Matterhorn

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Edward Whymper

M AT T E R H O R N Der lange Weg auf den Gipfel

Vorwort von Simon Anthamatten


Edward Whymper im Juni 1865, wenige Wochen vor der Erstbesteigung des Matterhorns.


Edward Whymper

M AT T E R HOR N Der lange Weg auf den Gipfel

Vorwort von Simon Anthamatten Epilog von Sylvain Jouty

AS Verlag


Der vorliegende Band folgt der auf Deutsch erstmals 1872, im Jahr 1909 in der 3. Auflage bei George Westermann in Braunschweig erschienenen Ausgabe «Edward Whympers Berg- und Gletscherfahrten in den Alpen in den Jahren 1860 bis 1869», die von Friedrich Steger ins Deutsche übertragen wurde. Er ist mit den originalen Holzstichen von Edward Whymper illustriert. Der Text Whympers wurde weitgehend im Original belassen; lediglich die Rechtschreibung wurde behutsam den heute gültigen Regeln angepasst, ebenso an einigen wenigen Stellen die Wortwahl. Bei den topografischen Angaben wurden die heutigen Schreibweisen und – wo vorhanden – auch die betreffenden Höhenangaben gewählt. Alle sonstigen Höhen- und Entfernungsangaben im Text wurden in die im deutschsprachigen Raum üblichen Maße umgerechnet.

«Mühe und Genuss, die ihrer Natur nach einander entgegengesetzt sind, stehen gleichwohl in einer Art von notwendiger Verbindung.» Livius

www.as-verlag.ch 3. Auflage 2014 AS Verlag & Buchkonzept AG, Zürich 2005 Gestaltung und Herstellung: AS Verlag, Urs Bolz, Zürich Lektorat: Karin Steinbach Tarnutzer, Zürich Übersetzung der Einführung: Brigitte Hanemann, Hohenschäftlarn Druck und Einband: Kösel GmbH & Co. KG, Altusried-Krugzell ISBN 978-3-909111-14-9


Inhalt

6 Vorwort Simon Anthamatten 9 Mein erster Versuch mit dem Matterhorn 29 Neue Versuche am Matterhorn 73 Das Val Tournanche, das Breuiljoch, Zermatt, Ersteigung des Grand Tournalin 113 Mein sechster Versuch der Ersteigung des Matterhorns 127 Der Momingpass und Zermatt 141 Die Ersteigung des Grand Cornier 155 Ersteigung der Dent Blanche 167 Der Col d’Hérens und der siebte Angriff auf das Matterhorn 187 Ersteigung der Ruinette – das Matterhorn 205 Die Ersteigung des Matterhorns 219 Abstieg vom Matterhorn 237 Anhang 238 Spätere Geschichte des Matterhorns 250 Die Geologie des Matterhorns F. Giordano 256 Edward Whymper – ein Genius des Alpinismus Sylvain Jouty



K A P I T E L

MEIN

ERSTER DEM

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VERSUCH MIT M AT T E R H O R N


«Es muss einer ungeheuren Kraft bedurft haben, die fehlenden Teile dieser Pyramide zu zerstreuen und wegzukehren. Wir sehen hier nämlich keine Trümmerhaufen, sondern bloß andere Gipfel, die ebenfalls fest im Boden wurzeln und deren ebenso zerrissene Seiten auf eine ungeheure Masse von Geröll schließen lassen, von dem man gleichwohl in der Nähe keine Spuren wahrnimmt. Ohne Zweifel ist dies das Geröll, welches in der Form von Steinen, Blöcken und Sand unsere Täler und Ebenen füllt.»

