenn es plötzlich keinen Lebensmittelnachschub im Supermarkt mehr gäbe und kein Trinkwasser mehr aus dem Hahn flösse? Wir haben in diesem Frühjahr schon erleben dürfen, wie ignorant und selbstsüchtig sich manche Leute ihren Hamsterkäufen hingegeben haben. Solidarität und Rücksichtnahme blieben da bereits gehörig auf der Strecke. Was, wenn alles viel schlimmer gekommen wäre? Vielleicht ist es Zeit, all unsere Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen. Vielleicht ist es Zeit, auch einmal dankbar zu sein, dass wir auf Knopfdruck Licht im Haus haben, das Wasser nicht aus einem Brunnen holen müssen, das Klo nicht im Hinterhof steht. Aber vielleicht fällt es schwer, dankbar zu sein, wenn man es nie anders kennengelernt hat. Vielleicht ist das der Grund, warum unsere Probleme manchmal so kleinlich wirken angesichts der Probleme, die es auf dieser Welt gibt. Zum Beispiel dort, wo Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Wie selten denken wir über dieses Lebenselixier nach. Wir bestehen selber zu mehr als zwei Drittel aus Wasser. Das beruhigt mich immer, wenn ich morgens auf die Waage gehe. Um mir anschließend einen schönen Kaffee per Handfilter aufzubrühen. Wär nix ohne Wasser. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber mich begeistern auf Gebirgswanderungen diese kleinen Bächlein, die da so unscheinbar herunterfließen, um sich zu sammeln und uns letztlich am Leben zu halten. Das Unscheinbare ist manchmal so mächtig. Und wir beachten es kaum. Matthias Brodowy/Kabarettist und Asphalt-Mitherausgeber

ASPHALT 09/20

s y w o Brod ahme

38 39


Das Fahrgastfernsehen. · Goethestraße 13 A · 30169 Hannover · (0511) 366 99 99 · redaktion@fahrgastfernsehen.de


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.