S

o spricht Saussure von einem der beiden Berggipfel der Alpen, die noch jungfräulich geblieben waren. Den einen hatten die

besten Bergsteiger unzählige Male ohne Erfolg angegriffen, der ande-

re, dem die Überlieferung Unersteiglichkeit zuschrieb, war noch so gut wie unberührt. Diese Berge waren das Weißhorn und das Matterhorn. Nachdem ich den großen Alpentunnel 1861 besucht hatte, wanderte ich zehn Tage in den benachbarten Tälern umher und dachte lebhaft an einen Versuch, jene beiden Gipfel zu besteigen. Vom Weißhorn sagten Gerüchte, dass es besiegt worden sei, und vom Matterhorn hörte ich, dass es binnen kurzem angegriffen werden sollte. Beides wurde mir bestätigt, als ich in Châtillon am Eingang des Val Tournanche ankam. Mein Interesse am Weißhorn nahm ab, doch wurde ich ganz Ohr, als ich hörte, dass Professor Tyndall in Breuil sei und seinen ersten Sieg durch einen zweiten krönen wolle. Bis dahin hatte ich mit Führern keine günstigen Erfahrungen gemacht und hielt nicht viel von ihnen. Sie waren für mich Wegweiser und große Verzehrer von Fleisch und Branntwein, aber nicht viel mehr. Nach meinen Erfahrungen vom Mont Pelvoux würde ich die Gesellschaft eines Paars meiner Landsleute jeder beliebigen Zahl von Führern vorgezogen haben. Als ich in Châtillon Erkundigungen ein-

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zog, eilte eine Reihe von Männern herbei, deren Gesichter Bosheit, Hochmut, Neid, Hass und Schlechtigkeiten jeder Art aussprachen, denen aber alle guten Eigenschaften zu fehlen schienen. Die Ankunft von zwei Herren mit einem Führer, den jene als ein Muster jeder Tugend und als den rechten Mann für das Matterhorn schilderten, machte es mir unnötig, einen der anderen anzunehmen. Mein neuer Führer war körperlich ein Anakssohn, und wenn mir seine Anwerbung auch nicht verschaffte, was ich brauchte, so verschaffte sie seinen früheren Herren, was sie brauchten, denn ich erhielt ohne mein Wissen die Verpflichtung aufgebürdet, für seine Beköstigung auf dem Rückweg zu sorgen, wodurch sie Geld sparten. Als wir durch Breuil gingen, fragten wir nach dem besten Mann, den es gäbe, und einstimmig wurde Johann Anton Carrel aus dem Dorfe des Val Tournanche als solcher bezeichnet. Natürlich suchten wir Carrel auf und fanden in ihm einen wohl gebildeten Burschen, dessen herausfordernde Mienen etwas Einnehmendes hatten. Ja, er wollte mitgehen. 20 Franken täglich, wie auch das Resultat sein möge, war seine Forderung. Ich willigte ein. Aber auch seinen Freund müsse ich mitnehmen. «Weshalb?» Weil es unbedingt unmöglich sei, ohne einen zweiten Führer etwas auszurichten. Als er das sagte, trat ein hässlicher Kerl aus dem Dunkel hervor und bezeichnete sich als den Freund. Ich lehnte ihn ab, die Verhandlungen wurden abgebrochen, und wir gingen nach Breuil. Von diesem Ort, der in den folgenden Kapiteln häufig genannt werden wird, hat man eine freie Aussicht auf den merkwürdigen Berg, dessen Ersteigung ich unternehmen wollte. Nachdem so viel über das Matterhorn geschrieben worden ist, brauche ich keine ausführliche Schilderung des Berges mehr zu geben. Meine Leser werden wissen, dass er beinahe 4500 Meter hoch ist und in Reihen von Felswänden, die ziemlich senkrecht sind, volle 1500 Meter über die Gletscher aufsteigt, welche seinen Fuß umgeben. Sie werden ferner wissen, dass er die letzte große Alpenspitze

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war, die noch niemand erstiegen hatte. Sowohl die Schwierigkeit des Unternehmens hatte davon abgehalten als auch der Schreck, den seine steilen Wände einflößten. Es schien eine Schranke um ihn gezogen zu sein, bis zu der man gehen konnte, aber weiter nicht. Jenseits hausten Zwerge und Kobolde, der ewige Jude und die Geister der Verdammten. Die abergläubischen Bewohner der nahe liegenden Täler, von denen viele das Matterhorn für den höchsten Berg in den Alpen, ja in der Welt hielten, sprachen von einer in Trümmern liegenden Stadt auf dem Gipfel, die von Geistern bewohnt werde. Lachte man, so schüttelten sie ernst mit dem Kopf, zeigten auf die Türme und Mauern, die man ja mit Augen sehe, und warnten vor der Besteigung, weil die wütenden Teufel von ihren uneinnehmbaren Höhen Felsen auf den Frevler schleudern würden. So lauteten die abergläubischen Erklärungen der Einwohner. Stärkere Geister empfanden den Einfluss der wunderbaren Bergform, und Leute, die sonst ganz vernünftig sprechen und schreiben, begannen zu phantasieren und Unsinn zu schwatzen, wenn sie auf das Matterhorn zu reden kamen. Selbst der nüchterne Saussure geriet in Begeisterung, als er den Berg sah, und schrieb, den modernen Geologen voraneilend, die merkwürdigen Worte, die an der Spitze dieses Kapitels stehen. Das Matterhorn bleibt immer gleich imposant, von welcher Seite man es auch sieht. Gewöhnlich sieht es niemals aus, und in dieser Beziehung, wie auch hinsichtlich des Eindrucks, den es auf den Beschauer macht, steht es unter den Bergen fast allein da. Es hat in den Alpen keinen und in der Welt wenige Nebenbuhler. Die 2000 bis 2500 Meter, welche die eigentliche Spitze bilden, haben verschiedene stark hervortretende und zahlreiche andere Grate; der ununterbrochenste derselben ist derjenige, welcher gegen Nordosten läuft. An einem seiner Endpunkte liegt sein höchster Gipfel und an dem anderen eine kleine Spitze, das Hörnli genannt. Ein zweiter leicht erkennbarer Grat läuft von dem Berggipfel bis zu dem Rücken herab, welcher der Furggengrat heißt. Der Abhang des Mat-

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Das Matterhorn, aus der N채he des Theodulpasses gesehen.


terhorns zwischen diesen beiden Graten wird immer als östliche Seite bezeichnet werden. Ein dritter Grat, der nicht so ununterbrochen fortläuft wie die anderen, geht in südwestlicher Richtung nieder, und der Teil des Berges, den man von Breuil aus sieht, liegt zwischen diesem und dem zweiten Rücken. Dieser Abschnitt besteht nicht, wie der zwischen dem ersten und dem zweiten Grat, aus einer großen Oberfläche und ist vielmehr von Schründen unterbrochen, mit Schneefeldern besät und von steilen Felsenreihen durchzogen. Die andere Hälfte des Berges, die dem Zmuttgletscher gegenüberliegt, lässt sich nicht so einfach beschreiben. Hier gibt es unbedingt senkrechte, ja überhängende Felswände, Gletscher und hängende Eisfelder, dann wieder Gletscher, von denen große Stücke über hohe Felsen herunterstürzen, um in ihren Trümmern zu neuen Gletschern zu werden. Da gibt es Grate, vom Frost zersplittert und von Regen und geschmolzenem Schnee zu Türmen und Turmspitzen ausgewaschen, während man überall und immerfort Töne hört, welche sagen, dass die Kräfte noch immer in Wirksamkeit sind, welche hier seit Anfang der Welt gearbeitet haben und nicht eher aufhören werden, als bis sie die ungeheure Bergmasse in Atome verwandelt haben. Die meisten Reisenden werfen vom Tal von Zermatt oder vom Tal von Tournanche den ersten Blick auf das Matterhorn. Von dem ersteren Punkt aus gesehen, nimmt sich der Fuß des Berges am schmalsten aus, und seine Grate und Wände scheinen ungeheuer steil zu sein. Der Reisende steigt im Tal empor und sieht sich häufig nach der großen Aussicht um, die ihn für seine Anstrengungen belohnen soll, ohne sie zu bekommen, denn der Berg wird in dieser Richtung erst eine halbe Stunde nördlich von Zermatt sichtbar. Plötzlich biegt er um eine Felsenecke, und da ist das Matterhorn, aber nicht da, wo er es erwartete, denn er muss das Gesicht in die Höhe richten, um es zu sehen, da es über seinem Kopf zu schweben scheint. So ist der Eindruck, aber in der Tat bildet die Spitze des Matterhorns auf die-

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Das Matterhorn von Nordosten (oben) und vom Theodulpass aus gesehen (unten).

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sem Punkt mit dem Auge einen Winkel von weniger als 16 Grad, während der Dom auf demselben Punkt einen größeren Winkel bildet, aber unbeachtet bleibt. So wenig darf man dem Auge ohne Hilfe vertrauen. Von Breuil und Val Tournanche hat man eine ebenso schöne Aussicht auf das Matterhorn, doch macht dasselbe hier weniger Eindruck, weil der Beschauer an den Anblick gewöhnt wird, wenn er das Tal hinauf- oder hinabgeht. Von hier gesehen, scheint der Berg aus einer Reihenfolge keilförmiger Pyramiden zu bestehen, während auf der anderen Seite seine breiten und ununterbrochenen Felswände und seine einfachen Umrisse Staunen erregen. Natürlich muss man annehmen, dass sich auf dieser zerklüfteten Seite leichter ein Weg zum Gipfel findet als in irgendeiner anderen Richtung. Die Ostseite, Zermatt gegenüber, scheint vom Fuß bis zur Spitze eine glatte Felswand zu sein, und die entsetzlichen Felsen dem Zmuttgletscher gegenüber untersagen in dieser Richtung jeden Versuch. So blieb bloß die Seite des Val Tournanche, und wie sich zeigen wird, wurden die ersten Besteigungsversuche fast alle von dieser Seite gemacht. Die ersten Menschen, von denen man weiß, dass sie sich an das Matterhorn wagten, waren Führer oder vielmehr Jäger des Val Tournanche. Diese Versuche fanden 1858 und im folgenden Jahr in der Richtung von Breuil statt, und der fernste erreichte Punkt lag etwa ebenso hoch (3850 m) wie der Platz, der gegenwärtig der Schornstein heißt. Bei diesen Unternehmungen beteiligten sich Johann Anton Carrel, Johann Jakob Carrel, Victor Carrel, Abbé Gorret und Gabriel Maquignaz. Weitere Nachrichten habe ich nicht einziehen können. Der nächste Versuch war ein merkwürdiger, und auch von ihm existiert kein öffentlicher Bericht. Er wurde im Juli 1860 von den Herren Alfred, Karl und Sandbach Parker aus Liverpool gemacht. Ohne Führer versuchten die drei Engländer die Festung von der Ostseite zu erstürmen, die wie eine glatte Felswand aussieht. Wie Sandbach Parker mir erzählte, folgten er und seine Brüder dem Grat zwischen

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dem Hörnli und der Spitze, bis sie zu dem Punkt kamen, wo der Steigungswinkel bedeutend zunimmt. Diese Stelle liegt nach Dufours Karte der Schweiz 3300 Meter hoch. Sie bogen hier etwas nach links aus und stiegen noch 250 Meter höher, indem sie sich so viel wie möglich an den Kamm des Grats hielten. Nebel, ein starker Wind und Mangel an Zeit hinderten die kühnen Männer weiterzugehen, und so kamen sie

J. J. Bennen im Jahr 1862.

nicht ganz bis 3600 Meter. Den dritten Versuch der Ersteigung des Matterhorns machte im August 1860 Herr Vaughan Hawkins von der Seite des Val Tournanche. In Macmillans Magazin hat er eine lebhafte Beschreibung dieses Unternehmens veröffentlicht, und auch Professor Tyndall ist in seinen zahlreichen Beiträgen zur Alpenliteratur öfter auf dasselbe zurückgekommen. Ich werde mich deshalb so kurz wie möglich fassen. Hawkins hatte das Matterhorn im Jahre 1859 mit dem Führer Bennen untersucht und die Überzeugung gewonnen, dass der südwestliche Grat zum Gipfel führe. Er warb Johann Jakob Carrel an, der bei den ersten Versuchen beteiligt gewesen war, und brach mit Professor Tyndall, den er besonders eingeladen hatte, und mit Bennen in der Richtung der Kluft zwischen der kleinen und der großen Spitze auf. Bennen war ein Führer, von dem man zu sprechen begann. Während seiner kurzen Laufbahn stand er meistens im Dienste Welligs, des Gastwirts auf dem Eggishorn, und wurde von diesem an Touristen vermietet. Obgleich seine Erfahrungen beschränkt waren, hatte er sich einen guten Ruf erworben und wurde von allen, die ihn ver-

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ABSTIEG

VO M

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M AT T E R H O R N

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H

udson und ich hielten eine neue Beratung, in welcher Reihenfolge wir gehen sollten. Für das Beste hielten wir, dass

Croz der Erste 2 und Hadow der Zweite wäre. Hudson, der hinsichtlich seiner Trittsicherheit einem Führer beinahe gleichzustellen war, wünschte der Dritte zu sein. Hinter ihn stellten wir Lord F. Douglas, auf den der alte Peter als der Stärkste unter den Übrigen folgte. Ich machte Hudson den Vorschlag, bei unserer Ankunft an der schwierigen Stelle ein Seil um die Felsen zu schlingen, damit wir beim Hinabsteigen einen Schutz mehr hätten. Er billigte meine Idee, doch wurde nicht bestimmt ausgesprochen, dass es geschehen solle. Während die Gesellschaft sich in der oben angegebenen Weise ordnete, nahm ich eine Skizze des Gipfels auf. Meine Gefährten waren eben fertig und warteten darauf, dass ich mich an das Seil binden ließ, als jemand sich erinnerte, dass wir vergessen hätten, unsere Namen aufzuschreiben und in eine Flasche zu stecken. Ich besorgte das auf ihre Bitten, und sie gingen inzwischen los. Einige Minuten später band ich mich am jungen Peter an, lief den anderen nach und erreichte sie, als sie eben den Abstieg über die schwierige Stelle begannen.3 Es wurde die größte Vorsicht gebraucht. Immer bewegte sich bloß einer, und erst wenn er festen Fuß gefasst hatte, folgte der Nächste. Ein Seil war nicht um die Felsen geschlungen worden, und niemand sprach davon. Ich hatte den Vorschlag nicht um meinetwillen gemacht und weiß nicht, ob er mir zu diesem Zeitpunkt wieder in den Sinn kam. Wir beiden folgten den Übrigen

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Der wesentliche Inhalt dieses Kapitels erschien in einem Brief an die «Times» vom 8. August

1865. Ich habe hier einige Stellen hinzugefügt und einige Änderungen vorgenommen, die teils unwesentlich sind, teils die Erzählung klarer machen sollen. 2

Wären alle Mitglieder der Gesellschaft gleich tüchtig gewesen, so hätte Croz die letzte Stelle

angewiesen erhalten. 3

Ich habe sie auf Seite 244 beschrieben.

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Selbst bei geborenen Älplern kommt das häufig vor. Ich erzähle es, um zu beweisen, dass Croz

sich jede Mühe gab, nicht um Herrn Hadow eine besondere Ungeschicklichkeit vorzuwerfen.

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Der Gipfel des Matterhorns, 1895.

in geringer Entfernung und waren von ihnen getrennt, bis Lord Douglas mich etwa um 3 Uhr nachmittags bat, dass ich mich an den alten Peter anbinden möchte. Er fürchtete nämlich, wie er sagte, dass Taugwalder, wenn ein Ausgleiten vorkomme, nicht fest auf den Füßen bleiben würde. Einige Minuten später eilte ein Bursche, der ein scharfes Auge hatte, zu Seiler ins Monte-Rosa-Hotel und erzählte, dass er vom Gipfel des Matterhorns eine Lawine gegen den Matterhorngletscher hin habe fallen sehen. Dem Jungen wurde verwiesen, dass er müßige Geschichten erzähle, aber er sprach die Wahrheit und hatte Folgendes gesehen. Michel Croz hatte sein Beil beiseite gelegt und beschäftigte sich mit Herrn Hadow, um demselben größere Sicherheit zu geben. Er hatte ihn an den Beinen gefasst und brachte seine Füße, einen nach dem anderen, in die richtige Position.4 Soviel ich weiß, war keiner im eigentlichen Hinabsteigen begriffen. Mit Gewissheit kann ich nicht sprechen, weil ich die beiden Vordersten wegen einer dazwischen liegenden Felsmasse zum Teil nicht sehen konnte, aber aus den Bewe-

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gungen ihrer Schultern musste ich schließen, dass Croz, nachdem er das eben Erwähnte getan hatte, sich umdrehen wollte, um einen oder zwei Schritte weiterzugehen, als Herr Hadow ausglitt, gegen ihn fiel und ihn umwarf. Ich hörte von Croz einen Ausruf des Schreckens und sah ihn und Hadow abwärts fliegen. Im nächsten Moment wurden Hudson und unmittelbar darauf auch Lord Douglas die Füße unter dem Leib weggerissen.5 Dies alles war das Werk eines Augenblicks. Sowie wir Croz aufschreien hörten, pflanzten der alte Peter und ich uns so fest auf, wie das Gestein uns gestattete. Das Seil zwischen uns war straff angezogen, und der Ruck traf uns, als wenn wir bloß einer wären. Wir erhielten uns, aber zwischen Taugwalder und Lord Douglas riss das Seil. Einige Sekunden lang sahen wir unsere unglücklichen Gefährten auf den Rücken niedergleiten und mit ausgestreckten Händen nach einem Halt suchen. Noch unverletzt kamen sie uns aus dem Gesicht, verschwanden einer nach dem anderen und stürzten von Felswand zu Felswand auf den Matterhorngletscher, in eine Tiefe von beinahe 5

In diesem Augenblick standen Croz, Hadow und Hudson dicht nebeneinander; zwischen

Hudson und Lord Douglas war das Seil nicht straff angezogen und ebenso wenig bei den Übrigen, die sich oberhalb befanden. Croz stand neben einem Felsen, der ihm einen guten Halt gewährte, und hätte er etwas bemerkt oder geahnt, so hätte er sich anklammern und jedes Unglück verhüten können. Er wurde vollständig überrascht. Hadow stürzte beim Ausgleiten auf den Rücken, schlug Croz mit den Füßen gegen das Kreuz und warf ihn kopfüber. Croz konnte sein Beil nicht erreichen und hielt trotzdem den Kopf oben, ehe er aus unserem Gesichtsfeld entschwand. Hätte er das Beil in der Hand gehabt, so würde er ohne Zweifel sich selbst und Hadow aufgehalten haben. Hadow hatte im Augenblick des Ausgleitens keinen schlechten Standpunkt. Er konnte aufwärts und abwärts gehen und den Felsen, von dem ich sprach, mit der Hand berühren. Hudson stand nicht so gut, hatte aber Bewegungsfreiheit. Zwischen ihm und Hadow war das Seil nicht straff, und die beiden Männer fielen 3 bis 3,5 Meter tief, ehe Hudson den Ruck empfand. Lord Douglas stand nicht gut und konnte sich weder nach oben noch nach unten bewegen. Der alte Peter hatte sich fest hingepflanzt und stand dicht unter einem großen Felsblock, den er mit beiden Armen umschlang. Ich gehe auf diese Einzelheiten ein, um zu beweisen, dass die Situation, in welcher die Gesellschaft im Augenblick des Unfalls war, durchaus keine besonders schlimme war. Wir mussten später über dieselbe Stelle gehen, wo das Ausgleiten vorgefallen war, und fanden sie trotz unserer erschütterten Nerven gar nicht schwierig. Allgemein war dieser Steilhang schwer zu begehen, aber Hadow glitt gerade an einer leichten Stelle aus.

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1200 Metern hinunter. Von dem Moment, wo das Seil riss, war ihnen nicht mehr zu helfen. So starben unsere Gefährten! Wohl eine halbe Stunde lang blieben wir an Ort und Stelle, ohne einen einzigen Schritt zu tun. Die beiden Führer, vom Schreck gelähmt, weinten wie Kinder und zitterten so, dass uns das Schicksal der anderen drohte. Der alte Peter hörte nicht auf zu rufen: «Chamonix, was wird man in Chamonix sagen?» Er

Das zerrissene Seil vom Matterhorn.

meinte damit: «Wer wird glauben, dass Croz fallen kann?» Der junge Peter schrie und schluchzte fortwährend: «Wir sind verloren, wir sind verloren!» Zwischen den beiden eingeklemmt, konnte ich weder vorwärts noch rückwärts. Ich bat den jungen Peter, zu uns herunterzusteigen, aber er wagte es nicht. Ehe er das nicht tat, kamen wir nicht vorwärts. Der alte Peter wurde sich der Gefahr bewusst und stimmte in das Geschrei ein: «Wir sind verloren, wir sind verloren!» Die Furcht des Vaters war natürlich – er zitterte für seinen Sohn; aber der junge Mann benahm sich feig, er dachte bloß an sich. Endlich fasste der alte Peter Mut und ging zu einem Felsen, an dem er das Seil befestigen konnte. Nun stieg der junge Mann herab, und wir standen alle nebeneinander. Ich ließ mir das zerrissene Seil geben und fand zu meinem Staunen, ja zu meinem Entsetzen, dass es das schwächste der drei Seile war. Zu dem Zweck, welchem es gedient hatte, war es nicht bestimmt und hätte auch nie dazu verwendet werden sollen. Es war ein altes und im Verhältnis zu den anderen schwaches Seil. Ich hatte es bloß für den Fall mitgenommen, dass wir viel

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Seile um die Felsen schlingen und zurücklassen müssten. Ich sagte mir sogleich, dass hier eine ernste Frage vorliege, und ließ mir das Ende zeigen. Es war mitten in der Luft zerrissen und schien vorher keine Beschädigung erlitten zu haben. In den nächsten 2 Stunden glaubte ich stets, dass der nächste Augenblick mein letzter sein werde, denn die Taugwalders hatten allen Mut verloren und konnten mir nicht nur keine Hilfe leisten, sondern befanden sich auch in einem solchen Zustand, dass sich jeden Augenblick ein Ausgleiten von ihnen erwarten ließ. Nach einiger Zeit konnten wir tun, was von Anfang an hätte geschehen sollen, und schlangen Seile um feste Felsblöcke, während wir zugleich aneinander gebunden blieben. Diese Seile wurden von Zeit zu Zeit abgeschnitten und zurückgelassen.6 Trotz dieser Vorsichtsmaßregel gingen meine Führer mit großer Furcht vorwärts, und mehrmals wendete sich der alte Peter mit aschfahlem Gesicht und zitternden Gliedern zu mir um und sagte mit schrecklichem Nachdruck: «Ich kann nicht!» Um 6 Uhr abends standen wir auf dem Schnee des nach Zermatt hinunterführenden Grats und hatten alle Gefahren überwunden. Häufig und immer vergebens spähten wir nach Spuren unserer unglücklichen Gefährten. Wir beugten uns über den Grat und riefen, aber kein Ton kam zurück. Endlich kamen wir zu der Überzeugung, dass sie außerhalb der Sicht- und Hörweite seien, und stellten unsere nutzlosen Bemühungen ein. Zum Sprechen zu niedergeschlagen, nahmen wir stillschweigend unsere Sachen und den wenigen Besitz der Verschwundenen auf, um unseren Rückweg fortzusetzen. Da zeigte sich ein mächtiger Regenbogen, der über dem Liskamm hoch in die Luft aufstieg. Bleich, farblos und geräuschlos, aber mit Ausnahme der Stelle, wo die Wolken sich hineindrängten, vollständig scharf und abgegrenzt, schien diese überirdische Erscheinung ein Bote aus einer an-

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Diese Enden werden noch an Felsen befestigt sein und unseren Weg hinauf und hinunter be-

zeichnen.

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Nebelbild, am 14. Juli 1865 vom Matterhorn aus gesehen.

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Die Erstbesteigung des Matterhorns am 14. Juli 1865 ist zum Mythos geworden – nicht zuletzt deshalb, weil vier der sieben Erstbesteiger im Abstieg ums Leben kamen. Der Engländer Edward Whymper und der Italiener Johann Anton Carrel lieferten sich einen dramatischen Konkurrenzkampf um die Ehre, als Erster auf dem Gipfel zu stehen. Whympers klassischer Originalbericht von seinen Versuchen und vom abschließenden Erfolg ist eine der spannendsten Episoden, welche die Alpingeschichte zu bieten hat.

ISBN 978-3-909111-14-5


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